ÐNeuÐ - Heinz-Kühn

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ÐNeuÐ - Heinz-Kühn
Heinz-Kühn-Stiftung
13. Jahrbuch
Mit der
Heinz-Kühn-Stiftung
unterwegs...
Heinz-Kühn-Stiftung
13. Jahrbuch
Mit der
Heinz-KühnStiftung
unterwegs...
Junge Journalisten sehen
eine andere Welt.
Copyright ©
Herausgegeben von der Heinz-Kühn-Stiftung
Verantwortlich im Sinne des Pressegesetzes und Redaktion:
Heide Dörrhöfer-Tucholski
Mitarbeiter: Erdmuthe Op de Hipt
Alle Rechte der Verbreitung, auch durch Film, Funk und Fernsehen, fotomechanische
Wiedergabe, Tonträger jeder Art, auszugsweise Nachdruck oder Einspeischerung und
Rückgewinnung in Datenverarbeitungsanlagen aller Art, sind vorbehalten.
Gesetzt aus der Times Roman
Herstellung: Druckerei JVA Geldern
Printed in Germany
Vorwort
Nachdem Johannes Rau im Mai des vergangenen Jahres zum Bundespräsidenten gewählt worden ist, habe ich von ihm gern den Vorsitz der HeinzKühn-Stiftung übernommen. Da ich selber fast drei Jahrzehnte lang als Journalist gearbeitet habe, weiß ich um den Wert von Stipendien für die Aus- und
Weiterbildung junger Journalisten und bin froh, dass Nordrhein-West-falen
mit der Heinz-Kühn-Stiftung einen Beitrag zur Förderung des journalistischen
Nachwuchses leisten kann.
Die Heinz-Kühn-Stiftung ist ein wichtiger Baustein im entwicklungspolitischen Engagement der nordrhein-westfälischen Landesregierung. Wir sehen
„NRW in globaler Verantwortung“. So lautet auch das Motto eines Kongresses, den wir im kommenden Herbst veranstalten werden. Der Vorschlag
zu dieser Tagung kam vom Eine-Welt-Beirat, der die Landesregierung seit
Mitte 1996 berät und der schon eine Fülle von Vorschlägen gemacht hat, wie
die Forderung nach nachhaltiger Entwicklung in den unterschiedlichen Bereichen der Landespolitik umgesetzt werden kann.
Es war stets ein Ziel unserer entwicklungspolitischen Aktivitäten, bei den Bürgerinnen und Bürgern hierzulande Bewusstsein zu wecken, Denkanstöße zu
geben und Lernprozesse zu fördern. Das ist auch der Ansatz unseres Promotorenprogrammes, mit dem wir gerade „vor Ort“ ein Umdenken bei den
Menschen anregen wollen. In die gleiche Richtung zielt unsere Unterstützung
der vielen Eine-Welt-Gruppen in Nordrhein-Westfalen. Und nicht zuletzt
gehört auch die Heinz-Kühn-Stiftung in dieses Spektrum, denn wir wollen auf
diesem Wege jungen Journalistinnen und Journalisten, also wichtigen Multiplikatoren in der öffentlichen Meinungsbildung, die Möglichkeit bieten, selber
im Ausland andere Lebensverhältnisse und Kulturen kennen zu lernen und so
unmittelbar auch die Interdependenzen zwischen unterschiedlichen gesellschaftlichen Wirklichkeiten in dieser Einen Welt zu erfahren.
Die Beiträge dieses Jahrbuchs, die Erfahrungsberichte der Stipendiatinnen
und Stipendiaten, sind ein beredtes Zeugnis solch prägender und fortwirkender
Erfahrungen.
5
Inhaltsübersicht
Erfahrungsberichte
der Heinz-Kühn-Stipendiaten
Michael Strempel
Zimbabwe vom 27. Juni bis 7. August 1998
9
Aleksandar Bogdanovic aus Sarajevo, Bosnien-Herzegowina
Bundesrepublik vom 6. Juli bis 20. Dezember 1998
35
Petra Putz
Tanzania vom 18. Juli bis 31. August 1998
51
Charlotte Hahner
Ecuador vom 28. Juli bis 9. September 1998
73
Verena Bünten
Indien vom 8. August bis 9. November 1998
105
Stephan Fessen
Südafrika vom 9. August bis 20. September 1998
129
Reham Halaseh aus Ramallah, Palästina
Bundesrepublik vom 1. September 1998 bis 28. Februar 1999
159
Basheer Salamah aus Ramallah, Palästina
Bundesrepublik vom 1. September 1998 bis 28. Februar 1999
177
Ivan Salecic aus Zagreb, Kroatien
Bundesrepublik vom 1. September 1998 bis 28. Februar 1999
197
Viktoria Vlassenko aus Kiew, Ukraine
Bundesrepublik vom 1. September 1998 bis 28. Februar 1999
217
Nenad Zivanovski aus Skopje, Makedonien
Bundesrepublik vom 1. September 1998 bis 28. Februar 1999
235
Else Iveta aus Riga, Lettland
Bundesrepublik vom 1. September 1998 bis 28. Februar 1999
247
Barbara Hoynacki
Namibia vom 15. September bis 28. Oktober 1999
263
7
Inhaltsübersicht
Claudia Heissenberg
Bolivien vom 15. September bis 14. Dezember 1998
293
Corina Lass
Äthiopien vom 18. September bis 20. Oktober 1998
323
Rosetta Reina
Mali vom 22. September bis 22. Dezember 1998
347
Thorsten Sellheim
Palästina vom 27. September bis 28. Dezember 1998
375
Klaus Stratmann
Zimbabwe vom 5. Oktober bis 15. November 1998
403
Suzanne Cords
Nicaragua vom 1. November 1998 bis 31. Januar 1999
421
Marika Liebsch
Nepal vom 2. November 1998 bis 2. Februar 1999
449
Sabine Kleinecke
Indien vom 3. November 1998 bis 3. Februar 1999
477
Paul Prandl
Nepal vom 3. November bis 15. Dezember 1998
503
Jutta Pinzler
Indien vom 3. Januar 1998 bis 5. Februar 1999
521
Heike Heering
Senegal vom 5. Januar bis 2. April 1999
545
Angelika Wagner
Uganda vom 28. Januar bis 11. März 1999
565
Sophie Mühlmann
Senegal vom 2. März bis 13. April 1999
587
Richard Precht
Philippinen vom 16. April bis 3. Juni 1999
603
8
Michael Strempel
Simbabwe
Simbabwe vom 27.06. - 07.08.1998,
betreut von der Friedrich-Ebert-Stiftung
9
Inhalt
1.
Rhodes` Erben vor der Enteignung:
Weiße Farmer und die Probleme der Landreform
1.1 „Schlimmer hätte es nicht kommen können“:
Der Farmer Hugh Brown
2
1.2 „Wir hatten doch keine Ahnung“:
Erfahrungen einer schwarzen Landwirtschaftskooperative
5
1.3 „Eine politische Zeitbombe“:
Die Landreform aus der Sicht des weißen Farmerverbandes
6
1.4 „Die Leute verlieren die Geduld“:
Die Landreform aus der Sicht des schwarzen Farmerverbandes
8
1.5 „Konzepte gibt es“:
Ein Professor erklärt die Landreform
9
2.
„Unsere Schwarzen waren die glücklichsten“:
Besuch bei Ian Smith
11
3.
Alles nur Theater? Ein Nachtrag zur Landreform
14
4.
Trügerische Hoffnung:
Tourismus als Rettung für Wirtschaft und Natur
4.1 „Ick liebe dieset Land, aber die machen et kaputt“:
Sorgen eines Safari-Operators
15
4.2 „Wir können nichts machen“: Umweltschützer gegen Wilderer
17
4.3 „Mein Chef jammert“: Tourismusflaute in Kariba
20
5.
Zuerst Simbabwer, dann Journalist:
Die Grenzen der Pressefreiheit
5.1 „Kabila fliegt zurück“: Der „Herald“
21
5.2 „Die Angst ignorieren“: Der „Independent“
23
6.
24
„Wie mit einem alten Auto“: Warten auf Veränderung
11
Michael Strempel
Simbabwe
Michael Strempel, geboren am 02.11.1965 in
Sieglar (jetzt Troisdorf), lebt heute in Köln. Von
1983-1987 studierte er Geschichte, Germanistik
und Politikwissenschaften in Bonn und Cardiff
(Großbritannien). Von 1991 bis 1993 arbeitete
er als freier Journalist für den Bonner Generalanzeiger. Danach absolvierte er ein Volontariat
beim Westdeutschen Rundfunk in Köln. Seit
1994 ist er Redakteur in der Redaktion Landespolitik Fernsehen beim WDR in Düsseldorf.
1. Rhodes` Erben vor der Enteignung:
Weiße Farmer und die Probleme der Landreform
1.1 „Schlimmer hätte es nicht kommen können“:
Der Farmer Hugh Brown
„Sie gehen hier nicht weg, bevor Sie diese Briefe gelesen haben“. Hugh
Brown drückt mir einen Stoß Papier in die Hand. Einige Briefe sind maschinengetippt und haben einen offiziellen Briefkopf. Die meisten der etwa zehn
Blätter sind handschriftlich verfasst. Akkurat in Linie geschrieben, schließlich hatten alle Briefe denselben hochrangigen Adressaten: Kumbirai Kangai, Landwirtschaftsminister Simbabwes. Die Briefe, auf die Hugh Brown
so stolz ist, stammen zum größten Teil von seinen Landarbeitern, einige
auch von Geschäftspartnern des weißen Farmers. Alle haben sie den gleichen Inhalt: Sie wollen Kangai überzeugen, dass Hugh Brown seine Farmen
nicht verlieren darf. Denn seit November 1997 stehen zwei von den drei Farmen Browns auf jener berüchtigten Liste, die für Simbabwe längst ein
international diskutiertes Politikum geworden ist. Sie enthält knapp 1500
Farmbetriebe fast ausschließlich weißer Farmer, die die Regierung enteignen will. Am liebsten ohne Entschädigung zu zahlen. „Ich bin hier geboren
und aufgewachsen, und ich bin stolz auf diese Farm. Was soll aus meinen
Kindern werden, wenn es sie nicht mehr gibt. Sie werden irgendwo Diebe,
wie so viele andere.“ Ein schwarzer Farmarbeiter hat das geschrieben, und
Hugh Brown kann es nicht oft genug lesen. Für ihn ist es eine Bestätigung,
dass die Landreform der Regierung Mugabe an den eigenen Leuten vorbei
geht. Schließlich hat der 62 Jahre alte britische Einwanderer auf seinen Farmen 55 Häuser für die schwarzen Arbeiter gebaut und eine Schule für 300
Kinder. 115 festangestellte Farmarbeiter leben mit ihren Familien auf den
drei Farmen Crake Valley, Maonza und Ulu Zonwe. In der Saison kommen
bis zu 300 dazu. Wie glücklich sie mit ihrem Arbeitgeber wirklich sind, kann
ich in der kurzen Zeit meines Besuches nicht ergründen. Doch zumindest
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Michael Strempel
Simbabwe
wirtschftlich geht es den meisten geht es besser, als dem durchschnittlichen
Simbabwer. Brown ist ein liberal gesinnter Mann. Er fühlt sich durch seinen
Wohlstand verpflichtet und sorgt gut für seine Arbeiter. Schließlich braucht
er sie. Und die Briefe sind für ihn ein Beweis, dass sie es ihm danken.
„Schlimmer hätte das alles nicht kommen können“, sagt Brown auf der Terrasse seines malerisch gelegenen Hauses, von dem aus man einen weiten Blick
auf die satten grünen Berge der Eastern Highlands hat, die eher das Gefühl
vermitteln in der Schweiz als mitten in Afrika zu sein. Der Verlust von weit
über Zweidrittel seines landwirtschaftlichen Gebietes – die drei Farmen hängen zusammen und sind längst verschmolzen – würde den größten Teil seiner
Produktion zerstören. Damit würde Simbabwe seinen drittgrößten Käseproduzenten verlieren, denn der „Vumba Cheese“ den Brown herstellt, ist im
Land ein Markenprodukt geworden. Was Brown besonders wütend macht, ist
die offenbar willkürliche Auswahl der zur Enteignung bestimmten Gebiete.
„In der Nachbarschaft gibt es Farmen, deren Besitzer im Ausland leben und
die völlig verwahrlost sind. Keine von denen steht auf der Liste“. Für den
Mann mit dem akzentfreien Oxfordenglisch ein klarer Beleg, dass seine Farmen nicht für das „Resettlement“ gedacht sind, die Ansiedlung landloser
schwarzer Bauern auf dem Gebiet der früheren Kolonialherren. „Meine Farmen will sich einer der `fat cats´ unter den Nagel reißen“ – ein Parteibonze der
in Simbabwe allein regierenden ZANU-PF, Mugabes allmächtiger marxistischer Partei. Beweisen kann Brown das nicht, denn die Landreform in Simbabwe verläuft so undurchsichtig, dass sie jeder interpretieren kann, wie er
gerne möchte.
Wie die Regierung die offiziell 71.000 Familien, die seit der Unabhängigkeit auf ehemals weißen Farmen angesiedelt wurden ausgewählt hat, weiß sie
allein. Dass allzuviel verdiente Parteigänger und zu wenig fähige Landwirte
darunter waren, ist in Simbabwe aber ein offenes Geheimnis. Und damit
gerät ein Projekt in Misskredit, dass eine der Wurzeln des Unabhängigkeitskampfes ist: Das Land an diejenigen zurückzugeben, denen es gehörte bevor
die weißen Siedler es sich nahmen. Cecil Rhodes, der legendäre Chef der British South African Company, hatte die besiedlung Simbabwes vor gut 100 Jahren eingeleitet und dem Land schließlich seinen Namen gegeben: „Rhodesien“. Die schwarzen Freiheitskämpfer machten es wieder zu Simbabwe,
„Haus aus Stein“, benannt nach der letzten erhaltenen Steinfestung ihrer eingeborenen Vorfahren. Deren Land sollte endlich wieder ihr Land werden. Vor
allem das hatten sie sich auf die Fahnen geschrieben, als sie in den 60er Jahren ihren Widerstand gegen die weiße Regierung Ian Smiths begannen. Die
Erben des Cecil Rhodes sollten ihnen endlich den Besitz ihrer Väter und Großväter zurückgeben.
„Für mich ist die Landfrage einfach sehr emotional“ sagt Jennifer Chiriga,
die sich solchen Fragen als Mitarbeiterin eines politikwissenschaftlichen
Instituts eigentlich eher nüchtern nähert. Aber wie soll man emotionslos
bleiben, wenn man sieht, dass rund 70% der fruchtbarsten Böden in Simbabwe
in den Händen von 4500 fast ausschließlich weißer Farmer sind, während sich
die meisten der über 11 Millionen schwarzen Simbabwer auf den kargen
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Michael Strempel
Simbabwe
Gebieten drängen. Wofür fast zwanzig Jahre Unabhängigkeitskampf, wenn
sich das 17 Jahre nach dem Sieg der Schwarzen nicht geändert hat? Genau
solche Emotionen wollte die Regierung unter Präsident Robert Mugabe
wecken, als sie die Landfrage in den letzten Jahren wieder in den Vordergrund
ihrer Politik stellte.
„Wir wollen das Land nicht aus rassistischen Gründen enteignen“, erklärt
mir Walter Kuwara, den ich im Bus zwischen Harare und Karoi kennenlerne.
Eigentlich hat Walter mit Politik nichts zu tun, er ist der regionale Kontrolleur
seiner Busgesellschaft. Doch als Mitglied von Mugabes ZANU-Partei gehört
er zu jener Minderheit in Simbabwe, die sich für Politik interessiert. Die meisten haben es aufgegeben oder nie angefangen. Die Wahlbeteiligungen liegen
bei nicht einmal mehr 30 Prozent. Walter, dessen Englisch ich durch seine
tiefe, rostige Stimme erst nach gut zehn Kilometern verstehe, gehört aber keinesfalls zu den verbohrten Parteiideologen. Er will einfach wissen, welches
Bild ich von seiner Heimat und ihren politischen und sozialen Problemen mit
nach Deutschland nehme. Und er verteidigt einen Präsidenten, der für ihn trotz
aller Unzufriedenheit mit der momentanen Lage in Simbabwe noch immer der
Vater der Unabhängigkeit ist. Korruptionsvorwürfe hin oder her. Vor allem die
Landfrage ist für Walter alles andere als ein politisches Ablenkungsmanöver:
„Es gibt einfach soviel ungenutztes Land und auf der anderen Seite zuviele
Menschen, die nicht wissen, wohin“. Sein Argument ist so schlicht wie wahr.
Doch mit der einfachen Umverteilung von Land ist in Simbabwe keinem
geholfen. Die Arbeiter auf der Farmkooperative, die direkt an die Farm der
Browns angrenzt, haben das leidvoll erfahren.
1.2 „Wir hatten doch keine Ahnung“:
Erfahrungen einer schwarzen Landwirtschaftskooperative
Die Mitglieder der Kooperative gehörten zu denen, die in der ersten Phase
der Landreform eine verlassene Farm zugewiesen bekamen, um ihr Glück darauf zu versuchen. Elliot Matowanvika war von Anfang an dabei. Er war
Armeesoldat und hatte als Mitglied der Rebellenarmee ZANLA gegen die
weiße Regierung gekämpft. Die Teilhabe an der Farm war eine Art Belohnung
für den Einsatz seines Lebens. Viele alte Kämpfer kamen so in den 80er Jahren zu Land. Und die, die leer ausgingen, drängen Mugabe heute, mit der Enteignung der Weißen voranzukommen. Doch bei Elliot ist jede Euphorie verflogen. „Wir hatten doch gar keine Ahnung von Landwirtschaft“, erzählt der
kleingewachsene 43jährige über die Anfangsphase seiner Kooperative. Hugh
Brown, den weißen Nachbarn, den Elliot noch kurz zuvor bekämpft hatte,
mussten sie zur Hilfe rufen, um wenigstens einen kleinen Teil der KaffeeErnte retten zu können. „Wir sind gute Nachbarn, es gibt keine Feindschaft
mit den weißen Farmern“, sagt Elliot ganz selbstverständlich. Sein Präsident
würde das im Moment von einem seiner alten Kämpfer nicht gerne hören.
Aber die ganze Diskussion um die Landreform kümmert Elliot und seine 39
Kollegen in der Kooperative nicht. Sie sorgen sich eher um ihr eigenes wirt14
Michael Strempel
Simbabwe
schaftliches Überleben. Nachdem ihre Farm vor dem Ruin stand, ist der
Deutsche Entwicklungsdienst 1992 eingesprungen. Michael Jenrich, ein
deutscher Diplom-Volkswirt, hat mit seiner Frau Sabrina die Kooperative wieder auf Vordermann gebracht. „Wie sollen Leute, die vorher selbst noch nie
Kaffee getrunken haben, plötzlich Kaffee anbauen können“, fragt mich
Michael. Das unter den Weißen nach wie vor verbreitete Vorurteil, Schwarze
seien für eine moderne Landwirtschaft halt nicht geeignet, ärgert ihn: „Die
Leute hier haben immer sehr hart gearbeitet, härter als ich es gekonnt hätte.“
Es fehle einfach an Know-How und an Geld für die nötigen Investitionen. Als
die Kooperative die anfangs fehlende Unterstützung bekommen hat, stellte
sich auch wirtschaftlicher Erfolg ein. Michael erzählt, wie lernfähig sich die
Farmarbeiter gezeigt haben. Er fährt mich nicht ohne Stolz durch die Kaffeeund die neuen Passionsfruchtplantagen, die gute Gewinne gebracht haben.
Doch seit er und seine Frau die Leitung der Farm im letzten Jahr an einen einheimischen „Manager“ übertragen haben, sind die wirtschaftlichen Probleme
wieder da. Der Mann hatte einfach zu wenig Erfahrung mit der Vermarktung
landwirtschaftlicher Produkte. Der Absatz brach ein. „Mit dem Mann hatten
wir einfach Pech“, sagt Michael. Es gibt sehr qualifizierte schwarze Farmer,
aber einfach zu wenig. Die Ausbildungs-möglichkeiten fehlen. Hugh Brown,
der in den 60er Jahren in Harare Agrarwissenschaften gelehrt hat, war von
seine Schülern begeistert: „Einige von ihnen sind heute erfolgreicher als
ich.“ Das hilft der Kooperative aber nicht. Sie sucht jetzt einen neuen Manager und Elliot hat wieder Sorgen um die Zukunft seiner Familie. Da bleibt
keine Zeit für Mugabes Landpropaganda. Und die Arbeiter auf Hugh Browns
Farm sind sich sicher, dass sie die Selbständigkeit der Nachbarn gegen ihre
bescheidene wirtschaftliche Sicherheit nicht tauschen wollen.
1.3. „Eine politische Zeitbombe“:
Die Landreform aus Sicht des weißen Farmerverbandes
Die relative Zufriedenheit auf Browns Farm nützt all denen nichts, die solche Jobs nicht haben. Sie versprechen sich erst von einer Landreform den
Beginn einer erträglichen wirtschaftlichen Existenz. Das sieht inzwischen
sogar der fast ausschließlich weiße Großfarmerverband Commercial Farmers Union (CFU) ein. „Wir sitzen hier auf einer politischen Zeitbombe“, sagt
Arthur Baisley, der Vizepräsident der CFU . Je schneller es in Simbabwe wirtschaftlich bergab gehe, desto gefährlicher würden Konflikte wie die Landfrage. Eine Reform sei ohne Zweifel nötig. Doch Baisley und sein Verband
wollen die Spielregeln der Reform gerne selbst bestimmen.
Die CFU hat der Regierung rund 1,5 Millionen Hektar Land zur sofortigen
Übernahme angeboten. Zu Marktpreisen versteht sich, so wie die Regierung
auch bisher ihr Land zur Neubesiedlung erworben hat. Nur fehlt ihr jetzt das
Geld dazu. Das weiß auch Baisley. Der kräftige, etwas gedrungene Farmer mit
der typisch britisch-rötlichen Gesichtsfarbe setzt auf Hilfe aus Europa und den
USA: „Wir müssen der Welt zeigen, dass ohne Geld das ganze Projekt im
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Michael Strempel
Simbabwe
Chaos endet“. Ob er denn nicht fürchte, dass Mugabe seine Drohung wahr
machen und entschädigungslos enteignen könne, frage ich ihn. „Der Landwirtschaftsminister hat Entschädigung versprochen“, ist die knappe Antwort. „Aber der Präsident ist doch mächtiger, entgegne ich. „Es wird Entschädigung geben“. Punkt. Baisley ist sich so sicher, weil er die Schwächen
seiner Gegner kennt. Tatsächlich gibt es aus Regierungskreisen ständig widersprüchliche Ankündigungen über die Pläne zur Landreform. Landwirtschaftsminister Kongai hat Entschädigung versprochen, Mugabe will davon
offiziell nichts wissen. Der Landwirtschaftsminister hat auch angekündigt,
dass etliche Farmen wieder von der Enteignungsliste gestrichen worden
seien. Der Vizepräsidenten entgegnet, dass sei Unsinn. So ein Chaos kann
jemand wie Baisley, der während unseres knapp 20 minütigen Gespräches mal
eben per Handy seinen Landrover verkauft, nicht wirklich ernst nehmen. Er
ist einfach zuversichtlich, dass die Regierung den Westen nicht völlig verprellen wird, da sie sonst finanziell auf dem Trockenen säße. Es wird Entschädigung geben. Soll Mugabe doch sagen, was er will. Im Gespräch äußert
Baisley diesen Nachsatz allerdings nicht. Diplomatie gehört für einen weißen
Interessenvertreter im schwarzen Simbabwe zum Geschäft. Die Arroganz der
früheren Kolonialherren wird – wo sie nicht verschwunden ist – zumindest
versteckt.
Der Vizepräsident der CFU ist an diesem Morgen etwas in Zeitnot. Die Zentrale des Farmerverbandes habe Tag der offenen Tür, erklärt er mir höflich,
aber leicht ungeduldig. Natürlich bin ich herzlich eingeladen. Hauptsache wir
sind jetzt fertig.
Die CFU stellt an diesem Mitwoch ihren Mitglieder die neue Zentrale vor:
Ein modern ausgestattetes Gebäude auf einem großzügig angelegten Gelände.
Gelegen in einem der überwiegend weißen Stadtteile am Rande Harares. Im
März war die CFU aus dem Zentrum Harares weggezogen, da ihre weißen
Mitglieder dort nicht mehr so gerne hinfahren wollten. Jetzt hat man das beruhigende Gefühl, unter sich zu sein. Im Garten ist an diesem Morgen ein Zelt
für rund 400 Besucher aufgebaut, aber nur rund ein Viertel davon sind gekommen. Die meisten der angereisten Farmer sind zwischen 50 und 60 Jahre alt.
Die Jugend fehlt unter den weißen Simbabwern immer mehr. Schwarze Besucher sind beim Tag der offene Tür rar, da die CFU kaum schwarze Mitglieder
hat. Die meisten der anwesenden Schwarzen gehören zur Bedienung. Doch
den Eindruck, man wolle im neuen Simbabwe gar nicht wirklich dazugehören, versucht CFU-Präsident Nick Swanepoel in seiner Begrüßungsansprache
zu zerstreuen. Als er von seinen bevorstehenden Verhandlungen mit der Weltbank über Finanzhilfen für die Landreform spricht, mit denen das Land der
weißen Farmer bezahlt werden soll, betont er: „Wir machen das nicht für unseren Reichtum. Wir wollen ein wohlhabendes Simbabwe.“ Und das geht nicht
mit sozialistischen Enteignugsprinzipien. Eine Landreform mit einem vernünftigen Ansiedlungsprogramm fände hingegen die volle Untertützung der
CFU. „Schließlich sind wir alle Simbabwer“, sagt Swanepoel. Die Zeiten, in
denen sich die Weißen als „Rhodies“ empfunden haben, deren Heimat nicht
Simbabwe sondern Rhodesien heißt, scheinen tatsächlich der Vergangenheit
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Michael Strempel
Simbabwe
anzugehören. Wer im Land geblieben ist, hat meist mit den Mehrheitsverhältnissen seine Frieden gemacht. Was bleibt einer Bevölkerungsgruppe auch
übrig, die von 250.000 vor Beginn der Unabhängigkeit auf gerade noch
80.000 Mitglieder geschrumpft ist. Doch die weißen Simbabwer wollen ihre
Nischen verteidigen. Vor allem ihren Besitz, dessentwegen sie überhaupt im
Land geblieben sind.
Um das zu schaffen ohne die Augen vor der sozialen Wirklichkeit im Land
ganz zu verschließen, versucht die CFU seit einiger Zeit, eigene Vorschläge
zur Landreform einzubringen. Auf den 1,5 Millionen Hektar Land, dass die
Farmer selbst zum Kauf angeboten haben, will die Union 75 Modellfarmen
aufbauen, auf denen schwarze Landwirte ausgebildet werden können. Eine
überzeugend klingende Idee. Aber bei näherer Betrachtung nicht einmal der
berühmte Tropfen auf den heißen Stein. Die Regierung braucht 5 Millionen
Hektar Land, wenn sie, wie geplant, 100.000 Familien ansiedeln will. Und sie
hat vollmundig versprochen, das alles geschehe in den nächsten fünf Jahren.
Vor diesem Hintergrund erscheint das Angebot der Modellfarmen schon fast
so rührend wie der Versuch, auf einem sinkenden Schiff Navigationskurse
anzubieten. Dass das nicht mehr ausreicht, weiss auch die CFU. Aber sie ist
immerhin aus der Defensive gekommen und kann die Regierung mit guten
Gründen fragen: Warum fangt ihr nicht wenigstens auf dem von uns angebotenen Land sofort mit dem Resettlement an?
1.4 „Die Leute verlieren die Geduld“:
Die Landreform aus der Sicht des schwarzen Farmerverbandes
Szenenwechsel: Ein Büro, in dem mit Papier vollgestopfte Regale die
Durchgangstüren versperren. Auf dem Boden machen Batterien leerer ColaFlaschen jede Bewegung zum Hindernislauf. Die Mitarbeiter tragen allerdings
fast alle Schlips und Jackett. Ich bin beim Chefökonom der Zimbabwe Farmer´s Union (ZFU), der Interessenvertretung der schwarzen Kleinbauern. Sylvester Tsikisayi ist erst 31 Jahre alt. Ich hätte ihn deutlich älterer geschätzt.
Nach seinem landwirtschaftlichen Studium ist er zur ZFU gekommen, obwohl
er selbst nicht direkt aus einer Farmerfamilie stammt. Sein Vater ist Beamter,
nur der Großvater war Landwirt. Tsikisayis Verband gilt als regierungstreue
Organisation, die die Pläne zur Landreform schon deshalb unterstützt, weil
ihre Mitglieder sich am meisten davon versprechen. Die Kleinbauern besitzen meist nur wenige Hektar Land, während die meisten Großfarmen mehrere
tausend Hektar umfassen. Und die Kleinbauern müssen sich überwiegend mit
den schlechteren Böden abfinden, die magere Erträge bringen. Nach der
Unabhängigkeit, so erklärt mir Tsikisayi, hätten eine Fülle von Subventionen
ihr Überleben ermöglicht. Die meisten davon seien jetzt weggefallen. Und die
Finanzkrise Simbabwes ermögliche kaum noch die notwendigsten Investitionen. Es gebe einfach keine bezahlbaren Kredite. In dieser Lage sei die Enteignungsankündigung der Regierung der verzweifelte Versuch gewesen, die
Kleinbauern ruhig zu stellen. Die Hoffnung auf das neue Land als Motivation,
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Michael Strempel
Simbabwe
es auf dem alten noch etwas auszuhalten. Doch das funktioniert schon jetzt
nicht mehr. „Unser letzter ZFU-Präsident hat noch gewarnt, dass die Bauern
das Land besetzten könnten, wenn es keine Reform gibt“, sagt Tsikisayi und
hebt die Tageszeitung „Herald“ von seinem Schreibtisch auf: „Jetzt sind wir
so weit“. Die Schlagzeile des „Herald“ berichtet von einer Landbesetzung im
Matabeleland im Süden Simbabwes. 50 Bauern haben sich auf der Farm
eines Weißen niedergelassen und sind nicht wegzubewegen. „Und das wird
immer schlimmer“, sagt Tsykisayi, „die Leute verlieren die Geduld“. Er
selbst ist über diese Entwicklung alles andere als glücklich. Denn die ZFU will
zwar das Land enteignen, aber zugunsten professioneller schwarzer Farmer.
Das, so gesteht er ein, sei in der Vergangenheit oft schiefgelaufen. Die falschen
Leute seien auf dem freien Land angesiedelt worden. Deshalb sei die Reform
bisher auch noch kein durchgreifender Erfolg. Doch anders als der Großfarmerverband ist die ZFU überzeugt, dass es genügend ausgebildete schwarze
Farmer gebe, die das Land erfolgreich bewirtschaften können. Und weitere
müssten eben schnell ausgebildet werden, aber in viel größerem Umfang, als
es der Vorschlag der CFU ermögliche.
Aber Tsikisayi ist kein Träumer. Die Reform wird lange dauern, sagt er illusionslos. Er will nur, dass sie endlich startet. Und für den Angestellten eines
regierungsnahen
Verbandes gesteht er bemerkenswert offen, dass die Diskussion um die Enteignungsliste nicht gerade ein Erfolg für die Regierung ist. Das Gerangel um
die Zuständigkeit für die Landreform macht dem jungen Wirtschaftswissenschaftler die Arbeit nicht leichter. „Offenbar wollen einige den Landwirtschaftsminister loswerden“, erklärt er mir das Kompetenzgewirr, dass den
gesamten Reformprozess lähmt. Hoffnungsvoll wirkt er dabei nicht.
1.5 „Konzepte gibt es“: Ein Professor erklärt die Landreform
Dass Sam Moyo Professor für Politikwissenschaften ist, sieht man ihm nicht
unbedingt an. Er trägt bevorzugt lange afrikanische Musterhemden, während
seine Kollegen ihren akademischen Grad meist durch Anzug und Krawatte
unterstreichen. Doch Moyos afrikanisches Outfit hängt auch mit seiner wissenschaftlichen Position zusammen. Jennifer, die für sein Institut arbeitet,
nennt ihn den „Guru der Landreform“. Er begründet den Anspruch der
Schwarzen auf das Land der weißen Farmer. Kein Kongress, keine Aufsatzsammlung zu diesem Thema, ohne den Namen Moyo. Zusammen mit einer
Gruppe österreichischer Studenten habe ich eine Audienz beim „Guru“
bekommen, für die er ursprünglich ein Honorar erhalten wollte. Und das,
obwohl wir nur an einem Vortrag teilnehmen durften, den er ohnehin für eine
Gruppe amerikanischer Studenten gab. Moyo ist durch die ungelöste Landfrage zu einem wissenschaftlichen Star geworden. Und weil die Konkurrenz
in Simbabwe nicht allzu groß ist, lebt er von der Landreform recht gut – so
lange sie noch nicht vollzogen ist. Moyos Landkarten illustrieren die Ungerechtigkeit in seinem Land überzeugend. In unterschiedlichen Farben sind die
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Michael Strempel
Simbabwe
Böden Simbabwes gekennzeichnet: Blau für die besten, orange für die kargen
Gebiete. Legt man eine Karte mit dem Besitz weißer und schwarzer Farmer
darauf, so deckt sich blau mit den weißen und orange mit den schwarzen Farmen. Wer will dem Professor widersprechen, dass das nicht in Ordnung ist.
Doch auch ansonsten sollte man ihm besser nicht widersprechen. Denn als ich
ihn frage, ob für die zur Enteignung vorgesehenen Gebiete ein ausgereifter
Besiedlungsplan vorliege, ist Moyo genervt: „Das ist wieder so ein Argument
der Landreform-Gegener. Wenn wir so weitermachen, sind wir in zehn Jahren noch nicht fertig. Konzepte für die Besiedlung gibt es schon lange.“
Basta. Wie sie aussehen sollen habe ich zwar nicht erfahren, aber ich will den
Eindruck nicht vertiefen, als U-Boot der weißen Farmer in seiner Vorlesung
zu sitzen. Vielleicht werden dem Guru einfach zu oft dieselben Fragen gestellt
– außerdem empfiehlt er seine Bücher zur Lektüre, die kann man ja schließlich kaufen. Immerhin verzichtet er am Ende großzügig auf sein Honorar, als
der ebenfalls schwarze Dozent der Wiener Uni eine gewisse Enttäuschung
über die Veranstaltung nicht verhehlt. Für mich ist es jedenfalls lehrreich, wie
leicht man momentan als Weißer in Simbabwe in eine bestimmte Schublade
gesteckt werden kann. Das gilt allerdings nur für meine Begegnungen mit einigen Menschen in offiziellen Funktionen. Im Bus, wo ich als einziger Weißer
oft aufgefallen bin, sind mir die Menschen mit einer wunderbaren Offenheit
begegnet.
Moyos These, dass die von der simbabwischen Regierung vorgelegte Enteignungsliste zwar schwere Mängel und einige Ungerechtigkeiten aufweise,
die Mehrzahl der aufgelisteten Farmen aber völlig rechtmäßig darauf stehe,
macht mich dennoch nachdenklich. Es ist im Moment nicht schwer, die
Regierung angesichts ihrer chaotischen Politik und unbestreitbaren Korruption zum alleinigen Buhmann aller Fehlentwicklungen zu machen. Die klassischen Großgrundbesitzer und die Konzerne, für die ihr Landbesitz nichts als
Spekulationsobjekt ist, haben aber zur der verfahrenen Situation seit langem
beigetragen. Dass die Schwarzen sehr wohl zu erfolgreicher Landwirtschaft
fähig sind, zeigen nicht nur die erfolgreichen Schüler, von Hugh Brown , sondern auch – bei allen Problemen – die Kooperative in den Eastern Highlands.
Was ihnen fehlt sind die Chancen, ihr Können unter akzeptabelen Startbedingungen auch zu beweisen.
Hugh Brown, davon bleibe ich dennoch überzeugt, würde durch eine Enteignung Unrecht geschehen. Aber er ist nur einer von rund 1100 Farmbesitzern,
die enteignet werden sollen. Und unter ihnen sind auch noch genug, die ihre
Arbeiter ausbeuten und selbst die Mindestlöhne nur widerwillig zahlen, davon
wird mir bei meinen Gesprächen oft genug berichtet. Da ich in sechs Wochen
nicht alle Farmen besuchen kann, finde ich mich mit meinen Zweifeln ab.
Ganz offensichtlich bleibt nur, dass die Verquickung der Landfrage mit den
alten schwarz-weiß Gegensätzen in Simbabwe eine rationale Lösung fast
unmöglich macht. Das ist eindeutig der Regierung zuzuschreiben. Bei meinen Reisevorbereitungen habe ich oft vom umgekehrten Rassismus gelesen,
den es in Simbabwe jetzt gebe. Im alltäglichen Umgang habe ich ihn nicht
erfahren. Aber ich finde ihn in den regierungsnahen Zeitungen und in den
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Simbabwe
Reden Präsident Mugabes und seiner Minister. Sie brauchen den Hass auf die
Weißen als letztes Ablenkungsmanöver von einer völlig gescheiterten Politik.
Und die Wunden einer über hundertjährigen Kolonialgeschichte sind noch
lange nicht ausreichend verheilt, um solche Propaganda wirkungslos bleiben
zu lassen. Zwei deutsche Medizinstudentinnen, die in Harare ihre Famulatur
absolvieren, erzählen mir, dass sie die Wirkung dieser Politik zu spüren
bekommen. Manche ihrer schwarzen Kommilitionen würden ihnen sogar
die Hand zur Begrüßung verweigern. In einigen Studentenkreisen sei es im
Moment recht schick, anti-weiß zu sein. Ich glaube es ihnen, auch wenn ich
die Erfahrungen nicht teilen kann. Da wo ich Vorbehalte merke, sind sie
subtiler.
Es gibt aber auch Kolonialnostalgie unter einigen Schwarzen in Simbabwe,
die mich an die Sozialismusnostalgie in den neuen Bundesländern erinnert.
Motto: Wir hatten zwar weniger Rechte, aber auch weniger Sorgen. Harriet
Hurasha, die gelegentlich bei der Friedrich-Ebert-Stiftung arbeitet, ist das
beste Beispiel. Die Lage in ihrem Land macht sie depressiv. „Was kümmert
es mich, dass wir früher nicht auf dem Bürgersteig gehen durften. Jedenfalls
ging es uns besser. Ich würde heute Ian Smith wählen, wenn der noch zur
Wahl stünde.“ Das ist sicher nicht repräsentativ, aber Harriet ist nicht die einzige, die so denkt. Und es steigert meine Neugier, den Mann zu treffen, den
ich als Jugendlicher für den Inbegriff des Rassismus gehalten habe, und der
einmal verkündet hat, die Weißen würden Rhodesien tausend Jahre lang
regieren. Er selbst musste sich dann aber nach 18 Jahren geschlagen geben,
weil er den Guerilla-Krieg gegen die schwarze Unabhängigkeitsbewegung
nicht mehr gewinnen konnte. Ian Smith ist heute 82 Jahre, und ich weiß nur,
dass er noch in Harare lebt. Also mache ich mich auf Spurensuche.
2. „Unsere Schwarzen waren die glücklichsten“: Besuch bei Ian Smith
Der Harare Sports Club, der früher Salisbury Sports Club hieß, ist spätestens seit den Romanen Doris Lessings zum Symbol des weißen Rhodesiens
geworden. Als ich den Club an einem Sonntag morgen besuche, ist der Festsaal eine Baustelle – er wird gerade instand gesetzt. An der Bar senke ich das
Durchschnittsalter gleich erheblich. Unter sechzig scheint mir hier niemand
zu sein. An der Wand die Bilder aus besseren Tagen: Das siegreiche Rugbyteam aus meinem Geburtsjahr 1965. Der Hockeyclub als Ansammlung adretter, sportlich geformter junger Männer. Mit den Herrschaften neben mir an der
Theke kann ich sie nicht mehr so recht in Verbindung bringen. Dennoch
sind einige davon identisch.
„Wo sind die jungen Leute, so wie du?“, spricht mich einer an, der aussieht,
als sei er an der Theke festgewachsen. „Früher war das hier viel lebendiger“.
„Das weiße Simbabwe vergreist, die Jugend verschwindet nach Europa oder
in die USA“, erzählt er mir. Doch für ihn, der kurz vor der Pensionierung als
leitender Mitarbeiter eines Stahlkonzerns steht, ist es hier noch in Ordnung:
„Wenn du Augen und Ohren zuhältst, kannst du hier prima leben.“ Auf sein
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Michael Strempel
Simbabwe
Verhältnis zu den Schwarzen angesprochen, überrascht er mich. Man würde
ganz gut miteinansder auskommen, aber Kontakte blieben immer oberflächlich. Das sei vor allem Schuld der Weißen, die sich nie wirklich Mühe gegeben hätten, die Kultur und vor allem die Sprache der Schwarzen zu verstehen.
Im Harare Sports Club hatte ich andere Töne erwartet. Als ich ihn nach dem
Wohnort Ian Smiths frage, lerne ich im Handumdrehen die ganze Kneipe kennen. „He, der junge Mann hier kommt aus Deutschland und sucht Ian“, ruft
er die Theke entlang. Und sofort kommen zwei ältere Herren auf mich zu, die
Smith kennen und mir erzählen, dass er mit Beifall empfangen würde, wenn
er ab und an den Club besuche. Leider wissen alle nur so in etwa wo er wohnt,
aber keiner ganz genau. Immerhin bekomme ich die Adresse eines Buchhandels im weißen Wohnort Avondale, dessen Besitzerin Smith gut kenne. Der
Tip ist ein Treffer und am nächsten Mittag weiß ich endlich wo ich hin muss.
Dass der „Kommunistenfresser“ Smith heute direkt neben der kubanischen
Botschaft wohnt, ist wohl Ironie der Geschichte. Sein Haus habe ich mir größer vorgestellt. Keine Wache am Tor, kein Hund der bellt. Ich weiß nicht so
recht, ob ich einfach eintreten soll. Doch statt eines bissigen Köters kommt
ein weißhaariger, leicht gebückter alter Mann aus dem Haus, der mich offenbar schon eine Zeit lang beobachtet hat: Ian Smith. „Kommen sie ´rein“, ruft
er von seiner Haustür aus. Ich gehe etwas perplex auf ihn zu. Er führt mich
ohne weitere Fragen ins Wohnzimmer, bietet mir einen Sessel an und fragt
mich erst dann: „Was führt sie zu mir?“. Im Wohnzimmer scheint die Zeit in
den 60er Jahren stehengeblieben zu sein. Öllandschaften in schweren Rahmen
hängen an der Wand, die ich auf einem Bild des „Spiegel“ schon gesehen
hatte, als Hintergrund für ein Smith-Foto. Ich erkläre ihm kurz wer ich bin und
was ich in Simbabwe mache. „Sie können mich alles fragen“, sagt er. Was will
ein Journalist mehr? Ich nutze das Angebot. Über eine Stunde lang.
Smith, der bis 1987 noch im Parlament saß, dann wegen regierungsfeindlicher Äußerungen ausgeschlossen wurde, ist heute offiziell noch Farmer. Und
auch ein Teil seines großen Landbesitzes steht auf der Enteignungsliste.
Doch das kümmert ihn nicht wirklich. „Wenn es im nationalen Interesse
wäre, könnten sie mein Land haben“, sagt er ganz patriotisch, „aber diese
Regierung ist korrupt. Die bekommt es nicht.“ Hier spricht das Selbstbewusstsein eines Mannes, der seit 18 Jahren unter der Herrschaft seiner früheren Erzfeinde lebt, und dennoch ohne Leibwachen und verschlossene
Türen auskommt. „Sie würden es nicht wagen, mir etwas zu tun“, sagt er nicht
ohne Stolz. Dafür vertraut er doch zu sehr auf den Realitätssinn der schwarzen Herrscher, die ja aus guten Gründen eine Politik der Versöhnung angekündigt hatten. Schließlich brauchen sie Hilfe aus dem Westen. Deshalb
glaubt er auch nicht an die angekündigte Landenteignung. „Die kommt
nicht“, sagt er mit derselben Überzeugung, die mir schon beim weißen Farmerverband begegnet ist.
Doch dass seine Regierung die Krise des Landes maßgeblich verursacht
hatte, weil sie den Schwarzen das brauchbare Land vorenthielt, davon will der
frühere Premier nichts wissen. Die weißen Siedler hätten den Ureinwohnern
echte Landwirtschaft erst beibringen müssen. „Als die Siedler kamen, hatten
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Michael Strempel
Simbabwe
die doch noch nicht einmal das Rad erfunden.“ Ist das endlich der Rassist, den
ich erwartet hatte?. Er erklärt mir lange und mit viel Engagement, wie er sich
eine Zukunft für die Schwarzen im damaligen Rhodesien vorgestellt hatte.
„Evolution statt Revolution“, sagt er immer wieder. Ich kenne die Argument
schon aus seiner im letzten Jahre erschienenen Autobiographie „Der große
Betrug“. Für Smith war Rhodesien ein Entwicklungsprojekt, in dem die zivilisierten Europäer einer unterentwickelten Gesellschaft zeigten wo es lang
ging. So etwas dauert halt, auch wenn er seinen Traum vom tausendjährigen
Reich nicht mehr erwähnt. „Wir haben die Schwarzen doch erst davon abgehalten, sich gegenseitig umzubringen“, sagt er und glaubt es auch. Krankenhäuser, Schulen, so etwas habe es vorher doch gar nicht gegeben. Ich versuche nicht mit ihm darüber zu diskutieren, weil es mir sinnlos erscheint. Soll
ich versuchen, einen 82jährigen mit einem so festen Weltbild zu bekehren?
