Waltraud Brigitte Mayr, M. Sc., geb. 1954. Studium der

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Waltraud Brigitte Mayr, M. Sc., geb. 1954. Studium der
Waltraud Brigitte Mayr, M. Sc., geb. 1954.
­Studium der Chemie in Köln, DaF-Zertifikat
­Goethe-Institut an der Universität Kassel. Seit 30 Jahren
­Deutschunterricht in M
­ alaysia. Zur Zeit Lektorin an der School
of Languages, Literacies and Translation, Universiti Sains
Malaysia (Malaysia) und Leiterin des dortigen deutschen
Sprach­programms.
Penang
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Gedankenfetzen
Seit siebzehn Jahren in Malaysia unter Einheimischen lebend,
verschwimmen die Eindrücke von Deutschland. Zurück bleiben
Erinnerungen, und mit dem Abstand ensteht ein Gemisch aus
Verherrlichung, Ignoranz und soliden Informationen. Man will
ja auch ein Bild vom heutigen Deutschland an die Deutsch lernenden Studenten vermitteln.
Bei Besuchen in Deutschland musste ich in den letzten
Jahren vermehrt feststellen, dass die Klischees wie deutsche
Gründlichkeit und Pünktlichkeit verwischen. Aber meiner Beobachtung zufolge ist es noch nicht so schlimm wie in ­Malaysia,
wo man zwischen Malaysian Time auf der einen Seite und
Western / Japanese Time auf der anderen Seite unterscheidet
und wo man Schüler und Studenten zwei Stunden im Voraus
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bestellt, damit die Feierlichkeit pünktlich beginnen kann. Wohl
ausser acht lässt man dabei die Tatsache, dass die Leute, wenn
sie es erst einmal das System durchschaut haben, erst gar nicht
so früh kommen, um dann trotzdem zu spät zu kommen.
Auch glaube ich, dass die Tidak apa / Never mind-Mentalität
sich in Deutschland noch nicht so stark festgesetzt hat, wenn sie
auch hier und da doch schon zu verzeichnen ist. Cincai-­cincai-­
Arbeit (Chinesisch für halbherzig in Eile gemachte Arbeit)
wird zum Glück nicht akzeptiert und es wird auf Qualität Wert
gelegt. Dabei fallen mir die Worte des Deutschen Botschafters
in Kuala Lumpur anlässlich einer Deutschen Woche an der Universiti Sains Malaysia (USM) im Jahr 2009 ein: „Wir ­brauchen
keine große Werbung zu machen, unsere Produkte sprechen
für sich.“ Dem wage ich allerdings vehement zu wider­sprechen,
da die Studenten an der USM z. B. Fremdsprachen je nach ihrer
Präsenz und eingeschätzten Wichtigkeit in Malaysia wählen.
Dabei hat sich gezeigt, dass z. B. Koreanisch in den letzten Jahren wegen der Seifenopern im Malaysischen Fernsehen und
der Kosmetikprodukte einen erheblichen Aufschwung genommen hat. Deshalb bin ich sehr darüber erfreut, dass im Malaysischen Fernsehen nun auch Werbespots von Audi, VW und
Osram zu sehen sind. Auch VW hat dies erkannt und macht oft
Promotions in Shopping Malls. Am schönsten ist dabei, dass
der Werbetext deutsche Worte miteinfließen lässt. So werden
deutsche Worte aufgenommen und das Produkt als deutsch
(wenn der Zuschauer die Sprache identifizieren kann) oder
Gebirgslandschaft bei Bad Tölz
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zumindest als ausländisch / importiert erkannt, was ihm von
Beginn einen höheren Stellenwert einräumt, denn importierte
Waren haben besonders bei Autos eine bessere Qualität als die
einheimische Marke.
Deutschland, das bedeutet für mich auch Besuch bei meiner Mutter, Ruhe, Erholung, Auftanken, Seelenfutter. In ihrer
Umgebung fühle ich mich wohl und willkommen. Ich ­genieße
die Gespräche, die klare Luft und die Berge. Bad Tölz, das mit
­seiner „Champagnerluft“ Werbung macht, ist ein hervorragen­
der Ort, vom Alltagsstress Abstand zu gewinnen und zu ­relaxen.
