Rollende Augen
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Rollende Augen
Seite 86 Christophorus 321 Christophorus 321 Seite 87 Augen auf im Straßenverkehr: Sally Carrera (linke Seite) beobachtet amüsiert das Treiben ihrer virtuellen Filmkollegen in „Radiator Springs“ Faszination Rollende Augen Als die Bilder fahren lernten: Ein Porsche 911 spielt die (weibliche) Hauptrolle im jüngsten Animations-Film von Disney⁄ Pixar: Sally Carrera trägt zum Ruhm von „Cars“bei. Text Larry Edsall Fotografie mit freundlicher Genehmigung von Disney ⁄ Pixar Goodbye, Mustang Sally. Gestatten: Sally Carrera. Technisch gesehen schafft es die zum Sportwagen gewordene Dame von null auf 100 in 4,9 Sekunden. Ganz wie ein echter Porsche. Der kleine feine (und beileibe nicht der einzige) Unterschied zum echten Elfer: Sally kann sprechen. Und deshalb hat sie es nach Hollywood geschafft, zur Hauptdarstellerin des neuen Disney-Kinofilms „Cars“. Kassenknüllern gemacht. Sich einer Auto-Geschichte anzunehmen, war dem Regisseur eine ganz besondere, persönliche Herausforderung.„In einer meiner Adern fließt Disney-Blut und in der anderen Motoröl“, behauptet Lasseter von sich, „die Versuchung, die beiden Leidenschaften in meinem Leben in einem Film zu verbinden, war einfach zu groß.“ Dementsprechend groß waren auch die Qualitätsansprüche an „Cars“. Die von John Lasseter gegründeten Pixar Studios in Kalifornien haben schon Spielzeug („Toy Story“), Käfer („A Bug’s Life“) oder Fische („Finding Nemo“) zeichnerisch zum Leben erweckt und zu Die Idee zum Drehbuch war noch die einfachste. Während einer Studienreise fuhr er mit Familie, Freunden und Kollegen die histo- rische „Route 66“ im Westen der USA nach. Jonas Rivera, die Produktionsleiterin von „Cars“, erinnert sich: „Wir trafen immer wieder Leute entlang dieser Straße, von denen wir zuerst dachten: Was machst du hier? Du hast die Welt gesehen. Du hast eine gute Ausbildung. Du sprichst drei Sprachen. Stattdessen schmeißt du ein Restaurant in dieser Einöde? Aber ein paar Stunden und ein gemeinsames Abendessen später denkt man: Wow, das ist unglaublich. Ich bin richtig froh, dass diese Leute hier sind und diesen Ort am Leben erhalten.“ „Radiator Springs“ hat kein modernes Auto mehr zu Gesicht bekommen, seit Lady Sally in die Stadt gerollt war. Sie kam als attraktive Aussteigerin, die die Hetzerei als Anwältin in der Großstadt satt hatte. Stattdessen kaufte und renovierte sie das Cozy Cone Motel in „Radiator Springs“. „Sally ist das einzige moderne Auto in der Stadt“, erzählt John Lasseter, und auf den vermeintlichen Widerspruch – der kraftstrotzende Porsche spielt die weibliche Hauptrolle – kontert er sofort: „Die Formen eines Porsches sind so schön, dass die Marke perfekt zum Charakter von Sally passt.“ So entstand der fiktive Ort „Radiator Springs“, der Ausgangspunkt für die Reise auf der Leinwand. „Cars“ erzählt die Geschichte von Lightning McQueen, der sich auf den Weg zum letzten Rennen des Jahres macht. Auf dem Weg zur Rennstrecke in Kalifornien verliert McQueen sein Begleitfahrzeug „Mack“und muss deshalb den Highway in Carburetor County verlassen, irgendwo in der Wüste im wunderschönen Südwesten Nordamerikas. McQueen verschlägt es nach „Radiator Springs“. In dem verschlafenen Städtchen ist die Zeit scheinbar stehengeblieben. Der naseweise McQueen trifft auf Sally Carrera und verliebt sich in die rasante Dame. Im Zuge der vergnüglichen und temporeichen Auto-Love-Story lernt Draufgänger McQueen von Sally und den anderen Einheimischen, dass es mehr im Leben gibt, als die Ziellinie als Erster zu überqueren: Der Weg ist das Ziel. Sallys Rolle wurde tatsächlich von einer Frau inspiriert, die Lasseter und seine Crew entlang der„Route 66“trafen.