Doch die Offenheit, mit der seine Ansichten präsentiert, und der feste Glaube,
er habe damit heute noch Recht, beeindrucken mich. Der Machtverlust hat
seine Ansichten nicht erschüttern können. Und die Direktheit, mit der er
seine Ansichten äußert, ist für mich ungewohnt. Vor einigen Monaten, erzählt
er mir, sei er von der Universität Harare eingeladen worden. „Was wollen Sie
mit dem Rassisten Smith?“, habe er den Professor zynisch gefragt. „Nicht ich,
meine Studenten haben darum gebeten“, sei die Antwort gewesen. Dann sei
er hingegangen. Und ein mit schwarzen Studenten überfüllter Hörsaal habe
zugehört und applaudiert, als er mit der Regierung Mugabe abrechnete. Das
passt nicht ganz zu den anti-weißen Ressentiments, die es unter manchen Studenten geben soll. Doch Smith macht nicht den Eindruck, als habe er das
erfunden. Diejenigen, die seine Regierung im jahrelangen Guerillakrieg in die
Knie zwangen, haben abgewirtschaftet. Das stärkt seine Überzeugung, dass
er im Recht war. Hätte ihm nicht ein von Kommunisten weichgespülter
Westen die Unterstützung entzogen, sein „Modell Rhodesien“ wäre eine Art
Paradies geworden. „Unsere Schwarzen waren die glücklichsten Schwarzen
auf der Welt“, sagt er und lacht dabei mit väterlicher Zufriedenheit. Dann versuche ich es doch. Ich erzähle Smith von Leuten wie Jennifer, die unter seiner Amtszeit nie die Chance auf die gleiche Bildung und berufliche Karriere
bekommen hätten. „Kommunistische Propaganda“ wehrt er ab, ohne dabei
irgendwie unfreundlich zu werden. Ich belasse es dabei. Am Ende überrascht mich Ian Smith mit einem pragmatischen Resümee. Die Chancen seines „Modells Rhodesien“ seien vorbei. Jetzt müssten Politiker wie Nelson
Mandela Afrika aus der Krise führen. Solche Leute brauche Simbabwe auch.
„Ich liebe dieses Land, es bleibt mein Land und ich will nicht, dass es zu
Grunde geht“. Deshalb sei er mit Oppositionspolitikern in Kontakt und wolle
helfen, neue Führungskräfte für die Zeit nach Mugabe zu finden. Dass es
Schwarze sein werden, das steht selbst für Smith nicht mehr in Frage. Immerhin.
Nach einer überaus freundlichen Verabschiedung und der Einladung, jederzeit auf eine Unterhaltung wiederzukommen, verlasse ich den früheren Regierungschef etwas verwirrt. Ich muss mich zu der Erinnerung zwingen, dass es
eben dieser nette alte Herr war, dessen politische Sturheit Simbabwe in einen
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Michael Strempel
Simbabwe
der längsten Bürgerkriege Afrikas gestürzt hat. Doch die offene Art, mit der
ich empfangen wurde, und der freundliche Ton, mit dem Smith für mich haarsträubende Ansichten erklärt, waren entwaffnend. Justice Manyarara, der bis
vor wenigen Jahren einer der obersten Richter Simbabwes war und zu den
Gründervätern des unabhängigen schwarzen Staates gehörte, hilft mir aus
meinen Zweifeln. Ich habe diesen beeindruckenden Mann auf einem Kongress
der Friedrich-Ebert-Stiftung kennengelernt und bin nach dem Treffen mit Ian
Smith mit ihm verabredet. „Ist er nicht eine faszinierende Person?“ fragt er,
als ich ihm von meinem Besuch bei Smith erzähle. „Ich war immer sein Gegner,“ sagt der bald siebzigjährige Manyarara, „aber seine offene Art fasziniert
mich heute noch“. Ich fühle mich erleichtert. Offenbar geht es mir nicht
alleine so.
3. Alles nur Theater? Ein Nachtrag zur Landreform
Smith hatte Recht. Baisley vom Großfarmerverband auch: “Simbabwe
lässt Plan zur Enteignung weißer Farmer fallen“ heißt die DPA-Überschrift
vom 11.September 1998. Gut einen Monat nachdem ich abgereist bin, hat
Mugabe die Waffen gestreckt. Auf einer Konferenz mit den westlichen
Geberländern hat die Einsicht gesiegt, dass die Landreform nur mit Geld aus
dem Westen zu finanzieren ist. Und das hätte es bei entschädigungsloser
Enteignung nicht gegeben. 1,5 Milliarden Dollar erhofft Mugabe von den
Geberländern. Wenn er seine bisherige Politik fortsetzt, wird er sie kaum
bekommen. Der Präsident spürt, dass seine Zeit abläuft, doch er versucht
sich noch dagegen zu wehren. Das macht seine Politik unberechenbar. Als
ich die DPA-Meldung lese, glaube ich noch, dass in Simbabwe der Realismus gesiegt hat. Wenige Wochen später höre ich von neuen Enteignungsplänen, die der Agenturmeldung widersprechen. Für Hugh Brown geht
das ungewisse Warten weiter. Für Millionen landloser Schwarzer auch.
Mit ihrem hin und her in der Landfrage hat die Regierung Mugabe letztlich
ihr Versagen eingestanden. Außer Misstrauen und einem schlechteren Verhältnis zwischen Weißen und Schwarzen hat die große Enteignungspropaganda nichts erreicht. Dass Vizepräsident Joshua Nkomo nach der Konferenz in Harare angekündigt hat, die Regierung wolle jetzt ein Pilotprojekt
starten und zunächst eine Millionen Hektar Land neu verteilen, ist verblüffend. Es handelt sich dabei genau um das Land, welches die weißen
Farmer schon seit Jahren angeboten haben – gegen Entschädigung versteht sich. Nkomo selbst, dessen Farmbesitz so groß ist wie das Saarland,
wird natürlich nichts zu einem möglichen Pilotprojekt beitragen. Wenn es
überhaupt je gestartet wird.
Die große Gefahr ist, dass am Ende gar nichts geschieht. Das wäre eine Katastrophe. Denn auch wenn die Shona, der größten Stamm Simbabwes, als
ungewöhnlich duldsame Menschen gelten: Ihre Geduld, wird irgendwann zu
Ende sein. Die Unruhen, die Harare Anfang dieses Jahres erlebt hat, haben nur
eine Ahnung davon vermittelt, was passieren kann, wenn in Simbabwe nichts
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Michael Strempel
Simbabwe
passiert. Dabei geht es nicht nur um die Verteilung von Land, es geht um
Lebensperspektiven. Der Mehrheit der Simbabwer kommen sie abhanden.
4. Trügerische Hoffnung:
Tourismus als Rettung für Wirtschaft und Natur
4.1 „Ick liebe dieset Land, aber die machen et kaputt“:
Sorgen eines Safari-Operators
„Det wird hier nüscht mehr“, Klaus Jännicke sinniert über einer Flasche
Bier über die Zukunft seiner Wahlheimat. Das Bier gehört genauso zu ihm,
wie sein Schnäuzer, sein Landrover und der Dialekt seiner Berliner Heimat.
Seit 27 Jahren lebt er – mit Unterbrechungen – in Simbabwe. 1971 ist er ins
damalige Rhodesien gekommen, weil ihn in Deutschland der Frust gepackt
hatte. Leistungssportler war Klaus, wie er mir beim x-ten Bier erzählt. Ruderweltmeister im Zweier 1969. Doch nur dieses eine Mal. Dann war gegen eine
übermächtige DDR nichts mehr zu holen. Deshalb hat er aufgehört und ist
ausgewandert. An der Universität von Salisbury, wie Harare damals noch hieß,
fand er mit seinem Biologie-Studium einen guten Job. Während des Unabhängigkeitskrieges ist er nach Deutschland zurückgegangen, um nicht in die
Armee der Smith-Regierung eingezogen zu werden müssen. „Als Weißer mit
einer schwarzen Frau und einem schwarzen Kind hätte ich da nichts zu
lachen gehabt“. Gleich nach der Unabhängigkeit ist er zurückgekommen.
Doch dann hat er die Erfahrung gemacht, dass Weiße an der Uni inzwischen
hintenanstehen mussten. Die Schwarzen hatten Nachholbedarf und seine
Karrierechancen waren dahin. Jetzt ist Klaus Safari-Operator. Und als Biologe
ein kundiger und begeisterter Führer durch Simbabwes Nationalparks. „Am
Anfang war det ´n jutet Jeschäft“, sagt Klaus. Seine Touren grenzen sich vom
Pauschaltourismus, der vor allem Victoria Falls fest im Griff hat, bewusst ab.
Alles etwas kleiner, viel persönlicher und mit einer Buschküche, gegen die die
großen Lodges in den National Parks nicht ankommen. Klaus´ Chateau Briand mit Prinzessbohnen, zubereitet auf einer simplen Feuerstelle direkt am
Zambezi, ist ein Erlebnis erster Güte. Und wenn er dann noch im Mondlicht
und mit grunzenden Nilpferden im Hintergrund Loriot-Gedichte zitiert, bietet er den wohl skurrilste Afrika-Eindruck, den man sich denken kann. Doch
das reicht alles nicht mehr. Zwar hatte Simbabwe nach dem Ende der Embargos gegen Südafrika einen enormen Besucherzuwachs aus dem Nachbarland.
Doch jetzt spüren die Tourismus-Anbieter, wie konjunkturanfällig ihr
Geschäft ist. Die Wirtschaftskrise im südlichen Afrika hat auch die reiselustigen weißen Südafrikaner erfasst. Auch die asiatischen Besucher, mit denen
Klaus noch im letzten Jahr auf Löwensuche gegangen ist, sind diesmal wegen
ihrer schwächelnden Währung weggeblieben. Und in Simbabwe wird alles
teurer, fast wöchentlich. Seit Klaus in Victoria Falls eine Lodge gebaut hat, die
ihn allmählich die letzten Haare kostet, ist er ein großer Pessimist geworden.
Nichts funktioniert so, wie er es sich wünscht. Die ständigen Behörden24
Michael Strempel
Simbabwe
gänge werden zur Qual und die Arbeitsmoral in Afrika kann ihn auch nach 27
Jahren noch auf die Palme treiben. Da ist er ganz Preuße geblieben, auch wenn
man es ihm in seinem etwas schmuddeligen Safari-Look nicht ansieht. „Ick
liebe dieset Land, aber die machen et kaputt“, ist sein frustriertes Urteil über
die Regierung. Steuern zu hoch, rasant steigende Preise und inzwischen eine
explosive politische Lage, die Besucher nicht gerade anzieht. Da wird das
Leben als Safari-Operator schwer. Dabei fehlt es ihm nicht an guten Empfehlungen. Der damalige Wirtschaftsminister Günther Rexrodt war sogar auf
Vermittlung der deutschen Botschaft mit ihm unterwegs. Dass er sich dabei
wahrscheinlich seine Malaria zugezogen hat, ist nicht Klaus´ Schuld sondern
ein Problem mangelnder Prophylaxe. Mücken haben halt wenig Respekt vor
Ministern.
Auf den Pirschtouren in seinem alten Landrover erspäht Klaus jede Antilope mit bloßem Auge, währende ich mit dem Fernglas noch minutenlang
suchen muss. Doch auch die Zukunft dieses Naturparadieses sieht der WahlSimbabwer düster. Die Landbevölkerung dränge immer mehr in die Parks hinein und plündere sie aus purer Not aus. „Wenn die hier so weitermachen, dann
jibt et in fuffzich Jahren keene Nationalparks mehr“.
4.2 „Wir können nichts machen“: Umweltschützer gegen Wilderer
Klaus ist nicht der einzige, der dieses Problem erkannt hat. Die Regierung
Simbabwes ist sich der Bedeutung der Natur als eine der wichtigsten Wirtschaftsquellen des Landes bewusst. Und sie weiß auch, dass das gerade den
Bewohnern in den Gebieten rund um die Nationalparks herum schwer zu vermitteln ist. Für die Menschen dort sind das Holz und das Wild aus den Nationalparks Lebensmittel. Und davon bekommen sie wenig genug. Sie waren einmal ein Teil der Natur des Landes. Doch die Bevölkerung wächst zu schnell,
um das Gleichgewicht zwischen Menschen und Natur aufrechtzuerhalten.
Sind es heute rund 11 Millionen Simbabwer, so werden es im Jahr 2000 wahrscheinlich über 15 Millionen sein. Und dass so viele Menschen im wahrsten
Sinne des Wortes an die Ränder ihres Landes gedrängt wurden – dorthin, wo
auch die Nationalparks liegen – ist eben auch eine Folge der Kolonialpolitik.
Mit Ausnahme der Eastern Highlands sind die Böden an den Rändern Simbabwes meist schlechter als die im Zentrum. Und diese Böden wurden den
Schwarzen übrig gelassen. Wenig erstaunlich, dass sie die Nationalparks als
Quelle für den Lebensunterhalt mit einbeziehen.
Um die Naturschätze in Simbabwes Nationalparks zu retten und die Landbevölkerung am Profit teilhaben zu lassen, hat sich die Regierung kurz nach der
Unabhängigkeit ein überzeugend klingendes Programm einfallen lassen. CAMPFRIRE steht für „Communal Areas Management For Indigenous Resources“.
Das Programm soll die ländlichen Gebiete rund um die Nationalparks an den
Gewinnen aus Tourismus und Jagdlizenzen beteiligen. Die Parks sollen damit
auch für die Menschen in ihrer Umgebung zu Einnahmequellen gemacht werden, um so ein Bewusstsein für den Wert der Natur zu erzeugen.
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Michael Strempel
Simbabwe
„Es ist ein unglaublich gute Idee“, sagt Peter Ranger, der Vorsitzende der
Tierschutzgesellschaft „Wildlife Society“ in Kariba. „Doch sieh dir mal an,
was sie daraus gemacht haben“. 27 Millionen Dollar haben vor allem die USA
in das Projekt gesteckt. Doch jetzt wollen sie die Unterstützung auslaufen lassen, der Erfolg überzeugt sie nicht mehr. Das Geld versickert zu oft in
undurchsichtigen Behördenkanälen. Oder wird für völlig unsinnige Prestigeobjekte ausgegeben. „Da wo Schulen gebraucht werden, bauen sie repräsentative Begegnungszentren. Doch außer den lokalen Politikern will die
niemand.“
Peter verbittert eine solche Misswirtschaft. Der frühere Manager eine großen Lebensmittelkonzerns widmet sich seit seiner Pensionierung dem Naturschutz. Die Wildlife Society, eine Anfang des Jahrhunderts von Weißen
gegründete Gesellschaft, ist sein Familienersatz geworden. Am „simbabwischen Meer“, wie der große Kariba-Stausee in einigen Reiseführern genannt
wird, hat er sich erst vor ein paar Jahren niedergelassen. Und seitdem managt
er eben statt Lebensmittel die Wildlife Society. Für Innocent Hudzonge,
einen schwarzen Lehrer, der jetzt für die Wildlife Society als „education
officer“ arbeitet, sind die ständigen fürsorglichen Besuche seines weißen
Vorsitzenden manchmal etwas zeitraubend. Innocent organisiert das Bildungsprogramm der Naturschutzgesellschaft. Er fährt tagelang über Land und
besucht entlegene Dorfschulen, um den Kindern den Wert des Naturparadieses um sie herum bewusst zu machen. „Elefanten kennen sie nur als Bedrohung“, sagt er. Wer die zertrampelten Felder sieht, weiß warum. Doch Innocent versteht es, seine Schüler zu begeistern. Er organisiert mit ihnen Camps
in der Wildnis, in denen er Unterricht mit Abenteuer paart. Die Wissbegierde,
mit der seine kleinen Schüler den Naturkundeunterricht aufnehmen, imponiert
mir. Die Disziplin der Klasse aus Acht- bis Neunjährigen, die während meines Besuches in Kariba zu Gast ist, erst recht. Für viele ist die 200 Kilometer lange Anfahrt von ihrem Dorf am anderen Ufer des Sees zum Zentrum der
Wildlife Society nach Kariba der bisher größte Ausflug ihres Lebens. Zwei
Tage lang werden sie mitten im Busch lernen, warum das Holz der Bäume
wertvoller ist, wenn es verwurzelt im Boden bleibt. Und warum Elefanten
eben nicht nur Ernte zertrampeln können, sondern so interessante Tiere sind,
dass Leute wie ich um die halbe Welt reisen, nur um sie einmal in freier Wildbahn zu sehen.
Doch bevor dieses Camp starten kann, ist eine Krise zu bewältigen. Die
Schülergruppe ist schon am Donnerstag abend angekommen. Zwölf Stunden
früher als erwartet. Das bedeutet eine Übernachtung und ein Abendessen
mehr, als im Budget vorgesehen. Die Wildlife Society leidet aber unter chronischem Geldmangel. Innocent ist ein Meister im Improvisieren. Schnell
werden ein paar Schaumstoffmatten aus dem Keller geholt und in einen
überdachten Rohbau gebracht, der einmal das neuen Haus der Wildlife
Society in Kariba werden soll. Meine Sorge, für die Kinder könnten Kissen
fehlen, bringt Innocent zum Grinsen: „Die meisten von ihnen schlafen heute
zum ersten mal auf einer Matratze“. Zum Abendessen gibt es Sadza – eine
Pampe aus Maismehl, die in Simbabwe Nationalgericht ist. Darauf etwas Hüh26
Michael Strempel
Simbabwe
nerfleisch. Ich habe noch genug Zim-Dollar, um die ganze Klasse einzuladen.
In Deutschland wäre ich für die umgerechnet zwanzig Mark gerade einmal
alleine satt geworden. Krise überwunden.
Am nächsten Morgen gehe ich mit Innocent und einigen Jungs aus Kariba
in den Busch, um Fallen zu sammeln. Das Wildern mit Drahtfallen ist eines
der größten Probleme für die Nationalparks. Mir war die simple Technik
nicht bewusst: Eine Schlinge aus Draht zwischen zwei Büsche gespannt, in
der sich selbst ein Büffel leicht verfängt und elend verendet. Auf unserer Tour
werden wir von einem bewaffneten Wildhüter von der Nationalparkverwaltung begleitet. In der Gegend um Kariba hat es einen regelrechten Kampf mit
den Wilddieben gegeben, vor allem mit denen, die die vom Aussterben
bedrohten Nashörner jagen. Die meisten sind von Sambia aus über die Grenze
gekommen. Um die Rhinos zu retten, hatte Simbabwe sogar die Armee eingesetzt. 92 Wilderer wurden erschossen. Doch dieser Kampf ist vorbei, die
meisten Rhinos wurden aus dem Grenzgebiet evakuiert. Die Fallen, die wir an
diesem Morgen haufenweise finden, sind von harmloseren Wilddieben. Nach
knapp einer Stunde gibt mir einer der Jungs ein Zeichen, dass ich mich dukken soll: Drei ziemlich heruntergekommene Männer sind in Sichtweite und
suchen die offenbar von ihnen ausgelegten Fallen nach Beute ab. Nach kurzer Beobachtung zeigen wir uns und Innocent nimmt die drei zusammen mit
dem Wildhüter ins Gebet. Doch die Fallen sind leer und niemand kann beweisen, dass diese Männer sie ausgelegt haben. „Die sind so dämlich, wie sie aussehen“, sagt Innocent resigniert, „aber trotzdem können wir nichts gegen sie
machen. Und selbst wenn wir sie auf frischer Tat erwischen, sind die Strafen
lächerlich.“ Das Wildern von Tieren wie Antilopen oder Büffeln ist in Simbabwe ein Kavaliersdelikt. Und als ich erfahre, dass ein Stadtratsmitglied von
Kariba erst kürzlich dabei ertappt wurde, massenhaft Wildfleisch aus seiner
Tiefkühltruhe zu verkaufen, kann ich Innocents Frust noch besser verstehen.
Denn das sind dieselben Leute sind, die über die Vergabe der CAMPFIREGelder bestimmen. Solche Fälle von großer und kleiner Korruption sind in
Simbabwe offenbar zentraler Bestandteil der Staatsverwaltung geworden.
Das Engagement von Menschen wie Innocent wird dadurch zur Sisyphusarbeit.
Zurück in Harare treffe ich den Pressesprecher von CAMPFIRE, der mir
etwas widerwillig ein Gespräch über die Probleme des Projekts eingeräumt hat. Journalisten sind bei regierungsnahen Behörden in Simbabwe
wenig beliebt. Entsprechend dürftig ist das Ergebnis. Das auf dem Papier
überzeugende Konzept braucht er mir nicht mehr nahezubringen. Fälle
von Missbrauch gebe es überall, das müssten die Gerichte klären. Was soll
ein Pressesprecher auch anderes sagen. Und eine Reihe von Erfolgen im
Ausbau der Infrastruktur in den ländlichen Gebieten rund um die Nationalparks glaube ich ihm einfach. Doch nach meinen Erfahrungen in Kariba
bin ich skeptisch, wenn er mir vom großen Engagement in der Umwelterziehung erzählt. Die Wildlife Society, die mit offiziell CAMPFIRE
zusammenarbeitet, bekommt zumindest in Kariba nicht die geringste Unterstützung.
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Michael Strempel
Simbabwe
Das Ziel, den Tourismus zu nutzen um Umwelt und Wildleben in Simbabwe
effektiver zu schützen, bleibt aber ohne Alternative. Die Urlauber spielen
damit in Simbabwe eine völlig andere Rolle, als in Ländern mit Massentourismus. Während letzterer ein massives Umweltproblem ist, fördern die Besucher in Simbabwe ohne es zu wissen den Naturschutz. Als Bedrohung für die
Natur sind sie noch viel zu wenig. Und ohne sie fehlte das Geld zum Erhalt der
Nationalparks komplett. Projekte wie die Wildlife Society sind auf ihre ohnehin kargen Einnahmen aus dem Tourismusgeschäft angewiesen. Ihre Informationszentren und Souveniergeschäfte halten die Gesellschaft über Wasser.
4.3 „Mein Chef jammert“: Tourismusflaute in Kariba
In diesem Jahr ist es vor allem in Kariba menschenleer, obwohl im Juli
eigentlich Saison ist. Bei einer Sunset Cruise auf dem Kariba See, die in jedem
Reiseführer wegen ihres traumhaft-kitschigen Panoramas gepriesen werden,
sind eine deutsche Rucksacktouristin und ich die einzigen Gäste auf dem Ausflugsboot. „Ich weiß nicht, was in diesem Jahr los ist“, sagt der Bootsführer
kopfschüttelnd. Davison weiß es. Bei einer Kanutour, für die wieder nur mit
Mühe die Mindestzahl von drei Teilnehmern zusammengebracht werden
konnte, erzählt mir der smarte Safari-Guide, dass 1998 zumindest in Kariba
eine ziemliche Pleite für das Tourismusgeschäft zu werden droht. Auch hier
fehlen die weißen Südafrikaner. Und da der Zim-Dollar auf rasanter Talfahrt
ist nehmen viele Reiseveranstalter nur noch US-Dollar als Zahlungsmittel. Die
Preise sind gesalzen. Eine eintägige Kanusafari ist unter 50 US-Dollar nicht
zu haben. Doch die Kosten für ein Tourismusunternehmen sind hoch, vor
allem wegen der enormen Abgabenlast im Land. Das Lied kenne ich schon
von Klaus Jännicke. Außerdem haben die Unruhen in Harare am Anfang des
Jahres vor allem europäische Besucher verschreckt. „Hier hat man davon gar
nichts mitbekommen“, sagt Davison, „aber bei Euch glaubt man offenbar, in
Simbabwe wäre der Krieg ausgebrochen“. Die Auswirkungen der weltweit
gezeigten Fernsehbilder mit Plünderungen und brennenden Geschäften sind
in Kariba jedenfalls deutlich zu spüren. Doch die Tourismusbilanz des ganzen Landes stagniert schon länger. Während Simbabwe 1995 und 1996 die
Zielmarke von einer Millionen Touristen schon im September übersprungen
hatte, blieb die Besucherzahl 1997 deutlich darunter. Die Bilanz für 1998
droht noch deprimierender auszufallen. „Mein Chef jammert über die vielen
Stornierungen in diesem Jahr“, sagt Davison. Sein Chef ist natürlich ein
Weißer. Genau wie Klaus und weit über 90 Prozent der Tourismusanbieter des
Landes. Ähnlich wie in der Landwirtschaft hat die Regierung auch hier ein
„Indignisierungsprogramm“ aufgelegt: Mehr Schwarze sollten sich im Tourismusgeschäft selbständig machen. Doch unter dem verschärften wirtschaftlichen Druck traut sich das kaum jemand. Zumal einer wie Davison nie
die Chance hätte, das Startkapital aufzubringen.
Sogar der „„Herald““, Simbabwes staatseigene größte Tageszeitung, berichtet, dass die Indignisierung in der Tourismusbranche weitgehend fehlge28
Michael Strempel
Simbabwe
schlagen sei. Über 60 Prozent der für Schwarze reservierte Lizenzen für
Nationalpark-Safaris seien 1997 ungenutzt liegengeblieben. Für das regierungsfromme Blatt eine ungewöhnlich kritische Bilanz.
5. Zuerst Simbabwer, dann Journalist: Die Grenzen der Pressefreiheit
5.1 „Kabila fliegt zurück“: Der „Herald“
„Kabila fliegt nach Treffen mit dem Präsidenten zurück“. Die Schlagzeile
des „Herald“ vom 10.Juli 1998 hat mich neugierig gemacht. Das der kongolesische Staatschef seinen Besuch in Simbabwe auf alle Zeit ausdehnen
wollte, war ja wohl nicht zu erwarten. Warum ist Kabilas Rückflug also die
wichtigste Botschaft des Tages und nicht etwa Inhalt und Ergebnisse seines
Treffens mit Mugabe. Ganz einfach: weil der „Herald“ über Letzteres so gut
wie nichts zu berichten weiß: „Präsident Laurent Desire Kabila aus der
Demokratischen Republik Kongo flog gestern morgen zu einem zweistündigen privaten Treffen mit Präsident Mugabe nach Harare. Gegen Mittag flog
er nach Hause.“ So der erste Absatz des Artikels auf der Titelseite (!) von Simbabwes größter Tageszeitung. Damit hat die Zeitung die hart recherchierten
Fakten auch schon berichtet. Der Rest ist Spekulation. Die Themen des Treffens seien nicht bekannt geworden. Der Reporter vermutet, es habe sich um
Sicherheitsfragen gehandelt. Dass das Treffen genau zu dem Zeitpunkt stattfindet, an dem im Kongo erste Unruhen aufflammen, irritiert den „„Herald“
nicht. Nur wenige Wochen später ist ein Bürgerkrieg daraus geworden, in den
Simbabwe aktiv eingreift. Der kongolesische Präsident wird aber noch mit den
Worten zitiert, die Schießereien in seiner Heimat seien ein „kleiner Zwischenfall“. So etwas passiere auch in Washington. Das reicht der Tageszeitung zur
Einordnung der Unruhen. Es sei eher „wahrscheinlich“, so unkt der „Herald“Reporter, dass es bei dem Treffen zwischen Kabila und Mugabe um wirtschaftliche Fragen gegangen sei. Am Anfang des Artikels waren es noch
Sicherheitsfragen. Aber man weiß halt nichts genaues.
Diese Form des „Könnte-sein-Journalismus“ ist für mich neu und auf den
ersten Blick recht amüsant. Dahinter verbirgt sich allerdings mehr als der
Dilettantismus eines Reporters. Der „Herald“ dokumentiert in diesem Artikel
eindrucksvoll, dass er nur berichtet, was die Regierung Simbabwes für berichtenswert hält. Weitere Ambitionen hat die Zeitung offenbar nicht, sonst dürfte
sie sich kaum mit derart peinlichen Informationsfetzen über einen politisch
brisanten Besuch zufriedengeben.
Das wäre kein Problem, wäre der „Herald“ nicht die wichtigste gedruckt
Informationsquelle des Landes. Mit einer Auflage von rund 120.000 Exemplaren steht er an der Spitze der simbabwischen Zeitungen. Der „Chronicle“
aus Bulawayo bringt es gerade einmal auf die Hälfte dieser Auflage. „Herald“,
„Chronicle“ und ein paar kleine Regionalzeitungen wie die „Manica Post“ in
Mutare gehören zum Simbabwe Mass Media Trust, einer formal unabhängigen Einrichtung, die die Zeitungen herausgibt und faktisch komplett von der
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Simbabwe
Regierung kontrolliert wird. Vor allem beim „Herald“ wurden schon mehrfach
missliebige Chefredakteure gefeuert, um den regierungstreuen Kurs des Blattes nicht zu gefährden. Das heißt nicht, dass der „Herald“ überhaupt keine kritischen Informationen drucken würde. Er berichtet zum Beispiel auch über die
Wirtschaftskrise im Land oder über Korruptionsfälle bei staatseigenen Betrieben. Doch in diesen Berichten kommt die Regierung immer weitgehend
ungeschoren davon. Die Ursachen der Krisen liegen außerhalb ihrer Einflussmöglichkeiten und die Korruptionsskandale sind bedauerliche Einzelfälle. „Sie drucken nur Dinge, die schon so bekannt sind, dass sie sich vollständig lächerlich machen würden, wenn sie versuchten sie zu leugnen“,
urteilt Justice Manyarara über vermeintlich kritische Berichte im „Herald“.
Der frühere oberste Richter ist heute als Präsident des „Media Institute of Southern Africa“ einer der wichtigsten Kämpfer für die Presse- und Meinungsfreiheit in seinem Land. Mit beißendem Spott zitiert er Bornwell Chakaodza,
den Chefredakteur des „Herald“. Der sage von sich, er sei zuerst Simbabwer
und erst dann Journalist. „Können sie sich vorstellen zu einem Arzt zu gehen,
der von sich sagt, er sei zuerst Simbabwer und dann Arzt?“ Diese Berufsauffassung sagt für Manyarara alles.
Natürlich hätte ich gerne mit dem Chef der „Herald“ selbst darüber gesprochen. Doch der Versuch scheitert. Bei meinem Besuch im „Herlad“-Hauptgebäude werde ich an Chakaodzas Stellvertreter Maruziwa verwiesen. Dem
darf ich mich nach einigem Warten immerhin vorstellen und ihm mein Anliegen vortragen. Doch seine Vorbehalte gegen eine weißen Journalisten der
etwas über simbabwische Zeitungen erfahren möchte will er gar nicht verbergen. Wenn ich etwas über den „Herald“ wissen wolle, könne ich ihn doch
lesen. Gute Idee, bedanke ich mich, das hätte ich auch schon getan. Aber als
Journalist würde ich auch gerne mit den verantwortlichen Menschen sprechen.
„Ist das so, dass die Journalisten in Deutschland mit den Menschen sprechen?“ fragt mich Maruziwa betont ironisch. Dennoch will er nicht so sein
und mir einen Termin gewähren. Am letzten Tag meines Simbabwe-Aufenthaltes habe er Zeit. Dann könnten wir ja versuchen, in meine Fragen „etwas
Sinn zu bringen“. Als ich zu der Verabredung erscheine, ist Maruziwa leider
nicht da. Die freundliche Sekretärin vertröstet mich auf den Nachmittag.
Beim zweiten Versuch - wieder Fehlanzeige. Abends startet mein Flugzeug
und ich muss auf die Sinngebung durch den stellvertretenden „Herald“Chefredakteur verzichten.
5.2 „Die Angst ignorieren“: Der „Independent“
Am selben Tag, an dem der „Herald“ die bewegende Geschichte über den
heimfliegenden Präsidenten Kabila bringt, hat der „Independent“ einen echten Skandal-Aufmacher: „Grace baut eine Villa für drei Millionen Dollar“.
Die Rede ist von der Präsidenten-Gattin Grace Mugabe, deren Einfluss auf
ihren Mann in Simbabwe ein inoffiziell viel diskutiertes Politikum ist. Der
„Independent“ zeigt an diesem Freitag ein Foto von Grace Mugabes neuem
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Michael Strempel
Simbabwe
Luxusdomiziel und hat gründlich recherchiert, inwieweit staatliche Stellen
wie das Bauministerium an dem privaten Hausbau beteiligt waren. Er liefert
damit weitere Indizien dafür, dass die Regierung des Landes korrupt ist.
Und genau das will der „Independent“ zeigen. Basildon Peta, der Autor des
Artikels, ist inzwischen ein bekannter Skandalreporter in Simbabwe. Doch die
Tatsache, dass seine Artikel gedruckt und verkauft werden dürfen, ist für ihn
kein Zeichen echter Pressefreiheit. „Die Regierung verlässt sich auf unsere
geringe Auflage“, sagt Peta. Solange der „Independent“ als Wochenmagazin
nicht mehr als 30.000 Exemplare verkaufe, könne Mugabe diese Pressefreiheit noch verkraften. Und da der „Independent“ mit zehn Zim-Dollar (rund
einer Mark) ausgesprochen teuer ist, wird seine Auflage relativ gering bleiben.
„Ich weiß, deine Zeitung ist besser“, sagt mir Mind, mein Lieblingstaxifahrer
in Harare. Er hat an einer Ampel schnell den „Herald“ von einem Straßenverkäufer gekauft und dabei den „Independent“ in meiner Jackentasche
bemerkt. „Aber die kann ich mir einfach nicht leisten“. Doch die hohen Produktionskosten zwingen den „Independent“ zu diesem Preis. Ohne seinen
finanzstarken Verleger wäre er wahrscheinlich ohnehin längst pleite. Dass dieser Verleger ein Weißer ist, passt natürlich genau ins Bild der Regierung: Eine
Zeitung wie der „Independent“ ist nur der Versuch der alten Kolonialherren,
die schwarzen Machthaber zu verleumden. „Solche Zeitungen sind für die reichen Leute in Borrowdale“, sagt Informationsminister Chimutengwende,
der auf einer Diskussionsveranstaltung der Friedrich-Ebert-Stiftung über die
„sogenannte unabhängige Presse“ herzieht. Und in seiner Forderung nach
strengeren Gesetzen gegen die Lügen und Diffamierungen dieser Presse
steckt eine handfeste Drohung. Wenn es Chimutengwende und seinen Kollgen im Kabinett zu bunt wird, werden diese Gesetze kommen. Präsident
Mugabe hat bei der diesjährigen Parlamentseröffnung ähnliche Maßnahmen
angekündigt. Noch werden die freien Zeitungen trotz ihrer Dreistigkeit als Feigenblätter der Meinungsfreiheit geduldet. Denn neben dem „Independent“ hat
nur noch der ähnlich ausgerichtete „Mirror“ eine halbwegs spürbare Auflage
– ebenfalls rund 30.000 Exemplare. Doch sollten sie stärker werden befürchtet Basildon Peta auch stärkere Repressionen. Drohanrufe und –briefe gehören schon jetzt zum Alltag des achtundzwanzigjährigen Journalisten. Er lässt
sich davon nicht aufhalten. Bei der erwähnten Dikussionsveranstaltung sitzt
er sogar neben dem Informationsminister auf dem Podium. “Die Angst muss
man einfach ignorieren“, erzählt Peta. Irgendwann gewöhne man sich daran.
Einmal sei er nach einem Artikel über Korruption in Unternehmen der ZANU
verhaftet worden. Man habe ihn am nächsten Tag wieder freigelassen. Das
seien eben nur Einschüchterungsversuche. Das Argument, er hänge an den
Strippen eines weißen Verlegers, hält er für vorgeschoben. Seinen Verleger
habe er erst zweimal zu Gesicht bekommen und ins Redaktiongeschäft habe
er sich noch nie eingemischt. Dass er ein Weißer sei, liege daran, dass sich
kein Schwarzer in Simbabwe den Luxus einer privat finanzierten Zeitung leisten könne. Das wisse die Regierung ganz genau.
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Michael Strempel
Simbabwe
6. „Wie mit einem alten Auto“: Warten auf Veränderung
Trotz aller berechtigter Kritik von Journalisten wie Basildon Peta herrscht
in Simbabwe ein gewisses Maß an Meinungsfreiheit. Auf dem Diskussionsforum der Friedrich-Ebert-Stiftung, das erstmals Journalisten und Parlamentarier zusammenbringt, werden in einem Hotel in den Eastern Highlands
deutliche Worte gesprochen. Dass der „Herald“ als wichtigste Zeitung des
Landes keinen Vertreter zu dem Treffen geschickt hat, bestätigt meine Erfahrungen mit der „Offenheit“ des Blattes. Die anderen Journalisten – Basildon
Peta eingeschlossen – können hier ihrem Ärger über die kläglichen Informationen aus der Politik Luft machen. Und einige der Parlamentsvertreter bringen ihnen durchaus Verständnis entgegen. Obwohl sie ausnahmslos ZANUMitglieder sind, zeigen sich die Parlamentarier auf dem Treffen nicht alle
stromlinienförmig. Doch das Parlament ist in Simbabwes Ein-Parteien-Staat
bislang weitgehend machtlos. Und wo die Grenzen solcher demokratischer
Spielchen sind, macht Informationsminister Chimutengwende am Ende des
Kongresses mit seiner Rede schnell deutlich. Der Minister hat nur eine Stunde
an dem zweitägigen Kongress teilgenommen. Das reicht ihm. Mit einer wie
er selbst ankündigt „polemischen“ Rede rechnet er mit der unabhängigen
Presse ab, und stempelt so den bis dahin geführten Dialog im Grunde als überflüssig. Einige Parlamentarier, die sich vor dem Erscheinen ihres Ministers
noch sehr offen und diskussionsfreudig gezeigt haben, verstummen nach
dem Auftritt des Informationsministers ganz schnell. Dennoch: Das Treffen
zeigt, dass es in Simbabwe ein Fünkchen Hoffnung auf eine demokratischere
Zukunft gibt. Ein laues Lüftchen der Veränderung, das noch viel Kraft gewinnen muss, bevor es auch Männern wie Chimutengwende ins Gesicht bläst.
Dass es in Simbabwe Meinungsfreiheit gibt, bestreitet auch Justice Manyarara nicht, der Experte für Pressefreiheit an dem Kongress teilnimmt. Aber
es sei eben viel zu wenig. „Wenn die Regierung einen Teil des Hwange
National Parks bestimmt, in der jeder laut seine Meinung den wilden Tieren
vortragen darf, ist das auch Meinungsfreiheit?“ fragt er rhetorisch auf dem
Kongress. Es fehle einfach an gerechten Chancen, Meinungen auch wirkungsvoll kundzutun. Dass sich daran etwas ändern muss und auch ändern
wird, davon ist Manyarara überzeugt. Doch wie er sich diese Änderung
wünscht, verblüfft mich. „Sehen sie, mit dieser Regierung ist es wie mit
einem alten Auto. Sie wollen es los werden, aber sie müssen es behalten bis
sie ein neues haben“, erklärt er mir. Und eine neue Mannschaft, die das Land
wirkungsvoll führen könne, sieht er bisher noch nicht. Die müsse sich jetzt erst
herausbilden, und solange sollten Mugabe und seine Leute am besten im Amt
bleiben. „Wenn die Regierung jetzt zusammenbricht ist in Simbabwe alles
möglich“, sagt Manyarara, „auch ein Bürgerkrieg“. Deshalb setzt er auf ein
„langsames Sterben“ der alten Machtstruktur. Manyarara ist der Mann, der mir
in Simbabwe am meisten imponiert hat. Neben seines westlichen Auftretens
und seiner akademischen Bildung vermittelt er das, was ich mir immer unter
einem weisen afrikanischen Stammesältesten vorgestellt habe: Überlegt,
gelassen und mit reicher Lebenserfahrung. Als Mitteleuropäer hatte ich wäh32
Michael Strempel
Simbabwe
rend meines Simbabwe-Aufenthaltes oft den Eindruck, in diesem Land müssten die nötigen Veränderungen ganz schnell kommen, sonst könne schon bald
alles zu spät sein. Jetzt weiß ich: Die Veränderungen müssen kommen. Aber
in Simbabwe geht nichts ganz schnell. Und deshalb stimmt wahrscheinlich das
simbabwische Sprichwort an die Adresse der Europäer: „Gott hat euch die
Uhren gegeben. Und uns die Zeit.“
33
Aleksandar Bogdanovic
Ein Journalist vom Balkan
im Wunderland
Deutschland vom 06.07. - 20.12.1998,
betreut von der Friedrich-Ebert-Stiftung
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Aleksandar Bogdanovic
Deutschland
Aleksander Bogdanovic, Jahrgang 1973, geboren in Sarajevo, hat dort auch bis 1991 seine
Schulzeit verbracht; studiert seit 1992 in Belgrad politische Wissenschaften, Fachrichtung
Journalistik. Seit 1993 freier Mitarbeiter bei
verschiedenen serbischen Zeitungen, zuletzt in
der inzwischen eingestellten Oppositionszeitung „Demokratija“. Von Juli bis Dezember Stipendiat der Heinz -Kühn-Stiftung in Deutschland.
Es ist 6. Dezember 1998, Nikolaus in Deutschland. Aber heute ist auch die
Jahresversammlung der Heinz-Kühn-Stipendiaten. Ich sitze hier zwischen
Iveta und denke an meine letzten fünf Monate in Deutschland und an den
Bericht, den ich schreiben soll. Was soll da stehen? Wie immer, kann ich nur
schreiben über Dinge, die ich gesehen oder gehört habe. Manchmal habe ich
auch kleine Bemerkungen oder Kommentare geschrieben. Das werde ich
jetzt auch machen. Und noch etwas, was ich häufig in der Zeitung nicht
schreibe, meine Gefühle, die ich hatte, während dieser fünf Monate, oder
etwas länger.
Und noch etwas muss ich am Anfang erzählen. Vor vielen Jahren hatte ich
eine Freundin, die eine Talk-Show auf einem Rundfunk in Jugoslawien hatte.
Einmal hat sie mir erzählt, dass sie nur glücklich war, wenn sie vor dem
Mikrophon gesessen hat. Etwas später hat sie wegen einer Auseinandersetzung mit dem Senderdirektor aufgehört, als Moderatorin zu arbeiten. Fast vier
Monate habe ich keinen Text geschrieben. Vor kurzem sollte ich meine erste
Meldung in Essen machen. Und, wenn ich wieder vor dem Computer war,
erinnerte ich mich an ihre Worte. Und ich hatte gerade dieses Gefühl: ich bin
der glücklichste Mensch, wenn ich vor dem Computer sitze und die Texte
schreibe. Ich hoffe, dass ich noch lange schreiben werde, und dass ich dieses
Gefühl nicht verlieren werde.
Also, wo fange ich an? Am sechsten Juli, als ich in Düsseldorf gelandet bin,
oder noch früher, als ich den Bescheid bekam, dass ich der Kandidat für das
Stipendium der Heinz-Kühn-Stiftung bin? Damals, vor einem Jahr, hatte ich
nicht die große Hoffnung, dass ich gewählt würde, aber ich habe es versucht.
Ohne Zeugnisse, die in Sarajevo geblieben sind, ohne Fakultät-Diplome,
meine Chancen waren nicht groß. Alles, was ich hatte, war meine, ich sage
immer „Hollywood-Biografie“, die Empfehlung meines Chefredakteurs und
den großen Wunsch, eine Welt ohne Krieg, ohne Armut, ohne Sanktionen zu
sehen. Viel von meinem Deutsch habe ich schon vergessen. Deshalb nehme
ich an zwei Kursen teil. Und es lohnte sich. Im April erhalte ich Antwort. Ich
fliege am sechsten Juli nach Düsseldorf. Ist es ein Truam? Kann es mir wirk36
Aleksandar Bogdanovic
Deutschland
lich passieren? Aber, vor dem Flug, noch ein bischen „balkanischen Alltag“.
Es ist normal, dass ein Bosnier Probleme mit dem Pass oder mit dem Visum
in Sebien hat. Und natürlich, kein Gehalt für die Dutzende Texte in Zeitungen
bekam ich. Aber daran sind die Journalisten schon gewohnt in Belgrad.
Also, der 6. Juli. Endlich fliege ich. Das erste Mal. „Hab keine Angst“, empfahl mir meine Freundin. „Es ist nur ein bisschen schwer beim Start. Du sollst
nur den Mund öffnen und nehmen eine Kaugummi. Dann geht es viel leichter.“ Und es war so.
Zuerst kommt in Deutschland der große Frankfurter Flughafen. Ich erinnere
mich noch, dass ich kaum das Flugzeug nach Düsseldorf gefunden habe. Und
dort wartet Frau Op de Hipt. Sie sagt mir „hallo“. Aber ich kann nicht antworten. Meine Zunge war so schwer. Ich konnte sie einfach nicht bewegen. Ich
habe so viel zu Hause geübt, etwas Nettes zu sagen. Aber es ging nicht. Und
Frau Op de Hipt hat das bemerkt. Deshalb sagte sie: „Es gibt keinen Grund,
Angst zu haben. Hier ist alles Spaß. Besonders in Iserlohn“. Man kann nicht
beschreiben, wie viel mir das geholfen hat. Und dann die erste Nacht in
Düsseldorf. Ich glaube noch nicht, dass ich nach Deutschland gekommen bin.