Hier kann ich frei durchatmen, in zweifacher Hinsicht: die ­frische
Luft und die Freiheit auf den Berggipfeln genießen. In Malaysia
genieße ich das frische Grün der Reisfelder und den Anblick des
dichten tropischen Regenwaldes. Aber irgendetwas in mir sagt
mir: sei kein Eindringling in diese Welt, das ist eine Welt für sich.
Und ich respektiere dies mit großer Achtung und Ehrfurcht
vor der Schöpfung. Kürzlich erzählte mir eine ­Studentin, dass
ihr Vater den Job gewechselt hat: von der Personal­abteilung
einer Deutschen Firma in Penang zu einer Papier­fabrik im tiefsten Dschungel von Sarawak. Mir drehte sich das Herz um, als
ich das hörte. Er hatte in Deutschland studiert und die gesamte Familie ist ziemlich open-minded, aber was geschieht nicht
alles auf dieser Welt wegen des Geldes. Da lobe ich mir doch
die umweltbewussten Deutschen, die Müll trennen, ­recyclen,
Greenpeace unterstützen und auch öffentlich demonstrieren,
wenn’s sein muss. Oder ist dies doch nur ein grünes Feigenblatt?
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Wenn man dem Spiegel Nr.15 – 11.4.11 glauben darf, so ist ­Angela
Merkels Entschlossenheit in vielen Fragen der Kernenergie
umstritten. Und wieder zeigen sich Parallelen zu Malaysia. Die
seit dem 1. Januar 2011 laufende Aktion No plastic bags in ­Penang
setzt einen entscheidenden Eckpfeiler in der Umwelt­politik, und
Politiker werden sensibler in Umweltfragen. Anderer­seits plant
die National Front (= „Barisan Nasional“, die seit 1957 führende
politische Partei Malaysias) unter der Führung von Najib Tun
Razak den Bau eines Atomkraftwerks als nationales Prestigeobjekt, wie viele andere zuvor: Petronas Towers, Formula-1-Circuit,
Tour de Langkawi, Monsun Cup, Ausflug ins Weltall, Besteigung
des Mount Everest, etc. Malaysia boleh! (Malaysia kann alles!)
Aber eins scheint sicher: Deutsche setzen sich mehr mit der
Zukunftssorge auseinander, während Malaysier eher an morgen denken, aber heute gedankenlos, sorglos leben. Damit
leben sie sicher leichter und können ihr Lächeln bewahren.
Der Meinungs- und Pressefreiheit in Deutschland steht
eine mentale Einschränkung und Gehirnwäsche in Malaysia
gegenüber. Viele wandern aus. Aber für die Jungen bedeutet
Malaysia ihre Heimat und sie wollen eine bessere Zukunft für
ihr Land. Die junge Generation ist auf der Suche nach Werten,
die sie entweder im Westen (Amerika, Europa) oder im Osten
(Japan, Taiwan, Korea) sucht. Die Jugendlichen warten auf
ihren 21. Geburtstag, um wahlberechtigt zu sein und eine Veränderung bewirken zu können. Aber ob sie das schaffen? Das
politische System funktioniert gut.
Deutschland ist einfach zu „normal“,
in gewisser Weise langweilig, obwohl
es inzwischen Einwanderungsland
ist und Menschen vieler verschiedener
Nationen dort eine neue Heimat
­gefunden haben.
Waltraud Brigitte Mayr, Malaysia
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In meinem kleinen Büro im drückend heißen Penang bin ich
so eingeengt und mit Arbeit eingedeckt, dass ich dieses Frei­
heitsgefühl auf Deutschlands Bergen wirklich brauche. Auf
der anderen Seite bedeutet Deutschland für mich auch einen
erquickenden Gedankenaustauch auf Konferenzen und Reisen.