„Sie hieß Dawn Welsh und war in die Kleinstadt Stroud in Oklahoma gezogen, um das Rock Café zu eröffnen. Mittlerweile ist sie dort eine Institution. Sie versprüht jugendliche Energie und liebt es, an diesem Ort zu sein.“ Die Café-Besitzerin ist begeistert davon, dass ihre Lebensgeschichte Vorbild für eine Filmrolle ist: Sie wünscht sich Aufmerksamkeit für all die kleinen und liebenswerten Städte entlang der historischen Landstraßen Amerikas. Das Faszinierende am Leben abseits der Highways: „Man weiß hier morgens nie, was man bis zum Ende des Tages erleben wird …“ Lasseters Qualitätsansprüche an die Erschaffer der Filmhelden war enorm. Das Team sollte jedes Detail rund ums Auto so realistisch A Seite 88 Christophorus 321 Christophorus 321 Seite 89 Sally hier, Sally da: Im Regen lässt die weibliche Hauptdarstellerin garantiert niemand stehen – sie vermittelt der Schar bei „Cars“ vielmehr Lebenslust und Lebensphilosophie „Cars“ aufwenden. Der 911 Carrera (Typ 996) wurde auf Bitten von Pixar zur Verfügung gestellt. So konnten die Künstler am realen Objekt genau die Verhaltensweisen des Sportwagens beobachten – beispielsweise, in welchem Winkel sich die Vorderräder bewegen. Die aufwändige Arbeit der Programmierer lief zweigleisig: Technisch realistisch mussten die „Cars“ wirken, außerdem sollten sie unterhaltsam und sympathisch beim Kinobesucher rüberkommen. Einen ganz großen Unterschied im Entstehungsprozess gibt es zwischen der Porsche- und der Kino-Welt: den Zeitfaktor. Durchschnittlich dauert es 17 Stunden Konstruktionsarbeit, um eine einzige Sequenz des Films zu erzeugen. Für diesen „Frame“, den Bruchteil einer Sekunde, rechnen dreitausend Computer gemeinsam. wie möglich umsetzen. Die Kinoautos sollten wie draußen auf der Straße reagieren – vom Fahrverhalten auf einer Sandpiste bis zum Röhren des Motors. Staubwolken, quietschende Reifen, Motorensound satt! Der Kinobesucher sollte sich wie auf dem Fahrersitz fühlen. Gelegentlich vergisst man tatsächlich, dass dieser Film am Computer entstanden ist. Wie jeder neue Porsche ist auch der virtuelle Carrera das Ergebnis von gewissenhafter Entwicklungsarbeit eines talentierten Teams von Designern und Ingenieuren. Der Idee folgte die Skizze, das Ton- modell, dann verschiedene Prototypen – bis die Charakterrolle perfekt saß. Selbst die Lackierung wirkt in der animierten Welt absolut akkurat. „Wir freuen uns sehr, dass John Lasseter einen Porsche für sein wunderbares Filmabenteuer gewählt hat“, sagt Peter Schwarzenbauer, der Präsident und CEO von Porsche Cars North America (PCNA), „das gibt uns eine einmalige und besondere Möglichkeit, die Kunden von heute und morgen gleichzeitig auf eine ganz neue Art und Weise anzusprechen.“ Beim Auftritt von Sally Carrera handelt es sich um kein Product Placement im herkömmlichen Sinn, PCNA musste keine finanziellen Mittel für die Porsche-Präsenz in Sally Carrera existiert allerdings nicht nur auf der Filmleinwand, sondern auch in einer Blechversion. Eingefädelt vom Fernseh-Entertainer Jay Leno, einem Porsche-Enthusiasten, hat sich Porsche North America mit Eddie Paul, einem Autoexperten für Kinofilme, zusammengetan, um aus der virtuellen Sally einen Nachbau fürs richtige Leben zu schaffen, der durch die echten USA tourte. Der Elfer war gut fünf Jahre alt und hatte 34 000 Kilometer auf dem Tacho. Und