Man braucht nur „ein Stück Papier“ und vier Stunden. Das ist alles. An
einem Sonntag letztes Jahr hatte ich nicht zu arbeiten in meiner Redaktion. Es
gab einfach keine Presse-Termine. Mit einem Kollegen bin ich auf die Straßegegangen und habe eine Umfrage gemacht. Wir haben junge Leute gefragt,
würden sie nach Neuseeland auswandern, wenn sie die Möglichkeit hätten.
Alle Antworten waren positiv. Die große Mehrheit der Belgrader Jugendlichen
wollte nicht mehr in Milosevics Serbien leben. Der Grund ist nicht nur die
Arbeitslosigkeit , Krieg in Kosovo, oder kommunistisches Regime. Das
schwerste ist die fehlende Hoffnung, dass es besser in Zukunft wird.
Und ich war in der Europäischen Union, und ich werde da sechs Monate
bleiben. Das ist der Traum von Tausenden Jugendlichen am Balkan. Ich spaziere durch Düsseldorf. Unfassbar! Und ich habe schon Geld bekommen, um
etwas zu essen zu kaufen. In den nächsten sechs Monaten werde ich nicht
daran denken müssen, ob ich immer etwas zu essen habe. Ich werde in der
Kneipe mit den freunden ein oder mehr Bier trinken oder Kleidung kaufen
können. Meine Nachdenklichkeit unterbricht ein Auto-Fahrer. „entschuldigung“, sagte er, „wissen Sie wo...“. Ich erinnere mich weiter, aber r hat eine
Straße gesucht. Und ich war erst eine Stunde in Düsseldorf.
Morgen fahren wir nach Iserlohn. Ankunft, Zimmer im Studentenheim, Verwaltungsleute kennen lernen...und viele Ausländische Studenten, die nicht
besser Deutsch als ich sprechen. Das war eine Entlastung, die mir viel Selbstbewusstsein gab. Jetzt war ich so „mutig“, mit Frau Op de Hipt und anderen
Leuten zu sprechen. Aber den ganzen Tag sich auf Deutsch zu konzentrieren,
war am Anfang sehr schwer. Manchmal wollte ich nur in meinem Zimmer liegen und allein sein mit meinen Gedanken. Das war hilfreich.
Am ersten Tag im Unterricht habe ich fast meinen ganzen Freundeskreis in
den ersten zwei Monaten kennengelernt. Bevor ich nach Deutschland kam,
sagte mir meine Erfahrung, dass man nicht nach zehn Tagen eine Freundschaft
schaffen kann. Ich dachte, man muss mit jemandem viel, viel erleben und
37
Aleksandar Bogdanovic
Deutschland
danach ihn einen Freund nennen. Aber, das war nicht so in Iserlohn. Am ersten
Tag kannte niemand niemanden. Wir waren „eingeweiht“ zueinenander. Und
es gab keine Schwierigkeiten, die unseren Freundschaften nachprüfen konnten.
Also, zuerst Mohamed. Er war mein ersten guter Freund in Deutschland,
und unsere Freundschaft wird für immer etwas besonderes bleiben. Ich habe
ihn am ersten Tag bemerkt. Er hat gegenüber von mir gesessen und von
Anfang bis zum Ende des Kurses am wenigstens von uns allen gesprochen.
Aber das beduetet nicht, dass er nicht interessiert war. Der einundzwanzigjährige Student aus der Saudi-Arabischen Wüste sprach immer, wenn es
nötig war. Wir haben nie über die „größten“ Themen gesprochen, sondern nur
über unseren Alltag in Iserlohn, oder zu Hause, aber wir haben uns immer verstanden, als ob wir langjährige Freunde wären. Das Interessanteste waren
seine Diskussionen über Mann-Frau Beziehungen, die wir oft, wie ein internationales Thema, im Unterricht geführt haben. Ich fand immer lustig, dass
er leidenschaftlich das Saudi-Arabische Gesetz verteidigt hat, das sagt, dass
ein Mann vier Frauen haben kann. Er wurde immer wieder gefragt, ob er vier
Frauen haben will. Manchmal sagte er „natürlich“, um Spaß zu machen,
aber mir hat er immer gesagt, dass er heiraten möchte nur eine „in die er verliebt ist“. Ich erinnere mich noch sehr gut an sein Gesicht, als er erfahren hatte,
dass eine Kursteilnehmerin aus Israel kommt. „Komm schon“, sagte ich ihm
damals, „sie ist nur ein gewöhnliches Mädchen. Die Politiker machen S.....e,
und nicht die gewöhnlichen Leute.“ Eines Tages, kurz vor Ende des Kurses
sagte mir Mohamed: „Wir sind jetzt Freunde.“ „Wer?“, fragte ich. „Ich und
Sharon.“ Ich habe nichts gesagt, aber ich war stolz auf mich und meinen
Freund Mohamed aus der Saudi-Arabischen Wüste.
Alberto kam aus dem Nordern der spanischen Provinz Galicien. Er ist 32
Jahre alt und arbeitet schon seit Jahren als Englisch-Lehrer. Deutsch lernte er
nur aus Spaß. Er hatte eine Freundin, Deutschlehrerin, und sie hat ihn überzeugt, dass er Deutsch lernen soll. Und genau das waren seine zwei Monate
in Isserlohn. Er war Freund von jedem. Er konnte mit jedem über jedes
Thema sprechen und an allen Unternehmen teilnehmen. Alberto hat nur 4-5
Stunden pro Tag geschlafen. Jede Nacht ist er durch die Kneipen gebummelt,
oder hat eine Party besucht. Hausaufgaben machte er selten, aber alle Lehrer
hatten seine Gesellschaft gern. So, wie ich. Wir haben uns in der Küche kennengelernt. Es war für ihn nicht schwer, mich sehr oft zum Abendessen einzuladen und für zwei oder mehr Personen zu kochen. Er war immer für mich
da, wenn ich jemanden brauchte um mein momentanes Unglück oder meine
momentane Sehnsucht mitzuteilen. Alberto hörte sehr gut zu. Über die balkanischen Probleme habe ich mit vielen Leuten gesprochen, aber über mein
Schicksal konnte ich mich nur mit Alberto unterhalten. Und nicht nur das. Mit
etwas Übertreibung kann ich sagen, dass ich mit Alberto den Begriff „Mordsspaß“ kennengelernt habe. Auf dem Balkan kann man nie sicher sein, obwohl
niemand Gefahr sucht. Alberto kannte die Grenze, aber er wollte immer
„sein Adrenalin erhöhen“. Bei einem gemeinsamen Ausflug wollte er in
einem Flugzeug ohne Motoren durch die Luft segeln. Und er hat das geschafft.
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Aleksandar Bogdanovic
Deutschland
Ein anderes Mal fuhren wir nach Dortmund ins „Klettermax“. Alberto
wollte natürlich am Anfang an der schwersten Wand klettern. Und ich wollte
wie beim Luftsegeln nur gucken und ein Bier trinken. Das war sicher. Die
Gefahr habe ich genug zu Hause. Aber, ich kletterte in Dortmund zwei
Monate später. Es war ohne Alberto, aber ich habe damals an ihn gedacht.
Und ich fragte mich: „Suche ich nach den vier Monaten in Deutschland
Mordsspaß?“.
Dann kommt Kenji Ito, Japaner, der in Havard studiert. Und Genie. Er wusste alles. Die beliebteste Person bei dem Lehrer. Es gab Fälle, dass die Lehrerin etwas erklärt hat, und Kenji sagt: „das ist nicht so“. Die Lehrerin prüft
noch einmal nach, und muss anerkennen, dass Kenji Recht hat. Mohamed hat
immer seinen Gang mit einer Hand in seiner Tasche imitiert. Kenji hat sich
nicht geärgert. Ich denke, er wusste nicht wie. Und wir alle hatten Spaß „Mordsspaß“.
Amanda aus Wales hat Krimi-Romane unter einem Pseudonym geschrieben. Sie hat mir das schönste Kompliment meines Lebens gemacht. In meinen 25 Jahren ha ich viel Lob und Tadel erhalten, aber niemand hat mir
gesagt, dass ich „smart“ bin. Vielleicht deshalb, weil man nicht genau dieses
Wort auf serbisch übersetzen kann. Im Unterricht hat sie an meiner linken
Seite gessessen, und wir haben einander viel geholfen. Genau wie Sonhoa
Park, achtundvierzigjähriger Deutschlehrer aus Süd-Korea, bekannt im Institut als „Spielberg“. Mit seiner Kamera hat Sonhoa alle wichtigen Ereignisse
im Institut aufgenommen. Obwohl er viel älterals wir war, bemühte er sich
immer, unser guter Freund zu sein. Und er hat es geschafft. Während seiner
zwei Monate Aufenthalt in Europa war er in Skandinavien, Holland, Tschechien, Spanien, Luxemburg. An einem Freitag war Sonhoa in Malme. Bereits
am Sonntag wachte er in Napul auf.
Da ist nur ein Teil von meinen echten Freunden aus den ersten zwei Monaten. Dieser Text ist zu kurz für alle anderen. Aber ich werde sie nie vergessen.
Wenn ich mich jetzt an diese Zeit erinnere, habe ich das Gefühl, dass der Rest
der Welt für uns nicht existiert hat. Wir waren da alle weit von zu Hause, das
jetzt nur Teil von unseren Geschichten war.
Einem wichtigen Mann aus dieser Periode muss ich noch einen Teil widmen: Ulrich Wiegeman, meiner erster Lehrer im Goethe-Institut Iserlohn. Er
war gelassen, aber auch engagiert, sodass der Unterricht mein liebster Teil des
Tages war. Sein Humor war immer originell, und es fördert uns viel, zu lernen. Einmal hatten wir die Übung, in der ein Journalist mit „einer vierköpfigen Familie spricht“. Chejda war Mutter, Darien war Vater, und Mohamed und
Begüm waren Kinder. Ich war selbstverständlich Moderator und Sonha hat
alles mit seiner Kamera aufgenommen. Mit Hilfe von Ulrich haben wir eine
richtige Sendung mit „Werbungen“ und „Fragen der Zuschauer“ gemacht. Ein
anderes Mal hat jemand über Klaudia Schiffer gesprochen. „Wer ist sie?“,
fragte mich Sonha. „Deutschlehrerin in Grundstufe II. Kennst du sie nicht?“,
war meine ehrliche Antwort.
„Ist Alice in Dortmund“ war auch ein bekannter Witz. Jemand hat gefragt,
warum der Lehrer immer über Dortmund spricht.
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Aleksandar Bogdanovic
Deutschland
Aber es war nciht immer so „idyllisch“. Ich erinnere mich an den Fall, als
wir einen Sonntagnahcmittag Karten gespielt haben. Mit Natalia aus Tenerife
habe ich auch viel Zeit verbracht. Wir haben uns oft auseinandergesetzt.
Natürlich immer freundschaftlich. Diesmal hat sie gesagt, dass ich betrüge,
weil ich gewonnen habe. Es tat mir in diesem Moment sehr leid, dass ich nicht
Karten mit den Leuten spielte, die mich seit Jahren kennen und die wissen,
dass ich sehr, aber sehr selten betrüge. Und nach dem Betrug fühle ich mich
immer schrecklich. Wenn ich mit Freunden Karten spiele möchte ich, dass ich
mich gelassen fühle. Deswegen spiele ich immer fair. Ich konnte das erklären,
aber meine Mitspieler kannten mich nicht so gut, dass sie ohne Zweifel
sagen konnten, dass Natalia nicht Recht hatte. Wir beide sind weiter gute
Freunde geblieben.
Der zweite wichtige Teil in den ersten zwei Monaten waren die Reisen zu
den größten und schönsten europäischen Städten. Dank der Heinz-Kühn-Stiftung habe ich nicht nur mein Deutsch wesentlich verbessert und die Produktion der deutschen Zeitungen gesehen, sondern auch Berlin, Paris, Amsterdam
und Brüssel.
Meine erste Exkursion mit dem Goehte-Institut Iserlohn war die Reise in
die holländische Hauptstadt Amsterdam. Damals habe ich zum ersten Mal in
Praxis über Europa ohne Grenzen erfahren. Auf der ehemaligen Grenze standen die leeren Kontainer wie Zeugen für die Touristen und für die Geschichte.
Und niemand prüft unsere Ausweise nach. Hier kann man sehen, wie weit der
Balkan von Europa entfernt ist. Ohne Ausweis darf man fast nicht auf die
Straße hinausgehen, und hier sind die Leute frei, durch die ganze Europäische
Union zu fahren. Und niemanden interessiert, warum sie fahren, woher sie
kommen, wohin sie wollen. Ihre Freiheitkann gehen bis zu der Freiheit eines
anderen Menschen, wie in den Büchern.
Wir sind schon in „Nord-Venedig“. Im Rijksmuseumfährt man in eine
andere Zeit.Die Gemälde des „goldenen Zeitalters“: 20 Rembrandts Hauptwerke, Vermeer, Franz Hals...., über die ich viel gehört und gelesen habe,
konnte ich jetzt im Original geniessen. Und das bleibt für immer.
Nach dem Besuch im Museum können wir die Stadt besichtigen. Mohamed
wollte alles sehen, aber zuerst die „dunkle Seite“ von Amsterdam - „red light
district“ und die Gegend. Aber er kann nicht allein gehen. Ich komme mit, weil
ich denke, dass ich ihn verstehe. In Saudi-Arabien kann man vier Frauen
haben, aber man kann nur das Gesicht von einer Frau sehen. Und das nicht
immer. Nach einer Stunde haben wir unser Ziel gefunden. Halbnackte Frauen
winken uns schon durch ihre Fenster. Obwohl ich davon shcon früher gehört
habe, war dieses Erlebnis merkwürdig für mich. Mohamend möchte ein Foto
von einer Prostituierten machen. Aber, dann kommt ihr Macker und
beschimpft uns in für uns unverständlicher Sprache. Damit ist unser Abenteuer
in Amsterdams „Rotestraße“ fertig. Aber Amsterdam ist noch da. Unsere Zivis
empfehlen uns: „Lassen Sie sich einfach treiben! Amsterdam lernt man am
besten kennen, wenn man ohne besonderes Ziel durch die Straßen shclendert
und sich an dem erfreut, was man gerade zu Gesicht bekommt“. Und gerade
das habe ich gemacht. Eine Stadt ist geprägt von ihrer Geschichte, ihren
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Aleksandar Bogdanovic
Deutschland
Gebäuden und ihren Leuten. Amsterdam ist in jedem Fall etwas besonderes.
Wenn mich jemand später fragte, wie ist Amsterdam, antwortete ich immer:
„Das ist keine Stadt von diesem Planeten“.
Sieben Tage später war ich schon in Paris. Von der Stadt der Liebe und der
Revolution, des Chansons und den Straßencafes hat jeder hundert Mal gehört.
Aber, egal, wie große Kenntnisse über Paris man hat, muss man überrascht sein,
wenn man Paris erlebt. Dieser Gebäude habe ich hundert Mal im Fernsehen
gesehen, aber der Eifelsturm, der Arc de Trioumphe, das Schloß von Versailles und die anderen Schönheiten, die Paris hat, sind ein großes Vermögen, das
diese Generation von seinen Eltern bekommen hat, und etwas, was diese
Generation ihren Kindern hinterlassen muss. Die Geschichte ist voll von Kriegen, Armut, Ehrgeiz, Hass. In Paris ist ihre beste Seite geblieben. Als wir durch
die Stadt gefahren sind, und während wir alles besichtigt haben, dachte ich
immer an die Millionen namenloser Leute, die in den letzten Jahrhunderten
gelebt haben. Nach ihnen sind nur Dinge wie Paris geblieben. Ist das human?
Ich weiß es nicht. Aber so ist es und so wird es in der Zukunft sein. Und nach
uns bleiben nur unsere Hauptwerke. Wir werden sehr schnell vergessen werden.
Schon am ersten Abend unseres dreitägigen Aufenthaltes in Paris waren wir
auf dem Montmartre. Im Dunkel vor uns sehen wir kaum etwas außer Lichtern, aber wir sind aufgeregt und ungeduldig vor der morgingen Stadtführung.
Danach spazieren wir durch eine Menge Leute. Ich und mein Freund aus Vietnam. Und dann höre ich es: „Zeichnen oder Karrikatur“, auf Serbisch sagte
mir ein Fünfzigjähriger mit Bleistift und einigen Blättern in seinen Händen.
„Und wo hast Du diesen gefunden?“, zeigt er auf den Vietnamer und sagt ihm
„Guten Tag“ auf japanisch, was mein Freund natürlich nicht verstanden hat.
Er war mehr überrascht, als ich. Ich weiss noch nciht, was passiert ist. Ich
konnte nicht antworten. „Wie...Wie haben Sie gewusst, dass ich aus Jugoslawien komme?“, sagte ich endlich mit meinem bosnischen Akzent. „Ich
erkenne gleich unsere serbischen Gesichter.“
Ich habe seinen Namen vergessen, aber mein Bekannter hat mir noch
erzählt, dass er vor 30 Jahren aus Beograd nach Paris „wegen eines
Zusammenstosses mit den Kommunisten“ gekommen ist. Er hasse Kommunisten noch immer und deshalb möchte er nicht zurück nach Jugoslawien fahren. Nachdem ich ihm kurz erklärt hatte, dass wir nicht genug Geld für sein
Kunstwerk hatten, verabschiedete er sich von uns und suchte einen anderen
Kunden.Ich hoffe, wir treffen uns wieder - in Beograd ohne Kommunisten.
Am Morgen sahen wir endlich Paris im Tageslicht. So viele Leute, wie wir
unter dem Eifelturm trafen, konnten sicher nicht in dem neuen Stadion
„Frankreich“ stehen. Deshalb bleiben wir etwas weiter weg und machen nur
die Erinnerungsfotos. Der Garten im Schloß Versailles ist geschlossen - wieder eine Enttäuschung. Notre Dame wurde renoviert. Trotzdem, was ich sehe
ist erstaunlich. Wenn es Gott gibt, jetzt bin ich in seiner Nähe. Morgen folgt
der Besuch im Louvre und wieder die Momente, für die lebendig sein sich
lohnt. Mona Lisa guckt so, wie ich erwartet habe. Dickes, schwarzes Glas und
Dutzende Touristen verhindern, dass unsere Blicke sich treffen. Aber ich bin
zufrieden. Ich habe ihr rätselhaftes Lächeln gesehen.
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Aleksandar Bogdanovic
Deutschland
Vom 7. August bis zum 9. August besuchten wir Berlin. Die Hauptstadt des
Dritten Reichs, und Symbol des kalten Kriegs ist jetzt die größte Baustelle
Europas. Wenn Paris eine Geschichte über Europa durch Jahrhunderte erzählt,
dann zeigt Berlin die letzten hundert Jahre Europas. Auf dem Potsdamer
Platz, wo man die Mauer nicht mehr sehen , aber doch „riechen“ kann,
wächst das neue Geschäftszentrum Europas. Der Rest von der Mauer ist
etwas weiter. Noch immer hüte ich drei Stücke von ihr. Eins habe ich meiner
Freundin ge-schickt. Kann uns verbinden, was die Welt fünfzig Jahre geteilt
hat? Unter dem Brandenburger Tor steht eine Menge Polizisten. Berliner
Punker demonstrieren gegen Arbeitslosigkeit. Ihr Weg in die Geschichte.
Brüssel war die größte Überraschung für mich. Ich dachte immer, dass dort
nur die Politiker „zwischen großen Gebäuden unter dem großen Atom sitzen“,
und das ist alles Interessante in der Hauptstadt Europas. Viel interessanter sind
aber die großen, städtischen Plätze, Museen und die alten Kirchen.
Kenji und ich hatten Glück, dass der Royal Palace geöffnet war. Hinter den
amerikanischen Schülern haben wir lange geduldig gewartet, bis unser erster
Eintritt ins Haus eines Königs erlaubt war. Und es lohnte sich. „Warum
wurde ich nicht wie ein Kind des Königs geboren?“, fragte Kenji mehr für
sich. Das gleiche habe ich mich gefragt.
Mit den Reisen schließe ich meine Geschichte über meine ersten zwei
Monate in Deutwschland . Das waren zwei Monate, in denen ich, ohne viel
Sorge, Deutschland, neue Freunde und die große Welt kennengelernt habe.
Meine nächsten zwei Monate in Iserlohn hatten die drei wichtigen Sachen
zum Inhalt - die Politik, meine eigene Arbeitslosigkeit und die Prüfung.
In der Pause zwischen zwei Kursen habe ich gelernt, e-mails zu nutzen.
Damit konnte ich mit meinen Freunden in Belgrad Kontakt haben und Neuigkeiten erfahren. Alle drei-vier Tage hat mir mein Freund Djordje, der biem
beogradschen „Radio B`92“ tätig ist, über die politische Situation und über
sich und die anderen Freunde geschrieben. Einige andere Freunde haben
mich oft angerufen und Neuigkeiten erzählt. es ist immer schlimmer geworden. Die Zusammenstöße im Kosovo waren immer häufiger und größer, so
wie das elend in dem Rest von Serbien. In der Gegenwart wurde der Druck
der kummunustisch radikalen Regierung an die opositionellen Medien immer
kräftiger und größer. Meine Zeitung „Demokratija“ war von Anfang an sehr
stark gegen die Regierung, aber leider sehr schwach mit dem Geld. Am
Anfang, vor zwei Jahren hatten wir nur eine unmöbelierte Wohnung, großenWillen und Tausende Leser, die über die dreimonatlichen Demonstrationen,
die in Beograd und in den anderen großen serbischen Städten stattgefunden
haben, erfahren wollten. Nach Ende der Demonstrationen und der Zerstörung
der Koalition „Zajedno“ fühlten sich viele von ihnen enttäuscht und haben
aufgehört „Demokratija“ zu kaufen. Der Rest der Auflage war nicht groß
genug für die schweren jugoslawischen Bedingungen. Im September erschien
die letzte Ausgabe der „Demokratija“, womit ich meinen Arbeitsplatz verloren habe. Für mich, wie auch für meine Kollegen war das aber nicht nur eine
gewöhnliche Arbeitsstelle, weil wir etwas getan haben, an das wir glaubten.
Wir vertrauten darauf, und wir trauten noch darauf, dass Serbien in Zukunft ein
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Aleksandar Bogdanovic
Deutschland
demokratischer, europäischer Staat werden kann. Und nicht nur das. In dieser Zeitung war ich von Anfang an tätig, und diese Zeitung war ein Teil von
mir, wie ich ein Teil von ihr gewesen bin. In „Demoketija“ veröffentlichte ich
mein Interview mit einem Demonstrationsführer, Zoran Djindjic, in dem ich
ihn fragte ob er heimlich mit Milosevic verhandelte während der Demonstrationen. In „Demokratija“ habe ich als erster in Beograd geschrieben, das
DS einverstanden ist, dass der Vorsitzende von SPO Vulk Draskovic Präsidentenkandidat Serbiens aus Koalition „Zajedno“ wäre. Die Koalition
„Zajedno“ wurde später leider vernichtet wegen Djindics angeblichen Verhandlungen mit Milosevic und seiner Widersetzung gegen Draskovics Kandidatur. Ich habe als erster in Beograd geschrieben, dass der ehemalige
erfolgreiche Vorsitzende der Jugoslawischen Bank, Dragoslav Avramovic,
Kandidat der Opposition für den Präsidenten sein kann. Avramovic hat verzichtet, weil Vojislac Kostunica, ein Oppositionsführer in meinem Interview
gesagt hat, dass Avramovic ein schlechter, „skruprlloser“ Kandidat ist. Nach
den Wahlen habe ich zuerst geschrieben, dass SPO und SPS (Kommunisten), die stärksten Gegner in Serbien, über eine Koalition verhandeln. Trotz
manchen Erwartungen habe ich später geschrieben, dass die sozialistisch-radikale regierung wahrscheinlicher ist, was leider die Wahrheit war.
In „Demokratija“ habe ich noch dutzende Berichte aus dem serbischen und
jugoslawischen parlament, Interviews und Kommentare geschrieben.Das
kann man nie vergessen. Die anderen zwei Dinge, über die ich schreiben
möchte stehen in, man kann sagen, Zusammenhang. Je näher meine Prüfung
kam, und je nervöser ich war, desto schlimmer wurde es im Kosovo. Die
NATO hat sehr ernst gedroht, dass sie die serbischen Soldaten und Polizisten
angreifen wird, wenn Milosevic sie nicht aus dem Kosovo abzieht. Während
der Verhandlungen zwischen Milosevic und Holbrook, suchten die Bürger in
Beograd die Atom-Unterkünfte. Für alle Fälle.Und machten Witze. In einer
Umfrage fragte ein Reporter einen Passant: „Wie erwarten sie Luft-Angriffe?“
„Bescheiden im Familienkreis.“ Wie Silvester. Junge Männer erwarteten
gleichzeitig den Ruf zum Militärdienst. Zwei Tage vor der Vereinbarung
Milosevic-Holbrook rief ich meine Freundin an. „Und, was gibt es neues?“
fragte ich. „Nichts besonderes. Vor einer Stunde hatten wir eine Übung über
das Verhalten im Notfall.“ „Pass auf dich auf“, konnte ich nur sagen. Helfen
konnte ich nicht. Gleichzeitig haben die Parlamentswahlen in Deutschland
stattgefunden. Aristoteles hat die Demokratie als „am wenigsten schlechtes
System des Herrschens“ bezeichnet. In der Praxis ist es bis jetzt das beste
System. Das kann man ja in Jugoslawien nicht erfahren, aber in Deutschland
sicher. Die echte Demokratie bedeutet, dass das Volk seinen Herrscher wählt.
Für mich erstaunlich, aber in Deutschland ist genau das passiert. Nur eine
Stunde nach der Wahl erkannte der ehemalige regierungschef an, dass sein
Gegner mehr Stimmen bekommen hat. Er hat ihm gratuliert und viel Glück
gewünscht. Erst dann kam der Gewinner und sagte, dass sein Gegner ein guter
Staatschef war. Er sagte auch, dass er jetzt versuchen wird, seine Versprechungen vor der Wahl zu erfüllen. Für die Deutschen war das vielleicht
logisch, aber für einen Serben sieht das fast unglaublich aus. In Serbien
43
Aleksandar Bogdanovic
Deutschland
haben 500 000 Leute hundert Tage wegen des Betruges bei den Lokalwahlen
demonstriert, und wegen der Parlamentswahlen müssten sicher 5 Millionen
500 Tage demonstrieren. Ich dachte früher, aber ich bin jetzt sicher, dass Milosevics Problem mit den Serben an der zweifelhaften Legitimation seiner
Macht liegt. Ich sage, Problem mit den Serben, weil Milosevic viele Probleme
auch an anderen Seiten hat. Dieses ist aber das größte und das längste, und er
hat es für sich selber leider immer gelöst. Also, das Problem ist, dass in Serbien nie freie Wahlen stattgefunden haben. Die Opposition konnte nie vor der
Wahl ihre Ideen durch das staatliche Fernsehen, staatlichen Rundfunk und
staatliche Zeitungen sagen. Im Vergleich mit ihnen kann man alle anderen
Medien vernachlässigen. Und die anderen Aktivitäten der Opposition verhinderte die Regierung immer , wenn sie es konnte. Die Wahlergebnisse
waren immer zweifelhaft. Die Kommunisten nutzten jede Maßnahme, um ihre
Macht zu behalten. Von kleinen Tricks bis zu 2-3 Hundert gestohlenen Stimmen in Kosovo. Alles andere ist die Folge der unbewiesenen Legitimation seiner Macht. Die Probleme mit Arbeitern, Bauern, Sportlern, Künstlern... Alles
kommt später. Und die freien Journalisten würden nicht diese Menge Texte
gegen die Regierung schreiben, wenn sie den Staatschef ehren würden. Sonst
wäre der Journalismus iwe in Deutschland - kritisch, aber mit Ehre. Deshalb
denke ich, dass die größte Hilfe für Serbien, und damit für den Frieden im Balkan und Europa wäre, wenn die West-Länder freie Wahlen von Milosevic fordern würden.
Aber man lebt nicht von Politik, sondern von Diplomen. Die NATO-Drohungen und die Wahlen in Deutschland sind schon vorbei. Aber die ZMP-Prüfung noch nicht. Vier Monate bin ich jetzt schon in Deutschland, und diese vier
Monate habe ich nur die Pflicht gehabt, Deutsch zu lernen. Ich habe mich sehr
bemüht, ich war häufig in der Mediotek. Aber ist das genug? Manchmal habe
ich das Gefühl, dass ich nichts gelernt habe. Ich kann auch einen schlechten
Tag haben. das ist mir bereits passiert. es ist halb neun, früh am Morgen. Dr.
Hasenkamp bringt dasPrüfungsmaterial mit. Zuerst kommt der sogenannte
„Schriftliche Ausdruck“. In diesem Bereich bin ich relativ schwach. Aber in
den letzten fünfzehn Tagen habe ich viel geübt, und mein Schreiben verbessert. Die Themen sind nicht so schwer. Ich möchte „Personel Brief“ wählen,
aber im letzten Moment nehme ich „Vorteile und Nachteile der deutschen
Städte für die ausländischen Touristen“. In einer und einer halben Stunde ist
der Text fertg. Dann kommt das Lesen/Verstehen. Da bin ich unglaublich gut.
Manchmal verstehe ich nicht alles, was ich lese, aber mit ein bisschen Intelligenz kann man leicht fast jede Frage beantworten. Vor der Prüfung dachte
ich, dass „Hören/Verstehen“ leicht ist. Alle Übungen habe ich leicht bestanden. Aber dann aht jemand auf Band angefangen etwas über Alpen, über
Österreich zu sprechen. Ein guter Teil von der „Hören/Verstehen“ Prüfung war
für mich und meine Kollegen nicht mehr als „Bingo“. Vier Tage später erhalten wir die Ergebnisse. Alles bestanden. Jetzt kommt der „Mündliche Ausdruck“. Das kann ein Problem sein. Manchmal kann ich mich nicht genug
konzentrieren, und dann kann ich nichts erklären. Aber „Glück begleitet
mutige Leute“. Dreißig Minuten Vorbereitung dauern so lang. Zum Glück ist
44
Aleksandar Bogdanovic
Deutschland
die Prüfung etwas kürzer. Mein Ergebnis: lesen/verstehen - gut, hören/verstehen - befriedigend, schriftlicher Ausdruck - befriedigend, mündlicher Ausdruck - befriedigend. Jetzt habe ich ein Diplom. Alle anderen habe ich nicht
bei mir, oder ich muss sie noch gewinnen.
Während meiner letzten zwei Monate Iserlohn habe ich auch neue Freunde
gewonnen. Aber außer meiner Freundschaft mit Nenad und Javier, waren
keine anderen so bedeutungsvoll und tief, wie die Freundschaften im ersten
Kurs. Ich kann nicht erklären, warum.
Nenad war auch Stipendiat der Heinz-Kühn-Stiftung. Er kam aus Mazedonien. Unsere balkanische Mentalität und unsere ähnlichen Schicksale
haben uns von Anfang an verbunden. Mit niemandem hatte ich so viele
gemeinsame Themen wie mit Nenad und niemanden konnte ich besser verstehen, als Nenad. Über ihn habe ich einen großen Text für die Iserlohner Zeitung geschrieben. In diesem „Profil-Interview“ hat Nenad viele Dinge gesagt,
die ich oft gefühlt oder gedacht habe.
„Nachdem ich zehn Jahre als Journalist gearbeitet hatte, stellte ich fest, dass
Winston Churchill Recht hat. Er behauptete, Journalismus sei ein sehr guter
Beruf, wenn man ihn nur rechtzeitig aufgibt“, fing Nenad an. In Mazedonien,
wie in den meisten, postkommunistischen, Ländern, so Nenad, reflektieren sich
die Probleme des Übergangs in diesem Beruf, den die neuen (häufig die alten)
Herrschenden als lebenswichtig brauchen. „Unter den Leuten, die sich mit
Journalistik in meinem Land beschäftigen, sind zwei Typen zu unterscheiden:
die ersten, die sich mit ihren apologetischen Lobpreisungen der Macht anpassen, sie verdienen gut für Ihre Arbeit. Und die anderen sind von der Macht
unabhängige Journalisten, die nach ethischen und professionellen Normen
arbeiten. Sie stehen unter großem Druck von Seiten der Regierenden, oder sie
sind gezwungen, entweder den Beruf aufzugeben oder vergeblich um einen
besseren Status zu kämpfen.“ Deshalb wollte Nenad seine Arbeit aufgeben
und seine Ausbildung fortsetzen. „Ich würde mich mit Journalismus weiterbeschäftigen, wenn meine Arbeit so geschätzt würde, wie in den entwickelten Ländern. In Mazedonien könnte man überleben, wenn die Qualität der
Texte das Maß in dieser Profession wäre.“ Nenad hat über Ivan aus Kroatien
den Text geschrieben. Und im Grunde hat Ivan die gleichen Schätzungen über
die Situation in Kroatien gesagt. Nur Nenad war weniger kritisch, als Ivan. Die
Situation in Beograd war, und ist es noch, so schlecht, wie in Skopje oder
Zagreb. Nur, in Belgrad verdient niemand, außer Politikern oder Verbrechern, gut. Die Journalisten, die in den Staatsmedien arbeiten, leben so
schlecht, wie die „unabhängigen“ Journalisten. Nur wenige von den ersteren
haben Vertrauen in die Dinge, die sie schreiben, aber sie müssen überleben.
Mit Nenad, wie mit Ivan, Iveta, Viktoria, Reham und Bashir bleibe ich in Kontakt nach meinem Aufenthalt in Deutschland.
Javier kommt aus Mexikao. Er ist ungefähr so alt, wie ich. Er ist MaschinenIngenieur, und er wollte Deutsch lernen, damit er bei einer Deutschen Firma
in Mexiko Arbeit finden kann. In Iserlohn waren wir vier Monate zusammen.
Aber in den ersten zwei Monaten haben wir zusammen Fußball gespielt und
manchmal an den selben Partys teilgenommen. Das war nicht genug für eine
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Aleksandar Bogdanovic
Deutschland
feste Freundschaft. Nachem meine und seine Freunde Iserlohn verlassen
haben, war unsere Freundschaft logisch. Wir waren „die alten Wölfe“, wir
kannten die Regeln. Dart in den Kneipen, Fußballmatch (4:0für uns) gegen
Goethe-Institut Düsseldorf, die Hochzeit von unserem Freund Braien von den
Philippinen und seiner Frau Kirsten, viel Bier auf den Partys, sind nur einige,
unserer gemeinsamen Aktivitäten. Am Ende hat Javier meine Haare gekürzt.
Ich war sein erster Kunde. Die Umstände wollten, dass wir uns am Ende nicht
verabschieden konnten. Aber er hat mir eine CD mit mexikanischer Volksmusik geschickt. Auf einen kleinen Zettel war geschrieben: „für meinen
Bruder Aleksandar“. Er wird das bis zum Ende meines Lebens bleiben Javier aus Mexiko-Stadt.
Am 12. September fuhren wir nach Münster. Das war mein interessantester
Samstag in Deutschland. Über ihn habe ich einen Reportage für „Demokratija“ geschrieben. Eine Stadt mit 99 Kirchen und 999 Kneipen, eine Stadt mit
280.000 Einwohnern und 300.000 Fahrrädern, eine Stadt mit 1205 Jahren
Geschichte und 50.000 Studenten ist sowieso etwas besonderes. Aber diesen
Samstag haben in Münster die Demonstrationen von Neonazis stattgefunden.
Anlass für die Demonstrationen war die Ausstellung der Volkshochschule
„Vernichtungskrieg. Verbrechen der Wehrmacht 1941 bis 1945“, von der ein
gutes Drittel den Naziverbrechen in Serbien gewidmet war. Etwa 200 Neonazis und doppelt so viele Polizisten liefen durch das Zentrum der Stadt, zwischen den Kaufleuten und den Passanten. Zwei Zeiten Deutschlands trafen
sich in Münster. Wr die Geschichte des Nazismus kennt, würde nie glauben,
dass so eine Menge Jungen so einer gefährlichen Idee folgt. Die Neonazis
wurden die ganze Zeit von einer anderen Menge von Jugendlichen verfolgt.
Die Gruppe mit Che-Guevaras Portät vorne war sehr undiszipliniert und
suchte Zusammenstöße mit den Neonazis. Aber Polizisten hielten alles unter
Kontrolle bis zum Ende.
Bis zum Ende des Kurses waren wir noch in Weimar, Bonn, wieder in
Amsterdam... In der Stadt, in der Goethe und Schiller lebten, habe ich „den
Geschmack“ der ehemaligen DDR wieder gefühlt. Trotz der Renovierung ind
er zukünftigen Kulturstadt Europas können 50 Jahre unter dem Kommunismus
nie gelöscht werden. Man kann das bei jedem Schrittfühlen. Zum Glück haben
die Leute vor dem Kommunismus auch gelebt und geschafft. Mit seiner
Geschichte ist Weimar das beste Beispiel dafür. Nach Weimar besuchten wir das
ehemalige Konzentrations- und Internierungslager Buchenwald. Ich werde nie
vergessen diesen Wind der unter den Gittern weht. Es sieht aus, als obdoe Tausenden getöteten Menschen jeden Besucher warnen:“Was uns passiert ist, darf
nie mehr wiederholt werden“.Und nicht nur die Luft, sondern jeder Teil von diesem Mahnmal weckt in mir die Ehre für die Millionen, die hier und in der ganzen Welt wegen ihrer anderen Meinung oder Herkunft getötet wurden.
In Bonn erfahren wir etwas über ein anderes, modernes, Deutschland. Der
Besuch des „Haus der Geschichte der Bundesrepublik Deutschland“ und des
Bundstages zeigten mit mehr, als ich über das moderne Deutschland in den
letzten vier Monaten erfahren hatte. „Das deutsche Wunder“ - kann das auf
dem Balkan passieren?
46
Aleksandar Bogdanovic
Deutschland
Der Besuch in Amsterdam war wieder unglaublich interessant. Nach der
Van-Gogh-Ausstellung besuchte ich das Madame-Tussand-Museum.
Das waren zwei so ähnliche, aber so unterschiedliche Erlebnisse. Ein verrücktes Genie gegen die modernen Nachbildungen von Millionen. Die Fotos
von mir mit Clinton, Gorbatschow, Schwarzenegger und dem Papst mag ich
am liebsten von alllen.
Nach vier Monaten in Iserlohn kam ich nach Essen. Mein Praktikum in der
„Westdeutschen Allgemeinen Zeitung“ bringt mich zurück zum Journalismus. Diese Beschäftigung ist wohl etwas anderes als meine bisherige Journalistentätigkeit. Aber eine solche Erfahrung ist für einen jungen Journalisten
unschätzbar.Vor der Ankunft in Essen habe ich nicht so viel Deutsche kennengelernt. Nur die Goethe-Institut-Verwaltung, Lehrer, Zivis und einige
Freunde vom Goethe-Institut. Die meiste Zeit habe ich mit meinen ausländischen Freunden verbracht, die nicht so schnell und so verständlich Deutsch
sprechen. Jetzt habe ich echte Kontakte mit richtigen Deutschen und richtigen Journalisten. Aber mit Bernd Kassner , meinem Betreuer in der WAZLokalredaktion, war alles halb so schwer. Einen so netten und so geduldigen
Mann habe ich noch nie in meinem Leben getroffen. Und im Gegensatz zu
manchen Journalisten in Yugoslawien, hat Herr Kassner so viel Spaß in seinem Umgang mit mir. Und seine Hilfe war wichtig für mich. Er glaubt an Gott
,und deswegen, denke ich,schenkt er seinen Mitarbeitern und Freunden so viel
Aufmerksamkeitl. Ohne seine Bemühungen würde mein Aufenthalt in Essen
nicht so sinnvoll und für mein weiteres Berufsleben so wichtig sein. Herr
Kassner hat mir viel geholfen, aber so nett waren und sind auch die anderen
Leute, die bei der WAZ tätig sind. Jeder war freundlich zu mir und bot mir
immer Hilfe an, die ich oft brauchte. Von dem Chefredakteur Herrn Mämpel,
bis zum letzten freien Mitarbeiter.
Am Anfang konnte ich die Zeitung lesen, und jeden Text verstehen. Aber,
dass ich auch einen Text auf Deutsch schreiben kann, habe ich nicht geglaubt.
Mit dem Vertrauen von Herrn Kassner in mich, und mit seiner Geduld, habe
ich es geschafft. In der ersten Zeit habe ich nur geguckt, gehört und gelernt.
Die Produktion bei der WAZ ist ganz anders, als die Produktion in „Demokratija“ war. Hier macht ein Mann fast alles. Das ist viel einfacher, und das
ist erfolgreich. Bei der WAZ wissen die Leute am Tag vorher, was sie morgen
machen. In Belgrad war fast jeder Tag voll von Überraschungen. Und deswegen konnte man nie wissen, was morgen passiert, und, was morgen in der
Zeitung stehen wird.. Aber, sobald wir in Belgrad in dieser Art anfangen Zeitung zu machen, wird es bedeuten, dass eine bessere Zeit gekommen ist. Wenn
man die Themen in Belgrad und in Essen vergleicht, kann man kaum sagen,
dass wir dengleichen Beruf haben. In Belgrad habe ich über die Betrügereien
der Regeirung, über das enttäuschte Volk geschrieben. Bei manchen meiner
Termine handelte es sich um Feste, Messen, Alltagsprobleme, Weihnachten...
Meinen großen Text habe ich über die Ausländer aus dem ehemaligen
Jugoslawien in Essen geschrieben. Dafür sprach ich mit den Vorsitzenden der
Serben und Kroaten in Essen. Ich habe viele ausländische Mitbürger ken47
Aleksandar Bogdanovic
Deutschland
nengelernt und viel über ihr Leben erfahren. In Jugoslawien gelten sie als
wohlhabend. Die Leute denken dort, dass ihr „Reichtum“ leicht verdient
wurde. Aber es ist nicht so. Sie arbeiten viel und hart, und sie verzichten auf
viele Dinge, die Leut ein Jugoslawien haben. Ich denke, dass sie nciht so
glücklich sind, wie man in Jugoslawien denkt. Und hier ist mein Text:
Bis zum Anfang der neunziger Jahre waren sie alle „ausländische Mitarbeiter“ aus einem Staat. Dann hat der Krieg in ihrer Heimat begonnen, und die
Beziehungen der ex-Jugoslawen waren für immer geändert.
Persönliche oder familiäre Freundschaften zwischen Kroaten, Serben, Slowenen, bosnischen Muslimen und Kosovo Albanern sind seltener geworden.
Nur die Besten haben die langjährigen Kämpfe in ihrer Heimat überlebt. Jetzt
sind sie in Essen „gute Nachbarn und Mitarbieter“; nicht mehr und nicht weniger.
Die großen ethnischen Gruppen aus dem ehemaligen Jugoslawien sind
etwas mehr als 4000 Serben und ungefähr 3000 Kroaten. Die ersten treffen
sich noch immer im vor 25 Jahren gegründeten Jugoslawischen Zentrum.Vor
dem Krieg zählte der Verein knapp 4000 Mitglieder: Serben, Kroaten, Slowenen, bosnische Muslime, Kosovo-Albaner, Ungarn. Jetzt besuchen das
Zentrum nur noch Serben und einige Vojvodina-Ungarn, wenige Kroaten und
Kosovo-Albaner.
„Wir sind noch immer offen für alle Leute guten Willens“, sagt Ljubische
Rakic, der in den letzten drei Jahren 1. Vorsitzender des Zentrums war. Die
Verhältnisse zu Essener Mitbürgern, die aus dem ehemaligen Jugoslawien
stammen, beschreibt Rakic als sehr gut. „Wir hatten hier nie Problme miteinander“, sagt er.
Ihm stimmt der Pfarrer der katholischen kroatischen Mission, Stjepan
Penic, zu. „Im letzten Jahr war jeder von uns mit seinem Volk emotional verbunden, aber hier haben wir keine Auseinandersetzungen gehabt.“
Er nennt als Beispiel eine Gelsenkirchner Disko, deren Besitzer Serbe ist,
die aber junge Leute besuchen, die aus verschiedenen Nationalitäten stammen.
Viele ausländische Mitarbeiter aus dem ehemaligen Jugoslawien verdienen
ihren Unterhalt auf der Baustelle. Sie arbeiten ohne Probleme seit Jahren
zusammen. „Wir sprechen einfach nicht über Politik miteinander“, erklärt
Dimitrije Kostic, Verwaltungsmitglied des Jugoslawischen Zentrums in Rüttenscheid. Als einzige „halb-offizielle“ Verbindung zwischen den verschiedenen ethnischen Gruppen sind noch die sportlichen Wettberwerbe geblieben.
Am häufigsten sind das die Fußballturniere, die die Stadtverwaltung, oder
einer, der ausländischen, Vereine organisieren. Hier spielen Serben gegen Kroaten, und es gibt nicht mehr Fouls, als anderswo.
Während des Krieges haben humanitäre Organisationen, die von Leuten
aus dem ehemaligen Jugoslawien gegründet wurden, tonnenweise Hilfe in
die Heimatländer geschickt. Ljubisha Rakic, der Serbe, betont die besonders
guten Beziehungen zur katholischen Caritas, mit der Hilfe das Jugoslawische Humanitäre Forum allein in diesem Jahr fünf Lastwagenmit Nahrung,
Medikamenten und Kleidung für das Serbische Rote Kreuz gespendet hat.
Und bei einer der letzen Sendungen hat den Serben wegen des Mangels an
48
Aleksandar Bogdanovic
Deutschland
Ladearbeitern ein Kosovo-Albaner geholfen. „Wir sind glücklich, dass solche
Aktionen für Kroatien nicht mehr nötig sind. Wenn wir etwas Geld in unserer Mission sammeln, geben wir es zur Caritas. Sie leitet es weiter“, erklärt
Pfarrer Penic.