Aber nach einer Weile zieht es mich wieder zurück nach
­Penang: Die z. T. maroden Gebäude des UNESCO Weltkultur­­
erbes, die nun endlich wieder wunderschön in Stand gesetzt
­werden, die alten Traditionen, das Gemisch verschiedener Religionen, die modernen Einkaufszentren, all die Kleinigkeiten im
alltäglichen Leben, die meistens nicht so richtig funktionieren
und mich oft nerven. Deutschland ist einfach zu „normal“, in ge­­­­
wisser Weise langweilig, obwohl es inzwischen Einwanderungs­­
land ist und Menschen vieler verschiedener Nationen dort eine
neue Heimat gefunden haben. Das erinnert mich sehr an Ma­­
laysia – your second home, ein Programm, mit dem Pensionäre
aus aller Welt angelockt werden, um in Malaysia ihren Lebensabend zu verbringen. Vielleicht sollten wir den ­Slogan dahingehend verändern: Germany – your second home, ein Programm,
mit dem Talente aus aller Welt den Ideenreichtum im Land der
Ideen aufbessern sollen. Es fehlt einfach die Aufbruchstimmung, die Unternehmungslust, die Vision 2020, in der Malaysia
als entwickelt gelten soll, das aufregende Leben, das das bunte
Völkergemisch in Malaysia schon automatisch mit sich bringt,
und das Gewusel auf den ­Straßen. ­Penang ist niemals still. Tag
und Nacht ist reger Verkehr auf den Straßen, der nur während
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der Rush Hour noch stärker anschwillt. Ge­schäfte sind jeden Tag
geöffnet, wobei der Haupt­­umsatz an den Wochenenden ge­­
macht wird, da dann die Leute Zeit zum Einkaufen haben. Aber
Deutschland hat doch auch eine Vison: die Energiewende – keine
Kern­energie mehr 2030! (Spiegel Nr. 14 – 4.4.11)
Ein Grund für meinen Eindruck eines stagnierenden Deutsch­­
lands sind sicher die vielen alten Leute: von 82 Millionen Menschen sind 20 % über 65 Jahre alt, 14 % sind unter 15. Dem stehen 28 Millionen Malaysier gegenüber, von denen nur 5 % über
65, aber 30 % unter 15 sind. Auch die Erfahrungen, die ich mit
ihnen mache, tragen zu diesem Eindruck bei.
Meine Familie in meiner Heimat Deutschland, das sind
meine Mutter und meine Schwester mit Familie, gibt mir das
Gefühl der Wärme, Vertrautheit und Fürsorge. Aber ich ­fühle
mich auch als Eindringling in ihre Welt und Störung ihres Alltags. Ich bringe sie durch meine bloße Anwesenheit aus der
gewohnten Routine, was nur temporär erwünscht ist. In Gesprächen mit meinen Angehörigen und deren Freunden stelle ich
dann oft fest, dass ich verärgerte Reaktionen über ein ­Thema,
eine bestimmte erlebte Alltagssituation, die ihnen vor meiner
Ankunft irgendwann einmal passiert ist, zwar ver­stehe, weil
sie mich an mein früheres Leben in Deutschland erinnert, mir
sozusagen einen Spiegel vorhält, der mir zeigt, wie ich ­früher
selbst war, aber mir andererseits auch deutlich macht, wie
ich mich weiter und in eine andere Richtung entwickelt habe.
Denn ich vertrete diese Standpunkte nicht mehr. Aus dem WIR
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DEUTSCHE ist ein WIR WELTBÜRGER geworden, aus Engstirnigkeit und Kleinkariertheit Toleranz und Weitsicht. Ich bin Gast
und fühle mich auch nur als einer. Glück auf Zeit!
Mein Herz ist bei meiner eigenen kleinen Familie in ­meiner
Heimat Malaysia. Das sind mein Mann und meine Tochter. Die
Beziehung ist herzlich, innig und von Toleranz geprägt. Das
Leben in und zwischen den Kulturen ist spannend. Sie ist mein
Zuhause. Unbegrenztes Glück!?