er hatte weder einen Kratzer noch eine Beule, zumindest nicht, bis Paul und sein Team sich an die Arbeit machten. „Ich hätte nie gedacht, dass ich jemals einen Porsche in zwei Hälften zerlege“, erklärt A Sallys Film-Partner: • Lightning McQueen (oben): Auf dem besten Weg, der jüngste Champion der Rennserie „Piston Cup“ zu werden, hat er nur Siege und Siegprämien im Kopf. Bis er auf Sally trifft. • Doc Hudson (Mitte): Ein ebenso stiller wie mysteriöser Landarzt, der in „Radiator Springs“ gleichzeitig Mechaniker und Richter ist. • Mater: Der gute alte Abschleppwagen, der leicht angerostet ist, aber ein großes Herz hat und das Rückwärtsfahren liebt. Seite 90 Christophorus 321 Christophorus 321 Seite 91 Carrera-Planung: Aus der Idee von der Filmfigur Sally wird in mehreren Schritten ein Echt-Modell – ganz wie in der richtigen Automobil-Erschaffung Paul. „Es schien, als müssten wir tausende Leitungen, Drähte, Schläuche, Verbindungen und Kabel durchtrennen. Aber als wir alles wieder zusammensetzten, hat es funktioniert.“ Um die Proportionen der von Pixar animierten Sally Carrera zu wahren, mussten Paul und seine Crew den Radstand des 911 um 18 Zentimeter verkürzen, das Dach um neun Zentimeter erhöhen und die Windschutzscheibe gerader stellen – zumal die Plexiglasscheibe auch noch Augen bekommen musste … Obwohl in den meisten Cartoons die Autos ihre Augen in den Scheinwerfern haben, hatte sich Pixar dafür entschieden, den Fahrzeugen richtige Gesichter zu geben, der Mund wanderte auf die Stoßfänger. Paul hat Augenlider und runde Augäpfel in die Windschutzscheibe eingebaut. Magnete sorgen dafür, dass das Fahrzeug mit den Augen rollen kann. Da die virtuelle Sally ein Modell Baujahr 2002 ist, wurde die blecherne Sally zusätzlich mit neuen Kotflügeln, Stoßstangen, Scheinwerfern, Rückleuchten und anderen Zusatzteilen ausgestattet. Damit die Proportionen des Autos stimmen und die Türen weiterhin auf- und zugehen, musste schließlich auch noch die B-Säule um neun Zentimeter versetzt werden, ehe die „leibhaftige“ Film-Sally auf Promotion-Tournee durch Nordamerika gehen konnte … Fahren wie echte Autos, mit den Augen rollen wie echte Menschen – ergänzt wird das Erscheinungsbild von „Cars“ auch durch die Stimmen: Hollywood- und Rennsportlegende Paul Newman leiht in der Originalversion seine unverwechselbare Stimme der Figur Doc Hudson. Lightning McQueen wird von Owen Wilson („Meet the Parents“) gesprochen, Sally Carrera bekommt ihre Stimme von Bonnie Hunt („Cheaper by the Dozen“), die bereits in anderen Pixar-Filmen wie „Monsters, Inc.“ auftrat. In den europäischen Versionen übernehmen die Formel-1-Stars Michael Schumacher und Fernando Alonso Sprechrollen. Die Musik kommt überall auf der Welt aus der gleichen Hand: Randy Newman hat den Soundtrack geschrieben, das Eröffnungslied singt Sheryl Crow. Womit gleich am Anfang geklärt ist, dass „Cars“ ein Film über starke Autos, starke B Typen und starke Frauen ist. Seite 92 Christophorus 321 Zwischen Lightning McQueen und Mater: Regisseur John Lasseter, Gründer der Pixar Studios in Kalifornien, hatte die Idee, „Cars“ zum Leben zu erwecken „Sally ist wie eine Königin“ Ein Interview mit Regisseur John Lasseter Von Valerie Höhne „Der Elfer hat sooooo eine schöne Taille. Das ist für mich eine fast feminine Form, deshalb habe ich entschieden, dass er eine weibliche Rolle bekommen soll.