Seiner Meinungnach werden alle ethnischen Gruppen in Zukunft ihre
Beziehung mit der Heimat verlieren. „Außer Türken villeicht. Die zweite
Generation der Serben und Kroaten spricht nicht merh die Muttersprache, ihre
Kinder werden sich bereits wie Deutsche fühlen, und die vierte Generation
wird nicht wissen, woher sie kommt.“
Und jetzt bin ich wieder in dem Restaurant in Köln. Ich bin sehr forh, dass
ich meine Freunde Nenad, Ivan, Iveta, Viktorija, Reham und Bashir wiedergetroffen habe. Heute verabschiede ich mich von ihnen. Hoffentlich treffen
wir uns wieder. In Essen bleibe ich noch zehn Tage. In den letzten Monaten
habe ich viel gelernt und erfahren. Ich habe die große Welt gesehen, die Welt,
von der ich vor sechs Monaten nur träumen konnte. Ich habe viele Freunde
erworben, und ich habe mich erholt von dem balkanischen Alltag. Dafür
danke ich der Heinz-Kühn-Stiftung. Ich danke auch der Friedrich-EbertStiftung in Belgrad und meinem Chefredakteur Vlado Mares. Besonders
vielen Dank Frau Op de Hipt, die mir immer geholfen hat, wenn ich ihre Hilfe
brauchte. Immer nett und geduldig waren auch die Verwaltungsmitglieder des
Goethe-Instituts Iserlohn und die Kollegen in der Lokalredaktion WAZEssen. Dafür danke ich ihnen auch.
„Aleksandar Bogdanovic“
49
Petra Putz
Ende der Schonzeit?
Der Elefant als Schlüsseltier für neue
Wege in Tanzanias Artenschutzpolitik.
Tanzania vom 18.07. - 31.08.1998,
betreut von der Friedrich-Ebert-Stiftung
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Inhalt
Welcher Stamm?
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Der Elephant-Man
54
Die Geschichte ist noch nicht vorbei
55
Erbe des Sozialismus
56
Die Artenschutzkonferenz von Harare
56
The „Charismatic Mega Species“
57
Afrika ist kein Zoo
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Eine gelbe Aktenmappe
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Im Land der Elefanten
60
Öko-Tourismus mit dem Gewehr
62
Kein Leopard im Vollmond
63
Die Herren sind auf „Safari“
65
Elfenbein-Partner gesucht
66
Die Löwen geben eine Pressekonferenz
67
Der Prinz der Serengeti
68
Schützen oder Nutzen?
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Vorsicht, Mama!
71
53
Petra Putz
Tanzania
Petra Putz, geboren am 7. Juni 1965 in Burghausen (Landkreis Altötting). 1985 bis 1991
Studium der Publizistik und Geschichte in Salzburg und München. Nach dem Studium Hospitanz beim Bayerischen Rundfunk und freie
Autorin für verschiedene Agenturen, RTL und
den ADAC. Von 1993 bis 1994 Programmvolontariat beim Westdeutschen Rundfunk in
Köln. Seit 1994 Redakteurin der jungen WDRHörfunkwelle Eins live.
Welcher Stamm?
Vorne auf dem Videoscreen explodiert New York, der Gasfuß des Busfahrers
kennt kein Erbarmen, Fußgänger werden entschlossen in den Straßengraben
gehupt. Ich kann’s nicht mehr mitansehen. Als ich mich zur Seite wende, erkundigt sich mein Sitznachbar freundlich: „Where do you come from?“ Nach meiner Antwort: „Aus Deutschland“ will er noch wie selbstverständlich wissen:
„Und von welchem Stamm?“
Diese Frage kenne ich schon. Seit sechs Wochen reise ich durch Tanzania. Das
ist meine letzte Fahrt, im „Luxus-Bus“ von Arusha im Norden in die Hauptstadt
Dar Es Salaam. In drei Tagen fliege ich schon wieder zurück nach Deutschland.
Am Anfang habe ich noch gestutzt, wenn ich ein neues Hotelzimmer beziehen
wollte, und das ganz große Formular ausfüllen musste: Name, Geburtsdatum,
Adresse, Passnummer - und Stamm. Witzbolde schreiben „Westfale“ hinein, und
kein Tanzanier versteht, warum sie darüber lachen. Das Land ist stolz darauf, dass
hier 127 Stämme konfliktfrei zusammenleben. Moslems, Christen, Hindus und
Anhänger von Naturreligionen respektieren sich. Blutige Bürgerkriege zwischen den Ethnien wie in den Nachbarstaaten hat es hier nie gegeben. Tanzania
hält seine eigenen Krisenherde auf kleinster Flamme und hat stattdessen große
Probleme durch die Konflikte nebenan. In Ruanda und Burundi massakrieren
sich Hutus und Tutsis, die Menschen fliehen vor dem Bürgerkrieg ins friedliche
Tanzania. Sie bevölkern riesige Flüchtlingslager in der westlichen Region
Kigoma, die die tanzanische Regierung nur mit Hilfe ausländischer Finanzhilfen versorgen kann. Denn Tanzania zählt zu den ärmsten Ländern der Welt: Nur
180 Dollar im Jahr beträgt das durchschnittliche Pro-Kopf-Einkommen.
Der Elephant-Man
Unter dem Schreibtisch hat er die Gummilatschen abgestreift. Wir trinken
süßen schwarzen Tee, die Klimaanlage dröhnt und scheppert. Irenäus F.
54
Petra Putz
Tanzania
Ndunguru ist der „Elephant-Man“ der tanzanischen Regierung und schwieriger zu erreichen als Helmut Kohl. Gestern hatte ich ihn ohne Anmeldung
besucht, draußen am Rande von Dar Es Salaam in den Büros der Wildlife
Division. Diese Abteilung des Ministeriums für „Fremdenverkehr und Natürliche Schätze“ ist für alles zuständig, was mit Artenschutz, Wildbewirtschaftung und Schutzgebieten zu tun hat. Also auch für Elefanten. Natürlich
wollte ich vorher anrufen. Doch die Telefonleitungen im Büro der FriedrichEbert-Stiftung funktionierten nicht. Und weil die kleinen Wildlife-Pavillons
viel weniger offiziell wirkten, als die abweisenden Ministerienbunker in
Deutschland, schaute ich einfach mal vorbei. Bei Direktor Bakari Mbano,
Artenschutz-Referent Yuma Kayera, und dem Schutzgebiets-Beauftragten
und Mitglied der Afrikanischen Elefanten-Gruppe Irenäus F. Ndunguru. „Sie
können hier nicht einfach so reinplatzen,“ wurde mir beschieden. „Journalisten haben sich in diesem Land an gewisse Regeln zu halten.“
Und die gehen so: Meine Fragen an die Wildlife-Division-Vertreter möge
ich bitte schriftlich formulieren und der Ministerin für „Fremdenverkehr und
Natürliche Schätze“ beziehungsweise ihrem Referenten vorlegen. Wenn ich
Glück hätte, könnte ich die Antworten sogar bekommen, bevor ich in sechs
Wochen das Land wieder verlassen müsse. Am selben Tag hatte ich in der
Tageszeitung „Daily Mail“ noch einen Artikel gelesen, der die nicht vorhandene Transparenz der Ministerien kritisierte. Darin war genau dieses Verfahren bemängelt worden, das auch mir jetzt aufgezwungen wurde. Ich denke
verbittert an den tanzanischen Journalisten-Kollegen, als ich meinen schriftlichen Fragenkatalog formuliere, um ihn am nächsten Morgen im Ministerium
vorzulegen. Und dort habe ich Glück: Die Ministerin und ihr Staatssekretär
sind beide „auf Safari“ und ein junger unbedarfter Beamter erfasst die scheinbare Brisanz meines Anliegens nicht ganz. Nach gewissenhafter Prüfung
meines Schriftstücks, kritzelt er „Please assist her“ auf den Rand, haut noch
ein paar Stempel auf das Papier und schickt mich damit zurück zur Wildlife
Division vor die Tore der Stadt.
Die Geschichte ist noch nicht vorbei
Tanzania 1998 setzt an zum Sprung in die neue Identität als investorenfreundliche afrikanische Musterdemokratie - nur leider stecken die Füße
noch ziemlich tief im Beton der eigenen Geschichte: Nach der wechselvollen
Ära als zuerst deutsche und dann britischer Kolonie, erlangt das damalige
Tanganyika im Jahre 1961 die Unabhängigkeit. 1964 vereinigt sich der junge
Staat mit der Insel Sansibar zum heutigen Tanzania. Mit der „Arusha-Deklaration“ von 1967 wird Tanzania sozialistisch. Julius Nyerere, der erste Präsident Tanzanias, ringt 18 Jahre lang um einen Sozialismus tanzanischer Prägung, unabhängig von den großen Machtblöcken und wegweisend für den
gesamten Kontinent. Wirtschaftlich ist die Bilanz seiner Amtszeit eine Katastrophe. Doch sein Volk verehrt ihn immer noch als großen Staatsmann.
Dass heute noch Frieden zwischen den mehr als 120 Ethnien herrscht, ver55
Petra Putz
Tanzania
danken sie seiner vorausschauenden Integrationspolitik.1985 tritt der auch
international hochgeschätzte Politiker zurück. Es ist wohl auch ein Erbe seines
Wirkens, dass Tanzania noch heute kaum Schlagzeilen wegen Folterungen oder
sonstiger Menschenrechtsverletzungen macht. Sein Nachfolger Ali Hassan
Mwinyi unterzieht die Arusha-Grundsätze einer gründlichen Reform. Gemeinsam mit dem politisch weiter aktiven Nyerere stellt er die Weichen für ein
Mehrparteiensystem. Benjamin William Mkapa regiert als erster demokratisch
gewählter Präsident seit 1995 das Land - und verwaltet seine durch den Sozialismus völlig heruntergewirtschaftete Finanzen. Doch das ist nicht das einzige
Problem:Tanzania ist seit langem eines der am stärksten mit internationaler
Entwicklungshilfe bedachten Länder der sogenannten Dritten Welt. Die Regierung hat sich stets auf Hilfe von außen verlassen, statt eigene Strategien zu entwickeln. Und auch der Sozialismus hat Eigeninitiative nicht gerade gefördert.
Jetzt wird zwar durch marktwirtschaftliche Orientierung um finanzkräftige
Investoren geworben, doch die werden schnell wieder abgeschreckt durch
Korruption und mangelndes Verantwortungsbewusstsein.
Erbe des Sozialismus
Auch das ist ein Erbe des Sozialismus: Umständliche Bürokratie und tiefes
Mißtrauen gegenüber Journalisten. Zurück in der Wildlife Division will niemand für mich zuständig sein. Der Direktor hat keine Zeit und verweist mich
an den zuständigen Beamten für die Convention on International Trade of Endangered Species (CITES). Der will nur die CITES-Themen übernehmen und
leitet sie zur schriftlichen Beantwortung an einen Referenten weiter. Im hintersten und dunkelsten Büro beobachte ich eine übellaunige Sekretärin dabei,
wie sie eine Stunde lang dafür benötigt, die zehn Zeilen Text Buchstabe für
Buchstabe in die Schreibmaschine zu hämmern. Die restlichen Auskünfte
muss mir Irenäus F. Ndunguru erteilen und das macht ihm sichtlich keine
Freude. Vielmehr vermittelt er mir das Gefühl, als hätten ihn seine Kollegen
voll und ganz im Stich gelassen - obwohl er der afrikaweit anerkannte Experte
für Elefantenfragen ist. Er ringt um jede Formulierung und bemüht sich um
größtmögliche Präzision und erst später wird mir klar warum: Die tanzanische
Regierung möchte im Wildschutz einen neuen, unpopulären Weg einschlagen
und fürchtet den Protest aus Deutschland, das zu den wichtigsten Geberländern
zählt. Nur aus Japan und den Niederlanden fließt noch mehr Geld in das Land
als aus Bonn. Jetzt liegt es allein an Irenäus F. Ndunguru, mir, der Journalistin
aus Deutschland, die Grundsätze der geänderten Artenschutzstrategie verständlich zu machen und diese Verantwortung macht ihm sichtlich zu schaffen.
Die Artenschutzkonferenz von Harare
Juni 1997: Die Internationale (CITES)-Artenschutzkonferenz von Harare
(Simbabwe) trifft eine weitreichende und bis zuletzt heftig umkämpfte Ent56
Petra Putz
Tanzania
scheidung: Das seit 1989 geltende Handelsverbot mit Elfenbein wird für
Simbabwe, Botswana und Namibia ausgesetzt. Die drei südafrikanischen
Staaten dürfen ab 1999 und unter strengen Auflagen Elfenbein an Japan verkaufen. Tierschützer verstehen die Welt nicht mehr: „Elfenbein sieht man nicht
an, ob es aus legalen Beständen stammt oder von gewilderten Tieren“ wettern
sie. „Öko-Kolonialismus!“ kontern die afrikanischen Staaten. Sollte der
Kampf um die Erhaltung des größten Landsäugetiers der Welt doch umsonst
gewesen sein? Als man sich 1989 auf das Handelsverbot geeinigt hatte, war
es schon fast zu spät. In den zehn Jahren davor hatten Elfenbeinwilderer die
afrikanischen Elefantenbestände von 1,3 Millionen auf nur noch 600.000
dezimiert. Das alte CITES-Abkommen war die Voraussetzung dafür, dass sich
die Populationen wieder erholen konnten. Zu gut erholen, wie Simbabwe,
Namibia und Botswana beklagen. Dort gelten Elefanten heute als Landplage. Die umherziehenden Herden zertrampeln auf ihrer weiträumigen
Suche nach Wasser und Nahrung die Felder der Bauern. In Simbabwe beispielsweise lagern 33 Tonnen Elfenbein von abgeschossenen oder eines natürlichen Todes gestorbenen Elefanten. Diese Länder plädieren für Abschussquoten und einen kontrollierten Handel. Tanzania könnte eine besondere
Rolle einnehmen, schließlich beherbergt es die größten Elefantenherden
Afrikas. 86.000 Tiere durchstreifen seine Wälder und Savannen. Auf der
Harare-Konferenz zählte die tanzanische Delegation noch zum ostafrikanischen Lager, das bedeutet, sie setzte sich für einen unbedingten Schutz der
Tiere ein, nahm dabei keine Rücksicht auf ökonomische Interessen und
wollte das Handelsverbot aufrechterhalten. Die neue Regelung ermöglicht
Simbabwe, Namibia und Botswana jetzt eine Nutzung des Rohstoffs Wild und das bettelarme Tanzania muss sich fragen, wie lange es sich den sogenannten ostafrikanischen Weg noch leisten kann.
The „Charismatic Mega Species“
Als ich zum dritten Mal, jetzt mit der „Please assist her“-Notiz, vor seinem
mit kinnhohen Aktendeckelbergen zugestapelten Schreibtisch stehe, ist der
Elefanten-Experte Irenäus F. Ndunguru endlich zum gewünschten Interview
bereit. Meine - schriftlich formulierten Fragen - dienen dabei als roter Faden
für ein ausführliches Referat:
Der Artenschutz in Tanzania sei heute mit ganz anderen Problemen konfrontiert als vor 40 Jahren, während der Dreharbeiten zu Bernhard Grzimeks
„Serengeti darf nicht sterben“. Seit der Unabhängigkeit sei die Bevölkerung
von 9 auf 30 Millionen Menschen angewachsen, gleichzeitig sei die Zahl der
Nationalparks von 2 auf 12 erweitert worden. Die Zahl der Wildschutzgebiete (Game Reserves) sei von 10 auf ungefähr 30 gestiegen. Heute habe die
tanzanische Regierung 25 Prozent des Landes als Schutzgebiete ausgewiesen. Raum, der der ständig wachsenden Bevölkerung entzogen werde.
Mensch und Tier konkurrierten um Lebensraum und am deutlichsten werde
das im Falle der „charismatic mega species“, dem Elefanten. Besonders am
57
Petra Putz
Tanzania
Rande der Schutzgebiete kämen sich Dorfbewohner und Dickhäuter immer
wieder in die Quere.
Wenn der Elefant angesichts des ständig wachsenden „Bevölkerungsdrkcks“ eine Überlebenschance haben solle, müsse er nicht nur den ausländischen
Touristen und Tierschützern sondern auch den Einheimischen erhaltenswert
erscheinen. „Und das funktioniert nur, wenn sie von seiner Erhaltung auch
profitieren.“ Das solle durch ein sogenanntes „Wildlife Management Programm“ erreicht werden: Die Dörfler rund um die Schutzzonen litten unter
der Landplage Wild: Elefanten zertrampelten ihre Pflanzungen, alte oder
kranke Löwen rissen ihr Vieh oder töteten ihre Kinder. Jetzt sollten diese Menschen vom Wild profitieren: Sie erhielten eine Abschussquote und damit
das Recht, Büffel oder Antilopen zu jagen, was ihre Ernährungslage verbessere. Das Fleisch werde verkauft, vom eingenommenen Geld finanziere das
Dorf Erste-Hilfe-Stationen, neue Brunnen und andere kleine Entwicklungsprojekte. Einige Dörfler würden vom Staat zu Wildhütern ausgebildet, verdienten in diesem neuen Beruf gutes Geld und schützten gleichzeitig die Tiere
vor Wilderern. Und professionelle Wildererbanden fänden keine Freiwilligen
mehr, die sich als ortskundige Fährtensucher von ihnen anheuern ließen:
„Die Menschen müssen lernen: Wenn sie ihren Wildreichtum verlieren, sind
sie die größten Verlierer.“
Afrika ist kein Zoo
„Afrika ist kein Zoo“, habe ich in einem Leitartikel gelesen, der die Entscheidung von Harare positiv kommentierte. Was damit gemeint war, habe ich
nicht verstanden. Jetzt spähe ich ins Innere einer turnhallengroßen gemauerten
Garage und beginne zu ahnen, was es bedeuten könnte. Gesichert mit wuchtigen roten Stahlschlössern lagert die tanzanische Staatsregierung hier ihr Elfenbein. Zwei Riesenstapel mit Stoßzähnen von gewilderten oder abgeschossenen
oder einfach eines natürlichen Todes gestorbenen Elefanten. Insgesamt 85
Tonnen, das größte Elfenbeinlager in ganz Afrika. Für Tanzania, eines der
ärmsten Länder der Welt, ein Wert ohne Preis, seit dem weltweiten CITES-Verbot für Elfenbeinhandel. Simbabwe beziffert den Wert seiner rund 30 Tonnen
Elfenbein auf etwa 70 Millionen Dollar. Demnach würde die tanzanische
Regierung hier unter diesem Wellblechdach beinahe 200 Millionen Dollar horten. Rein spekulative Summen allerdings, da durch das seit zehn Jahren bestehende Handelsverbot kein offizieller Marktwert existiert. Mein schriftlicher Fragenkatalog an die Verantwortlichen der Wildlife Division befasst sich auch mit
der möglichen Vermarktung dieses Elfenbeins und die Antwort darauf lautet zu
meiner großen Überaschung ganz offen: „Ja, die tanzanische Regierung bewahrt
ihr Elfenbein auf, weil sie eines Tages diesen wertvollen Rohstoff nutzen
möchte.“
Trotz dieser unerwarteten Offenheit kommt dem Direktor der Wildlife Division, Bakari Mbano, mein Interesse an den Stoßzahnstapeln höchst suspekt vor.
Und so bedauert er sehr, mir mitteilen zu müssen, dass eine Inaugenschein58
Petra Putz
Tanzania
nahme der sogenannten „Ivory Rooms“ leider nicht in Frage komme. Auf
diese Auskunft hat er mich eine Stunde lang vor seiner Bürotür warten lassen.
Als ich wütend und enttäuscht an den Lagerhallen vorbei zur Hauptstraße
zurückstapfe, werden die Sicherheitsschlösser gerade aufgesperrt und die Tore
geöffnet. Ein Polizist liefert konfiszierte Ware ab - und ich kann doch einen
kurzen Blick auf das „weiße Gold“ werfen: Vielleicht lagert dort ja wirklich
die Zukunft dieses maroden Landes, birgt ihr Verkauf Chance für Lebensfreude und Wohlstand. Und trotzdem: Die beiden Stoßzahnstapel sehen sehr
traurig aus. Sie erinnern mich an bleiche Knochen auf einem Friedhof.
Eine gelbe Aktenmappe
Die lichte Villa mit der Holzveranda ist drei Querstraßen vom Büro der
Friedrich-Ebert-Stiftung entfernt. Und trotzdem dauert der Weg dorthin drei
Tage lang. Ein durchschnittlicher Zeitraum, um in Dar Es Salaam eine Adresse
und eine Telefonnummer zu recherchieren. Nach zwei mißglückten Anläufen
klappt der dritte Termin: Paul Nyuiti, Bürochef der „Wildlife Conservation
Society of Tanzania“ (WCST), der wichtigsten Nichtregierungsorganisation
Tanzanias in Sachen Naturschutz, kramt für mich in seinen Unterlagen. Die
7000 Mitglieder zählende Öko-Organisation hatte ihren größten Auftritt bei
den CITES-Verhandlungen 1989, in denen der Elefant als vom Aussterben
bedrohte Art eingestuft wurde. Zu dieser Zeit arbeiteten Nyuiti und seine
Freunde das Dokument aus, mit dem die tanzanische Delegation in die Verhandlungen ging. Das war damals eine wesentliche Voraussetzung, den afrikanischen Elefanten vor der Ausrottung zu bewahren. Die tanzanische Regierung entschloß sich dann zu einer zweiten, äußerst drastischen Maßnahme: In
der sogenannten „Operation Uhai“ machte das Militär gezielt Jagd auf Wildererbanden: „Diese illegalen Jäger wurden an Ort und Stelle verprügelt, man
konfiszierte ihre Waffen und stellte sie später vor Gericht,“ erinnert sich
Nyuiti. Die Harare-Entscheidung bewertet er skeptisch. Von der Wildlife
Division hatte ich die Auskunft bekommen, bisher sei keine Zunahme von
Wilderei oder illegalem Elfenbeinhandel zu beobachten gewesen. Nyuiti öffnet einen gelben Aktendeckel, der vorne mit „Elephants“ beschriftet ist. Hier
hat er Zeitungsartikel und Radiomeldungen zu diesem Thema gesammelt:
„Sehen Sie, da tauchen die ersten Meldungen auf, dass der Elfenbeinmarkt
wieder geöffnet wird und sofort werden Wilderer aktiv.“ Nach diesen Presseberichten wird vor Jahren gewildertes Elfenbein jetzt aus den Verstecken
geholt und in den Hafen von Dar Es Salaam zum Weitertransport gebracht.
Aber auch notorische Kleinwilderer verleitet die Öffnung des Marktes dazu,
ihr Glück zu versuchen.„So schlimm wie in der 80er Jahren wird es aber wohl
nie mehr werden,“ sagt Nyuiti: „Damals wurden bei uns Elefanten wie in
einem systematischen Feldzug abgeschossen. Das wäre heute nicht mehr
möglich.“ Trotzdem macht er sich Sorgen: „Das reiche Simbabwe hat genug
Mittel, die Einhaltung der Vorschriften zu überprüfen. Davon können wir in
Tanzania nicht mal träumen.“ Er zeigt mir eine Statistik, nach der sich Sim59
Petra Putz
Tanzania
babwe jeden geschützten Quadratmeter rund 200 Dollar kosten läßt - undenkbar für sein Land. Am selben Abend besuche ich den monatlichen WCST-Vortrag, den Paul Nyuiti für seine Mitglieder organisiert. Ein amerikanischer Forscher beobachtet seit 20 Jahren die Paviane des Mikumi Nationalparks und ein
sehr engagiertes Publikum quetscht sich in die dichtgestellten Stuhlreihen, um
ihm zuzuhören. Leider sind die meisten davon Weiße. Eine Schulklasse ist
gekommen und eine Regierungsbeamtin. Ist der Tierschutz in ihrem Land
ansonsten nur für ein westliches Spezialisten-Publikum von Interesse?
Im Land der Elefanten
„Du kannst gerne einen Eimer haben“, bietet mir der Regierungsbeamte
Keita an, „aber Eimer sind nur was für Feiglinge.“ Also kein Eimer und
bestimmt kein Bier am Lagerfeuer. Lieber will ich verdursten, austrocknen
und zu Staub zerfallen, als hier nachts aufs Klo zu müssen. Zwischen meinem
Zelt und dem hundert Meter entfernten Toiletten-Erdloch hinter BambusWänden lauern bestimmt nachts Löwen und Schlangen. Womöglich verirre
ich mich in der Dunkelheit und stürze in den Krokodilsfluss, wo ich nachts die
Monster-Reptilien herumplantschen höre.
Neun Stunden hat die holprige Jeep-Fahrt von Dar Es Salaam in das südöstlich gelegene Selous Game Reserve gedauert. Das größte Wildschutzgebiet Afrikas ist das Rückzugsgebiet für die größten Elefantenherden des
Kontinents. Die Hälfte aller tanzanischen Elefanten leben hier. In dieser
unberührten und schwer zugänglichen Wildnis, die größer ist als die Schweiz,
gibt es sogar noch einige Nashörner und die sehr seltenen afrikanischen
Wildhunde. Aber auch hier waren die organisierten Wildererbanden in den
80er Jahren grausam zugange. Zwischen 1976 und 1986 wurden die Elefantenbestände des Selous von 110.000 auf 55.000 dezimiert. 1989 waren es nur
noch 30.000. 1988 startete die Deutsche Gesellschaft für technische
Zusammenarbeit (GTZ) im Auftrag der tanzanischen Regierung das „Selous
Conservation Project“ (SCP), um die letzten noch verbliebenen Elefanten vor
der Ausrottung zu bewahren. Und das ist ihnen wohl gelungen, wie ich jeden
Morgen feststelle, wenn ich über kindskopfgroße Elefantenköttel vor meinem
Zelt stolpere.
Dieses Projekt war der erste Versuch in Tanzania, zum Schutz der Tiere die
Menschen am Rande des Parks miteinzubeziehen. Irenäus F. Ndungurus
Ausführungen über „Wildlife Management“ stützen sich auf Erfahrungen, die
seit zehn Jahren im SCP gemacht werden: Jedes Dorf stellt einen „Scout“. Die
jungen Männer werden von einem Regierungsbeamten gemeinsam als Wildhüter und Patrouillengänger ausgebildet. Außerdem sind sie dafür verantwortlich, die Wildabschussquoten der einzelnen Dörfer zu erfüllen. Dieses
Fleisch, größtenteils von Antilopen oder Büffeln, wird zu einem festgelegten
Preis im Dorf verkauft, den Erlös investieren die Dörfler in neue Schulbänke, Brunnen, Apotheken und ähnliche Entwicklungsmaßnahmen. Das
Wildfleisch sichert die Proteinversorgung der Menschen, das Projekt schafft
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Petra Putz
Tanzania
Arbeitsplätze, schützt die Elefanten - und etabliert demokratische Strukturen.
Denn die Dörfler veranstalten jährlich ein Budget-Meeting, wo über die Verwendung der erwirtschafteten Gelder abgestimmt wird.
Hier in Gonabis, der nördlichen Pufferzone des „Selous“ sind rund 45.000
Menschen in 19 Dörfern in einer dieser sogenannten „Wildlife Management
Areas“ zusammengefaßt. Das Dorf Mwlengwelengwe hat heute bei seinem
jährlichen Meeting Besuch bekommen. David Kaggi, der schwarze Projektleiter, Keita, der Scout-Ausbilder und Regierungsbeamte, sowie der
SCP-Sekretär Mnyune betreuen die Dorfsitzung. Rudi Hahn, der deutsche
Experte, musste von Malaria-Fieber-Attacken geschüttelt im Camp zurückbleiben. Rund 50 Menschen haben auf den harten Holzbänken in einem
offenen Klassenzimmer Platz genommen. Durch die scheibenlosen Fenster
brummen riesengroße träge Käfer. Auf der Schultafel werden akribisch
bilanzbuchhalterische Zahlenkolonnen untereinander geschrieben, während
der Vorsitzende des Komitees die Ergebnisse des abgelaufenen Geschäftsjahres referiert. Der Erlös dieses Jahres blieb leider hinter den Erwartungen
zurück. Durch den El-Nino-Dauerregen gestaltete sich der Transport der
Jagdbeute aus dem Busch ins Dorf kostspieliger als veranschlagt. Nach
Abzug aller Kosten (z.B. „Seife für Händewaschen“) bleiben 175.000 Tanzania-Schillinge zurück, von denen neue Schulbänke angeschafft werden sollen. Ein Delegierter des Dorfes berichtet mit großer Leidenschaft von einem
Besuch in Kenia, wo das Projekt vorgestellt wurde. Die Supervisoren sind
nach dem Meeting zufrieden: Es wurde engagiert diskutiert, die Finanzen
sind geregelt. Morgen tagt das nächste Dorf.
Zwischenzeitlich können sich die Projektbeauftragten noch um andere
Dinge kümmern: Der Regierungsbeamte Keita hat Gerüchte vernommen,
wonach ein Wilderer mit einem gestohlenen Armeegewehr in irgendeinem
der Gonabis-Dörfer auf der Prisch gesehen worden sei. So schnell wie
möglich muss das Versteck der illegalen Waffe gefunden werden. Keita hat
„Informanten“ auf den Wilderer angesetzt, die sich unter der Bevölkerung
umhören. Am Nachmittag bricht die gesamte Belegschaft - außer dem
malariageschädigten deutschen Projektleiter - ins nächste Dorf auf, um die
Lage auszukundschaften. Klar, dass der einzige dafür in Frage kommende
Ort jene Bar sein muss, die für die ganze Region sowas wie eine Oase darstellt: Hier allein gibt es einen Kühlschrank und viele Flaschen kühles
„Safari Lager“ Bier. Zumindest an normalen Tagen. Heute sind wir zu spät
dran. Es ist Markttag bei den Massai und die jungen Krieger mit den rotkarierten Umhängen und den dekorativen Speeren haben die wohltemperierten Flaschen schon alle ausgetrunken. Während ich die hochgewachsenen Männer in ihrer traditionellen Tracht fasziniert anstarre, wird mir
plötzlich klar: Ich bin hier die Sensation. Der GTZ-Fahrer Ema überblickt
die Lage rascher und beginnt schon probeweise Verkaufsgespräche um die
einzige weiße Frau weit und breit. Der atemberaubend schönste Mann, den
ich jemals gesehen habe, ein 42jähriger Häuptling namens Saidi, bekundet
auch Interesse. Leider geht er auf das schmeichelhafte Einstiegsgebot von
1500 Stück Vieh nur zum Schein ein. Nach wenigen Minuten hat er Ema auf
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Petra Putz
Tanzania
zwei Flaschen lauwarmes „Safari Lager“ Bier heruntergehandelt - und ich
muss doch wieder mit heim ins Camp fahren...
Öko-Tourismus mit dem Gewehr
Nachdem das Wildlife Management des Selous Conservation Projects von
den Dörfern akzeptiert und umgesetzt wird, ist es jetzt Zeit für den nächsten
Schritt:175.000 TSH entsprechen ungefähr 400 Mark, die Dörfler verwalten
also nur ein ganz kleines Budget. Andere verdienen hier das ganz große
Geld. Der Selous ist eines der begehrtesten Jagdreviere für Touristen aus aller
Welt. Bis zu 2000 Dollar pro Tag zahlen reiche Europäer und Amerikaner, um
hier Löwen oder Büffel zu schießen. Geld, das bisher an der Dorfbevölkerung
vorbei verdient wurde. Der einheimische Projektleiter David Kaggi hat dafür
kein Verständnis: „Nur die Regierung verdient an den Lizenzen. Doch das
Geld muss an die Menschen hier gehen. Die haben hier schließlich täglich mit
dem Wild zu kämpfen.“ 25 Prozent der Gebühren fließt angeblich in die jeweiligen Distrikte zurück, doch da sind sich alle sicher: Was die Regierung einmal kassiert hat, kommt nicht mehr zurück.
Ich kann mir das nur schwer vorstellen: Menschen, die nach Tanzania fliegen, um dort Tiere totzuschießen. Irgendwie dachte ich, das wäre mit dem
Ende der Kolonialzeit ausgestorben. Außer mir hat niemand hier etwas dagegen einzuwenden. „Kontingentierter Jagdtourismus ist ökologisch und ökonomisch sinnvoller als Foto-Safaris“ erläutert mir der GTZ-Mann Hubert
Krischke: „Die Zelt-Camps der Jäger belasten die Umwelt viel weniger als die
Lodges und Hotels in den Nationalparks, es kommt aber viel mehr Geld
dabei herum für ein nachhaltiges Wirtschaften“. Außerdem würden die Jagdpächter alles daran setzen, eventuelle Wilderer aus ihren Revieren zu vertreiben.
Die Nachfrage ist tatsächlich groß: Hier im tiefsten Afrika spielen gutverdienende westliche Schlips-und-Kragen-Träger für viel Geld wilder
Mann. Unrasiertes Camp-Leben, halsbrecherische Jeepfahrten, Zigarren
unterm Sternenhimmel und das Gewehr über den Knien - auf der Großwildpirsch kann sich jeder Jagdkunde fühlen wie der Camel-Man persönlich. Eine merkwürdige Männerwelt aus kitschiger Lagerfeuerromantik und
blutigem Jagdtrieb, als Ausgleich zur klimatisierten Bürokunstwelt zu
Hause. Nicht nur in den Touristenzelten sondern auch in unserem GTZLager. Der Patronengürtel hängt über der Stuhllehne und jeden Abend
schockieren mich die Jungs mit abenteuerlichen Geschichten über Berufsjäger, die sich selbst ins Bein schießen und ähnliche Räuberpistolen. Zum
Mittagessen gibt’s frischgeschossenes Impalagulasch und fürs Abendessen
angeln wir noch eben ein paar „Catfish“ aus dem Krokodilsfluss. Klar, dass
ich - Augen zu und durch - bei allem mitmache. Bloß nicht die sein, von der
sie allen nachfolgenden Gästen erzählen: „Wißt Ihr noch diese hasenfüßige
deutsche Journalistin, die noch nie im Busch war und sich nachts nicht aufs
Klo gehen traute?“ Das GTZ-Team bleibt bei dieser Mission mindestens 14
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Petra Putz
Tanzania
Tage im Busch. Als ich nach fünf Tagen mit dem Bus zurück nach Dar Es
Salaam geschickt werde, protestiert nur David Kaggi, der umsichtige
schwarze Projektleiter. Ich nicht. Eher würde ich mir die Zunge abbeißen. Was
ist schon dabei, in stockfinsterer Nacht als einzige weiße Frau in einem total
überfüllten, schrottreifen „Bus“ sieben Stunden lang die Uluguru-Mountains
zu durchqueren?
Kein Leopard im Vollmond
Shukuru hat schlechte Laune: Die tote Grantgazelle hängt noch genauso im
Baum, wie er sie dort vor ein paar Tagen festgezurrt hat. Nichts, der Köder hat
keinen Leoparden angelockt. Der 27jährige Fährtenleser ist schon seit knapp
zwei Wochen mit einem Jagdkunden hinter einem Leoparden her. Langsam wird
die Zeit knapp, in zwei Tagen ist der Urlaub des Trophäenjägers zu Ende. Nur
ich bin erleichtert: „Glück für den Leoparden.“ Shukuru ist verbittert: „Aber
Pech für mein Land.“
Shukuru kennt das Geschäft. Er arbeitet seit acht Jahren für den schwäbischen
Jagdunternehmer Franz Wengert. Ein Leopardenabschuss bringt der tanzanischen Staatskasse 2300 Dollar ein und der zufriedene Kunde kommt vielleicht
im nächsten Jahr nochmal, schießt eine andere Trophäe und läßt wieder jede
Menge Geld im Land. Die Gebühren sind horrend, die Vorschriften sind streng,
trotzdem läuft das Geschäft bestens: An den 38 in Tanzania lizenzierten Jagdfirmen verdient der Staat jährlich fast 7,5 Millionen Dollar. Davon gehen etwa
3,7 Millionen Dollar in den großen Regierungstopf, 2,7 Millionen Dollar an die
Wildlife Division durch den Wildlife Protection Fund und rund eine Million
direkt zurück in die Verwaltung des Selous. Um die Populationen nicht zu
gefährden, werden für jede Tierart Abschussquoten vergeben. Nicht mehr als
vier Prozent der geschätzten oder gezählten Vorkommen dürfen getötet werden.
Ein Wildhüter der Wildlife Division kontrolliert im Jagdcamp die Abschüsse.
Was sich auf dem Papier so vernünftig liest, kann in Wirklichkeit natürlich
ganz anders aussehen. Im Selous habe ich die Touristenjagdgesellschaften
immer nur von weitem gesehen. Normalerweise bleiben die Großwildjäger mit
ihrem unpopulären Hobby am liebsten unter sich, doch ich kann einen Jagdunternehmer überreden, mich mit in den Busch zu nehmen: Der Berufsjäger
Franz Wengert aus Arusha läßt sich breitschlagen und ich gehe drei Tage lang
mit auf Leopardenjagd. Sein Jagdrevier im Selous hat er schon vor ein paar Jahren aufgegeben, ich treffe ihn im Norden Tanzanias am Lake Natron, zwei Jeepstunden von Arusha entfernt. Dort hat er ein 3500 Quadratkilometer großes
Revier gepachtet.
Jeden Morgen um sechs, wenn es draußen vor dem Zelt noch ganz dunkel ist,
kommt das Camp-Faktotum Remtulla mich wecken: „Morning Mama, here
is some hot water for you. It is very, very cold.“ Wenn die Jagdgesellschaft um
halb acht mit dem Jeep losrumpelt, hängt noch der kalte Dunst über dem
Busch. Ein einsamer Strauß spreizt neben der Sandpiste fröstelnd das Gefieder. Ein Gepardenpärchen stakst kältesteif duchs hohe Gras. Wir hoppeln den
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Petra Putz
Tanzania
ganzen Tag lang kreuz und quer durch den Busch und kontrollieren Leopardenköder, die wir selbst im Revier verteilt haben. Sollte einer „angenommen“
sein, bauen wir ein Versteck und warten darin nachts auf die Beute. Doch diesmal hat Franz Wengerts Kunde Pech. Er muss nach zwei Wochen ohne die
gewünschte Trophäe nach Hause fahren. Alle sind sich einig: Der Vollmond
ist schuld. Die Raubkatze sieht genug für eigene Beutezüge und ist auf unsere
Kadaver nicht angewiesen. Trotzdem kann ich den Jagdgast einmal in Aktion
beobachten: Als wir eine Grantgazellenherde mit einem besonders schönen
Bock passieren, reizt ihn auch diese Trophäe. Aus 120 Meter trifft er das Tier
direkt aufs „Blatt“, der Bock ist sofort tot. Dieser Kunde ist sicher der Idealfall: Er ist erst Mitte 30, trainiert jede Woche mehrmals auf dem Schießstand,
„damit die Tiere nicht unnötig leiden“ und hatte schon zwei Leoparden vor der
Büchse ohne abzudrücken: „Das eine Mal war’s ein Weibchen und das andere
Mal ein sehr junges Tier, beide schieße ich nicht.“ Er hält sich an die Vorschriften und respektiert den Berufsjäger Franz Wengert, bei dem er seine
Safari gebucht hat. Und Franz freut sich, denn das ist nicht immer so: Viele
andere Kunden sind alt und schlecht in Form und nichts ist draußen im Busch
gefährlicher als eine stundenlange Nachsuche nach einem angeschossenen
Löwen oder Büffel. Franz Wengert hatte seinen einzigen Jagdunfall mit
einem verwundeten Leoparden. Das Tier hatte sich an einem Abhang auf ihn
gestürzt, er und sein zu Hilfe geeilter Jagdgehilfe mussten schwer verletzt ins
Krankenhaus gebracht werden. Der Kunde, der den Unfall verursacht hatte,
flog zurück nach Deutschland und erkundigte sich nie wieder nach den beiden. Das könnte ihm mit diesem Jagdgast nicht passieren.
Auch die „Buchführung“ wird bei Wengerts akkurat erledigt, die Kontrollen
der Widlife Division sind streng. Der Behörde traut Franz Wengert allerdings
überhaupt nicht über den Weg: „Letztes Jahr habe ich 640.000 Dollar aus
meinen Revieren an die Regierung bezahlt und davon müßte ein großer Prozentsatz über den Wildlife Protection Fund wieder hier in die Dörfer zurückgehen. Das funktioniert seit Jahren nicht richtig. Eine Gruppe von US Aid hat
das mal kontrolliert und festgestellt, dass Millionen von Dollar fehlen und niemand kann erklären, wo die hin sind.“ Die Vereinbarungen auf dem Papier hält
er aber für durchaus sinnvoll: „Wenn die Menschen hier von der Jagd profitieren, sehen sie auch die Tiere mit ganz anderen Augen. Der Büffel wird dann
als schützenswerte 500-Dollar-Einnahme betrachtet und nicht mehr nur als
Fleisch, das für den eigenen Kochtopf im Park herumläuft.“ Die kontrollierte
und lizenzierte Jagd sei für die Tierbestände völlig ungefährlich. Vier Prozent
Abschussquote würden eine nachhaltige Nutzung gewährleisten, d.h. die Populationen könnten sich aus eigenen Kräften regenerieren. Von den rund 1000
Grantgazellen im Park dürften also 40 pro Jahr geschossen werden, seine
Quote würde aber nur 24 Grant beinhalten, ihre Erfüllung wäre mithin bestimmt
keine Gefahr für den Bestand. „Und wir halten uns an die Quoten, im Gegensatz zu den Wilderern. Sobald wir am Ende der Saison, nach sechs Monaten
das Revier verlassen, sind sie sofort zurück und erlegen wahllos Wild, dessen
Fleisch sie in den Flüchtlingslagern von Ruanda und Burundi verkaufen.“
Klar, dass auch der Berufsjäger zu dem Schluss kommt: „Wenn man das rein
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Petra Putz
Tanzania
materialistisch betrachtet, ist der Waidmann ein viel besserer Tourist für Afrika
als der Safari-Besucher. Vor allem in den großen Nationalparks ist das ganz
deutlich: 100 Jäger wären für die Serengeti viel nützlicher als 10.000 Foto-Touristen: Der Druck auf das Wild ist kleiner, die Straßen werden geschont und die
Wasserlöcher für die Tiere werden nicht von Hotelduschen trockengelegt.“
Die Herren sind auf „Safari“
Ein Internationaler Flughafen, ein Souvenir-Laden für Kreditkartenbesitzer, eine italienische Pizzeria und eine amerikanische Patisserie: Als in
Arusha, acht Stunden Busfahrt nördlich von Dar Es Salaam, 1961 der Kinostreifen „Hatari“ gedreht wurde, brachte das Filmteam um John Wayne und
Hardy Krüger internationales Flair in die Stadt. Heute erledigen das Diplomaten, Rechtsanwälte und deren Personal, die im neuerbauten Arusha International Conference Center (AICC) ihre Büros bezogen haben. Seit sie hier
residieren, hat sich das Stadtbild gewaltig verändert, an den wohlhabenden
Gästen aus aller Welt verdient die rasch etablierte Gastronomie gutes Geld.
Arusha ist das wichtigste Wirtschafts- und Verwaltungszentrum im Norden
Tanzanias. Weltweit wurde es bekannt, weil hier seit 1996 das Internationale
Tribunal über die Kriegsverbrechen im Bürgerkrieg von Ruanda zu Gericht
sitzt.
Arusha ist der ideale touristische Ausgangspunkt zu den berühmtesten
Nationalparks Tanzanias und auch deren Verwaltung ist hier angesiedelt:
Tanzania National Parks oder kurz TANAPA heißt die halbstaatliche Behörde,
die für sämtliche Tiere in den Nationalparks zuständig ist. In den Nationalparks ist die Jagd für Touristen verboten. Nur in speziellen Schutzgebieten,
den sogenannten „Game Reserves“ wie zum Beispiel dem Selous, darf Wild
geschossen werden. Das kann mir Mr. B. Mwasaga, der TANAPA-ChefÖkologe, ganz ohne Vorbereitung erklären. Zu mehr ist er nicht bereit. Ich
habe einen Tag lang versucht, telefonisch einen Termin mit TANAPA-Pressechef Lambeli oder Direktor Bigurube zu vereinbaren - die Leitungen sind
dauerbelegt. Wie schon in Dar, versuche ich es mit einem unangemeldeten
Besuch. Unglücklicherweise sind beide Herren „auf Safari“. Nur der ChefÖkologe ist da, aber leider nicht zu einem spontanen Interview bereit. Unbehaglich rutscht Mwasaga auf seinem Stuhl herum: „Wieso kommen Sie denn
noch hierher, wenn Sie schon bei der Wildlife Division waren? Ich kann
Ihnen sowieso nicht mehr sagen, als Sie dort schon erfahren haben.“ Ob ich
nicht vielleicht einen schriftlichen Fragenkatalog einreichen könnte? Er
würde sich dann mit seinem Vorgesetzten über die Beantwortung ins Benehmen setzen. Ich erkläre ihm höflich aber bestimmt, dass dieser umständliche
Rechercheweg nicht in Frage käme. Damit steht einem Interview eigentlich
nichts mehr im Wege - bis auf den dringenden Termin, der Mwasaga jetzt
gerade wieder einfällt. Ich packe resigniert meine Sachen und habe nur soviel
über die Politik der Nationalpark-Verwaltung erfahren: „Obwohl wir in unseren Parks überhaupt keine Jagd dulden, akzeptieren wir sie in den anderen
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Petra Putz
Tanzania
Schutzgebieten auf jeden Fall als ein mögliches Mittel der nachhaltigen Nutzung eines natürlichen Rohstoffs.“
Elfenbein-Partner gesucht
Ein paar Kilometer außerhalb von Arusha, von grünen Kaffeeplantagen
gesäumt, zählt Mathew Maige in der kleinen Villa der Tanzania Wildlife
Conservation Monitoring Gesellschaft Elefanten und andere Tiere. Unterstützt
von der EU und der Frankfurter Zoologischen Gesellschaft werden hier die
Daten erhoben, anhand derer zum Beispiel die Quoten für die jeweiligen Jagdreviere festgesetzt werden. Neben Irenäus F. Ndunguru ist Mathew Maige der
zweite tanzanische Delegierte der African Elephant Specialist Group. Normalerweise sitzt er den ganzen Tag am Computer und schreibt Berichte zum
Beispiel für die Wildlife Division, die ihn für diesen Posten abgestellt hat. Früher war er noch selbst vor Ort, nach seiner Wildhüter-Ausbildung im Wildlife
College in Mweka und einem Studium in Norwegen. Später arbeitete er in
einem Projekt in der Serengeti, wo sein Chef damals Bakari Mbano hieß, der
heutige Wildlife Division Direktor. Die Berufswege der meisten der heutigen
Wildlife-Spezialisten Tanzanias sind wie Lianen im Urwald miteinander verschlungen.
Bei Mathew Maige habe ich einmal Glück. Das Telefon funktioniert und ich
kann meinen Besuch anmelden. Trotzdem ist auch er nicht gerade begeistert.
Nein, ein Interview könne er mir so adhoc nicht geben, ohne vorher mit seinen Vorgesetzten Rücksprache gehalten zu haben. Nach zähen Verhandlungen
gelingt es mir, ihn ihn wenigstens zu einem „Hintergrundgespräch“ zu überreden. Ich will die Strecke zu ihm hinaus nicht umsonst zurückgelegt haben:
In einem klapprigen Taxi, mit einem ortsunkundigen Chauffeur und einer endlosen Irrfahrt durch wahrscheinlich alle Kaffeeplantagen rund um Arusha und das alles wie immer zum astronomischen Touristen-Tarif. Am liebsten
wäre es ihm, ich würde mir gar keine Notizen machen - den Gefallen kann ich
ihm aber nicht tun. An diesem Nachmittag, in einem kleinen Vorort von
Arusha erfahre ich, wieviel tatsächlich durch das geänderte Artenschutzabkommen von Harare in Bewegung geraten ist. Es ist wohl davon auszugehen,
dass sich in absehbarer Zeit auch andere afrikanische Länder um die Lockerung des Handelsverbotes bemühen werden. Nach dem Treffen in Simbabwe
sollte erst einmal die Verhandlungsgrundlage geklärt werden: CITES-Mitarbeiter reisten durch Afrika und sichteten die Elfenbeinbestände jedes einzelnen Landes. Im Februar 1999 ist ein CITES-Nachfolge-Treffen der Elephant
Specialist Group in Burkina Faso geplant. Bei dieser Gelegenheit wird ein
interessantes Modell erörtert werden, das zumindest von Tanzanias Matthew
Maige vehement unterstützt wird: „Nachdem wir unsere Elfenbeinvorkommen systematisch erfaßt haben, sollten wir sie jetzt verkaufen. Aber nicht zu
kommerziellen Zwecken wie die drei südafrikanischen Staaten. Das Handelsverbot und das Fehlen des Marktes machten es möglich, dass sich die
Elefantenpopulationen erholen könnten. Wir sind jetzt auf der Suche nach
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Tanzania
einem Partner, der uns das Elfenbein zu einem festgesetzten Preis abkauft und danach am besten zerstört.“ Das könne CITES selbst sein, die EU, der
World Wildlife Fund oder sonstige finanzkräftige Nichtregierungsorganisationen, denen der Schutz des Elefanten wichtiger sei als kommerzielle Interessen. Auf diese Weise könne die tanzanische Regierung diesen Wert ohne
Preis zu Geld machen - ohne neue Anreize für Wilderer zu bieten.
Diese Idee ist Teil eines Gesamtplanes, der auf das Zauberwort „Sustainable Utilization“ also „Nachhaltige Nutzung“ abzielt, und in dem auch wieder
das Thema Großwildjagd eine wichtige Rolle spielt: „Jagd in Tanzania bedeutet das selbe wie Ölförderung für einen Geschäftsmann der Vereinigten Arabischen Emirate“ sagt Maige: „Der Rohstoff ist da, die Kunst besteht darin,
ihn zu nutzen, ohne ihn aufzubrauchen. Genauso wie man als Fachmann
keine Ölquelle ohne Sinn und Verstand leerfördert, kann man auch die Jagd
auf wilde Tiere nur durchführen, wenn man dafür strenge Anti-Ausrottungsregeln aufstellt. Dann aber sehr wohl.“ „Effektives Wild-Management“ nennt
das der Technical Officer der Tanzania Wildlife Conservation Monitoring
Gesellschaft, und das macht ihm auch die größten Sorgen. Aus einem Nebenbüro holt er einen Stapel Berichte. Grafisch sind hier die „Populationsdichte“
von Mensch und Tier in den einzelnen Schutzgebieten und an seinen Rändern
dargestellt: „Sehen Sie das hier? Die Tiere haben sich in eine Ecke des Parks
zurückgezogen, weg von den Dörfern der Menschen auf dieser Seite. Sie können davon ausgehen, dass die Dörfler in den Park eindringen, und das eine
oder andere Tier, meist für den eigenen Kochtopf, töten. Und davor flüchtet
das Wild. Aber das ist nicht der Sinn der Sache. Wir unterhalten ja keine riesigen Schutzgebiete, damit sich das Wild nur in einem Eckchen sicher fühlt.“
Schuld daran sei, so Maige, eklatanter Personalmangel: „Wir haben nicht
genug Scouts, die das Verhältnis zwischen Mensch und Tier am Rande der
Schutzzonen überwachen können.“ Demnach wäre Maiges effektives WildManagement doppelt segensreich: Die Überlebenschancen der Tiere stiegen
und für die Menschen würden Arbeitsplätze geschaffen.
Die Löwen geben eine Pressekonferenz
Afrikanische Kidnapper, die ihre Opfer ins Dschungelversteck bringen,
sehen wahrscheinlich nicht anders aus: David trägt eine militärische Camouflage-Hose, Springerstiefel, ein olivgrünes Kampfhemd und auf dem Rükken ein furchteinflößendes Gewehr. Doch das dient alles nur dazu, uns heil
wieder heimzubringen. Im Arusha Nationalpark, am Fuße des Mount Meru,
begegnen die wandernden Touristen immer wieder Büffeln und Elefanten und
wenn die schlechte Laune haben, hilft manchmal nur noch ein gezielter
Schuss. Aber das, beruhigt uns „unser“ Park-Guide David Amnany, komme
so gut wie nie vor. Wir genießen die vierstündige Wanderung bergauf durch
den üppigen Wald, vorbei an wiederkäuenden Giraffen und grasenden Wasserböcken. Drei Tage sind wir durch Parks gefahren, wo es streng verboten ist,
das Auto zu verlassen. Ein Adler kreist auf Beutezug über den Baumkronen
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Tanzania
und die seltenen schwarz-weißen Colobus-Affen kreischen und zetern aus
dem Geäst, als könnten sie ihn dadurch vertreiben. Das ist schon der vierte Tag
unserer Foto-Safari durch die berühmten Nationalparks in Tanzanias Norden.
Der Arusha Nationalpark ist der kleinste und am wenigsten frequentierte - und
trotzdem gefällt es uns hier am besten. Am Tag vorher waren wir im Ngorongoro-Krater, weltbekannt durch seinen einzigartigen Tierreichtum. Der
Krater hat einen Durchmesser von rund 25 Kilometern und beherbergt auf
einer Fläche von 8290 Quadratkilometern riesige Gnu- und Zebraherden,
Löwen, Flusspferde, Flamingos, Hyänen, Spitzmaulnashörner - und leider
auch laute und lange Auto-Karawanen mit vielen, vielen Touristen darin.
Zwei Löwen räkeln sich neben der Piste faul auf dem Rücken liegend in der
Sonne und verursachen damit einen pressekonferenzähnlichen Auflauf. Zwölf
Jeeps und Kleinbusse versammeln sich um die beiden trägen Katzen, hunderte
Fotoapparate nehmen sie ins Visier, zwei der Mini-Busfahrer rangeln um den
besseren Platz und nach fünf Minuten hört man den ersten Fotografen quengeln: „Kann man denn da nix machen, dass die sich mal umdrehen? Das ist
doch kein Bild.“ Vielleicht hatte der Berufsjäger Franz Wengert ja nicht ganz
unrecht, als er sagte: „Die vielen Foto-Touristen bedeuten für das Wild im
Ngorongo-Krater viel mehr Streß, als die paar Jäger in meinem großen
Revier.“ Und Tine, die dänische Hebamme in unserem Jeep ist richtig enttäuscht: „Wildlife-Feeling kann da nicht aufkommen. Ich glaube, die sollten
die Anzahl der Jeeps pro Tag kontingentieren, dann müßte man sich hier nicht
fühlen, wie in einem überfüllten Zoo.“
Jetzt sind wir froh, dass außer uns und David und vielen Giraffen, Büffeln,
Dik-Dik-Antilopen und Colobus-Äffchen im Arusha Nationalpark niemand
unterwegs ist. Und ich habe Zeit, mit David ausführlich über seine Berufserfahrungen zu sprechen. Er arbeitet seit acht Jahren hier als Parkangestellter
und ist der erste Tanzanier, den ich treffe, der ohne Zögern zu einem ausführlichen Interview bereit ist. Ihm liegt die Arbeit mit den Dorfbewohnern
am Rande des Parks besonders am Herzen. So oft wie möglich lädt er Schulklassen zu Führungen oder Dia-Vorträgen ein: „Diese Kinder sollen schon
jetzt wissen, dass sie für die Zukunft des Parks wichtig sind.“ Er plädiert für
einen kontrollierten Abschuss der Populationen, das sogenannte „Culling“,
wie es zum Beispiel in den südafrikanischen Ländern praktiziert wird: „Wir
müssen dafür Sorge tragen, dass sich das Wild nicht unkontrolliert vermehrt.
Wenn die Population innerhalb eines Nationalparks oder sonstigen Schutzgebietes zu groß wird, zerstören die Tiere auf der Suche nach Nahrung ihren
eigenen Lebensraum und dann müssen sie alle sterben. Da ist es doch besser
die Größe der Bestände beizeiten durch ‘Culling’ oder auch durch die Großwildjagd nach den geltenden Vorschriften zu regulieren.“
Der Prinz der Serengeti
Er hat den schönsten Arbeitsplatz der Welt: Wenn Markus Borner vom
Schreibtisch hochblickt sieht er durch das Fenster Gnus und Zebras vorbeiziehen und manchmal stehen da draußen Giraffen im Abendrot wie gemei68
Petra Putz
Tanzania
ßelte Skulpturen. Markus Borner ist der Chef der Frankfurter Zoologischen
Gesellschaft (FZS) in Tanzania und sein Headquarter liegt mitten im Herz der
Serengeti. Hier hat Bernhard Grzimek, der einstige Direktor der Frankfurter
Zoologischen Gesellschaft, sein Lebenswerk begonnen: Seine Filme „Serengeti darf nicht sterben“ und „Ein Platz für wilde Tiere“ propagierten schon vor
40 Jahren die Schaffung großer Schutzgebiete für die afrikanische Tierwelt.
Der Erlös dieser Filme wurde so geschickt angelegt, dass die FZS heute
vielleicht die einzige Naturschutzorganisation der Welt ohne Finanzprobleme
ist: Jedes Jahr hat sie sechs Millionen Mark aus Zinserträgen zur Verfügung.
Im Gegensatz zur ein paar Kilometer entfernten aufwendig gestylten
„Seronera Lodge“ ist das FZS-Headquarter eine schmucklose Ansammlung
weniger kleiner Häuschen. Der einzige Luxus den man sich hier gönnt, ist der
„Sundowner“-Gin-Tonic auf der Terrasse vom Chef. Drinnen quäkt das Funkgerät und draußen parkt das schwarz-weiße Zebra-Flugzeug, mit dem er
gerne schnell mal in den Selous oder nach Nairobi fliegt. Seit 14 Jahren leitet Borner, ein beinahe sechzigjähriger Schweizer Alt-Freak, den SerengetiStützpunkt. Im Hintergrund läuft CNN und der grauhaarige Borner verfolgt
vor Vergnügen wiehernd Bill Clintons Lewinsky-Beichte. Jeder der in Tanzania mit Wildlife-Fragen zu tun hat, kennt den freundlichen, humorvollen
Mann und ich bin froh, den „Prinz der Serengeti“, von dem ich schon soviel
gehört habe, persönlich kennenzulernen.
Zur Zeit ist die Serengeti, Heimat von drei Millionen großen Säugetieren
und damit das wildreichste Schutzgebiet der Welt, wie ausgestorben. Es ist
Trockenzeit und die Gnu-, Zebra- und Antilopenherden sind wie seit Tausenden von Jahren auf der Suche nach Wasser in den Norden gezogen. Die
Flusspferde im „Hippo-Pool“ bleiben als einzige garantierte Foto-Objekte für
die Touristen. Am Vortag haben wir ein Dorf am Rande der Serengeti besucht,
wo die FZS ein „Wildlife Management Area“-Projekt nach dem GTZ-SelousModell betreut. Auf dem Rückweg bricht plötzlich ein junger, wütend trompetender Elefant aus dem Busch vor uns auf die Piste. Gottseidank startet er
nur einen kleinen Scheinangriff und dreht schnell wieder ab. „Sowas ist auch
ein Ergebnis der schlimmen Elefantenwilderei in den 80er Jahren,“ meint
Markus Borner: „Die Sozialstruktur der Elefanten ist total durcheinandergeraten. Die wichtigen alten Kühe wurden alle abgeschossen, niemand mehr da,
der den Jungen Kinderstube beibringen konnte. Jetzt gibt es nur noch junge
Kühe und Bullen, die haben aber wieder ganz viele Babies und das macht sie
aggressiv. Heutzutage sind Elefanten einfach unberechenbar.“ Daß es überhaupt noch Elefanten gibt, führt er auf das Handelsverbot von 1989 zurück:
„Seit 1989 haben wir in der Serengeti keinen einzigen Elefanten mehr an Wilderer verloren und das hat auf jeden Fall damit zu tun, dass es keinen Elfenbeinmarkt mehr gab.“ Deshalb ist Markus Borner auch strikt gegen jede
Lockerung der Artenschutzbestimmungen: „Legale Märkte kreieren illegale
Märkte. Zur Zeit sieht es es so aus, als hätten sich die Populationen wieder
erholt. Ein zweites Mal wird das nicht möglich sein.“ Befürworter der HarareEntscheidung führen gerne die legendäre „Operation Uhai“ ins Feld. Der
Rückgang der Wilderei sei nicht nur auf das Handelsverbot zurückzuführen,
69
Petra Putz
Tanzania
sondern auch auf diese zeitgleich durchgeführte, sehr effektive Einschüchterungsmaßnahme des Militärs. Er sieht auf jeden Fall die ostafrikanischen
Bestrebungen, sich am südafrikanischen Modell zu orientieren, skeptisch.
„Ein Tier wie der Elefant ist nicht nur als Wirtschaftsfaktor erhaltenswert, sondern als ‘Naturschatz’ an sich für unsere Nachkommen. Stellen Sie sich eine
weltweite wirtschaftliche Rezession vor, die Touristen bleiben weg, dann
gäbe es nach der sogenannten südafrikanischen Philosophie keinen Grund
mehr für die Erhaltung des größten Landsäugetiers der Erde.“
Auch die tanzanische Großwildjagd birgt seiner Meinung nach jede Menge
Probleme: Die schlecht bezahlten Game Scouts seien allzuleicht korrumpierbar und die Abschussquoten unwissenschaftlich erhoben. Der Jagdgrundsatz nur Männchen zu schießen, sei „großer Blödsinn“. So töte zum Beispiel bei den Löwen das neue Männchen immer alle Nachkommen des
Vorgängers, was für das Rudel einen gewaltigen Streß bedeute: „Und schauen
Sie doch mal, was das für Leute sind, die jagen kommen. Psychologisch
gesehen, geht’s dabei um Macht. Je größer und intelligenter, umso reizvoller.
Darum gibt’s noch heute Menschen, die eine Lizenz erwerben, um in Afrika
Elefanten zu schießen.“
In Tanzania treffe man diese Leute kaum, weil dort überwiegend junge Elefanten leben, die sowieso nicht geschossen werden dürften. Und die Trophäenwilderei spiele heute keine große Rolle mehr. Die Kampagnen der
90er Jahre hätten dazugeführt, der illegalen Jagd auf Elefanten und zum Beispiel auch auf gefleckte Katzen ein Ende zu machen. Das Harare-Dokument
habe allerdings eine Klausel enthalten, die der neuen Regelung eine Probezeit
von 18 Monaten eingeräumt habe. Sollte innerhalb dieses Zeitraums eine deutliche Zunahme von illegaler Jagd auf Elefanten in anderen afrikanischen
Staaten bewiesen werden, müsse die Entscheidung überdacht werden. „Wir
haben wie wild Daten erhoben,“ sagt Markus Borner,“aber bis jetzt gibt es
keine Anzeichen dafür.“ Und dann lächelt er und fügt hinzu: „Und dass wir
da nicht recht behalten haben, darüber freuen wir uns!“
Schützen oder Nutzen?
New York besteht nur noch aus rauchenden Trümmern. Jetzt hopst ein
offensichtlich schwer angesagter zairischer Popstar, unbeholfen und dick
wie ein Elefant durch eine endlose Reihe immer gleicher Video-Clips. Die
Landschaft draußen ist viel interessanter, als das, was sich auf dem VideoScreen des Luxusliners Arusha-Dar tut. An den Haltestellen umringen Menschen mit Eiern, Erdnüssen, Bonbons, Bananen und Fruchtsäften den Bus.
Acht Stunden dauert die Reise. Ein guter Zeitraum, wenn man über vieles
nachdenken muss: Wer hat denn nun recht? Bernd Grzimek, Markus Borner,
Michael Grzimek, alles Weiße, die sich für den unbedingten Schutz der afrikanischen Tierwelt einsetzen. Oder meine tanzanischen Gesprächspartner, die
in ihrer „Nutzung“ den einzigen Weg sehen, sie zu erhalten. Die afrikanische
Tierwelt hat für beide Gruppen eine ganz unterschiedliche Bedeutung: Zehn70
Petra Putz
Tanzania
tausende Touristen reisen aus Amerika, Europa und Japan nach Afrika, um
dort Elefanten, Löwen und Zebras zu fotografieren. Einheimische kennen die
Nationalparks nur, wenn sie dort als Tourguide oder Park Ranger arbeiten.
Kaum ein Tanzanier käme auf die Idee, jemals einen „Ausflug“ in einen der
Parks zu machen, obwohl die Eintrittspreise für sie extra niedrig sind. Viele
Menschen, die ich getroffen habe, erzählen mir, dass sie Tiere lediglich als
Mahlzeit schätzen: Und so gibt es in der Landessprache Kisuaheli nur ein
Wort für Wild - und Fleisch.
Und noch etwas anderes geht mir durch den Kopf: Offiziell gilt Tanzania
als eines der Länder, das gegen den Antrag der drei südafrikanischen Länder
in Harare stimmte. Mit dieser Mission war die Delegation jedenfalls nach
Simbabwe geschickt worden. Im Laufe der Verhandlungen kam dann die
Direktive aus Dar, den Antrag zu unterstützen, wohl mit dem in Aussicht
gestellten möglichen Elfenbeinverkauf. So schildern mir das zumindest meine
Informanten, wenn ich verspreche, sie „nicht zu zitieren“. Tanzania selbst
würde nie wagen, einen derartigen Vorstoß zu unternehmen. Das Land sei arm
und abhängig von westlichen Geberländern, in denen reiche Tierschutzorganisationen mit allen Mitteln gegen Elfenbeinhandel und Großwildjagd zu
Felde ziehen. Und diese seien im Zweifelsfall einfach mächtiger als die
Regierung eines finanzschwachen afrikanischen Staates wie Tanzania.
Zwei Monate nach meiner Heimkehr bekomme ich eine e-mail von Markus
Borner. Er ist gerade von einer Elefantenzählung aus dem Selous zurück:
„Noch nicht ausgewertet, aber es sieht gut aus. Kaum Zeichen von Wilderei.
Elefanten überall! Die aktuelle Neuigkeit über Elefanten aus Tanzania ist, dass
sich die Bestände erholen.“ Im Selous jagen Touristen und Dorfbewohner, das
riesige Gebiet ist nur ganz schwer zu kontrollieren - und trotzdem leben hier
die größten Elefantenherden der Welt, weil die Einnahmen zurückfließen und
der Wildschutz mit den ausgebildeten Scouts gut funktioniert. Vielleicht ist
dieses pragmatische Modell die letzte Chance für Elefanten, auch in Zukunft
zu überleben?
Vorsicht, Mama
Tanzania hat den größten Elefanten- und Elfenbeinbestand Afrikas. Und
Simbabwe macht die Politik! Das kann doch nicht angehen! Als ich mich
gerade in die Idee verliebt habe, wie Tanzania in Zukunft eine Schlüsselrolle
im Internationalen Artenschutz einnehmen wird, ist die Reise beendet. Wir
sind zurück in der Hauptstadt Dar Es Salaam. Ein schrottreifes Taxi bringt
mich zum routinemäßig heruntergehandelten Fahrpreis in mein letztes Quartier in Dar. Sechs Wochen lang bin ich in holprigen Jeeps durch das Land
gereist. Nachts habe ich dem Brüllen der Löwen gelauscht und beinahe wäre
ich die vierte Ehefrau eines bildschönen Massai-Häuptlings geworden - wenn
der Kühlschrank noch ein paar gut gekühlte Flaschen Bier hergegeben hätte,
möglicherweise. In der geschäftigen Hauptstadt ist alles ganz anders als
draußen im Busch. Plötzlich erinnere ich mich wieder genau an die Zeit in
71
Petra Putz
Tanzania
Dar, die beklemmende Atmosphäre während meiner Interviews mit den
„Wildlife-Funktionären“. Die Ausweichmanöver, die Bürokratie, die Verhinderungsstrategie - alles aus Angst davor, Verantwortung zu übernehmen.
Das wird wohl beim nächsten CITES-Meeting, wenn wieder einmal über die
Zukunft des Elefanten entschieden wird, nicht anders sein.
An meinem letzten Abend treffe ich mich auf ein Abschiedsbier mit Freunden in einer fünfhundert Meter entfernten Bar. Ich stolpere im Dunkeln am
Straßenrand entlang und grübele immer noch nach über dieses Land und dieses Volk:Vielleicht können 127 Stämme hier so friedlich koexistieren, weil
niemand die Verantwortung für einen Konflikt übernehmen will? Für einen
Bürgerkrieg braucht man selbstbewusste, entschlossene Anführer und hier
sagt jeder Tourist Guide „sorry“, wenn sein Kunde aus eigener Schuld stolpert. Plötzlich bemerke ich, dass mir eine furchteinflößende Gestalt folgt. Ich
gehe schneller, der Mann in der finsteren Nacht hinter mir fängt fast an zu laufen. Ich verfluche mich für meine Leichtsinnigkeit, da hat er mich erwischt.
Er packt mich an der Schulter, reißt mich herum - und sagt:“Vorsicht Mama,
Du gehst viel zu nahe an der Straße. Du wirst vom nächsten Auto überfahren,
wenn du nicht aufpaßt. Ich werde Dich begleiten, damit Dir nichts passiert.“
Vielleicht leben sie so friedlich miteinander, weil sie einfach nette Menschen sind.
72
Charlotte Hahner
Ecuadors Indianervölker auf
dem Vormarsch
Ecuador vom 28.07. - 09.09.1998,
betreut von der Friedrich-Ebert-Stiftung
73
Inhalt
I.
II.
Ein Vorwort mit Wehmut
76
Melting-Pot Santo Domingo de los Colorados
- Kaum noch eine Spur von den Roten Indianern
76
Von einer unglaublichen Begegnung
77
Von den letzten Colorados
78
Durch den einst unberührten Urwald rollen heute Blechlawinen
78
Die Brücke von Ehrenhäuptling Juan Rau
79
Von Aguavils und einem unbeschwerten Leben
79
„Fast alle hier sind katholisch“
80
„Kultur hat nur, wer lesen und schreiben kann“
- ein Workshop im Urwald
81
Ein Versprechen für die Indianer
82
Die 90er
- Ecuadors Indianervölker auf dem Vormarsch
83
Zwischen Erfolg und Kritik
84
Die Doctora, „die jeder kennt“
85
„Zur Casa von Don Sixto bitte“
87
III. Wo Chicha und schwarzes Gold fließen
- Sarayacu auf dem Weg ins 3. Jahrtausend
88
Von Chicha und Marktwirtschaft
89
Gesprächsthema Nummer eins - die Companía ARCO
90
Die Fakten - über ein endloses Hick-Hack
91
Nicht mehr als Goodwill-Bekundungen
94
Eine Antwort hinter Gittern
- was ARCO zu den Vorwürfen sagt
96
Visionen für ein Sarayacu im 3. Jahrtausend
100
Zurück bleiben Erinnerungen an ein Paradies
102
75
Charlotte Hahner
Ecuador
Charlotte Hahner, Jahrgang 1970, aufgewachsen in Wuppertal. Magisterstudium der
Geschichte mit Schwerpunkt Lateinamerika
und Romanistik in Köln und Chile. Studienbegleitende journalistische Ausbildung durch die
Journalistische Nachwuchsförderung der Konrad-Adenauer-Stiftung. Während des Studiums
diverse Praktika bei Print- und TV-Medien in
Deutschland und Chile. Bis Anfang 1998 freie
Mitarbeiterin bei der „Kölnischen Rundschau“.
Seit 1. Oktober in Berlin als Leiterin Kommunikation und Social Marketing für die Region
Nordost des Malteser Hilfsdienstes.
Ein Vorwort mit Wehmut
Ich habe eine großartige Reise erlebt - in meiner Erinnerung werden
manch’ überwältigendes Erlebnis, manch’ beeindruckendes Gespräch und
viele menschlich zutiefst anrührende Begegnungen noch lange lebendig bleiben. Auf diesen Seiten kann ich nur einen Bruchteil meiner Erfahrungen
schildern, die ich während meiner Recherche bei verschiedenen Indianervölkern Ecuadors machen konnte. Entwicklungen, Fortschritte und Probleme
im politischen Organisationsprozess der Indios kann ich nur anskizzieren.
Beim Entwurf dieser Skizze ist mir klar geworden, dass ich eine indianische
Realität kennenlernen konnte, von der wir hier in Deutschland bestenfalls nur
romantisch verklärte Mythen oder aber politisch verzerrte Bilder kennen oder bestenfalls gar nichts. Ich habe eine Welt kennengelernt, die auch wertvolle Alternativen für eine menschlichere Zukunft der lateinamerikanischen
Gesellschaft zu bieten hat - und die doch durch Menschenhand selbst vom
Untergang bedroht ist. Dieses Drama anzudeuten - das ist mir wichtig! Und
mir ist - wieder einmal - klar geworden, dass sich die Wirklichkeit nicht
vom Schreibtisch in Deutschland erfassen läßt.
Mein aufrichtiger Dank gilt der Heinz-Kühn-Stiftung, für diese einzigartige
Möglichkeit journalistischer Fortbildung und besonders Erdmuthe Op de
Hipt für ihre so persönliche und engagierte Betreuung. Dem Direktor der Friedrich-Ebert-Stiftung in Quito, Hans-Ulrich Bünger, bin ich ebenfalls sehr zu
Dank verpflichtet, weil er meine Recherchen mit wertvollen Tips und Kontakten vervollständigt hat.
I.
Melting-Pot Santo Domingo de los Colorados Kaum noch eine Spur von den Roten Indianern
Santo Domingo de los Colorados - der schillernde Name verspricht tropisches Flair und einen Hauch von Abenteuer. Zumindestens die Anreise hält,
76
Charlotte Hahner
Ecuador
was das Ziel zu versprechen scheint. Die in Nebel gehüllte Straße zwischen
der Andenmetropole Quito und dem Tiefland führt fast 3000 Höhenmeter
die westlichen Andenhänge hinab. Dem Besucher von Santo Domingo
steht ein zweistündiger Horrortrip bevor. Auf der kurvenreichen Strecke
rasen Busse und Autos in halsbrecherischer Geschwindigkeit hinab. Bei
Nacht und Nebel verlassen sie sich blind auf Hupen und Scheinwerfer. Das
Panorama ist atemberaubend schön. Durch die Nebelschwaden tauchen
endlose Bananenplantagen und üppig grüne Vegetation am Wegesrand
auf. Die lauen Temperaturen des Hochlandes verwandeln sich rasch in
tropisch-feuchtheiße Grade.
Kaum hat sich jedoch der Puls nach dem schwindelerregenden Abstieg
beruhigt, der Nebel der Tiefebene sich gelichtet, kommt auch schon schlagartig die Ernüchterung. „Santo Domingo erweckt den Eindruck, als habe der
Himmel einen riesigen Kübel Beton, Zement und Steine über dem Tropenwald ausgeschüttet“, schrieb vor einigen Jahren ein Journalist über diesen
Melting-Pot, die Stadt, die ein Vielvölkergemisch aus Mestizen, Kreolen,
Schwarzen und Indios beherbergt.
Von einer unglaublichen Begegnung
Aber die träge, fast drückende Stimmung, die diese Stadt gleich bei Ankunft
ausstrahlt, läßt mich unberührt. Schließlich hab ich keinen Grund betrübt zu
sein - vier Stunden zuvor wusste ich nicht einmal, dass ich nach Santo
Domingo kommen würde. Bei der Erinnerung an diese unglaubliche
Geschichte, muss ich wieder lachen.
Rückblick: Um die Mittagszeit rufe ich von Quito aus bei dem deutschen
Bischof Emil Stehle an, um einen Gesprächstermin auszumachen. Stehle
leitet seit 1988 die neugegründete Diözese Santo Domingo de los Colorados.
Von der Sekretärin erfahre ich, dass Monseñor um 17 Uhr eine Auszeichnung
„für besondere Verdienste“ von Interimspräsident Fernando Alarcon im Präsidentenpalast in Quito bekommen soll. Also nichts wie hin.
Unter dem Arkadengang des Palastes im kolonialen Stadtzentrum von
Quito, skeptisch beäugt von den Wächtern, fange ich Monseñor 15 Minuten vor dem Festakt ab. Ich erzähle ihm von meinem Interesse an den Colorado-Indianern - und darf an dem Empfang mit Präsident Alarcon teilnehmen. Als wir im pompösen gelben Saal des Präsidentenpalastes auf den
Hausherrn warten, zusammen mit rund 50 weiteren illustren Persönlichkeiten der ecuadorianischen Gesellschaft, stellt Stehle meine Spontanität auf
die Probe: „Warum fahren Sie nicht gleich heute abend mit uns nach Santo
Domingo?“, ich schlucke kurz ...und vier Stunden später bin ich im Gästehaus des Bischofs von Santo Domingo. So etwas ist wohl nur in Ecuador
möglich.
77
Charlotte Hahner
Ecuador
Von den letzten Colorados
Ich bin auf der Suche nach den Colorado-Indianern - oder besser gesagt
nach dem, was von ihnen übrig geblieben ist. An einem sonnigen, wie immer
schwülheißen Tag breche ich in einem weißen Rover mit Pedro, dem Fahrer
von Monseñor Stehle nach Bua auf. Bua ist eine von acht Colorado-Indianer
Gemeinden, rund 15 Kilometer im Landesinneren. Kaum verlassen wir die
Hauptstraße, endet der Asphalt. Ab jetzt gibt es nur noch Staub und Schlaglöcher. Wir fahren durch eine üppige subtropische Vegetation, Bananen- und
Kakao-Plantagen so weit das Auge reicht. Die typischen Pfahlbauten der
Colorado-Indianer säumen vereinzelt unseren Weg. Die Zeit scheint still zu
stehen. Alte und junge Menschen sitzen verstreut am Wegesrand. Geduldig
warten Sie in der stickigen Hitze auf den ratternden, stinkenden Bus, der dreimal täglich seinen Weg in die Stadt macht. Auf den Weiden grasen alte,
abgemagerte Kühe. Ein Esel steht am Wegesrand und ist nur mit einem einfachen Seil angebunden. „Die Leute hier sind sehr friedlich“, sagt Pedro und
fügt hinzu, „die sind so friedliebend, dass sie sich angesichts von Eindringlingen lieber immer weiter zurückziehen, als gegen sie zu kämpfen.“
Durch den einst unberührten Urwald rollen heute Blechlawinen
Mit Eindringlingen meint Pedro die mestizischen Siedler, sogenannte Colonos, die in den 60er Jahren das fruchtbare, subtropische Tal der Colorado-Indianer invadierten. Der Auslöser: Eine schwere Dürreperiode im südlichen
Andenhochland hatte die Lebensgrundlage der dort lebenden Bauern vernichtet. Die Naturkatastrophe und eine verpaßte Landreform löste die Regierung mit der Umsiedlung tausender Bauern in den Urwald im westlichen Tiefland. Die gezielte staatliche Ansiedlungskampagne der ecuadorianischen
Regierung wurde zum Alptraum für die Ureinwohner, die ihren spanischen
Namen „Colorados“ wegen der roten Haarfärbung der Männer erhielten. Sie
selbst nennen sich Tsachilas - die „wahrhaftigen Leute“.
Vor 40 Jahren lebten in der Gegend von Santo Domingo einige tausend
Colorados zurückgezogen im Urwald und nahezu unberührt von den Einflüssen westlicher Zivilisation. Heute sind es noch knapp tausend, auf 288.000
Hektar Land zurück- und zusammengedrängt. Dort wo einst unberührte
Wildnis herrschte ist in wenigen Jahrzehnten eine Stadt mit 150.000 Einwohnern explosionsartig aus dem Boden geschossen. Zwar nennt sich der seitdem entstandene Schmelztiegel Santo Domingo de los Colorados, aber an die
Indianer erinnern hier bestenfalls noch Straßen- und Hotelnamen. Im vornehmsten Hotel der Stadt, wo sich Quiteños und Gringos erholsame Tage in
den farbenprächtigen und üppigen Gärten gönnen, erinnert eine grelle Leuchtschrift über dem Eingang an „Zaracay“, den berühmten Colorado-Häuptling.
Am Stadteingang, inmitten des Kreisverkehrs blickt die eiserne Statue eines
Colorado-Indianers mit starrem Blick auf die Blechlawinen herab - sein rotgefärbtes Haupt, der mit schwarzen Streifen bemalte Körper und die kriege78
Charlotte Hahner
Ecuador
rische Lanze in seiner Hand sind von der hohen Luftfeuchtigkeit längst angenagt.
Das Stadtbild prägen vor allem Mestizen, die aus Santo Domingo einen
wichtigen Umschlagplatz für Erzeugnisse der Plantagenwirtschaft gemacht
haben. Den friedfertigen, beinahe scheuen Indianern haben die mestizischen
Siedler das Land entweder abgenommen oder zu Niedrigpreisen abgeschwatzt. Um weitere Ungerechtigkeiten zu vermeiden, hat vor allem die
katholische Kirche unter Bischof Stehle darauf gedrängt, die 1959 begonnene
Legalisierung des Landbesitzes Anfang der 90er Jahre zu vollenden. „Monseñor hat darauf bestanden, dass diese Besitztitel zum Schutze der Indianer
unverkäuflich sind“, erklärt mir Pedro auf unserer Fahrt ins Landesinnere. Aus
eigener Erfahrung weiß er, dass die Colorados manchmal aus reiner Gutmütigkeit ihr Land verkaufen würden, aus Mitleid mit dem landlosen Siedler.
Die Brücke von Ehrenhäuptling Juan Rau
Bei Kilometer 17 biegen wir in einen holprigen Steinweg ein. Die letzten
Schritte müssen wir zu Fuß gehen. Vor uns türmt sich eine beachtliche Baustelle auf. „Das ist unsere neue Brücke“, ertönt es in gebrochenem Spanisch
in meinem Rücken. Neugierig, aber noch ein bischen schüchtern nähert sich
uns ein Colorado-Paar und zeigt stolz auf die 9 Meter hohen Pfeiler, die aus
dem Flussbett ragen. Auf meine Frage, wer denn dieses Projekt finanziert
habe, weiß Domitilian Aguavil zunächst keine rechte Antwort. Schließlich
erklärt er umständlich, „amigos de Monseñor de Alemania“ seien für den Bau
verantwortlich. Daß einer dieser amigos Johannes Rau heißt und Ministerpräsident von Nordrhein-Westfalen ist (heute war), weiß hier natürlich keiner,
aber die Dankbarkeit und Freude für den Bau dieser weit und breit einzigen
Brücke über den Rio Soberano sind groß. Klar, dass die Stammesführer
„Juan“ zum Ehrenhäuptling machten.
„Drüben gibt es viel zu ernten“, sagt Domitilian und zeigt auf weite Bananen- und Kaffeeplantagen jenseits des Flusses, der in der neunmonatigen
Regenzeit zu einem reißenden, nicht zu überquerenden Strom wird. „Für
unsere Gemeinde bedeutet diese Brücke einen großen Fortschritt.“ Seine
Frau murmelt wie zur Bestätigung, begleitet von ihrem zahnlosen, aber so
sympathischen Grinsen, „es bueno, es muy bueno“. Bald können die Agrarprodukte von bisher praktisch ungenutzten Plantagen über den Fluss gebracht
und im Stadtzentrum verkauft werden.
Von Aguavils und einem unbeschwerten Leben
Und wovon lebt diese Familie Aguavil - denn Aguavils gibt es hier viele bisher? „Hier haben wir Bananen, Kaffee und Mais“ sagt Carmelina und zeigt
auf vor uns liegende, üppig bewachsene Felder. „Gehört das Land denn
ihnen?“, frage ich mit ungläubigem Erstaunen - und ernte für meine Frage
79
Charlotte Hahner
Ecuador
erneut das gurrende, beinahe kindliche Lachen, das die ungefähr 60jährige
Carmelina so liebenswert macht. „Das Land gehört uns“, bestätigen beide
nachdrücklich. Zwar gebe es nicht viel Geld für die Produkte, sagen sie mit
ein wenig Wehmut in der Stimme, aber „glücklich“ seien sie hier schon. Der
Familie gehören 5 Hektar Land. Für eine Staude grüner Bananen bekommen
sie 5000 Sucres, rund 1 Dollar. In der Stadt wird „platano verde“ für 9000
Sucres verkauft. Der Monatsverdienst der Familie beträgt zwischen 300.000
bis 500.000 Sucres, 60 bis 100 Dollar.
Carmelina und Domitilian haben zwei Söhne und 3 Töchter, da sind sie sich
ganz sicher. Wie lange sie schon verheiratet sind - „kirchlich“, betonen sie darüber gehen ihre Meinungen stark auseinander. „30 Jahre“, wagt sie eine
erste Schätzung. Domitilian korrigiert sie kopfschüttelnd und meint „40
Jahre“. Doch Carmelina überlegt weiter, „vielleicht sind es auch schon 50
Jahre“ und stimmt schließlich heiter in mein Gelächter ein. Als ich sie bitte,
mir ihren Namen aufzuschreiben, merke ich peinlich berührt, dass beide
Analphabeten sind. „Aber unsere Kinder können alle lesen und schreiben“. Im
Gegensatz zu seinen Eltern findet Sergio, der 25jährige Sohn von Carmelina
und Domitilian, schon, dass es den Colorados in Bua „an ziemlich viel fehlt“.
Was genau, kann er nicht so richtig sagen, aber eben „all das, was es in der
Stadt gibt“.
Sergio ist auf den ersten Blick nicht mehr als Colorado zu erkennen westlicher Haarschnitt und westliche Kleidung. Vater Domitilian trägt zwar
noch den traditionellen Kurzhaarschitt, aber gefärbt wird nur noch zu besonderen Festen. Während ihr Mann eine alte blaue Arbeiterhose, Gummistiefel
und ein zerissenes Polohemd trägt, befindet sich Carmelina noch im Übergangsstadium zwischen Tradition und Moderne. Den traditionellen Tuchrock in Regenbogenfarben hat sie mit einer buntgemusterten Synthetikbluse
aus den 60er Jahren kombiniert. Die schwarzen Haare fallen lang und ungekämmt herunter.
„Estamos ya cambiando - hier ändert sich alles“, sagt mir traurig ein älterer Colorado, der sich mittlerweile in der Nähe der Baustelle niedergelassen
hat. Nachdenklich blickt er auf seine Finger, an denen noch die Spuren der
Haarfärbung mit dem knalligen Achiotesamen zu erkennen sind. „Selbst von
den Älteren färbt sich kaum noch einer die Haare. Die Tradition gefällt ihnen
nicht mehr, weil es ihnen lästig ist und die Kleidung verschmutzt“, klagt der
70jährige Jorge Cristobal resigniert. Sein Nachname ist Aguavil. Nur in der
Nachbargemeinde Chihuilpe gibt es noch einige Colorados in traditioneller
Aufmachung. Sie warten auf klingende Dollar von sensationshungrigen Touristen.
„Fast alle hier sind katholisch“
Wie viele Menschen zu ihrem Stamm gehören, weiß keiner der Aguavils so
genau, „aber es sind viele“ und „fast alle sind gekleidet wie Weiße“. Und - fast
alle hier sind katholisch. Schon vor Jahrzehnten, als Santo Domingo noch
80
Charlotte Hahner
Ecuador
Urwald war, predigten Dominikanerpatres den Colorados das Evangelium.
Heute bemüht sich die neugeschaffene Diözese unter Bischof Stehle um eine
gezielte Indianerpastoral, doch der Priestermangel bedeutet auch hier die
größte Schwierigkeit. Nur einmal im Monat kommt ein Priester nach Bua. An
jedem ersten Dienstag im Monat wird Messe gefeiert.
Ich habe Glück - es ist Dienstag. „Daß es hier eine Kapelle gibt, ist nur
Monseñor zu verdanken“, rühmt Pedro zum wiederholten Male die Verdienste „seines“ Bischofs. Vor dem weißgetünchten Gebäude, an dem der Putz
bröckelt, trudeln immer mehr Menschen ein. Vor allem Frauen, Jugendliche
und Kinder. Sie alle warten auf Padre Franco. Viele von ihnen haben einen einbis zweistündigen Fußmarsch hinter sich. Das ist selbstverständlich für sie.
Das „Vorprogramm“ in der von Taubenmist bedeckten Kapelle, in der ein
schlichtes Holzkreuz den einzigen sakralen Schmuck bildet, gestaltet eine
Handvoll Jugendlicher - Mestizen, die sich „Mensajeros de la Paz“, Botschafter des Friedens nennen. Sie wollen nicht nur den Glauben bringen, sondern die Indianer auch zu ihren Wurzeln zurückführen. „Unsere Berufung ist
es, die Rechte der Indianer in Ecuador zu retten“, erklärt der 20jährige José
Arce, ein Kreole aus Esmeralda.
Hinter dem Altar haben sie unter der Überschrift, „Retten wir unsere Kultur als junge Indianer dieser Nation“, handgezeichnete Plakate aufgehängt.
Die Plakate zeigen einen Tsachila und eine Tsachi Sona - ein Tsachi-Frau - in
traditioneller Kleidung und Bemalung. „Heute ist es ihnen peinlich, so herumzulaufen“, weiß José.
Doch die jugendlichen Mestizen wollen ihren indianischen Glaubensbrüdern zeigen, dass sie stolz auf ihre Kultur sein können, ja sein müssen. „Die
Verachtung durch die Weißen hat das Selbstbewusstsein der Indianer zerstört“,
sagt José und fügt energisch hinzu, „ich sage ihnen immer wieder: ihr dürft
euch niemals für euer Volk und eure Traditionen schämen“. Zwar seien die
Colorados nicht so entwickelt und international bekannt, wie zum Beispiel die
Otavalo-Quichuas, aber „ihre Traditionen, Sprache und Kleidung sind auf ihre
Art und Weise etwas Besonderes“. Zwei Dinge wünschen sich die „Mensajeros de la Paz“: Daß sich die Indianer in Zukunft nie mehr minderwertig fühlen und - dass eines Tages ein Colorado-Priester aus diesem Dorf hervorgeht.
Davon träumt auch Padre Franco, der mir später bekennt, dass eine wirkliche
Indianerpastoral nur von Indianern selbst ausgeübt werden könne, „weil nur
sie richtigen Zugang zu ihrem Volk haben“.