“ Wie haben die Automobilfirmen auf Ihre Anfragen reagiert? Ich war von Anfang an sicher, dass man uns die Modelle für dieses Projekt zur Verfügung stellen würde. Die Firma, mit der wir am besten zusammengearbeitet haben, war Porsche. Vor Porsche und Ferrari hatte man uns vorher gewarnt: Oh, das wird schwierig, die geben doch ungern Geheimnisse preis. Und dann war es gerade mit diesen beiden am besten. Sie haben unsere Idee sofort verstanden und waren davon begeistert. Aber warum ist der Porsche eine Frau? Die meisten Leute denken doch: Wow! Porsche! Testosteron, was für ein männliches Auto! Stimmt. Aber schauen Sie sich doch unsere Sally Carrera an. Sie ist ein modernes Auto, und sie verhält sich wie eine Königin. Außerdem wirken doch alle Autos mit großem Kühler-Grill irgendwie männlich, weil der Kühler ein bisschen wie ein Schnurrbart aussieht, oder? Der Porsche aber hat seinen Motor hinten, deshalb gibt es das Gitter nicht. Und der Elfer hat sooooo eine schöne Taille. Das ist für mich eine fast feminine Form, deshalb habe ich entschieden, dass er eine weibliche Rolle bekommt. Als die Leute von Porsche Cars North America den Film gesehen haben, waren sie sehr stolz auf Sally. Hat irgendjemand dafür bezahlt, in dem Film dabei zu sein? Nein, wir wollten das nicht. Es ist unser Film, und wir machten ihn nicht, um irgendwelche Produkte zu bewerben. Wir haben ja auch unsere eigenen Phantasie-Modelle entwickelt, den Hauptdarsteller Lightning McQueen zum Beispiel, der im Groben an die Rennwagen der Nascar-Serie erinnert. wagen. Mit einer Menge PS, mindestens 500. Außerdem könnte ich meine ganze Familie mitnehmen. Es gäbe also mindestens sechs, sieben Sicherheitsgurte. Stören Sie dann im richtigen Leben nicht die Geschwindigkeitsbegrenzungen in Kalifornien? Ach wissen Sie, für das perfekte Fahrgefühl geht es manchmal gar nicht darum, einfach nur schnell zu fahren. Viel wichtiger ist die Straße. Ich habe doch für den Film diese Reise mit dem Wohnmobil gemacht, die eine großartige Inspiration war. Es gab da einen ganz besonderen Tag in North Carolina. Auf einer Straße namens Blue Ridge Parkway. Hunderte von Meilen schlängelt sie sich durch die Landschaft, eine Kurve nach der anderen – und hinter jeder Ecke wartet ein neuer Blick. Ich konnte dort erfahren, wie es ist, im Augenblick zu leben und diesen zu genießen. Das Geschwindigkeitslimit von 35 Meilen pro Stunde hat überhaupt keine Rolle gespielt. Spielte diese Erfahrung in das Drehbuch von „Cars“ hinein? Es gibt eine Szene, in der Sally den jungen Lightning McQueen die Straße hochführt. Diese Einstellung gibt genau das Gefühl wieder, das ich damals in den Bergen von North Carolina hatte. Es geht einfach darum, die Fahrt zu genießen. Gerade für McQueen, für den es immer nur darum gegangen ist, als Schnellster ins Ziel zu kommen, ist es eine großartige Erfahrung. Er denkt nie über die Reise an sich nach – bis zu diesem Tag, an dem die beiden einfach fahren. Er fragt sie: „Wohin fahren wir?“ Und sie sagt: „Ich weiß es nicht.“ Das ist B genau der Punkt. Wie sind Sie auf die Idee gekommen, einen Autofilm zu machen? Als Amerikaner kommt man ja gar nicht darum herum, zum Auto eine ganz spezielle Beziehung zu entwickeln. Ich kann mich erinnern, dass ich schon früh Listen gemacht habe, welche Autos ich am liebsten besitzen würde. Das änderte sich manchmal täglich. Das tut es auch heute noch … Wenn Sie selbst ein Auto wären, wären Sie am liebsten … … ein Auto, das es in Wirklichkeit nicht gibt. Aber auf jeden Fall würde ich jede Menge Power auf die Straße bringen, so wie ein Sport- Valerie Höhne ist Textchefin der deutschen Programmzeitschrift „TV Movie“. Sie traf John Lasseter in Barcelona.