„Kultur hat nur, wer lesen und schreiben kann“
- ein Workshop im Urwald
Padre Franco wird mit Applaus begrüßt. Daß er eine Stunde verspätet
gekommen ist, stört hier keinen. Zum Einzug wird ein Lied auf Tsafiqui
gesungen. Auch die mestizischen Messbesucher, die hier in der Minderheit
sind, singen so gut wie möglich mit. Dann beginnt die Gruppenarbeit: Padre
Franco möchte, dass sich die Gläubigen Gedanken über die Frage machen:
81
Charlotte Hahner
Ecuador
„Hat jeder Mensch eine Kultur?“ 10 Minuten Diskussionszeit in Kleingruppen, dann lautet es zögernd „Nein“ von rechts, ein mehrheitliches „Ja“ ertönt
von links. Eine 18jährige Mestizin verteidigt ihr Nein: „Kultur hat nur, wer
lesen und schreiben kann“. Ich bin entsetzt - und erwarte heftigen Widerspruch. Unbeteiligtes Schweigen. Die Männer stehen träge in den hinteren
Reihen, die Frauen sitzen mehr oder weniger desinteressiert da und stillen ihre
Kinder. Schließlich einigt sich Padre Franco mit allen darauf, dass jeder
Mensch eine Kultur habe. Den „Predigt-Workshop“ endet er mit einer feierlichen Zusicherung: „Unsere Verpflichtung ist es, den abgesägten Baum der
Tsachila-Kultur, dessen Wurzeln noch nicht tot sind, wieder zum Blühen zu
bringen.“
Ein Versprechen für die Indianer
Das Colegio Madre Laura kennt jeder in Santo Domingo. Der Taxifahrer
setzt mich vor einem riesigen graugetünchten Gebäude im Stadtzentrum ab.
Das Internat trägt den Namen der kolumbianischen Ordensfrau, Madre Laura
de Santa Catalina, die 1874 im kolumbianischen Jericó geboren wurde und
1949 im Rufe der Heiligkeit in Medellín starb. Bei ihrem Tod hinterließ sie
eine Ordenskongregation, die sich in zahlreichen Ländern Südamerikas der
Indianermission widmet. „Ich habe ein Versprechen gefaßt: alle Opfer und
Hindernisse zu überwinden, um das Werk zugunsten der Indianer zu realisieren“, soll Mutter Laura kurz nach ihrer Berufung gesagt haben.
Seit 1988 unter dem sozialdemokratischen Präsidenten Rodrigo Borja in
Ecuador die zweisprachige Erziehung landesweit eingeführt wurde, haben
auch die Laura-Schwestern in Santo Domingo neben der Grundschule für
mestizische Mädchen ein weiterführendes Colegio für junge Indianer eingerichtet. Dort wird neben Spanisch auch Tsafiqui, die Sprache der Tsachilas,
unterrichtet. Tsafiqui bedeutet „das wahre Wort“. „Zunächst gab es Widerstand von den Tsáchilas. Sie wollten ihre Kinder nicht hier ins Internat
schicken, weil sie den schlechten Einfluss der Stadt auf ihre Gemeinden
fürchteten“, erzählt Rosa Guadir, die Direktorin des Colegio. Die Priorität des
Lehrauftrags der Schwestern stellt sie deutlich heraus: „Uns ist es wichtig,
dass sie in erster Linie das Wort Gottes kennenlernen, aber über ihre eigene
Kultur. Nicht zuletzt dafür ist es wichtig, dass einheimische Lehrer ausgebildet
werden, denn wir werden immer Fremde für sie sein.“
Zur Zeit besuchen 18 Tsachilas aus den Dörfern um Santo Domingo und 7
Chachis aus der weiter entfernten Gegend Esmeralda das Colegio. Wie das
Verhältnis untereinander sei, frage ich den 25jährigen Juan José, der in der
Schulleitung mitarbeitet. Seine Antwort überrascht. „Wir reden fast nicht miteinander“, stellt der junge Tsachila achselzuckend fest. Stammesübergreifende
Solidarität kennt man hier nicht. Während die Tsachilas jedes Wochenende zu
ihren Eltern in die nahegelegenen Dörfer fahren und dort reichlich mit Essensvorräten versorgt werden, wissen die Chachis an manchen Tagen nicht, womit
sie ihren Hunger stillen sollen. „Die ernähren sich tagelang nur von Bananen“,
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Charlotte Hahner
Ecuador
weiß Schwester Rosa, „deshalb teilen wir auch oft unser Essen mit ihnen.“
Das Volk der Chachi-Indianer zählt ungefähr 11.000 Personen. Ihre Zahl ist
seit Jahren konstant geblieben. „Die Chachis sind stärker und disziplinierter
als die Tsáchilas“, hat die Direktorin nach Jahren beobachtet. Unter den
Colorados dagegen gebe es immer häufiger Mischehen mit Mestizen oder
Weißen und das, obwohl die Stammesgesetze dies streng verbieten. „Von den
1000 Colorados wird bald nicht mehr viel übrig bleiben“, sagt Rosa resigniert.
Noch mehr aber betrübt sie, dass die jungen Colorados so gar keine begeisterten Schüler sind. „Die ziehen ihre Freiheit vor, als einmal Lehrer zu werden.“ Wie oft hat sie als „Argument“ hören müssen: „Warum soll ich täglich
für einen Hungerlohn als Lehrer arbeiten, wenn der Ertrag einer Tages-Ernte
für eine ganze Woche reicht?“
„Aber“, schickt sie gleich hinterher, „die Colorados sind sehr gute Arbeitgeber. Ihren oftmals mestizischen Arbeitern zahlen sie einen gerechten Lohn
nach der Devise, wer gut arbeitet, bekommt auch mehr.“ Die Colorados charakterisiert Schwester Rosa als schüchtern, sehr großzügig, aber im großen
und ganzen eher passiv, vor allem was die politische Organisation nach außen
angeht. „Die Tsáchilas waren eben nie unterworfen, wie die Quichuas, die
durch ihre jahrhundertelange Unterwerfung heute so rebellisch sind“, lautet
ihre Erklärung. Und natürlich hat sich mit dem Eindringen der Siedler in
Stammesland auch die traditionelle Organisations-struktur der Tsachilas verändert. Die frühere geographische Einheit der acht Gemeinden ist jetzt durch
Siedlerland unterbrochen. Zwar regeln die internen Statuten auch heute noch
das soziale Verhalten der Colorados und die Gemeinden treffen sich regelmäßig zur Vollversammlung - an der nur die männlichen Familienoberhäupter teilnehmen dürfen - um den Cabildo, die Stammesregierung zu wählen.
„Trotzdem“, so meint Schwester Rosa, „müssen die Tsachilas auch lernen,
sich nach außen hin zu organisieren.“
Da meldet sich Juan plötzlich wieder zu Wort. „Dann könnten wir auch
nachdrücklicher die Unterstützung des Bürgermeisters für unsere Dörfer fordern“, sagt er energisch. „Von denen bekommen wir überhaupt keine Hilfe für
die Entwicklung unserer Gemeinden.“ Vielleicht kümmert sich ja auch deshalb der deutsche Bischof um den Brückenbau in Bua. Und vielleicht nennt
man auch deshalb Bischof Stehle den heimlichen Bürgermeister von Santo
Domingo.
II. Die 90er - Ecuadors Indianervölker auf dem Vormarsch
In Quito zeigt sich die indianische Realität in radikalen Gegensätzen: zerlumpte Gestalten, die an den Autoscheiben die Reichen um ein paar Sucres
anbetteln, auf der einen - etablierte politische Indianerführer, die von ihren
Kongressbüros oder von den Vertretungen der zahlreichen Indianerorganisationen aus, die Geschicke ihrer Völker mitbestimmen wollen, auf der anderen
Seite.
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Charlotte Hahner
Ecuador
„Die Indianer sind die schlimmsten Bürokraten von allen,“ sagt Pater Juan
Bottasso, Rektor der Salesianer-Universität in Quito. Der italienische Salesianerpater blickt auf eine jahrzehntelange Zusammenarbeit mit den Indianern
zurück - die Erfahrung hat ihn kritisch gemacht. In der südöstlichen Amazonasprovinz haben die Salesianer nicht nur missioniert, sondern bereits in
den 60er Jahren den dortigen Shuar- und Achuar-Indianern geholfen, sich in
einem Bündnis zusammenzuschließen. Auch die landesweite zweisprachige
Erziehung wäre ohne die Hilfe der Salesianer nicht umzusetzen gewesen.
„Das mit dem politischen Engagement ist so eine Sache,“ sagt er zögernd, „ich
glaube, die meisten Indianerführer sind noch nicht ausreichend darauf vorbereitet.“ Sie würden von den Parteien manipuliert und ausgenutzt, glaubt
Padre Juan.
Kein Wunder, mag man denken. Schließlich hat die politische Organisation
der Indianer in diesem Jahrzehnt eine rasante Entwicklung genommen, die auf
dem Kontinent wohl einzigartig ist. Das Erwachen aus der politischen Ohnmacht hin zur Übernahme politischer Verantwortung trifft viele Indios unvorbereitet. Während Anfang der 80er Jahre Forderungen nach sozialer und
wirtschaftlicher Gerechtigkeit auch von linken Parteien noch aus einer Landarbeiter-Perspektive heraus gestellt werden, dominiert erst Ende der 80er
Jahre die indigenistische Betrachtungsweise. Überall entstehen lokale und
regionale Bündnisse der 11 Indianervölker Ecuadors. 1988 kommt es allen
ethnischen Unterschieden zum Trotz zur Gründung der CONAIE, der nationalen Vertretung aller Indianervölker Ecuadors. Diese demonstriert nur zwei
Jahre später ihre Macht, als sie einen landesweiten Indianeraufstand ausruft.
Zehntausende Indianer marschieren auf die Hauptstadt Quito zu, blockieren
Straßen, nehmen Ländereien und Hacienden gewaltsam in Besitz. „Bevölkerung und Politiker waren geschockt“, erinnert sich Padre Juan. „In gewisser
Hinsicht haben die Mestizen auch Angst vor der Macht der Indianer.“ Andererseits hätten die Indianer das Mittel des Streiks mißbraucht. „Sie laufen
Gefahr, dass die Bevölkerung verärgert reagiert“, warnt Padre Juan, dabei
müsse es doch vor allem darum gehen, die öffentliche Meinung für die Sache
der Indianer einzunehmen.
Zwischen Erfolg und Kritik
Seit 1995 sind die einst Unterdrückten auch aus dem politischen Alltagsgeschäft nicht mehr wegzudenken. Die indianische Bewegung ging ein Bündnis mit verschiedenen sozialen Gruppierungen der sozialistischen Linken
ein, kurz Pachakutik genannt. Heute sind vier von acht Pachakutik-Abgeordneten im Kongress Indianer. Fast 50 lokale Autoritäten landesweit sind
indianischer Abstammung. Daß die Indianer nach ihren eigenen Regeln auf
der politischen Bühne agieren, zeigte sich im August diesen Jahres, als mit
Nina Pacari eine Quichua-Indianerin aus Riobamba zur 2. Vizepräsidentin im
Kongress gewählt wurde. Die Empörung der mestizischen Kollegen aus den
eigenen Reihen war groß. Die Indianer hätten sich politisch verkauft, laute84
Charlotte Hahner
Ecuador
ten die Vorwürfe der Pachakutik-Kollegen. Tatsache: die Wahl war nur Dank
der Unterstützung der konservativen Mehrheit zustande gekommen. Ein Deal
auf Gegenseitigkeit.
„Die CONAIE marginalisiert sich innerhalb unseres Partienbündnisses,“
kritisiert Napoleon Saltos scharf. Bis zum Sommer war er Kongress-Abgeordneter. Jetzt will er im Parteivorstand für klare ideologische Leitlinien sorgen. „Die Indianer arbeiten nicht mehr im Interesse des Ganzen, im Interesse
unseres sozialistischen Bündnisses“, sagt er mit einem Anflug von Grimm in
seiner Stimme. „Wir erscheinen mittlerweile fast wie ein Teil der offiziellen
Regierung“, fährt er kopfschüttelnd fort. Durch solche Händel verliere Pachakutik nicht nur seine Identität, sondern auch die notwendige Autonomie,
oppositionelle Projekte anzugehen. Angesichts der ideologischen Aufweichung beschwört Saltos gar die „Gefahr eines indigenistischen Rassismus“ was die selbstbewusste Nina Pacari gar nicht gerne hört.
Die Doctora, „die jeder kennt“
Im Büro 309 auf der 3. Etage im Nationalkongress herrscht um 18 Uhr noch
reger Andrang. Drei Quichua-Indios sitzen im Vorzimmer. Ihre dunklen Ponchos und Filzhüte lassen auf die südliche Andenprovinz Chimborazo schließen. Die mehrstündige Anreise nach Quito haben sie in Kauf genommen, um
mit „ihrer“ Abgeordneten über Möglichkeiten für Universitätsstipenden zu
sprechen. Zur „Doctora“ könne man mit jedem Anliegen kommen, sagen sie
mir stolz. Ich nicke zustimmend - auch mir hat die vielbeschäftigte Nina
Pacari kurzfristig einen Interviewtermin gegeben.
Die promovierte, ledige Juristin empfängt mich in einem modern ausgestatteten Büro. Hinter ihrem Rücken eine expressionistische Malerei mit
indianischen Motiven. Nina Pacari kleidet sich traditionell, mit einem Dutzend
Ketten aus goldfarbenen Glasperlen um den Hals. Durch eine große, dicke
Brille blickt die 36jährige Frau aufmerksam, mal kritisch und manchmal
geradezu streng auf ihren Gesprächspartner. Sie gilt als selbstbewusst, als
eigenwillig unter den männlichen Parteikollegen - vor allem den Mestizen. In
Ecuador gibt es wohl kein Dorf, wo man Nina Pacari nicht kennt. Auf die Fragen ihres Interviewers antwortet sie ohne Zögern, selbstsicher und oft emotional.
Wie beurteilen Sie die politische Entwicklung der Indianervölker in den
letzten zehn Jahren?
„Ich würde von einem strukturellen, organischen, technischen und intellektuellen Fortschritt sprechen. Wir haben es geschafft, uns von der Familie
und der Gemeinde aus in einem umfassenderen Rahmen zu organisieren. Wir
sind auf allen Ebenen, kantonal, regional und auch national vertreten, d.h. der
strukturelle Fortschritt der letzten zehn Jahre hat eine Stärkung indianischer
Politik mit sich gebracht. Im qualitativen Bereich hat es auch eine Entwikklung gegeben. Früher haben wir eine fordernde Politik betrieben, bei der die
Forderung nach Land, das für uns überlebensnotwendig ist, im Vordergrund
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Charlotte Hahner
Ecuador
stand. Jetzt kämpfen wir nicht mehr nur um Land, um soziale und wirtschaftliche Entwicklung für uns, sondern suchen nach Projekten, die dem ganzen Land dienen. Ziel der Begegnung zwischen Indianervölkern und Gesellschaft muss der gegenseitige Respekt vor Verschiedenheit sein, aber auch die
Suche nach gemeinsamen, verbindenden Punkten. Mit Protestmärschen haben
wir bewiesen, dass wir eine numerische Kraft sind. Aber wir haben auch versucht, dieses Mittel nicht auszunutzen. Während der Verhandlungen um die
neue Verfassung haben wir uns als ernstzunehmende Gesprächspartner erwiesen und den Verhandlungstisch Demonstrationen vorgezogen.
In ihrer Präsenz nach außen vermitteln die politischen Organisationen der
Indianervölker oft ein negatives Bild, geprägt von Streit und Uneinigkeit.
„Ein Problem ist sicher, dass wir nicht von einem Indianervolk, sondern von
vielen verschiedenen ausgehen müssen. Das wichtigste ist aber, dass wir
trotz kontroverser Diskussionen zu Übereinstimmungen kommen. Unsere
Beschlüssse werden von der Basis selbst entschieden und mitgetragen, was
natürlich mühselig ist, aber mitunter auch ein Beitrag zum Konzept der
Demokratie ist. Wir wollen auch gar nicht einen Repräsentanten für uns Indianer, denn schließlich sind wir elf Nationalitäten. Wir Quichuas z.B. haben 19
Stämme mit unterschiedlichen Sprach- und Lebensgewohnheiten. Angesichts
dieser Vielfalt fordern wir eben die Anerkennung der Plurinationalität. Was
genau verstehen Sie unter dem Konzept der Plurinationalität?
„In der neuen Verfassung vom Juni 1998 haben wir es geschafft, dass der
Staat im Artikel 83 unsere Auto-Definition als Nationalitäten anerkennt und
wir als solche einen konstitutiven Teil der Verfassung bilden. Leider haben wir
nicht durchsetzen können, dass der plurinationale Charakter Ecuadors im Artikel 1 festgelegt wurde, aber dafür werden wir weiter kämpfen.“
Sie haben also eine Quichua-Nationalität und nicht die ecuadorianische?
„Nein, ich sehe mich ebenso als Ecuadorianerin wie als Quichua. Hier versteckt sich die Intoleranz gegenüber der Vielfalt. Denn die Tatsache, dass ich
Ecuadorianerin bin, nimmt mir doch nicht das Recht auch Quichua zu sein.
Was konkret bedeutet: das wir anerkannt sind in unserer Andersartigkeit, dass
wir kollektive und individuelle Rechte einfordern können. Der Staat soll uns
nicht nur als Individuen sehen, sondern auch, dass wir Teil eines Volkes, einer
Nationalität sind. Wir haben unsere eigenen Formen der Kultur, der Rechtssprechung, der Sprache, der Medizin - das muss anerkannt werden und gefördert werden, auch im Dienste der gesamten ecuadorianischen Gesellschaft.
Einige kollektive Rechte, wir z.B. Landrecht und Recht auf zweisprachige
Erziehung konnten wir ja bereits durchsetzen.
Für Unbehagen in mestizischen Kreisen sorgen auch Ihre Forderungen
nach politischer Autonomie in bestimmten Bereichen.
„Wir haben klar gesagt, es gibt nur einen Staat. Aber innerhalb dieses
Staates kann es doch Autonomie geben, z.B. bezüglich gewisser Zuständigkeiten. Warum können wir uns als Völker nicht nach unseren eigenen Traditionen, nach unserer Kosmovision entwickeln? Klar ist, dass es hier nicht um
ein Unabhängigkeitsstreben geht, denn in Ecuador ist dieser Weg nicht gangbar. Es gibt eben keinen geographischen Raum, wo ausschließlich Indianer
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Charlotte Hahner
Ecuador
leben. Nur in der Amazonia wäre das vielleicht möglich. Aber dort, wo wir in
der Mehrheit sind, sollte sich das indianische Element auch auf der lokalen
Verwaltungsebene wiederspiegeln.
Während in den 80er Jahren das Konzept der Plurinationalität für die meisten im Land eine Horrovision war, ist es heute hoffähig - heute reden wir mit
allen gesellschaftlich relevanten Akteuren darüber, bis hin zu ganz rechten
Unternehmerkreisen. Das werden wir auch weiter tun.“
Sind sie offen für Allianzen mit einer Mitte-Rechts-Koalition?
„Ich glaube man darf das nicht um den Preis eigener Prinzipien tun, aber wir
müssen auch mit alten Tabus brechen. Früher war es undenkbar, dass sich ein
Linker und ein Rechter grüßten, denn sie hätten sofort als „verkauft“ gegolten. Nach außen hin hat man sich also immer auf Distanz gehalten, aber unter
dem Tisch wurden doch Abkommen getroffen. Ich glaube, damit muss man
brechen. Wir wollen klare, transparente Gespräche führen auf dem Tisch
und wenn nötig auch Abkommen mit Mitte-Rechts-Koalitionen treffen, wenn
das dem kollektiven Interesse dient.“
Linke Funktionäre in der Pachakutik-Partei sehen das aber gar nicht gerne.
„Wer sagt das? Gut, manche haben vielleicht Angst, dass unsere politische
Bewegung sich indigenisiert. Aber das ist nicht so. Was wir tun, findet im Rahmen unseres Konzeptes von Pluralität statt, und natürlich soll keiner ausgeschlossen werden. Wir haben immer ganz deutlich gesagt: Nicht der Rechten
unterworfen und nicht am Schwanz der Linken zu hängen. Das ist unser
Motto. 1996 haben wir aus Angst, als Verräter bezeichnet zu werden, punktuelle Allianzen mit der Rechten ausgeschlagen. Was war die Folge? Wir Indianer waren in keiner Kommission vertreten, hatten keine wichtigen Posten.
Das wollen wir jetzt nicht mehr akzeptieren. Allerdings darf der Zweck nicht
die Mittel heiligen. Aber wenn wir von Ideologie sprechen: unsere Ideologie
lautet Pluralität, wo das ethnische Element, Klassenkampf, Ökologie und vieles mehr miteinbezogen sind. Außerdem dürfen wir nicht vergessen, dass die
CONAIE unser Parteienbündniß gegründet hat, und wir Indianer sind das
politische Rückrad des Movimiento Unidad Plurinacional Pachakutik Nuevo
Pais.“
„Zur Casa von Don Sixto bitte“
In Ecuador nennt man ihn einfach nur Sixto. Und auch dem Taxi-Fahrer in
der Millionen-Metropole Quito genügt meine kurze Anweisung: „Zum Haus
von Don Sixto bitte.“ Don Sixto Durán Ballen ist von Beruf Architekt. Seit
fast 50 Jahren bestimmt er die politischen Geschicke seines Landes mit. Von
1992 bis 1996 sogar als Präsident des kleinen Andenstaates. Obwohl er als
äußerst konservativ bekannt ist, hat sich Sixto die Wertschätzung fast aller
Kreise erworben. „Weil er so menschlich ist“, sagen die einen.
Die anderen, vor allem die Rechten, sagen, er sei der Einzige, der wirklich
etwas für das Land getan habe. Auch heute sitzt der mittlerweile über 70jährige wieder als Abgeordneter im Kongress. Die Agenda des vornehmen,
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Charlotte Hahner
Ecuador
weißhaarigen Herrn ist wie immer voll, und mein Interview in seiner gediegenen Wohnung muss leider unvollständig bleiben.
Aber zum Thema Indianer will Sixto auf jeden Fall etwas sagen, schließlich
habe er diese in seiner Regierungszeit wesentlich in politische Entscheidungsprozesse miteinbezogen. Er nennt das „Büro für indigene Belange“, aber
auch ähnliche Unterabteilungen in anderen Ministerien. „Ich habe also tatsächlich die Indianer in meine Politik integriert“, betont Sixto nachdrücklich
Dabei sei es nicht um eine Sonderbehandlung gegangen, sondern um „echte
Gleichberechtigung“.
„Sind das nicht alles nur Tropfen auf den heißen Stein gewesen, angesichts
der immensen Nöte und Bedürfnisse indigener Gemeinden?“, versuche ich
Sixto Duran provozierend aus seiner Genügsamkeit herauszulocken und
ernte dafür eine ungehaltene Reaktion. „Ihre Fragestellung ist schon falsch.
Ich werde mich auch nicht darauf einlassen, eine Unterscheidung zu machen.
Ich glaube es ist falsch zu sagen, die Gruppe braucht das, dieses Gremium das
andere - ich habe immer nur den Ecuadorianern gedient, unabhängig ihrer rassischen Zugehörigkeit.“
Nicht Abgrenzung sondern Integration sei der richtige Weg. „Bei meinen
Treffen mit politischen Indianerführern habe ich es immer gebilligt, dass sie
mit all ihren Repräsentanten kamen. Egal, ob sich das auf die 11 Indianervölker oder ihre 22 Organisationen bezog.“ Was Don Sixto niemals akzeptiert
hat und bis heute vehement ablehnt, ist die Theorie von der Plurinationalität.
„Ich habe deutlich gesagt: Ecuador ist plurikulturell, pluriethnisch, plurireligiös, alles was sie wollen. Aber es gibt nur eine Nationalität: die ecuadorianische. Einige von ihnen haben auch heute noch die irrige Vorstellung, dass
Nationalität auch Territorialität bedeutet.“
Don Sixto spricht aus Erfahrung. Bei einem Treffen mit indianischen Politikern haber er gefragt, welches Territorium denn jeder für seinen Stamm
beanspruchen würde. „Einer sagte mir: ganz klar, unsere Leute leben seit Jahrzehnten im nördlichen Teil der Provinz Pichincha. Da mischt sich plötzlich ein
anderer Indio ein und widerspricht ihm. Wir, die Ottavalenos aus Cayambe,
leben auch im nördlichen Teil von Pichincha.“ Er habe schließlich die Diskussion abgebrochen, erklärt Sixto noch immer kopfschüttelnd und weist mich
abschließend auf Jugoslawien hin.
Einige Tage nach diesem Gespräch mit dem wohl ältesteten und berühmtesten Politiker Ecuadors reise ich durch eine Region Ecuadors, deren Bewohner vehement für „ihr“ Territorium, „ihre“ Autonomie, „ihre“ Nationalität
kämpfen - die berühmte „Amazonía“, der Regenwald Ecuadors.
III. Wo Chicha und schwarzes Gold fließen
- Sarayacu auf dem Weg ins 3. Jahrtausend
Flugplatz Shell, 11 Uhr vormittags. Der von Militärs geführte Kontrollturm
gibt die Flugpiste frei. Ratternd erhebt sich die einmotorige Cessna in die
Lüfte. Schemenhaft zeichnen sich unten die gräulichen Gebäude der ecua88
Charlotte Hahner
Ecuador
dorianischen Armee ab. Dort sitzen einige hundert Soldaten der AmazonasBrigade und sorgen für Ruhe und Sicherheit in der Provinz Pastaza. Häuser
und Straßen der Provinzhauptstadt Puyo mit ihren 20.000 Einwohnern ziehen
als bunte Farbtupfer schnell vorbei. Und dann gibt es nur noch Grün so weit
das Auge reicht. „Das gehört alles uns“, sagt Leonardo Viteri und schlägt mit
seiner Hand einen weiten Bogen. „Bis zum Horizont, und dann noch einmal
bis zum Horizont und noch einmal bis zum Horizont“ - die Stimme des
39jährigen überschlägt sich. Ein unendlicher grüner Teppich liegt da unten 1,1 Millionen Hektar tropischer Regenwald. „Hier leben wir“, sagt Leonardo
stolz und fügt energisch hinzu: „Wir werden mit allen Mitteln dafür kämpfen,
dass das alles erhalten bleibt.“ Dann zeigt er wieder nach unten, wo das
unendliche Grün von zwei breiten Flüssen mit schlammfarbenem Wasser und
einer einsamen Straße unterbrochen wird. Im Westen taucht wie aus dem
Nichts ein riesiges kahlgeschlagenes Feld auf. Darauf ein Dutzend Container
mit grünem Blechdach. „Das ist das Lager der Companía Arco“, erklärt Leonardo ruhig. Keine Spur von Feindschaft - oder nur die trügerische Ruhe vor
dem Sturm?
Der „Fall Arco“ steht in Ecuador für den neuentbrannten Streit um Erdöl
und Indianerrechte, um Umweltschutz und Entwicklung. Eigentlich schwelt
die Auseinandersetzung zwischen nordamerikanischen Erdölgesellschaften,
die im Auftrag der ecuadorianischen Regierung seit den 60er Jahren das
schwarze Gold des Regenwaldes zu Tage fördern, seit Jahrzehnten. So erwarb
sich „Texaco“ weltweit einen traurigen Ruf, als bekannt wurde, dass das
nordamerikanische Unternehmen ohne Rücksicht auf Mensch und Natur,
giftige Abfälle zu Hauf im Urwald hinterlassen und vermeidbare PipelineUnfälle in Kauf genommen hatte. Internationale Proteste mächtiger Umweltschutzorganisationen zwangen nach 20 Jahren Erdölförderung Texaco zum
Rückzug aus Ecuador. An den Ölgiganten aus den USA erinnern heute „nur“
noch hunderte von Ölbecken, die Flüsse und Grundwasser verseucht haben.
Da die Amazonas-Indianer auch heute noch weitgehend Subsistenzwirtschaft
betreiben, sind sie weitgehend auf die Produkte des Waldes angewiesen und
von einer intakten Umwelt als natürlichem Lebensraum abhängig. Die Erdölgesellschaften der ersten und zweiten Generation erkauften den Gewinn des
Erdöls mit der Zerstörung des Reichtums Regenwald. Das war in der nördlichen Oriente-Provinz Napo. Mitte der 80er Jahre wird auch in Pastaza Öl
gefunden. Die nordamerikanische Kompanie Arco wird mit den Vorbereitungsarbeiten und Bohrungen beauftragt. Sie ist mit dem Firmenslogan angetreten: „Working together for a SAFE Future“.
Von Chicha und Marktwirtschaft
„Unser Überleben hängt davon ab, wie wir uns gegen die Erdölfirmen verteidigen“, sagt Leonardo, während in der Tiefe vereinzelte Hütten auftauchen.
Durch ihre Mitte windet sich der Bobonanza wie eine braune Schlange. „Das
ist Sarayacu“. Freude klingt in seiner Stimme mit. Leonardos Besuche in sei89
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Ecuador
nem Heimatdorf sind selten geworden in den letzten Jahren. „Die Politik
nimmt mich zu sehr in Anspruch“, hat er einmal gesagt. Sarayacu - das sind
5 Quichua-Gemeinden mit 145 Familien, die sich auf 120.000 Hektar Land
verteilen.
Die Cessna setzt zum Landeanflug auf eine holprige Feldpiste an. Rechts
und links stehen Holzhütten aus denen aufgeregt eine Horde Kinder herbeieilt. Die Begrüßung fällt herzlich aus. Während Leonardo von den Frauen und
Männern sofort mit Fragen überhäuft wird, betrachten andere neugierig den
Gast aus Deutschland. In der Nähe der Landepiste steht ein weißes Zementhäuschen. „Das ist ein Geschenk von einem Politiker, der hier Wahlkampf
gemacht hat“, kommentiert Leonardo grinsend das Toilettenhäuschen. „Die
haben das Ruck Zuck hierhin gebaut, ohne zu überlegen, wo die Abwässer
gesammelt werden können“. Das Rohr endet zur Zeit noch im nahegelegenen
Fluss, und deshalb wird die Toilette bis heute nicht genutzt. Strom und fließend Wasser gibt es hier sowieso nicht.
Kaum hat sich die Cessna mit einem gewagten Flugmanöver von Sarayacu
verabschiedet, laden Raúl und Narzissa zum Begrüßungstrunk in ihre „Bar“ ein.
Das ist eine 12 mal 8 Meter breite offene, ovale Hütte mit Strohdach. Als
Ehrengast bekommt Leonardo zuerst die braune Tonschale mit Chicha gereicht.
Chicha ist das traditionelle Getränk des Dschungels. Die stundenlange Zubereitung ist reine Frauensache. Dazu werden mehrere Kilos gekochter Yucca, eine
mehlartige Knollenfrucht des Urwalds, mit einem Mörser zerstampft und ein
Teil der Masse wird im Mund zerkaut, wieder ausgespuckt und mit dem Rest
des Breies und Wasser vermischt. In großen Tongefäßen gelagert, lösen dann
bestimmte Enzyme im Speichel den Gärungsprozess aus. „Chicha erfrischt bei
der Hitze und hat viele Nährstoffe“ erklärt Raúl und fügt, während er die Tonschale weiterreicht, hinzu: „Mit Chicha werden in allen Hütten Sarayacus die
großen und kleinen Probleme besprochen“.
Die Bar von Raúl und Narzissa gibt es seit einem Jahr. Das ist Gastronomie
nach marktwirtschaftlichem Prinzip in Sarayacu. „Als Kunden haben wir vor
allem die Lehrer, die hier zu Mittag essen“, erklärt die fünfzigjährige Narzissa.
Sie managed den „Laden“, der aus einer traditionellen offenen Kochstelle, 4
Holzbänken und zwei großen Holztischen besteht. Was der Urwald eben so hergibt. Für 5000 Sucres bekommen die drei mestizischen Lehrer, die hier ohne
Familien leben, ein komplettes Mittagessen. Yucca und grüne Bananen werden
in den verschiedensten Formen zubereitet, manchmal kommt das Fleisch eines
Wildschweins oder eines Huhns dazu. Die Abende verbringen die Lehrer meist
allein in ihrem schmuddeligen Holzhaus begleitet von einer Heerschar Kakerlaken. Ihr Gehalt ist spärlich. Vielleicht sind sie auch deshalb oft lustlos,
schlecht ausgebildet und fehlen oft, munkeln die Einwohner von Sarayacu.
Gesprächsthema Nummer eins - die Companía ARCO
Nach dem Mittagessen macht sich Leonardo auf den Weg. Von Hütte zu
Hütte. Alle wollen wenigstens einmal kurz mit dem 39jährigen Mann spre90
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chen, der mit 16 Jahren Sarayacu verließ, um in der Provinzhauptstadt eine
weiterführende Schule zu besuchen und dann Soziologie und Linguistik an der
Salesianer-Universität in Quito studierte.
Durch sein politisches Engagement für die Indianer erwarb er sich einen
landesweiten Ruf als nüchterner politischer Analytiker und knallharter Unterhändler mit der Regierung. In der OPIP (Organización de los Pueblos Indígenas de Pastaza), der 1979 gegründeten regionalen Indianerorganisation, gilt
er als der starke Mann im Hintergrund.
„Was passiert mit der Companía Arco?“ wird der muskolöse Mann mit den
herben Gesichtszügen und dem pechschwarzen langen Haar an diesem
schwülheißen Nachmittag immer wieder gefragt. Die Companía ist auch in
der Urwaldgemeinde Sarayacu Gesprächsthema Nummer eins. „Wir wollen
kein Petroleum hier“, ereifert sich ein älterer Quichua. Andere nicken zustimmend. „Das bringt nur Probleme“, meint auch der Präsident der Asociación
Sarayacu, Telmo Gualinga. Er breitet einen computergezeichneten Plan auf
dem Boden aus, den die Kompanie erstellt hat. Darauf ist die Provinz Pastaza
in rund 25 gleichgroße Quadrate eingeteilt. Seit der Entdeckung von Erdöl im
ecuadorianischen Oriente spricht man nur noch von Blöcken im tropischen
Regenwald.
Rückblende auf ein historisches Treffen
Es ist Samstag, 22. August 1998, 11 Uhr vormittags. Eine Autokarawane
zwängt sich über den holprigen schmalen Weg im Landesinnern von Puyo.
Vor dem Sitz der CONFENIAE (Confederación de Nacionalidades Indígenas
de la Amazonia Ecuatoriana), dem 1980 gegründeten Bündnis der AmazonasIndianer, entsteht Unruhe. Man erwartet hohe Gäste. Nur 12 Tage nach dem
Regierungsantritt der neuen Mitte-Links-Regierung unter Präsident Jamil
Mahuad machen sich gleich drei seiner Minister auf den Weg zum ungeliebten Stiefkind Oriente. Man will über Öl sprechen. Öl bedeutet schließlich
Geld, viel Geld. Geld das die neue Regierung nicht hat, das sie aber zur Einlösung ihrer Wahlversprechen dringend braucht. Also ist man notgedrungen
dem Ruf der Indianer gefolgt. Vor 10 Jahren wäre das undenkbar gewesen.
Heute wollen die Indianervölker Amazoniens mitbestimmen, wenn es darum
geht, wie das braune Gift oder Gold sich auf den Lebensraum der Indianer
auswirkt.
Die Fakten - über ein endloses Hick-Hack
ARCO erhielt 1988 zusammen mit dem ecuadorianischen Partner Agip
Petroleum die Lizenz zur Erforschung und späteren Förderung des Erdöls in
Block 10 der Provinz Pastaza in der ecuadorianischen Amazonasregion.
Block 10 grenzt unmittelbar an die Gemeinden von Sarayacu. 1992 kündigt
ARCO den Fund eines großen Erdölvorkommens in der Gegend Villano an
91
Charlotte Hahner
Ecuador
mit einer geschätzten Reserve von 175 bis 200 Millionen Barrell. Auch Villano ist nur 25 Kilometer von den Gemeinden Sarayacus entfernt. Das in Villano gefundene Öl gehört zwar der Ecuadorianischen Regierung aber es soll
in einer 20-Jahres-Produktion von ARCO und Agip zu Tage gefördert werden.
Wenn das Feld im April 1999 „on line“ angeschlossen wird, also durch eine
Zulieferpipeline mit der Trans-Ecuadorianischen Pipeline vernetzt wird, rechnen die Amerikaner mit einer täglichen Förderung von 30.000 bis 40.000 Barrells. Der Preis für ein Barrell lag im August noch bei 10 Dollar!
Zu Konflikten zwischen Arco und Indianer-Organisationen kommt es im
Laufe der 10jährigen Vorarbeiten zu den Bohrungen mehrmals. Bereits 1991
fordert die regionale Organisation OPIP von ARCO, dass die Umweltdaten,
die während der seismographischen Studien in Block 10 erhoben wurden, von
einer Forschungsgruppe der Fakultät für Umwelt-Design an der Universität
von Kalifornien ausgewertet werden sollen. ARCO akzeptiert.
Im März des Jahres 1992 treffen sich Vertreter von Arco und OPIP in Berkeley am Sitz der Universität, um die Ergebnisse zu diskutieren. Mit dabei
Leonardo Viteri. Aus dem Hintergrund beobachten Rainforest Action Network
(RAN) und Osfam America, eine Gruppe aus Boston, die sich für den Schutz
der Menschenrechte einsetzt und internationale Unterstützung für die Indianerorganisationen Ecuadors mobilisiert, die Verhandlungen. Die Forscher
der kalifornischen Universität kritisieren, dass ARCO die Umweltstudien
nicht vor Beginn der seismographischen Untersuchungen durchgeführt habe
und andere Nachlässigkeiten. Gleichzeitig erkennen sie aber an, dass die
Gesellschaft „anscheinend einen höheren Umweltstandard für die Erforschung des Erdöls in den Bohrlöchern Villanos errichtet hat, als es früher
üblich war“, heißt es in einem offiziellen Bericht.
Im April 1992 kündigt ARCO dann den großen Erdölfund in Villano an. Der
Beginn von ernsthaften Auseinandersetzungen, die ein entsprechendes Licht
auf die Politik der Erdölgesellschaften werfen, aber auch die Schwachstellen
politischer Organisationsformen der Indianervölker entblößen. Im Juni 1993
wird die lokale Vereinigung ASODIRA (Asociación para el Desarrollo Indígena, Región Amazónica) gegründet, um die acht an das voraussichtliche
Bohrfeld in Villano grenzenden Gemeinden zu repräsentieren. Man munkelt,
dass hinter der Gründung die Companía ARCO steht. Dies sei eine von den
Spaltungstaktiken der Gesellschaft gegen die Indianerorganisationen, empören sich die Führer der OPIP. Und tatsächlich führt ARCO zunächst einmal
Verhandlungen mit ASODIRA über einen langfristigen Entwicklungsplan für
Villano. Gefordert wird die finanzielle und materielle Unterstützung für Bildung, Gesundheit und wirtschaftliche Entwicklung in den Gemeinden Villanos. Auf seinen eigenen unmittelbaren Vorteil bedacht, unterzeichnet ASODIRA mit ARCO ein sogenanntes Beistandsabkommen. Und dann regnet es
Schulen, medizinische Versorgungsstationen und Flugzeuge geradezu vom
Himmel. Für den Öl-Giganten sind das Peanuts.
Der regionalen Organisation OPIP gefällt die „Bestechungstaktik“ gar
nicht. Ihr Argument: die Gegenwart der Ölgiganten habe schließlich nicht nur
lokalen Einfluss, sondern betreffe die gesamte Region. Folglich gehe es
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Ecuador
darum, Gewinne für ganz Pastaza auszuhandeln und nicht nur für die Gemeinden Villanos.
Sich in fälschlicher Sicherheit wiegend, zweifelt ARCO plötzlich die Autorität der OPIP als legitimer Repräsentant der Indianergemeinden an und verweigert weitere Verhandlungen. Das Verhältnis zwischen Indianerführern
und den Gringos wird zusehends feindlicher.
Die OPIP organisiert schließlich Ende 1993 in Villano ein Treffen mit
Vetretern von 133 Gemeinden, die sich zu dieser Organisation bekennen. Das
ist eine überwältigende Mehrheit, denn in ganz Pastaza gibt es nur annähernd
150 Indianer-Gemeinden. Die Versammlung fordert, dass ARCO soziale und
kulturelle Auswirkungen des Erdölprojektes sowie mögliche negative Einflüsse auf die Umwelt vermeiden oder aber reduzieren müsse. Vor allem
wiederholen die Führer der OPIP erneut ihre strikte Absage an den von den
Bewohnern Villanos geforderten Bau einer Straße nach Puyo. Denn die
würde Siedlerströmen in die weitgehend unberührten Indianergebiete Tor
und Tür öffnen, fürchtet man in der OPIP.
Von 1993 bis Anfang 1998 setzt ARCO seine Vorbereitungen für den Bohrbeginn 1999 fort - begleitet von immer neuen Forderungen der mittlerweile
auf drei Gruppen angewachsenen Indianerorganisationen, die mit starken
internen Auseinandersetzungen zu kämpfen haben. Zu den politischen Unterschieden sind religiöse Differenzen hinzugekommen, die wie eine scharfe
Klinge die Indianervölker spalten. Ein landesweites Problem. Ende der 60er
Jahre starteten protestantische U.S.-Missionare einen erfolgreichen missionarischen Feldzug unter den Indianervölkern Ecuadors. Konversionen
erstreckten sich typischerweise auf ganze Großfamilien, manchmal sogar
ganze Gemeinden. Wo Dörfer sich spalteten zwischen Protestanten und
Katholiken, zog eine Gruppe weg und gründete nicht nur eine neue Gemeinde,
sondern meistens auch eine eigene politische Organisation. So ist die Mehrheit der OPIP-Mitglieder katholisch, während FIPPRA (Federación Indígena de Personas de Pastaza, Región Amazónica) als protestantische Alternative zur mächtigen OPIP gegründet wurde. Die Differenzen zwischen
protestantischen und katholischen Organisationen, die ein landesweites Phänomen, ja Problem sind, rühren vor allem von einer unterschiedlichen Konzeption her, wie Indianerpolitik zu gestalten sei. Die von US Amerikanern
beeinflussten protestantischen Gruppierungen plädierten für Zurückhaltung
in den politischen Auseinandersetzungen mit der Regierung, sagen die katholischen Gruppen.
Im März 1994 kommt es zur Bildung einer Technischen Kommission, die
die Arbeit des Öl-Multis vor allem unter umwelttechnischen Aspekten beobachten soll. Sie besteht aus den Führern der drei Indianer-Organisationen
sowie Vertretern von Regierung und Ölgesellschaft - doch Kommunikationsprobleme, Eifersüchteleien und Uneinigkeit führen zu keiner dauerhaften Verständigung. Im Juli 1998 schließlich kommt es zur erneuten Eskalation.
ARCO habe Maßnahmen in Villano ergriffen, ohne diese mit den Indianerorganisationen zu besprechen, behaupten die Führer der OPIP später. Sie fühlen sich verraten und verkauft - und greifen zu einer drastischen Maßnahme.
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Charlotte Hahner
Ecuador
Drei leitende Angestellte der Companía Arco werden acht Tage lang unfreiwillig in Villano festgehalten. „Indianer halten Arco-Angestellte als Geiseln“ titeln die Zeitungen landesweit in Ecuador. Plötzlich steht der „Fall
Arco“ wieder auf der nationalen Tagesordnung. Der Mann im Hintergrund:
Leonardo Viteri.
Nicht mehr als Goodwill-Bekundungen
„Wir leben seit tausenden von Jahren in den Wäldern von Pastaza. Der Wald
bedeutet für uns, unser Haus, unsere Apotheke, unsere Heimat. Wir wollen
nicht, dass das alles zerstört wird“, erklärt ein Verteter der Achuar-Indianer zur
Begrüßung der Ministerkonferenz in Union Base. Zwar sind die Achuars in
Pastaza in der Minderheit, aber trotzdem haben auch sie ihre eigene Organisation. „Bisher haben wir niemals eine Verbesserung durch das Erdöl für die
Indianervölker gesehen. Den Menschen in der Küste und in der Sierra dagegen geht es dank unseres Petroleums seit Jahrzehnten besser,“ fährt er begleitet vom zustimmenden Kopfnicken der rund 20 Indianerführer fort. Zehn von
ihnen ergreifen nacheinander das Wort, denn jeder will schließlich etwas im
Namen seiner Organisation oder seines Volkes sagen.
Angel Zamarenda, der Pachakutik-Abgeordnete für Pastaza spricht von
einem „historischen Moment des Kampfes“ und bekundet, dass man an den
guten Willen der neuen Regierung glaube. Ein zentrales Problem im aktuellen Konflikt mit ARCO sieht Zamarenda darin, dass Gesetze und Verträge
nicht eingehalten worden seien, „weil die Führungskräfte weder Ethik noch
Moral besitzen“. Auch Rafael Sancho, ein zu dramatischen Diskursen neigender DP-Abgeordneter der neuen Regierungspartei und „obwohl“ Mestize,
Vorsitzender der Kommission für Amazonas-Angelegenheiten im Kongress,
will es sich nicht nehmen lassen ein pathetisches Plädoyer für Verständigung
zu halten. „Lassen wir die Beschwerde- und Klagereden hinter uns und kümmern uns darum, dass die rücksichtslose Ausbeutung im Amazonasgebiet endlich ein Ende findet“. Der große Reichtum liege nicht nur im Petroleum, sondern in der unvorstellbaren Biodiversität und in der großen Einheit der
indianischen Völker mit den Mestizen, findet Sancho. „Eine neue Ära ist
angebrochen in der Amazonía, die Ära der Verteidigung unserer Rechte - wir
werden vor keiner Bedrohung in die Knie gehen. Es geht um einen Kampf
zwischen Leben und Tod, und wir kämpfen für das Leben.“
Schließlich ergreift Leonardo Viteri das Wort. Nach anderthalb Stunden
stolzer Stellungnahmen kommt man nun zum Kern. „Es hat uns große
Anstrengungen gekostet, die Harmonie und Ruhe in Pastaza zu bewahren und
die Korruption fernzuhalten“, sagt er einleitend. „Deshalb sind wir über die
Ereignisse der letzten Jahre sehr besorgt.“ Leonardo betont, aus Sicht der Indianer habe man immer den Dialog gesucht, der sei aber nicht mit Redlichkeit
beantwortet worden. Dann kommt er zu den Forderungen: Rückzug der staatlichen Sicherheitskräfte aus Villano, Gründung eine Interinstitutionellen
Kommission aus Regierungsvertretern und Indianerführern zur Fortsetzung
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Charlotte Hahner
Ecuador
des Dialogs und Verbesserung der Infrastruktur. Flughäfen in Indianerdörfern
sollen ausgebaut und vermehrt, Dörfer mit Radios und Solarsystemen ausgestattet und der Transport auf dem Wasserweg erweitert und verbessert werden. Der Bau von drei kleinen Schiffswerften in zentralen Flussbecken soll das
fördern. Hinzu kommt die Forderung nach einem alternativen Telefonsystem für Indianische Organisationen, Vereinigungen und Gemeinden im
Amazonasgebiet. Eine alternative, ökologisch verträgliche Form des Landtransportes soll unter indianischer Aufsicht entwickelt und mit Geldern aus der
Pretro-Industrie finanziert werden.
An das Umweltministerium gerichtet, fordern die Indianer die verfassungsmäßige Anerkennung der Indianischen Territorien von Pastaza als Kultur- und Biovielfalt-Erbe, das mit der Einrichtung ensprechender Schutzzonen einhergehen soll. Als die Reihe am Energieminister ist, muss der mächtig
schlucken. Es geht um die finanzielle Beteiligung der Indianervölker an den
Gewinnen der Petro-Industrie. Zwei Dollar pro Barrell des aus Block 10
geförderten Erdöls sollen in einen Fond zur Entwicklung der Provinz Pastaza
eingezahlt werden, zusätzlich will man einen Fond nur für die Entwicklung
der Gemeinden in Block 10. Was der Energieminister zunächst nicht offen
zugeben will, sagt sein Staatssekretär anschließend im Gespräch mit Journalisten ganz offen: „Zwei Dollar pro Barrell sind ausgeschlossen. Das würde
die Erdölförderung völlig unrentabel machen.“
Dann ergreift die zierliche Regierungssprecherin Ana Lucía Armijas, die
von allen nur Señorita Ana Lucía genannt wird, das Wort. Sie schlägt die
Gründung eines Diskussionsforum vor, mit dem Ziel, dort die mit der Erdölförderung verbundenen Probleme zu analysieren. „Wir brauchen unbedingt
einen langfristigen Entwicklungsplan für Amazonien, der mindestens die
nächsten zehn Jahre berücksichtig.“ Ein Regierungsvertreter sowie zwei
hohe Gesandte des Umwelt- und Energieministeriums würden von Staatsseite
dazu entsandt. „Wir sind eine Regierung mit einer anderen Einstellung“,
verspricht sie mit einer derartigen Überzeugung, dass man es ihr gerne glauben möchte. Das bedeutet, man ist offen für den Dialog. Der gute Wille ist
bekundet. „Es ist wahr“, sagt sie, „wir müssen auf die sozialen Forderungen
vor allem im Amazonasbecken eingehen, denn diese Gegend ist oft übergangen worden“. Doch dann wird Señorita Ana-Lucía ernst: „Ich möchte
heute gerne mit einem Versprechen von ihnen weggehen.“ Eine Geiselnahme
dürfe es nicht mehr geben, überhaupt gewalttätige Handlungen. Dann werde
auch der Staat seine Sicherheitskräfte aus Villano abziehen.
Der Energieminister findet ebenfalls, dass es sicher Wege gebe, in punktuellen Konzepten Übereinstimmung zu finden. Aber über eines läßt er keinen Zweifel: ohne Erdölförderung keine wirtschaftlichen Mittel und ohne das,
keine soziale Entwicklung. Doch auch er bekundet guten Willen: „Wir müssen die Dinge in Harmonie miteinander bringen: die Notwendigkeit, Erdöl zu
fördern, die Umwelt zu schützen und die Nöte der Indianergemeinden ernst
nehmen“. Auch die Umweltministerin Yolanda ? hat Pläne für das Amazonien
des 21. Jahrhunderts. Die neue Kommission müsse einen Entwicklungsplan
für die nächsten 10 Jahre erstellen, „mit Visionen für weitere 20 bis 50
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Charlotte Hahner
Ecuador
Jahre“. Sie verspricht die Wiederherstellung geschädigter Gegenden, die
Entgiftung der Flüsse. Auch die Bildung von weiteren Schutzzonen, Naturreservaten, wo Erdölförderung verboten ist, stehen auf ihrem Programm.
Auch der Präsident von Petro-Ecuador, der staatlichen Fördergesellschaft,
beteuert, „wir wollen eine Firma sein, die Freund des Umweltschutzes ist“. Er
versichert, dass es künftig strikt verboten sein solle, Öl auf die Straße zu kippen, um die Staubbildung zu verhindern. A pro po Straße. Die Minister
waren so betroffen von dem schlechten Zustand der Straße nach Union Base,
dass Señorita Ana-Lucía nicht umhin kann ein letztes Versprechen zu geben:
„Ich werde mit dem Bauminister sprechen, damit der Weg zwischen Shell und
Unión Base künftig keine Schlaglöcher mehr hat.“ Und damit geht man
schließlich hungrig zum traditionellen Mittagessen mit Yucca und Fisch über.
Am Ende des historischen Treffens in der Quichua-Gemeinde Union Base
geben sich Indianerführer und Regierungsvertreter heiter und freundschaftlich. Gegenüber den Medien zeigt man sich zuversichtlich. Ob die vielen
„good will“-Bekundungen zu konkreten Projekten umgesetzt werden, wird
sich wohl erst in Monaten, wenn nicht Jahren zeigen.
Eine Antwort hinter Gittern - was ARCO zu den Vorwürfen sagt
Der Taxi-Fahrer beobachtet mich durch den Rückspiegel. Natürlich kennt
er das Büro der Companía Arco in Puyo. „Da steht ein Wachhäuschen davor“,
sagt er und guckt noch immer neugierig fragend. Was halten sie von der ganzen Erdölsache, frage ich ihn schließlich. Er antwortet spontan und überzeugt:
„Das bringt nur Nachteile. Die Indianer haben mit ihren Protesten völlig
Recht.“ Schließlich komme von dem erwirtschafteten Geld kein Pfennig
zurück in die Provinz. Vor einem zweistöckigen, schwervergitterten Bungalow stoppt das Taxi. Der Wachmann will meinen Paß sehen. Dann muss ich
erstmal draußen vor dem Gittertor warten. Der Mann im dunkelgrauen
Kampfanzug, mit Maschinengewehr über der Schulter kommt ohne Neuigkeiten zurück. Ich soll ein bischen warten - natürlich vor dem Tor. Er entschuldigt sich mit einem Lächeln. Seit die Konflikte sich zugespitzt hätten,
habe man die Sicherheitsmaßnahmen verschärft.
Nach zwanzig Minuten werde ich schließlich hineingebeten. Vor mir, an
einem langen ovalen Besprechungstisch, sitzt ein außerordentlich freundlicher,
junger, dynamischer Mann - Carlos Villaroel. Der 45jährige Ökonom ist seit
einem Jahr Geschäftsführer der ARCO in Ecuador. Das er da gleich persönlich eine Geiselnahme erleben würde, hat er sich so wohl kaum vorgestellt.
Villaroel versucht „die Sache mit der Geiselnahme“ nicht persönlich zu nehmen, sondern betrachtet sie vielmehr „als soziologisches Phänomen“. „Es fehlen einfach demokratische Wege zur Konfliktlösung. Wie schon Eduardo
Galeano sagte: Es gibt kein Volk, dass in Stille an Hunger stirbt“, erklärt er
gelassen und voller Verständnis. Irgendwie habe man wohl keinen Ausweg
mehr gesehen, sah keine Hilfe von Seiten des Staates, noch von Seiten der
eigenen Führer. „Das hat wohl viele zur Verzweiflung gebracht. Ich habe ja
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Charlotte Hahner
Ecuador
gesehen, wie das anfing - mit Frauen und Kindern, die immer wieder Carretera-Straße riefen.“ Nachher hätten sich die politischen Führer da mit reingemischt. Auf jeden Fall sei es eine lehrreiche Erfahrung gewesen. Klingt da
echtes Verständnis mit, für die Ängste und Nöte der Indianer angesichts der
Bedrohung durch das schwarze Gold - oder nur eine neue PR-Taktik? Das
Interview offenbart von Beidem etwas.
Wie kam es aus Sicht von ARCO zu den gewalttätigen Ereignissen in Villano?
„Villano war plötzlich aktuell, aber das Problem an sich liegt nicht in Villano. Das konkrete Problem liegt in den Indianer-Gemeinden selbst, wo es wie
in vielen armen Ländern keine Präsenz des Staates gibt, wo aber die Bedürfnisse sehr groß sind. Das heißt, es ging erstmal allgemein um den Wunsch
nach Sicherheit, nach Entwicklung. Aber der Staat in seiner Schwäche ist
nicht da, um auf diese Bedürfnisse zu reagieren. Vielleicht ist es auch nicht nur
Schwäche, sondern mangelnde Entschiedenheit, sich für die Indianer zu engagieren. Die nicht vorhandene Kommunikation zwischen Staat und Indianern
hat sie dazu gezwungen zu extremen Maßnahmen zu greifen. Dazu gehören
auch gewalttätige Aktionen. In unserem Fall haben wir uns einfach als Sandwich gesehen gegenüber den vom Staat unbeachteten Forderungen der Indianer. Irgendwie mussten sie schließlich Aufmerksamkeit erregen, und wir
waren eben am falschen Ort zur falschen Zeit.
Der Konflikt besteht also eher zwischen dem Staat und Indianern und
nicht mit den Ölgesellschaften?
Das kann man so sagen. Der Beweis ist, dass die Mehrheit der Forderungen
an den Staat gerichtet sind. Nur ein Minimum betrifft die Erdölgesellschaft als
solche. Und die Mehrheit der Forderungen, nach Entwicklungsprojekten und
Straßenbau entspricht auch der Zuständigkeit des Staates.
Aber die Forderung der Indianer, dass aus Sicherheitsgründen die ZulieferPipeline nicht so nah wie geplant an den Dörfern verlaufen soll, sondern in
einer Distanz von 2000 Metern, die geht doch an ARCO?
Das ist ein gutes Beispiel für ein zwar legitimes aber diffuses Sicherheitsbedürfnis. Viele der Forderungen haben wir übrigens unter indianischer
Aufsicht umgesetzt, soweit dies unter ingenieurtechnischen Aspekten möglich
war. Tatsache ist, dass diese Pipeline sicher konzipiert ist. Wir verstehen
natürlich die Zweifel und Sorgen, und sie müssen auch ernst genommen werden. Allerdings würden manche der Forderungen, die Ölleitung viel unsicherer machen, als sie in der geplanten Lage ist. In Deutschland führen die Gasleitungen ja auch durch die Häuser - und keiner protestiert, oder? Sie wissen
eben das die Sicherheitsstandards hoch sind. Das wichtigste ist also, dass wir
besser informieren müssen, um zu zeigen, dass die Sorge unbegründet ist.
Und was ist mit früheren Pipeline-Unfällen, die durch Materialschäden verursacht waren und keine Einzelfälle waren?
Da haben Sie Recht. Aber in Südamerika wird mittlerweile ein ganz neuer
Typ von Pipeline eingeführt, der viel mehr technische Sicherheit bietet.
Durch eine elektronisches Prüfsystem prüft sie z.B. den ständigen Druck der
Leitung. Sollte der um nur einen Prozent absinken, stoppt das elektronische
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Ecuador
Warnsystem sofort den Betrieb der Pipeline. Die Verschmutzung der Flüsse
ist auch nicht mehr möglich, denn die Rohrleitung verläuft unter dem Flussbett her. Und dort wo die Pipeline oberirdisch verläuft und wir ein Durchgangsrecht durch den Urwald brauchen beschränkt sich die Breite auf 3,5 bis
5 Meter, so dass auch hier die Schäden durch Abholzung minimal gehalten
werden. Das heißt, wir versuchen, die Sicherheits- und Umweltstandards so
hoch wie möglich anzusetzen, aber letztendlich hat natürlich jedes Bauvorhaben sein Risiko - auch dieses Haus könnte zusammenkrachen.
Um die Menschen in Villano zu beruhigen hat ARCO ja bereits einiges
investiert. Die Führer von OPIP meinen aber, das sei längst noch nicht genug.
In den letzten Jahren haben wir nur an direkten Ausgaben 1,7 Millionen
Dollar in die Entwicklung der Dörfer im Block 10 investiert. Hinzu kommen
andere Arten von Investitionen, die diese bei weitem übersteigen. Wir haben
versucht, eine Baupolitik zu machen, die die lokalen Interessen mit denen
unserer Industrie vereinbart. Um zum Beispiel eine Rohrleitung zu verlegen,
brauchen wir keine Zugangswege. Aber dann kam die Anfrage von den Dörfern, ob wir Nachbarschaftswege hin zur Ölleitung bauen könnten.
Und was passiert mit dem Bau der Straße zwischen Villano und Puyo?
Das ist die berühmte Strasse der Zwietracht. Indianer- und Umweltschutzorganisationen haben damals beim Staat angefragt, welche Möglichkeiten es
gibt, die Erdölförderung in Villano zu nutzen, ohne den Bau einer Strasse.
Daraufhin hat der Staat eine Ausschreibung für den Bau einer Pipeline
gemacht, mit der Bedingung, diese Konstruktion ohne die Hilfe einer Zuliefererstraße durchzuführen. Also hat ARCO sich mit seiner neuen Technologie präsentiert und bereit erklärt, die für den Bau notwendigen Teile ausschließlich mit Helikoptern heranzutransportieren. Aber im Laufe der letzten
zehn Jahre scheinen sich die Dinge geändert zu haben. Jetzt sagen die Dörfer von Villano auf einmal doch: Wir wollen eine Straße. Mittlerweile hat der
Staat zur Bedingung gemacht, dass keine Straße gebaut werden darf, und wir
haben auch bereits eine Technologie entworfen, die ohne auskommt. Das werden wir auf dieser Höhe der Arbeiten nicht mehr ändern.
Sie haben die unterschiedliche Interessenlage zwischen Organisationen
auf der einen und lokalen Indianergemeinden auf der anderen Seite schon
angedeutet. Wie haben Sie die Begegnung mit den Indianerorganisationen
erlebt?
Am Anfang waren die internen Konflikte für uns schon ein bischen überraschend. Die Positionen der verschiedenen Organisationen und IndianerGemeinden standen sich oft diametral gegenüber. Während die Gemeinden,
weil sie sich arm und isoliert fühlen, eine Strasse fordern, sagen die Organisationen, sie sind arm aber sie haben den Urwald. Wir mussten jetzt entscheiden, was die angemessenere, gerechtere Forderung war. Der Wunsch, den
Urwald möglichst unberührt zu bewahren oder der Wunsch nach lokaler Entwicklung. Ich habe den Eindruck, dass manche der Organisationen, die
selbstverständlich legitim sind, ihre Ziele erschöpft haben. Zwanzig Jahre lang
waren sie damit beschäftigt, sich zu organisieren, zu legitimisieren. Das
waren konkrete, feste Ziele. Auch die Forderungen nach Land, nach kultureller
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Ecuador
Anerkennung. Aber nachdem das alles erreicht wurde, stehen sie jetzt vor der
Herausforderung: Was ist unsere Vision für die Zukunft? Bleiben wir weiter
in Enklaven wohnen oder suchen wir eine offene Form, wie wir uns in das
System der Marktwirtschaft integrieren können. Das eben scheint mir zu fehlen - klare Konzeptionen. Solange es diese Meinungsverschiedenheiten gibt,
werden sich auch die Gemeinden weiter arm fühlen, ohne Ausweg.
Haben Sie denn Verständnis für die Forderungen der Indianer nach finanzieller Beteiligung an den Erdölgewinnen auf der einen und nach Sicherheit
auf der anderen, vor allem wenn man an die schrecklichen Folgen von Lago
Agrio im Nordosten denkt?
Lago Agrio war tatsächlich katastrophal. Aber Lago Agrio ist auch in
einem völlig anderen Kontext geschehen, nämlich vor 25 Jahren. Damals kam
erst langsam ein Umweltbewusstsein auf. Auch Umweltingenieure gab es
noch nicht. Einen Baum zu fällen, war damals durchaus legitim. Schließlich
sah man den Urwald damals eher als grüne Hölle, eine Hölle, die man ruhig
verletzen konnte. Und natürlich war auch die Technologie recht primitiv was
Umweltaspekte betrifft. Heute braucht man um ein Ölfeld auszubeuten eine
Plattform von 3,1 Hektar Umfang, im Nordosten brauchte man damals noch
viel größere Ausmaße. Ich sage nicht, dass wir die Geschehnisse vergessen
sollen, aber wir sollten auch nicht die Spanier heute für das verurteilen, was
die Spanier der Kolonialzeit falsch gemacht haben.
Die Forderungen verstehe ich offensichtlich, aber nur bis zu einem gewissen Maße. Denn man muss auch unsere Rolle sehen. Wir sehen uns als
Konstrukteure eines Hauses, nicht als Besitzer des Hauses. Wie das Haus
gebaut wird und über dessen Gebrauch verfügt der Besitzer, also die Regierung. Wenn dann natürlich Baufehler auftreten, sind wir dafür verantwortlich.
Aber durch die mangelnde Präsenz des Staates, des eigentlichen Besitzers des
Erdöls, wird der Erstbeste, den man sieht und mit Erdöl in Verbindung
bringt, verantwortlich gemacht - und das ist ARCO. Viele scheinen uns mit
dem Staat zu verwechseln und deshalb werden Dinge von uns gefordert, für
die wir nicht verantwortlich sind. Gesetzlich nicht verantwortlich, moralisch
vielleicht. Wir wollen endlich klarstellen, dass wir nur Ko-Autoren sind mehr nicht.
Welche der gestellten Forderungen halten Sie denn für unvernünftig?
Aus der Sicht eines Ökologen ist der Bau einer Verbindungsstraße im
Urwald unvernünftig, weil sie den Urwald zerstört. Aus der Sicht der Indianer-Dörfer sieht das vielleicht unter Entwicklungsaspekten anders aus. Auf
jeden Fall sollten wir vorsichtig sein, uns Meinungen von Indianergemeinden
zu eigen zu machen, zu denen wir nicht gehören. Das ist schließlich eine völlig andere Tradition. Deswegen will ich die Forderungen auch nicht legitimieren oder delegitimieren - ich akzeptiere sie als ihre eigenen Forderungen.
Die Indianerorganisationen argumentieren, dass die Provinz Pastaza unter
arbeitspolitischen Gesichtspunkten keinen Vorteil von den Erdölgesellschaften habe, weil diese einen Großteil ihres Personals aus anderen Regionen
rekrutieren. Sie haben ARCO deshalb zur Bedingung für eine Fortsetzung der
Bohrarbeiten gesetzt, dass 80 Prozent ihrer Angestellen aus Pastaza sein
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müssen, mit einem hohen Anteil indigener Personen.
Die Petroleum-Industrie ist eine hochtechnologisierte Industrie. Die 80
Prozent-Vorgabe haben wir hinsichtlich nicht-qualifizierter Arbeiter ja schon
erfüllt, aber dabei handelt es sich natürlich um zeitlich befristete Arbeit. Ich
will ganz ehrlich sein - wir hatten bisher ernsthafte Probleme hier überhaupt
qualifiziertes Personal mit mittlerem Niveau zu finden und selbst auf nationaler Ebene ist es schwer, qualifizierte Ingenieure zu bekommen. Wenn wir
also von einer Region mit guter Ausbildungsstruktur sprechen würden, könnten wir die 80 Prozent-Klausel akzeptieren, aber so ist das völlig unrealistisch.
Wie sieht die Zukunft aus? Denkt ARCO angesichts der vielen noch ungelösten Konflikte auch über den Rückzug nach?
Wie jedes Unternehmen wägen auch wir Chancen und Risiken ab, und
natürlich haben wir auch immer die Option vor Augen, dass wir uns aus dem
Geschäft zurückziehen, wenn es zu gefährlich oder unrentabel wird. Aber wir
gehen davon aus, dass sich die Probleme lösen lassen, und wir haben vor allem
der Regierung deutlich gemacht, dass sie ihren Verpflichtungen nach sozialer, medizinischer und bildungsmäßiger Versorgung nachkommen muss. Aber
selbst wenn wir gehen würden, käme schon bald eine andere Firma. Denn auf
sein Erdöl kann und will der ecuadorianische Staat nicht verzichten.
Visionen für ein Sarayacu im 3. Jahrtausend
Es wird schon dunkel, als Leonardo sein letztes Gespräch über die Ereignisse der letzten Wochen und die Companía ARCO beendet. In Sarayacu
gehen um 19 Uhr sprichwörtlich die Lichter aus. Sobald das Licht des Tages
verblasst, bereitet sich die Urwaldgemeinde auf die Nacht vor. Kinder und Alte
gehen zum Fluss, um sich vom Schweiß des Tages zu reinigen. Dann gibt es
noch ein bischen Yucca und Chicha. Bald zeigt die Stille der Nacht, begleitet
von den unheimlichen Lauten des Urwaldes, das die Menschen von Sarayacu
schlafen.
Um 4 Uhr morgens erwacht die Quichua-Gemeinde dann wieder zum
Leben. Auch in Leonardos Familie gehen seine Mutter und ein paar Enkel für
ein erfrischendes Bad zum Fluss. Anschließend wird, wie in allen Familien,
Guallusa getrunken - ein Tee des Waldes, der die müden Geister wecken soll.
Leonardos Bruder macht sich um 6 Uhr auf zur Jagd. Eine Tagesbeschäftigung. Seine Frau erfüllt zunächst Haushaltspflichten, die wie das Schleppen
riesiger Wassereimer zu den Hütten auch von den älteren Frauen manchen
Kraftakt erfordern. Später am morgen geht sie dann zur Chagra.
Die Chagra ist ein indianisches System der landwirtschaftlichen Produktion, das schon die Vorfahren zur Subsistenz der Familien betrieben. Mit der
Zeit wurde es jedoch zu einer sesshaften Landwirtschaft, die nach Rotationsverfahren die Erde mit bis zu 20 verschiedenen Produkten bebaut. Jede
Familie besitzt durchschnittlich drei bis vier Chagras, die zusammen 1,5 bis
2 Hektar bilden. Obwohl in Sarayacu überwiegend noch Subsistenzwirtschaft betrieben wird, verkaufen einige Indianer Yuca und Bananen in kleinen
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Mengen auf dem lokalen Markt. Den bilden Lehrer, Missionare, Besucher und
einige wenige Händler. Die Commerzialisierung der Produkte aus der Chagra
ist aber noch nicht zu einem täglichen System geworden, sie dient vielmehr
der temporär bedingten Lösung finanzieller Probleme einiger Familien.
Ab halb sieben nähern sich aus allen Richtungen kleine Gruppen von Kindern und Jugendlichen, die fröhlich vor sich hin albern. Manche haben bereits
einen 60minütigen Marsch hinter sich. Es ist Schultag in Sarayacu. Das
kleine Holzgebäude ist mittlerweile einer Anlage aus vier großen Schulsälen
gewichen. Hier gibt es nicht nur eine Grundschule, sondern auch ein Colegio.
Heute steht für die älteren Schüler ein Vortrag von Leonardo auf dem Programm. Auch erwachsene Männer und Frauen haben sich eingefunden.
Zunächst spricht der OPIP-Führer über die politische Organisation, die
lokale und die regionale. Was will OPIP fragt Leonardo die Schüler. Als er
keine Antwort bekommt, schreibt er ein paar Stichworte an die Tafel: Einheit
der Indianervölker Pastazas, Verteidigung des autonomen Territoriums und
Bildung. Dann hakt er jeden der drei Punkte ab. Die bilinguale Erziehung seit
1988, die Legalisierung der Territorien seit 1992. Für 1.415.475 Hektar Land
haben die Indianer mittlerweile Besitztitel, Pastaza aber hat 3.000.000 Hektar. „Der Kampf um unser Land ist also noch nicht beendet“, erklärt Leonardo
seinen faszinierten Zuhörern und ergänzt, „es fehlen noch 960.000 Hektar, die
unser Überleben als Volk garantieren können“. Dann spricht er von Entwicklungsprogrammen, die Dank der OPIP auch Sarayacu vorangebracht
haben. „Als ich Sarayacu verlassen musste, gab es noch keine weiterführende
Schule. Ihr habt das Glück, dass ihr jetzt hier lernen könnt, ohne Hunger“,
erzählt der begabte Redner, der in seiner Jugendzeit Hunger und Rassismus
in Puyo erleben musste. Jetzt gebe es bereits sechs Colegios, die die OPIP
gegründet habe.
Und dann geht Leonardo von den Erfolgen der Vergangenheit zu den Visionen der Zukunft über. Das entscheidende Stichwort lautet Autonomie. Einige
verständnislose Blicke zeigen, dass man mit dem Fremdwort nichts anzufangen weiß. Also erklärt Leonardo: „Autonomie bedeutet, dass wir die
Fähigkeit haben, uns selbst unabhängig zu führen.“ Die Grundvoraussetzung dafür sei bereits erfüllt. Nämlich eigenes Land, Land das Sicherheit
bedeutet. „Wir Indianer im Regenwald sind sehr reich, aber Autonomie
bedeutet, dass wir wissen, wie wir sinnvoll mit unseren Ressourcen umgehen“, bemerkt er kritisch und ergänzt: „Wir sind Besitzer, unseres Landes und
seiner natürlichen Ressourcen, und deshalb wollen wir auch keine Angestellten von niemandem sein“. Zum Konzept der Autonomie gehöre auch, dass
man den Zustrom Fremder und Siedler, der sogenannten Colonos, kontrollieren müsse. „Deshalb sind wir gegen den Bau von Straßen im Landesinneren“, sagt Leonardo. „Über die Straße kommen die Siedler und sie bringen
nicht nur Landprobleme“. Der Vorschlag der OPIP: man will ein eigenes Luftfahrtsystem aufbauen, mit eigenen Piloten, eigenen Flugzeugen und unabhängig finanziert.
Auch für den Bereich Energie hat Leonardo ein Zukunftskonzept: Solaranlagen sollen unabhängige Stromversorgung für die wesentlichen öffent101
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lichen Gebäude garantieren. Auf keinen Fall soll der Strom von der PetroleumIndustrie kommen. Die Abhängigkeit wäre schließlich die gefährlichste. In
den Häusern will man vorerst kein Licht, das Leben soll so ruhig weiter gehen
wie bisher. Weiter gehen wie bisher? Genau das erfüllt den OPIP-Führer mit
Sorge. Kulturelle Identität - „ich habe den Eindruck, dass sie immer schwächer wird“, sagt er und blickt ernst in die Runde. „Die kulturelle Identität ist
wichtig für unsere Autonomie, denn nur dann können wir eigene Konzepte
und Kreativität entwickeln“. Seit den 90er Jahren hätten die Indianervölker
dank des politischen Organisationsprozesses Sprache, Traditionen und philosophische Kenntnisse, die verloren zu gehen drohten, gerettet. „Wenn wir
unsere traditionellen Produktionssyteme und Erziehung beibehalten, halten
wir auch unsere Einheit stark“, hören die Schüler. Wer Quichua spreche, der
wisse auch alles über die indianische Kultur. Mit Sorge habe man in der OPIP
beobachtet, dass die Vielfalt der angebauten Produkte auf den Chagras
zurückgegangen sei.
Als Messlatte für den Stand der kulturellen Identität in den Dörfern und
Gemeinden im Amazonas-Regenwald dient Leonardo die Chicha. „Wenn
die Leute aufhören, Chicha zu trinken oder sie verkaufen, ist das ein Zeichen,
dass sie ihre Identität verlieren.“ Und ein letztes Anliegen liegt dem 39jährigen am Herzen, der die Einsamkeit, den Überlebenskampf der Menschen
„drau-ßen“, in den Großstädten am eigenen Leib erfahren hat - die Minga.
Minga ist soziales Handeln im Quichua-Volk. Die Minga findet meistens
Samstags statt. Dann treffen sich alle arbeitsfähigen Bewohner der Gemeinde
zum Sozialeinsatz: Häuser, Wege, Chagras, ja sogar Kanus werden in einer
Minga gebaut. „Wenn die Minga verloren geht, verlieren wir ein großes
Werkzeug der Einheit und Sicherheit“, mahnt Leonardo zum Schluss seine
gespannten Zuhörer. Denn nur Dank der Minga habe schließlich jede Familie ein Haus, ein Kanu. „Das System der Minga hilft uns, das familiäre
Gleichgewicht zu halten, und macht uns zu einer gemeinschaftlichen, solidarischen Gesellschaft.“ Wohl kaum einer der Anwesenden in dem Klassenzimmer aus Holzplanken ahnt die Dramatik hinter diesen Sätzen. Wer aber aus
Deutschland kommt, weiß um den unschätzbaren Wert eines solchen Systems.
Eine schrille Klingel reißt die Schüler von den Stühlen. Einige wenige drängen sich mit Fragen um den wohl bekanntesten Bewohner von Sarayacu. Ihnen
sagt er noch einmal eindringlich: „Ihr habt die schwerwiegende Verpflichtung,
Euch gut vorzubereiten, um später langfristige Pläne für die Zukunft unserer
Völker zu machen.“
Zurück bleiben Erinnerungen an ein Paradies
Begleitet von winkenden Kinderhänden hebt die Cessna ab. Zurück bleiben
Hütten mit ihren geflochtenen Palmdächern und die Erinnerung an ein Dorf,
wo Menschen außerhalb von Raum und Zeit leben. Menschen voller Harmonie und innerer Ruhe. Menschen, für die Chicha und Minga gelebte Solidarität und Gemeinschaft bedeuten. Ich erinnere mich an Leonardos ein102
Charlotte Hahner
Ecuador
dringliche Warnung: Die Welt macht immer mehr Fortschritte, aber sie zerstört sich selbst dabei. Und seine Alternative fällt mir ein: „Die größte
Reserve der Zukunft liegt in indianischen Territorien, wo es biologische Vielfalt und Harmonie gibt.“ Das meinte wohl auch der Salesianerpater Juan Bottasso als er mir zum Abschied sagte: „Unsere Gesellschaft muss sich indianisieren, sonst gehen wir am Stress zugrunde. Wir müssen ruhiger werden, uns
ein indianisches Zeitgefühl angewöhnen und indianische Solidarität.“
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Verena Bünten
Tibetische Flüchtlinge in Indien
- ein Volk auf gepackten Koffern
Indien vom 08.08. - 09.11.1998,
betreut von der Friedrich-Ebert-Stiftung
105
Inhalt
Tibet - was bis heute geschah
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Himmel und Hölle ein Stück näher
109
Hinter dem Himalaya liegt die Hoffnung
110
Die bestorganisierte Flüchtlingsgemeinschaft der Welt
- und ihre Neider
112
Ein Volk - zwei Welten
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Religion - wie die Luft zum Atmen
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Leidensfähigkeit - eine tibetische Tugend
117
Die junge Generation - „zukünftige Saat Tibets“
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„Shangrila“ liegt nicht in Indien
120
Tibetan Youth Congress - die alterslosen jungen Wilden
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Die Allgegenwart „Seiner Heiligkeit“ - der Dalai Lama ist müde
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Rückkehr nach Tibet - noch in diesem Leben?
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Verena Bünten
Indien
Verena Bünten, geboren 1972 in Aachen. 1998
Magisterexamen in den Fächern Politische Wissenschaften, Geschichte und Theater-, Filmund Fernsehwissenschaft an der Universität zu
Köln. Während des Studiums Praktika im Studio Brüssel des Belgischen Rundfunks (BRF),
bei der Nachrichtenagentur ADN in Berlin, im
ZDF-Landesstudio Düsseldorf, in der WDRRedaktion „Aktuelle Stunde“, im Bereich
Öffentlichkeitsarbeit bei den Vereinten Nationen in Genf sowie bei dpa in New York. Mehrfache Urlaubsvertretung des Paris-Korrespondenten der Rufa-Rundfunknachrichtenagentur.
Seit 1992 regelmäßige Mitarbeit als Radiomoderatorin beim Belgischen Rundfunk.
Tibet - was bis heute geschah
Tibet, das mystische Dach der Welt, stand seit dem 16. Jahrhundert unter der
feudalen Herrschaft von Klerus und Adel, an deren Spitze der Dalai Lama,
lebender Gottkönig, sein Nomadenvolk regierte. Das Leben von sechs Millionen Tibeter wurde stark durch die Religion bestimmt, durch den tibetischen
Buddhismus, was den Fortschritt des Landes hemmte. Bevor der reformfreudige 14. Dalai Lama dies ändern konnte, fielen 1949 chinesische Truppen
in den abgelegenen Himalayastaat ein und beanspruchten das strategisch
wichtige Tibet als Teil des kommunistischen „Mutterlandes“.
Die noch vom Zweiten Weltkrieg geschwächten westlichen Mächte reagierten nicht auf die Besetzung des durch seine Neutralitätspolitik isolierten
Landes und akzeptieren Tibet als Teil Chinas. Tenzin Gyatso, der zum Zeitpunkt der Besetzung vierzehnjährige Dalai Lama, versucht neun Jahre lang,
mit den Chinesen zu verhandeln. 1959 floh er kurz vor der Bombardierung
seiner Residenz nach Indien. Für die tibetische Bevölkerung, die vor dem
Palast ihres Gottkönigs als menschliches Schutzschild kampiert hatte, begann
nach seiner Flucht eine Serie blutiger Aufstände, bei denen tausende Tibeter
ums Leben kamen.
China rühmt sich, die Tibeter vom Joch der Unterdrückung befreit und den
Fortschritt gebracht zu haben. Fakt ist, dass die in einem 17-Punkte-Abkommen durch China zugesicherten Autonomie bislang nicht realisiert wurde.
Raubbau an Natur und Bodenschätzen sowie aufoktroyierte landwirtschaftliche Reformen führten zu massiver Umweltzerstörung und den ersten Hungersnöten in der Geschichte Tibets. Bei der chinesischen Kulturrevolution
wurde 90 Prozent des tibetischen kulturellen Erbes zerstört. Menschenrechtsverletzungen halten bis heute an. Der friedliche Widerstand der Tibeter
gegen die chinesische Fremdbestimmung ist seit fast 50 Jahren ungebrochen. 1995 brach für die Tibeter einmal mehr die Welt zusammen: Ein sechs108
Verena Bünten
Indien
jähriges Kind verschwand, das als die Wiedergeburt des Panchem Lama, des
zweithöchsten tibetischen Geistlichen ermittelt wurde. Stattdessen setzten die
Chinesen ihren eigenen Kandidaten anstelle des Verschwundenen ein - ein
Kind mit linientreuen kommunistischen Eltern, das von der tibetischen Bevölkerung nicht anerkannt wird. Der Verbleib des echten Panchem Lama ist
immer noch ungeklärt. Der Dalai Lama lebt mit 130.000 Tibetern im Exil im
indischen Dharamsala und bemüht sich, die 1995 abgebrochenen Verhandlungen mit China wiederaufzunehmen. Der Friedesnobelpreisträger hat seine
Forderungen nach tibetischer Unabhängigkeit auf Autonomie abgeschwächt.
Himmel und Hölle ein Stück näher
Auf den 5.000 Meter hohen Pässen des Himalayas ist der Himmel ein
Stück näher. Die Sonne hat Chimis Gesicht rotbraunmauvefarben gebrannt,
an seinem Hals baumeln schutzbringende Amulettbeutelchen. Unter raspelkurzem schwarzen Haar stecken zwei verdutzt dreinschauende Mandelaugen
in einem kleinen runden Jungengesicht. Gyalwa Rinpoche, dem Dalai Lama,
sei Dank - der Himalaya hat Chimi Tashi erschöpft, aber gesund wieder freigegeben. Der Achtjährige hat den wahrscheinlich höchsten Fluchtweg der
Welt von Tibet nach Nepal gemeistert. Doch Nepal, in dem die Tibeter nur
Transitrecht genießen, ist nur Zwischenstation für das ungeduldige Nomadenkind aus dem osttibetischen Kham. Chimi Tashi will nach Dharamsala,
zum indischen Exilsitz des Dalai Lamas, um Tibets weltlichem und geistlichem Oberhaupt nahe zu sein. Acht Monate ist der kleine Khampa mit seiner
Familie von seinem Dorf in die Freiheit gelaufen. Jetzt trennen ihn nur noch
vier Tagesreisen mit dem Bus von dem Mann, den sein Volk als einen lebenden Gott verehrt.
Seit der Dalai Lama 1959 nach vergeblichen Vermittlungsversuchen aus
dem chinesisch besetzten Tibet nach Indien floh, sind ihm 130.000 Tibeter
gefolgt. Zu Beginn der 90er Jahre stieg die Anzahl der Flüchtlinge erneut an.
Durchschnittlich 3.000 Tibeter wagen sich jährlich in Plastikturnschuhen
auf einen Treck, der für gut ausgerüstete Bergsteiger als Herausforderung gilt.
Rund 30 Prozent von ihnen sind Jugendliche und Kinder ab sechs Jahren. Für
sie verlangen die Schlepper doppelten Preis: Kinder sind weniger belastbar
und müssen irgendwann getragen werden. Bis zu sieben Flüsse und zwölf
Pässe sind unterwegs zu überqueren. Lawinengefahr, Grenzkontrollen und
lebensbedrohende Minustemperaturen erschweren die Flucht. Wenn die
Flüchtlinge nach zwei bis fünf Wochen illegal und manchmal barfuß Nepal
erreichen, warten schon die nepalesischen Grenzkontrollen. Gegen kleine
Aufmerksamkeiten wie Thermoskannen lieferten die Grenzbeamten in der
Vergangenheit Flüchtlinge an ihre chinesischen Kollegen aus. Von Schlägen,
Vergewaltigungen und Schutzgelderpressung können viele Neuankömmlinge nach ihrer Begegnung mit den nepalesischen Kontrollen erzählen. „Das
sind Einzelfälle“, heißt es von seiten des Flüchtlingswerks der Vereinten
Nationen (UNHCR). Die Willkür einzelner Beamter wird als kleines Übel
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Indien
stillschweigend geduldet. „Das Wesentliche ist, dass die nepalesische Regierung nicht die Grenze zumacht und die Tibeter überhaupt weiter hier durchreisen dürfen“, meint Lucie de Lophen, UNHCR-Beamtin vor Ort.
Auf 5.000 Metern Höhe ist nicht nur der Himmel ein Stück näher - die
Hölle auch. Tagas Gang ist noch staksig, die Zehen in seinen Sandalen sind
grob gearbeitet und plastikgrau. Das Quietschen seiner Prothesen beim Treppensteigen mumuss er hassen. Wie viele Flüchtlinge überquerte der 22jährige den
Himalaya im Winter, da dann die Flüsse zugefroren und die Grenzkontrollen
seltener sind. Vier Tage und Nächte schneite es so heftig, dass Schlafen der
Tod gewesen wäre. Fünf seiner 21 Weggefährten haben Nepal nicht erreicht.
Taga selbst versuchte, ein 13jähriges Mädchen mitzuschleppen, das die
Gruppe zurückgelassen hatte. „Ihre Füße waren wie Eisklumpen und dann
kam Blut aus ihrer Nase, den Ohren und den Augen“, erinnert er sich. „Es ist
nur noch eine Stunde bis Nepal“, schwindelte der halbverhungerte Taga dem
Mädchen vor und fragte: „Was willst Du zuerst essen, wenn wir angekommen
sind?“ Die 13jährige konnte keine tibetischen Momos mehr in Nepal essen,
sondern ist auf Tagas Rücken erfroren. Er selbst hat irgendwann seine Beine
nicht mehr gespürt. Mit schweren Erfrierungen musste er noch 20 Tage bis zur
nepalesischen Grenze zurücklegen Am Ende sei er „gekrochen wie ein
Hund“. Als der Arzt ihm mitteilte, beide Beine oberhalb des Knies amputieren zu müssen, bereute Taga, nicht unterwegs gestorben zu sein. Die Aussicht,
in einem Land wie Indien ein behinderter Flüchtling zu sein, lässt ihn mit seinem Karma hadern. Wenn er im Flüchtlingslager Neuankömmlingen aus
seinem Dorf begegnet, sucht Taga das Weite. So sollen sie ihn, den einst Starken, Schönen, der bei den Mädchen so gut ankam, nicht sehen. Doch meistens
ist Taga mit den ungewohnten Prothesen nicht schnell genug. „Jetzt bin ich
wieder eine Woche lang traurig“, sagt er nach jedem Wiedersehen mit ungläubig staunenden Bekannten und schwankt zwischen angestrengter Fröhlichkeit
und Depressionen.
An 43 ernste Erfrierungsfälle im Winter 1997/98, davon 15 Amputationen,
kann sich die Krankenschwester Tsering Lhamo im ersten Auffanglager bei
Kathmandu erinnern. „Manche ziehen die Schuhe aus und die Zehen fallen
ab – verrottet“, sagt Lhamo und ihr Gesicht verzieht sich in einer Mischung
aus Mitgefühl und Ekel. Im Sommer muss sie hauptsächlich Magenblutungen
behandeln. Um den Grenzkontrollen auszuweichen, starten die Flüchtlinge
nur mit wenig Gepäck und Proviant und essen unterwegs Blätter oder Gras.
„Wenn sie hier ankommen, ist der Magen eine einzige offene Wunde“, stöhnt
Lhamo. Der Appetit der Ausgehungerten lässt sich trotz guten Zuredens
nicht bremsen. Noch zwei Wochen nach seiner Ankunft sagt ein Flüchtling:
„Ich esse und esse, aber der Hunger hört nie auf“.
Hinter dem Himalaya liegt die Hoffnung
„Hart durchgreifen“ (Strike Hard) heisst die 1996 ausgerufene Kampagne,
mit der die Chinesen das brechen wollen, was ihnen seit 40 Jahren nicht
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Indien
gelingt: Den tief in Kultur und Religion verwurzelten friedlichen Widerstand
der Tibeter. Ende der 80er Jahre entlud sich der Protest der Tibeter erneut in
Demonstrationen. Bis heute tauchen immer wieder Wandzeitungen in Lhasa
auf. Spontan bilden sich Gruppen, die den Haupttempel Jokhang umkreisen
und ihre Verzweiflung trotz drohender Folter rausschreien: „Befreit Tibet. Chinesen, geht zurück nach China. Lang lebe „Seine Heiligkeit“, der Dalai
Lama“. Die politische Umerziehungskampagne soll die Protestrufe zum
Schweigen bringen und zielt zuerst auf die Klöster als Zentren des Widerstands. Jetzt soll sie auf die restliche Bevölkerung ausgeweitet werden. Mönche und Nonnen müssen in einer Fünf-Punkte-Erklärung dem Dalai Lama
abschwören oder das Kloster verlassen. Tausende wurden seit Beginn der
Kampagne aus ihren Gompas ausgewiesen und sehen jenseits des Himalayas die einzige Möglichkeit, ihre Religion auszuüben. Sie bilden mit den
ehemaligen politischen Gefangenen 60 Prozent der Flüchtlinge, für die das
Leben in Tibet unerträglich geworden ist.
Die zweitgrößte Gruppe der Neuankömmlinge ist minderjährig. Rund 90
Prozent der Kinder werden von ihrer Familie allein auf die gefährliche Wanderung geschickt. Eltern muten ihren Kindern solche Gefahren und sich
selbst eine jahrelange Trennung zu, weil es im Exil die Hoffnung auf eine tibetische Erziehung und Zukunft gibt, was in Tibet fast unmöglich geworden ist.
In Tibet können Kinder bestenfalls mit Unterricht in chinesischer Sprache und
hohen Schulgebühren rechnen. Die chinesische Propaganda rühmt sich, die
Tibeter vom Joch der Unterdrückung befreit und ihnen den Fortschritt
gebracht zu haben. Realität ist, dass Schulen hauptsächlich für Kinder chinesischer Siedler gebaut wurden. Ein Drittel der tibetischen Kinder geht
überhaupt nicht zur Schule, von den anderen zwei Dritteln kommt kaum
jemand über eine Grundschulbildung hinaus.
Chimi Tashi und seine vier älteren Geschwister haben noch nie eine Schule
gesehen, aber gehört, dass es „sowas gibt“. In ihrem 200 Seelen-Dorf im osttibetischen Kham veranstalten die Halbnomaden hin und wieder eine Lotterie mit dem Namen aller Dorfkinder. Anschließend wird in der Gemeinde
gesammelt, damit die zwei Ausgelosten in der fernen Stadt zur Schule gehen
können. Chimi und seine Sippe gehörten nicht zu den Glücklichen. Dass seine
Familie ihre Yaks und Schafe gegen eine ungewisse Zukunft eintauschte,
hatte wie bei vielen hauptsächlich wirtschaftliche Gründe. In den wenigen
Städten lässt die Arbeitslosigkeit und auf dem Lande die chinesische Besteuerung wenig zum Leben übrig. Steuern für Altersversorgung und Erziehung
müssen auch die zahlen, die nie diese Dienste in Anspruch nehmen dürfen.
Chimis Eltern konnten die Land-, Menschen-, Tier- und Bewegungssteuer
nicht mehr aufbringen, spendeten ihre kleine Herde dem Kloster und machten sich heimlich davon. Für sie gibt es kein zurück mehr. Ihr Land hat nach
dem Verschwinden der chinesische Dorfaufseher konfisziert.
In Tibet selbst sehen die Flüchtlinge keine Zukunft, fühlen sich als Menschen zweiter Klasse, die zu Gunsten einer Flut chinesischer Siedler systematisch benachteiligt werden. Ihre Religion und Sprache wird verboten,
Zwangssterilisierungen und –abtreibungen sollen sie zu einer unbedeutenden
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Gruppe werden lassen. Um der Geburtenkontrolle zu trotzen, musste Chimi
Tashis Vater drei seiner fünf Kinder bei der Herde versteckten, sobald chinesische Beamte ins Dorf kamen. Fragt man die Tibeter nach dem Grund für die
Flucht, wird zuerst jedoch der Dalai Lama angeführt, dessen Bilder in Tibet
verboten sind und dessen Erinnerung dennoch nicht verblasst. Einmal wollen
sie „Seine Heiligkeit“ sehen, sagen sie und ihre Augen leuchten dabei, als
hätte jemand in ihrem Kopf eine Kerze angezündet.
Die bestorganisierte Flüchtlingsgemeinschaft der Welt – und ihre Neider
Wer Dharamsala erreichen will, geht auf Himmelfahrt. Auf Serpentinen
schlängelt sich der Bus mit den Flüchtlingen dem abgelegenen Örtchen im
Vorgebirge des Himalayas entgegen. Wer aussteigt, ist vielleicht noch auf indischem Terrain, doch nicht mehr in Indien. Die vier Straßen Dharamsalas sind
schlammig, aber rot von den Roben tibetischer Mönche. Wie ein Puzzle kleben Hütten und mehrstöckige Häuser kreuz und quer übereinander im Hang.
Rituelle Gegenstände, tibetische Klangschalen und heilbringende Türkise
werden an teils winzigen Straßenständen angeboten. Besonders auffällig ist
die Selbstverständlichkeit, mit der die Frauen das Straßenbild bestimmen:
Während die Inderinnen im Norden kaum das Haus verlassen, geben selbstbewusste Tibeterinnen in traditionellen Chupa-Kleidern den westlichen Neuankömmlingen Nachhilfeunterricht im Lächeln.
Nachdem die Briten ihre Sommerfrische in den Bergen verlassen hatten,
war Dharamsala nicht mehr als eine verschlafene Sammlung von Häusern am
Ende der Welt mit der zweithöchsten Niederschlagsdichte Indiens. Der Standort eignete sich für die indische Regierung, um den verehrungswürdigen,
aber brisanten Gast unterzubringen, der die Beziehungen zu China nicht
unnötig belasten sollte. Der junge Dalai Lama kam und mit ihm zunächst die
Tibeter und dann die Touristen. In einer Zeit, als die Welt noch wenig Sympathien für die Tibeter übrig hatte, halfen sich diese selbst. Für einen Hungerlohn bauten die Flüchtlinge in den 60er Jahren die bis zu 5.600 Meter
hohen Passstraßen durch den indischen Himalaya. Dennoch sind sie dankbar
für das Entgegenkommen der indischen Regierung, die die ersten Schulen
finanzierte und ihnen Land überließ. Im Süden rodeten sie den indischen
Dschungel und starben dabei massenhaft im ungewohnten feuchtheißen
Klima. Heute leben 30.000 Tibeter in den fruchtbaren Feldern der Siedlung
Mundgod von der Landwirtschaft.
Fragt man alte Tibeter, wie sie die ersten zwei Jahrzehnte im Exil gemeistert
hätten, sind diese verwundert. Sicher, eine harte Zeit sei das gewesen, aber sie
hatten doch ihn, „Seine Heiligkeit“. Der 14. Dalai Lama ist ein innovativer
Kopf und moderner Mann wie schon sein Vorgänger – oder besser, wie schon
in seinem letzten Leben. Er stellte nicht nur das wirtschaftliche Überleben seiner Gemeinde sicher, sondern leitete im Exil all die Veränderungen ein, für die
dem Heranwachsenden in Tibet keine Zeit mehr geblieben war. Fast alle
Institutionen vom tibetischen Kulturinstitut bis zur Frauenbewegung gehen auf
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Indien
eine Idee des heiligen Übervaters zurück. Schockartig beförderte er seine
Untertanen vom Mittelalter in die Gegenwart, indem er das feudale politische
System durch eine Demokratie ersetzte. Mit Exilregierung, -parlament und
-verfassung wartet das tibetische Oberhaupt auf die Erlaubnis, in sein Land
zurückzukehren. Keine Regierung der Welt erkennt Tibet als ein eigenständiges Land an, obwohl die internationale Juristenkommission Tibet dem
Himalayakönigreich vor der chinesischen Invasion klar den Status eines
unabhängigen Staates bescheinigt hat. Seine Politik gestaltet der Dalai Lama
im Spagat aus Moderne und jahrtausendealter Mystik. Regelmäßig wird das
verbeamtete Nechung-Orakel in Staatsfragen beschwört, durch das die
Schutzgottheit Tibets spricht. Sechs Mönche des Nechungklosters, des
„unwandelbaren Eilands des melodiösen Klanges“, konnten nach dessen
Zerstörung ins Exil fliehen und die Orakeltradition lebendig erhalten. Vor
allem bei Wiedergeburten weiß das Orakel Rat und soll auch den Fluchtweg
des Dalai Lama aus Tibet in Trance aufgezeichnet haben. Fragt man den Dalai
Lama, ob er sich im 21. Jahrhundert nicht von dem Orakel zu trennen gedenkt,
antwortet er kichernd:“Aber wieso, es hat sich doch noch nie getäuscht.’’
Aus eigener Anstrengung schufen die Tibeter die wahrscheinlich bestorganisierte Flüchtlingsgemeinschaft der Welt mit einer gut funktionierenden
Exilverwaltung, Schulen, Wohlfahrt und mehr als 20 Siedlungsprojekten in
ganz Indien. Dharamsala haben sie in einen pulsierenden Anziehungspunkt für
Touristen und Sympathisanten verwandelt, der anderen Erholungsorten in der
Region den Rang abläuft. Als sie noch auf dem Dach der Welt wohnten, handelten die Tibeter emsig mit Indien und China. Mit diesem natürlichen
Geschäftssinn stechen sie jetzt im Exil die indische Konkurrenz aus. Tibetische Flüchtlingsfrauen, die nicht vielmehr als einen Kochtopf besitzen, setzen sich damit auf die Straße und verkaufen selbstgemachte Teigtaschen, die
sogenannten Momos. Soviel Erfolg beschert der tibetischen Gemeinschaft den
Sozialneid ihrer indischen Nachbarn. 1991 wurde die nahe tibetische Siedlung
Chantra von Indern niedergebrannt. 1994 warf die Bevölkerung des tiefer
gelegenen indischen Teils Dharamsalas tausende tibetischer Fensterscheiben
ein, verbrannte Autos und plünderte Geschäfte. Die Inder glauben, dass diese
Flüchtlinge ihnen den Profit eines Tourismus wegnehmen, den sie ohne die
Tibeter nicht hätten. Noch heute ist die Situation gespannt, es kommt zu
Schlägereien und Vergewaltigungen. Die tibetische Seite verfolgt zur Zeit
einen defensiven Kurs auf dem Pulverfass und lobt beschwichtigend die
indische Gastfreundschaft.
Ein Volk - zwei Welten
Von der einst ärmlichen Siedlung im Dauerregen ist nicht mehr viel übrig,
als Chimi Tashi im geschäftigen Dharamsala aussteigt. Mit seiner Familie wird
er im „Empfangszentrum für Neuamkömmlinge“ untergebracht. In einem
trüben Schlafsaal steht Bett an Bett mit dem spröden Charme eines Lazaretts
aus dem Zweiten Weltkrieg. Mehr als 80 Männer, Frauen, Kinder und Babies
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Verena Bünten
Indien
müssen hier miteinander auskommen. Chimi und sein Freund Phuba toben
durch den trostlosen dunklen Bau, vorbei am Hausaltar, auf dem zwei Kekspakete als Opfergaben liegen. Am vergitterten Fenster trocknet eine einsame
Kinderunterhose – die ideale Umgebung, um große Hoffnungen klein werden
zu lassen. Doch immer wieder beteuern die Flüchtlinge, wie glücklich sie hier
sind. Vorher war alles schlimmer, drei Mahlzeiten am Tag und ein Dach über
den Kopf empfinden sie als Luxus.
Wie alle seine Geschwister sieht Chimi, der achtjährige, wegen Unterernährung vier Jahre jünger aus. Zum ersten Mal in seinem Leben sitzt er in
einem Restaurant. Scheu und schlückchenweise trinkt er Tee, schaut sich von
seinem Plastikthron um und erforscht die auf dem Tisch stehenden Gewürztöpfe. Zwischendurch renkt er sich den Hals nach den anderen Kindern aus.
Sieht ihn den keiner, wie er hier ein weißes tibetisches Brot nach dem anderen zu Kügelchen rollt und in den Mund schiebt? Meist schweigt Chimi
Tashi Fremden gegenüber, doch jetzt, nach drei Wochen in Indien, sagt die
treuherzige kleine Seele ein einziges Wort: „quou“, was soviel wie ‘Schule’
bedeutet. Da will er ganz schnell hin. Dann schweigt Chimi wieder und
schaut sich mit seinen großen, immer etwas verdutzt dreinblickenden Augen
um. Von Kleiderspenden des US-Kongresses hat er die erste Jeans seines
Lebens bekommen. Nachdem er das gekochte Ei entschieden zurückgewiesen hat, wandelt der kleine Khampa davon, um mit seinem Freund Phuba stundenlang zufrieden mit einer Plastiktüte zu spielen, die die beiden an einem
Bindfaden hinter sich herziehen. Soviel Zeit zum Spielen hatten die Nomadenkinder noch nie. Das große Warten auf die Audienz bei seiner Heiligkeit
beginnt. Danach werden die Kinder auf die Schulen und die Erwachsenen auf
unterschiedliche Siedlungen verteilt. Wie dort ein stolzer Nomade ohne
Herde, Hindi- oder Englischkenntnisse überleben soll, weiß Chimis Vater auch
nicht so recht. „Wir fragen ‘Seine Heiligkeit’, der wird uns sagen, was wir tun
sollen“, ist der langhaarige Khampa überzeugt und lässt die Gebetsmühle kreisen. Was er noch nicht weiß, ist, dass es in Indien genug ungelernte Arbeiter
gibt. Jährlich machen bis zu 800 Tibeter die beschwerliche Wanderung in
umgekehrte Richtung zurück nach Tibet.
„Als wir in den 60er Jahren geflohen sind, waren wir vollkommen auf uns
allein gestellt“, klagen die langjährig im Exil lebenden Tibeter mit Blick auf
die „Neuen“. Viele empfangen den nicht enden wollenden Flüchtlingsstrom
eher mit kühler Gelassenheit als mit warmer Solidarität. Über Jahrzehnte
haben sie mit großer Mühe eine Exilstruktur aufgebaut, die von den Neuankömmlingen zunehmend überfordert wird. Immer mehr Leute müssen sich in
den Siedlungen das gleiche Land und die gleichen Ressourcen teilen. Die
Jugendarbeitslosigkeit in der tibetischen Gemeinde liegt bei beschönigten 20
Prozent. Auch das Misstrauen gegen China verpflichteten Spionen unter den
Neuankömmlingen sitzt tief. Im September 1998 wurden zwei Tibeter als
Spione enttarnt, die Lagepläne der Residenz „Seiner Heiligkeit“ und Informationen zu den Sicherheitsvorkehrungen gesammelt hatten.
Durch 40 Jahre Trennung und Erfahrungen in unterschiedlichen politischen Systemen hat sich eine Kluft zwischen den im Exil und in Tibet Gebo114
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Indien
renen aufgetan. Schon optisch sind die Neuankömmlinge aus dem ländlichen
Tibet einfach zu erkennen. Wie ihre Frauen haben auch ältere Männer glänzend bunte Wollfäden in ihre langen Zöpfe geflochten und tragen sie mit
Würde als Gretchenfrisur auf den Kopf gesteckt. Nur mit einem Ärmel
stecken sie in ihren schaffellgefütterten Chupa-Mänteln, die noch für den tibetischen Winter genäht wurden. Die Menschen aus Tibets Städten tragen
China-Plastik-Chic und sind trotz aller Mühe liebenswürdig-uncool in ihren
Gesten. Ihre Gesichter sind noch monatelang von der brennenden Höhensonne
gezeichnet. Rinbow (23) kam vor vier Jahren aus dem Grasland Amdos nach
Dharamsala und war wie vor den Kopf gestoßen, nicht mit offenen Armen
empfangen zu werden. Gemeinsam mit den Exilanten wollte er „von draußen“
für die Freiheit Tibets kämpfen. Stattdessen fand er Gleichaltrige, die im Exil
geboren sind und sich dort ganz gemütlich eingerichtet, das Unvermeidliche
ein Stück weit akzeptiert hatten. Seitdem trägt der stolze Nomadensohn den
langhaarigen Kopf trotzig hoch, seine Amulettsammlung mit demonstrativer
Würde und fühlt sich unerwünscht. Er mag ja als tumber Viehhüter angesehen werden, aber die anderen „könnten doch in Tibet schon gar nicht mehr
überleben“. Mit seinen Freunden trifft er sich in den Cafes der Neuankömmlinge, um Geistergeschichten zu erzählen und alte Lieder vom Schneeland zu
singen, die die „verweichlichten“ Exilsöhne nicht mehr kennen. Rinbow
weiß nicht, wieviel er den im Exil Geborenen voraus hat: Er kennt sein Land
und seine Wurzeln. „Trinke nicht, kämpfe nicht und lerne viel“, hat ihm der
Dalai Lama bei einer persönlichen Audienz mit auf den Weg gegeben, wohlwissend, dass bei seinen Untertanen manchmal zwei Welten aufeinander
donnern.
Religion – wie die Luft zum Atmen
Sechs Uhr in der Frühe. Der Morgen dämmert in der Ferne, auf dem Rundweg um den Tempel ist Hochbetrieb. Viele Tibeter kreisen zwei Stunden täglich im Uhrzeigersinn um Dharamsalas heilige Städten – den Tempel und den
Wohnsitz des Dalai Lamas. Gemeißelte Gebetssteine säumen den Weg, Gebetsmühlen drehen sich, Rosenkränze perlen durch die Finger. „Om mani padme
hum“ - „Oh Du Kleinod in der Lotusblüte“ heißt das unterschwellige Gemurmel, dass auch auf Dharamsalas Straßen immer irgendwo ertönt. „Mitgefühl“
ist eine buddhistische Tugend, die im tibetischen Alltag spürbar dominiert.
„Seine Heiligkeit“ gibt eine öffentliche Unterweisung im Buddhismus.
Seit zwei Stunden ist der Strom der Gläubigen kontinuierlich zum Tempel
geflossen, durch die Kontrollen des indisch-tibetischen Sicherheitsdienstes
hindurch, und wiegt sich jetzt auf dem Boden sitzend im Takt der gesungenen
Mantras. Tibetische Mütterchen, denen Alter und der harte Alltag tiefe Furchen durch das Gesicht gegraben haben, bekommen weiche Züge und vor Tränen glitzernde Augen. Viele junge Tibeter tragen zu Jeans und Sonnenbrille
ihre traditionelle Chupa und sitzen am Fuß von zwei Götterstatuen, die mit
dem Gesicht nach Tibet blicken.
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Chimis ganzer Clan hockt geduldig wartend im Tempelvorhof auf dem
Boden. „Seine Heiligkeit“ muss hier vorbeikommen, wenn er von seiner
Residenz zur Unterweisung schreitet. Acht Monate sind sie gelaufen, haben
alles zurückgelassen, nur für diesen Augenblick. Chimi Tashi knüllt eine
Kata und wickelt sie sich vor lauter Aufregung selbst um den Hals. Dabei soll
er den weißen Seidenschal doch als höfliche Geste „Seiner Heiligkeit“ überreichen, falls er in seine Nähe kommt. Ama und Apa, Chimis Eltern, drehen
unentwegt ihre Gebetsmühlen. Seine zehn- und zwölfjährigen Schwestern verrichten drei rituelle Niederwerfungen. Zuerst führen sie die gefalteten Hände
zum Scheitel, dann zur Brust und legen sich platt auf den Boden, mit dem
Gesicht in den Staub. Ein ergriffenes Raunen geht durch die Menge, Tränen
schießen in die Augen. Ein Mönch im rot-eidottergelben Gewand geht demütig gebückt und freundlich lächelnd durch die kniende Menge. Seine kleine
und schlichte Gestalt würde nicht weiter auffallen in dem Gefolge aus weihrauchschwenkenden Mönchen und Sicherheitsbeamten in Zivil. Aber dieser
eine strahlt mit einer Güte und Freundlichkeit, dass man den Blick nicht mehr
von ihm abwenden kann: Der Dalai Lama ist ein bescheidener Mönch und ein
Gott zum Anfassen zugleich. Vereinzelt geht er auf die schüchternen Gläubigen zu und nimmt ihre Hände. Ein so gesegneter bärtiger Europäer bricht
in hemmungsloses Schluchzen aus und kann sich noch zehn Minuten später
nicht beruhigen. Die Tibeter dagegen wagen kaum aufzublicken, sind still und
wie versteinert mit ungläubig staunendem Gesicht, als könnten sie die plötzliche Gegenwart ihres lebenden Gottes nicht fassen. Als „Seine Heiligkeit“
verschwindet, drehen sich ihm die knieenden Körper langsam nach wie ein
Feld von Sonnenblumen.
Religion ist für die Tibeter so selbstverständlich und lebensnotwendig wie
die Luft zum Atmen. Nach der alles zerstörenden Kulturrevolution waren in
Tibet von 6.000 buddhistischen Klöstern genau 13 übrig. Inzwischen werden
einige den Touristen zuliebe wieder aufgebaut. Trotz politischer Umerziehung,
Anti-Dalai Lama-Kampagnen und das Verbot seiner Portraits überlebte der
tiefe Glaube der Tibeter im Geheimen, so wie die Dalai Lama-Fotos in den
Schubladen.
Mehr als 160 tibetische Klöster gibt es inzwischen in Indien, Nepal und
Bhutan. Jeder zehnte der Exiltibeter ist Mönch. Viele der von Tibet kommenden Mönche und Nonnen haben eine Schauergeschichte von den Gefängnissen Drapchi und Gutsa zu erzählen. In ihren kahlgeschorenen Köpfen
stecken besonders revolutionäre Gedanken, da sie keine Familie haben und nur
ihr eigenes Leben riskieren. Die Protestierenden sind immer friedlich und alle
kennen die Konsequenzen: Wer den Mund aufmacht, muss mit Gefängnis,
Folter und vielleicht mit dem Tod, nicht aber mit mildernden Umständen rechnen. Migmar war 14 Jahre alt, als er als politischer Gefangener verhaftet
wurde. Genau sechs Minuten lang hatte der junge Mönch mit Freunden Parolen wie „Tibet gehört den Tibetern“ gerufen. Nach einem Verhör mit Elektroschockeinsatz verbrachte der Teenager drei Jahre lang im Arbeitslager. Nein,
er habe im Gefängnis keine Minute bereut, demonstriert zu haben, sagt der
inzwischen 18jährige und seine Augen lassen keinen Zweifel daran. Wie die
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meisten politischen Gefangenen entschloss sich Migmar zur Flucht, weil
ihm die chinesischen Autoritäten die Rückkehr ins Kloster verweigerten.
Jetzt darf er Buddhismus in dem Exilzweig seines Klosters im indischen
Dehra Dum studieren.
Das Studieren soll auch den Nonnen vom Dolmaling-Kloster beim Vergessen helfen. Eine halbe Stunde von Dharamsala entfernt, bemühen sich 126
vor allem junge Frauen um buddhistische Bildung. Im alten Tibet waren
Nonnen nicht viel wert, auch wenn tibetische Frauen außerhalb des religiösen
Bereiches als die Unabhängigsten Asiens galten. Die Nonnen rezitierten
Gebete, während religiöse Studien den höher angesehenen Mönchen vorbehalten waren. Heute noch gibt es zehnmal mehr Männer als Frauen in roter
Klosterrobe. Doch in der Freiheitsbewegung stellen die unerschrockenen
Nonnen die Mönche in den Schatten. Jede dritte Demonstration zwischen
1987 und 1992 wurde von Nonnen angezettelt. Für die mutigen Frauen droht
darauf eine Bandbreite an Folter, bei der Bluthunde auf sie gehetzt werden
oder es zu Vergewaltigungen mit elektrischen Viehtreiber-Stöcken kommt. „In
chinesischen Gefängnissen wird nicht gefoltert“, verkünden Abgeordnete
Chinas bei den Vereinten Nationen. Nawang (25) kann aber von den Blutkonserven erzählen, die ihr als politische Gefangene immer wieder abgezapft
wurden. Als sie völlig entkräftet war, durften ihre Eltern sie nach Hause
holen, damit sie nicht im Gefängnis stirbt. Nawangs Körper schaffte es bis ins
Exil, hat sich aber bis heute nicht erholt. Für Yandon (26) waren die Elektroschocks und Schläge im Gefängnis nicht das Schlimmste. Dass sie aber religiöse Schriften vor dem Wärter unter der Klobrille verstecken musste, lässt
sie heute noch verzweifelt die Hände vor’s Gesicht schlagen. Beide haben
diese eigentümlich tiefgründige Ruhe, diese ernste Gelassenheit, an der sich
die Folteropfer unter den Tibetern erkennen lassen. Noch in Drapchi, Tibets
Gefängnis Nummer eins, dichteten die Nonnen das sogenannte DrapchiLied: „Eines Tages wird die Sonne wieder durch die dunklen Wolken brechen“. Wenn sie dieses Lied singen, denken sie an ihre Mitstreiterinnen, die
noch in Tibet unter Folter leiden und sind bedrückt. Im Dolmaling-Kloster studieren sie auf besonderen Wunsch des Dalai Lama. Aus ihnen sollen in einigen Jahren die ersten weiblichen Geshes hervorgehen, Nonnen mit buddhistischem Doktorgrad, die der jahrhundertelangen Benachteiligung ein Ende
setzen sollen. Die Zeiten ändern sich – und der Dalai Lama koketiert schon
damit, das nächste Mal vielleicht als Frau wiedergeboren zu werden.
Leidensfähigkeit – eine tibetische Tugend
Wer in Dharamsala Bagdro trifft, der hält Leidensfähigkeit fortan für eine
tibetische Tugend. Immer wieder öffnet der 26jährige Mönch seine psychologischen Wunden und erzählt seine Geschichte. „Ist der Dalai Lama denn ein
menschliches Wesen“ fragte Bagdro im Alter von 17 Jahren, als nach Tibet
gekommene Touristen ihm das erste Dalai Lama-Foto seines Lebens zeigten.
Neben dem Foto überließen sie ihm die verbotene Autobiographie des tibe117
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tischen Oberhauptes und veränderten Bagdros Leben. Bagdro entdeckte die
Wahrheit über sein Land, die seine Eltern ihm nie zu erzählen gewagt hatten.
Plötzlich wollte er mehr sein als ein „Schwein, das nur isst und schläft“ und
wurde Anführer einer Protestkundgebung in Lhasa, der sich 1988 einige tausend Tibeter anschlossen. Ein chinesischer Polizist stürzte dabei zu Tode und
Bagdro wurde als einer der sieben Hauptverdächtigen verhaftet. Die Polizisten zerrten ihm die Handfesseln so eng, dass die Gefäße in seinen Händen
platzten und das Blut ihm von den Fingernspitzen tropfte. In drei Jahren
Gefängnis und Folter wurde aus dem Held ein Opfer, das nach seiner Mutter
schrie. Nach seiner Entlassung erreichte Bagdro 1992 Nepal. „Jetzt ist Tibet
endlich frei“, täuschte sich der vor Erschöpfung wirre Mönch, als er die
tibetische Flagge auf dem Dach des Auffangzentrums wehen sah. Der Dalai
Lama nahm das weinende Gesicht des Flüchtlings bei einer Privataudienz in
beide Hände und sagte: „Bagdro, irgendwann werden wir beide nach Tibet
zurückgehen“. „Kein Hass, Bagdro, Mitgefühl“ hat das tibetische Oberhaupt
ihn gemahnt und seitdem übt er das Übermenschliche, Mitgefühl mit den Folteren zu haben. Lange Zeit hatte er noch Alpträume: „Die Chinesen schneiden meine Hand ab, hacken mein Bein ab, öffnen meinen Magen.“ Seine
Hände zittern noch immer, aber ihm tut all die Bewunderung gut, die er bei
seinen Vortragsreisen bekommt. In seiner Mönchszelle hängen gerahmte
Fotos, die ihn mit Richard Gere und Danielle Mitterand zeigen. Aus dem
Opfer ist wieder der Held geworden.
„Der menschliche Körper kann sich von unermesslichen Schmerzen erholen, aber sobald die Willenskraft gebrochen ist, gibt es keine Rettung mehr.
Deshalb erlaubten wir uns nicht, den Mut zu verlieren“, sagt Palden Gyatso
(64) nach 33 Jahren in Haft. Der Mönch antwortete seinen Aufsehern auf die
Frage nach seinen weiteren Plänen mit einem Zitat aus Maos rotem Buch:
„Wo immer Unterdrückung ist, wird es Widerstand geben“.
Bagdro, Palden, Nawang, Taga und die Nomadenfamilie – sie alle tragen ihr
Elend mit Würde. Eine seltene Heiterkeit der Seele und Güte des Herzens verblüffen und machen die Tibeter in ihrer denkbar schwierigen Lage einmalig.
Ihre starke Leidensfähigkeit lässt sich durch ihren geographischen und religiösen Ursprung erklären. Das jahrtausendelange Überleben auf dem menschenfeindlichen Plateau hat die Menschen dort bescheiden und zäh gemacht.
Auf dem Dach der Welt waren die Tibeter lange Zeit ungestört und pflegten
diese Isolation in ihrem für Reisende verbotenen Land. Zwar gab es Kontakte
zwischen den tibetischen und chinesischen Regenten. Die Bevölkerung war
jedoch rund 1.000 Jahre frei von jeglicher äußerer Beeinflussung und konnte
in ihrer Kultur feste Wurzeln fassen. Als die rote Armee 1949 einmarschierte,
sahen die meisten Tibeter zum ersten Mal in ihrem Leben Chinesen. Der entscheidende Faktor für die eigentümliche Stärke der Tibeter ist aber ihre Religion. Der tibetische Buddhismus erhebt die Unbeständigkeit zum Gesetz. Was
lebt, stirbt, was aufgebaut wird, geht sicher zugrunde. Es gibt kein dauerhaftes Glück und die einzige Sicherheit ist der Tod. Im Kreislauf aus Tod und
Wiedergeburt ist das jetzige Leben nicht so wichtig, es sei denn, um mit moralischem Handeln die nächste Wiedergeburt positiv zu beeinflussen. „Gestern
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ist Vergangenheit, morgen kommt von selbst, also mache das Beste aus dem
heute“, erklärt Jetsun Pema, jüngere Schwester des Dalai Lama, die tibetische
Philosophie und meint: „Ihr stellt Euch so viele Fragen im Westen, das verwirrt.“ Trifft einen Tibeter ein Schicksalsschlag, so glaubt er an dessen logischen Ursprung im vorigen Leben. Die Bürde wird angenommen und geduldig getragen, statt mit dem Schicksal zu hadern. Manchmal scherzen die
Tibeter: Unsere Vorfahren müssen sich in den letzten Leben sehr danebenbenommen haben, dass es Tibet heute so schlecht geht.
Die junge Generation - „zukünftige Saat Tibets“
Chimi hat es sich anders überlegt. Nein, er will lieber doch nicht zur
Schule gehen, wenn er seine Geschwister und Eltern nicht mitnehmen darf.
Dabei hat Chimi Glück. Er ist mit zwei seiner Schwestern für das tibetische
Kinderdorf, Tibetan Children’s Village (TCV), in Dharamsala registriert.
11.000 Kinder gehen in Internats- oder Tagesschulen der Kinderdorfgruppe,
die von den Tibetern selbst gegründet und erst später SOS Kinderdorf International Wien angeschlossen wurden. Sie gelten als Schulen erster Wahl und
als bessere Alternative zu den von der indischen Regierung finanzierten
Central Tibetan Schools (CTA). Insgesamt gehen 92 Prozent der Exilkinder
zur Schule, 84 Prozent bekommen eine tibetische Schulbildung, gegebenenfalls sogar die Möglichkeit zum tibetischen Studium. Der Reichtum der Exilgemeinschaft ist eine gebildete jüngere Generation, die der Dalai Lama als die
„zukünftige Saat Tibets“ bezeichnet und immer wieder zum Lernen anspornt.
Schule ist ein Wort, das üblicherweise die Augen der Flüchtlingskinder zum
Glänzen bringt. Chimis Augen glänzen bislang nur von Tränen. Dass den Kindern Tibetisch-, Hindi- und Englischunterricht auf höchstem Niveau geboten
wird, ist ihm wegen der drei unterschiedlichen Schriften ein Grauen. Und auch
der pädagogische Wert der Montessori-Methode, die gemäß des tibetischen
Buddhismus jedem Kind Respekt einräumt, bleibt dem Khampakind noch verschlossen. „Denke, bevor Du handelst“, „Die wahre Schönheit liegt in der
Schlichtheit“ und „Hebe Müll auf“, ermahnen allgegenwärtige Schilder in der
Dorfanlage den Nomadensohn. Die Klassenräume sind mit Buntstiftzeichnungen tapeziert, auf den Fensterbänken blühen Blumen in Konservendosen.
Die mit viel Liebe gestaltete Kinderwelt des TCV hat einen Knackpunkt für
Chimi Tashi: Anstatt bei seinen Eltern wohnt er jetzt in einer Kinderdorffamilie, die von tibetischen Heimeltern geleitet wird. Die Zahl der Zahnbürsten
in dem idyllischen kleinen Häuschen mit Gemüsegarten versetzt den Besucher
in ungläubiges Staunen. Ein riesiger Haufen Kinderschuhe aller Größen stapelt sich vor dem Eingang. Durch den Flüchtlingsstrom hoffnungslos überfordert, muss sich ein Elternpaar um 40 bis 50 Kinder kümmern. Essen gibt
es aus großen Bottichen, das Abendgebet dröhnt donnernd in dieser Großfamilie. „Eigentlich müssten wir jedes Jahr eine neue Schule eröffnen“, seufzt
Jetsun Pema, seit ihrem 23. Lebensjahr TCV-Direktorin. Die warmherzige
Frau hat mehr als drei Jahrzehnte Energie in den Aufbau der vorbildlichen
119
Verena Bünten
Indien
TCV-Organisation gesteckt und gilt als „Amala“, als Mutter Tibets. „Natürlich brauchen die Kinder mehr Aufmerksamkeit als wir ihnen geben können“,
bedauert Pema-la, wie sie respektvoll genannt wird, und tröstet sich damit,
dass die Kinder untereinander starke Beziehungen und Verantwortlichkeiten
entwickeln. Die Direktorin führt neuerdings Schulungen in Kinderpsychologie für die gestressten Heimmütter ein. Anfangs ziehen sie sich zurück, stehen nachts oft auf, sagt Chimis Heimmutter Gamo (46) über die kleinen
Neuankömmlinge. Anhaltende Verhaltensauffälligkeiten hat die gütige Dame
bei keinem der rund 200 Schützlinge in ihrer Laufbahn beobachtet. Chimi
sieht aus wie bei seinem eigenen Begräbnis. Die anderen Kinder verstehen
seinen Dialekt nicht, er könnte auch wie ein Yak grunzen. Ein Jahr wird es
wohl dauern, bis der kleine Khampa die zentraltibetische Sprache gelernt hat.
Schlimmer hat es Phuba (7), seinen Freund aus dem Flüchtlingslager getroffen. Der wilde Nomadenspross war von dem neuen geregelten Umfeld so
schockiert, dass er vier Tage kein Wort mehr sprach und sich wie „Häschen
in der Grube“ zusammenkauerte. Von einen Tag auf den anderen wurde aus
dem umsorgten Einzelkind die Nummer 46 in der Heimfamilie, die vor allem
eins vermisste: Seine Mutter hatte den siebenjährigen Phuba noch regelmäßig gestillt.
Bei Fällen, in denen westliche Kinderpsychologen Amok laufen würden,
kennt die Welt tibetischer Flüchtlinge andere Dringlichkeiten. Welche andere
Flüchtlingsgemeinschaft kann Kindern schon Möglichkeiten einräumen, die
ihnen ihre eigenen Eltern im Überlebenskampf nie geben könnten? Kinderseelen vom Dach der Welt sind belastbarer als andere. Tatsächlich, zwei
Wochen später ist Chimi Tashi auf beruhigende Weise wieder ganz das alte
Schlitzohr, das damals im Auffangzentrum durch die Gänge flitzte. Sein
Vater hat Arbeit als Teekocher beim Kloster gefunden und muss vorerst doch
nicht zurück nach Tibet. Und sonntags ist für Chimi und Phuba Besuchstag
„Shangrila“ liegt nicht in Indien
Einst zur Jahrhundertwende glaubten die Forscher an ein verheißungsvolles Wunderland im Himalaya, wo Gold aus dem Boden wächst und die Menschen glücklich und zufrieden leben. „Shangrila“ nannten sie das mystische
wunderbare Land und vermuteten es im unentdeckten Tibet. Gefunden haben
sie es nie. Eins ist sicher: „Shangrila“, das gelobte Land, liegt nicht in Indien.
Zwischen pitschnassen Teefeldern im Monsum taucht eine Wellblechhüttensiedlung auf. Die „Tibetan Transit School“ wurde für junge Erwachsene aus
dem Boden gestampft, die das Schneeland in wachsender Anzahl und mit großen Erwartungen verlassen. Menschen von 18 bis 30, die fast alle in ihrem
Leben noch nie eine Schule gesehen haben, lernen hier drei Jahre Tibetisch
und Englisch. 70 Prozent der Wissbegierigen sind Analphabeten. In den kargen Baracken müssen sie ihre Hoffnung und Motivation zum Lernen am
Leben halten wie ein sensibles kleines Pflänzchen. 130 erwachsene Schüler
sitzen auf dem mit Bastmatten bedeckten Boden und sprechen einer resolu120
Verena Bünten
Indien
ten Lehrerin Sätze wie „Dorjee is our school captain“ nach. In der Mädchenbaracke IV stehen auf allerengstem Raum Etagenbetten für 60 junge
Frauen, die in ihrer grünen Schuluniform wie Teenager aussehen. Das Lernen
fällt ihnen schwer. Manche müssen zunächst eine ganz andere Lektion lernen:
das Leben in einer Gesellschaft mit festen Regeln. Gerade die Jugendlichen
aus Tibets Städten gehören zu den Problemfällen. Aufgewachsen als die
Getretenen in einer Umgebung voll Misstrauen sind manche gewohnt, sich
alles erkämpfen zu müssen. Im Exil stehen sie nun vor der neuen Freiheit, mit
der sie nicht umgehen können und müssen lernen, sich anzupassen. „Unser
bester Psychiater ist ‘Seine Heiligkeit’“, sagt ein Lehrer der Transit School:
„Nach der ersten Audienz fällt viel Druck von den Jugendlichen ab“. In der
Schule im nahegelegenen Bir setzte die Leitung auf Sport, um die Aggressionen abzubauen. Täglich mussten dort die Bälle ersetzt werden, an denen die
Jugendlichen mit aller Wucht ihre Frustrationen ausließen.
Nach Tibet zurückkehren wollen sie alle, allein schon weil hier das Wetter
so feucht und heiß ist und das Tsampa, das geröstete Getreidemehl, in Indien
so schlecht. Tibeter lieben die Kälte. Die Nomaden aus Amdo erzählen, dass
in Tibet mehr Leute im ungesund warmen Sommer sterben als im Winter.
Nein, in ihrem Dorf könne sie Tibetisch und Englisch nicht brauchen, in der
ländlichen Einsamkeit Khams sei solche Bildung vollkommen unnütz“, meint
Jimzo (25), eine junge tibetische Mutter. Andere hoffen, durch den aufkommenden Tourismus in Tibet mit Englischkenntnissen eine bessere Zukunftsperspektive zu haben. Doch 99 Prozent der jungen Erwachsenen brechen die
Schule noch vor der Dreijahresfrist ab. Das Heimweh ist zu groß, und die
Wellblechhütten zu trostlos, um es vergessen zu lassen.
Im „Shangrila“ riecht es nach Buttertee. Fettaugen schwimmen auf dem
ranzigen Gebräu, das Lobsang in vollen Tassen an acht Tischen vorbei balanciert. Lobsang ist der Managermönch hier und „Shangrila“ heißt in diesem
Fall ein Restaurant im Besitz seines Klosters. Von seinem Platz aus hat der
Managermönch den kleinen Raum mit den verblichenen Wandmalereien im
Blick und nimmt gelassen Klagen über die leiernden chinesischen Popsongs
entgegen. Es ist später Morgen in Dharamsala und Lobsang hat die Ruhe eines
lächelnden Buddhas. Am Tisch in der Ecke starren drei gelangweilte Gestalten in ihre Tassen. Rinbow, Pema und Chodak, alle Mitte 20, sind langhaarige
stolze Nomadensöhne und harte Kerle. „Einem richtigen Nomaden friert
jeden Winter draußen bei der Herde ein Stück Ohr ab“, sagt Pema lässig und
zeigt auf seine ganz gesund aussehenden Horcher. Lachend erzählen sie,
wie man seine Stiefel mit Yakmist gegen den tibetischen Winter isoliert oder
sein Pferd im vollen Lauf anpflockt. Von den Frauen mittleren Alters mit dem
bitteren Zug um den Mund erzaehlen die jungen Nomaden nicht. Diese Frauen
kommen im Namen des Buddhismus nach Dharamsala, finanzieren den Jungen die Ausbildung und wollen ihre „Mutter im Exil“ sein. Irgendwann sind
die selbstlosen Sponsoren dann nicht mehr so selbstlos und fordern sexuell ein
Recht ein, das mit Mütterlichkeit nichts mehr zu tun hat. Auf diese Art von
Mutterliebe sind die naiven und unverbrauchten Jungs aus den Ebenen Amdos
nicht vorbereitet. Dieses Thema ist tabu im „Shangrila“, stattdessen sagt
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Verena Bünten
Indien
Rinbow aufgeräumt: „Du kannst Dir gar nicht vorstellen, wie weit die Ebene
bei uns ist“, und demonstriert die Größe Amdos, seines Graslands mit ausgestreckten Armen. Doch den kühnen Yakhütern fehlt die Herde. Vor vier Jahren sind sie ins indische Exil geflohen. Verlorene Jahre seien das gewesen, in
diesem schlammigen heißen Nest. Dabei wollten sie doch vom Exil aus Tibet
befreien. Nach vier Jahren ist das Schneeland immer noch unter chinesischer
Herrschaft und das Heimweh wird unerträglich. Wen sie länger kennen, dem
gestehen sie bitter, so wenige Jahre im Exil hätten sie so schnell altern lassen.
Wem sie vertrauen, dem lesen sie das Gedicht vor, dass sie für ihre Mutter
geschrieben haben. Und irgendwann sagt Rinbow leise, dass sein Kopfkissen
heute morgen wieder nass war. Dann weiß er, er hat von zu Hause geträumt
in der letzten Nacht. Nie, nie kann Dharamsala ein zu Hause werden.
Im „Shangrila“ paart sich Heimweh mit Hoffnung. Die drei Freunde haben
einen Computerkurs absolviert und Erfahrungen in Buchhaltung gesammelt,
da sie doch das Hotel und die Schule und das Kloster mit Bibliothek in ihrer
Heimat bauen wollen - wenn…, ja, wenn Tibet wieder frei ist. „Was meinst du,
wie lange wird das wohl dauern?“, fragt Rinbow jeden Ausländer, den er trifft.
Zehn Jahre? 15 Jahre? „So lange? Also ich glaube, in zwei bis drei Jahren
gehen wir zurück“. Das glauben die meisten hier. Gemeinsam mit dem Dalai
Lama nach Tibet zurückzukehren, darum kreist jeder zweite Gedanke, dafür
werden Pläne geschmiedet. Bis es soweit ist, gibt es für manche Glückliche
einen westlichen Sponsor und für alle rumhängen und warten. „Wenn in den
nächsten zehn Jahren nichts passiert, macht es keinen Sinn mehr, zurückzukehren, dann ist nichts mehr von Tibet übrig“, meint Pema grimmig.
Nicht alle wollen so dringend wieder zurück in harsche tibetische Winter,
eine menschenfeindliche Natur und ein karges, wenn auch grandioses Land.
Für viele im Exil Geborene trägt das Wunderland „Shangrila“ jetzt einen
anderen Namen: Amerika. Im Jahre 1991 empfing die amerikanische Regierung ein Kontingent von 1.000 Tibetern. Mit Green Cards und Unterstützung
reichlich ausgestattet, sollte den US-Tibetern eine Art Hilfe zur wirtschaftlichen Selbsthilfe ihrer Gemeinde in Indien ermöglichen. Die US-Tibeter
kamen mit dem Taxi statt dem Bus nach Dharamsala zurück, tranken – oh
Wunder – nur noch Mineralwasser und nährten den amerikanischen Traum
unter den Daheimgebliebenen. Inzwischen geht der Einwanderungswahn in
dei USA so weit, dass sich schon mehrere Tibeter als Mönch verkleidet
haben, um einfacher an ein Besuchervisum zu gelangen und dann illegal
unterzutauchen. Die 18 jährlich vom US-Kongress vergebenen „FullbrightStipendien“ zum Teilstudium in den USA gelten als Hauptgewinn. Gerade für
die jungen Tibeter, die ihr eigenes Land nur von Hörensagen kennen, ist die
Versuchung groß. Mit dem Geld, das ein einzelner im gelobten Land USA verdient, kann im Exil eine Familie versorgt werden. Manche der Jugendlichen
sind frustriert, da ihr Engagement für die tibetische Sache scheinbar nicht
geschätzt wird. Bei der Exilregierung lässt sich keine Anstellung finden und
alle radikaleren Pläne für ein freies Tibet stoppt „Seine Heiligkeit“ mit der
Bitte um Zurückhaltung: Man wolle doch gewaltfrei agieren und die indische
Gastfreundschaft nicht verletzen. Manche setzen inzwischen lieber auf ihre
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Verena Bünten
Indien
eigene Zukunft als auf die Rückkehr in ein Land zu warten, das sie nie gesehen haben. Zugeben würde dies so schnell niemand. „Natürlich gehen wir
zurück …“, ist die Paradeantwort, „irgendwann“. Die Ehrlichen fragen sich:
„Gehen wir wirklich zurück?“
Tibetan Youth Congress – die alterslosen jungen Wilden
Die Geschichte von den angeblich so friedliebenden Tibetern haben sie endgültig satt: Die Mitglieder der Jugendorganisation „Tibetan Youth Congress“
(TYC) sind sehr, sehr wütend. „Wenn Du leise sprichst, hört Dir keiner zu, Du
musst schon kräftig auf den Tisch hauen“, sagt Generalsekretär Lhandup
(39) entschlossen. In der Exilgemeinde brodelt es, wenn die alterslosen jungen Wilden zusammenkommen und im TYC ein Ventil finden. Der älteste
Mitstreiter ist 90 und immer noch nicht müde. Lediglich jung im Geiste und
radikal genug müssen die 15.000 Mitglieder der größten tibetischen Organisation sein. Und sie müssen Grundsatz IV unterschreiben: Sie müssen notfalls
bereit sein, für ein freies Tibet ihr Leben zu lassen.
Seit 1987 die Proteste in Tibet erneut blutig niedergeschlagen wurden,
versichern die jungen Wilden in ihrem Programm Gewaltbereitschaft. In
Tibet selbst warten angeblich ihre Kontaktpersonen im Untergrund nur auf ein
Kommando, um loszuschlagen. Aus Rücksicht auf den Fünf-Punkte-Friedensplan des Dalai Lamas hätten sie sich bislang zurückgehalten, so der
Generalsekretär. Die Ungeduld der neuen Generation drapiert Sorgenfalten
auf die Stirn des Dalai Lama . „Sehr gesund“ findet der nimmermüde Optimist zwar die Kritik der Jugendlichen, sei das doch ein Zeichen der von ihm
eingeführten Demokratie. Bei der Gewalt hat die Toleranz jedoch ein Ende.
An 40 Jahren kompromisslosem Gewaltverzicht wird auch in Zukunft nicht
gerüttelt, zumindest nicht mit ihm. Dann müssen sich seine Untertanen eben
einen anderen Gottkönig suchen.
Ihr tibetisches Oberhaupt und dessen Führungsrolle wollen die Verantwortlichen vom TYC nicht angezweifelt wissen, lediglich ein bisschen
Ungehorsam soll gestattet sein. Eine Art Arbeitsteilung mit „Seiner Heiligkeit“ schwebt ihnen vor. Der Dalai Lama spielt weiterhin die Rolle des zeitlos weisen und weltweit geschätzten Pazifisten, sie übernehmen die der
bösen Buben. Gewalt sei nötig, damit die Chinesen die Gewaltlosigkeit
nach 40 Jahren wieder schätzen lernen. Aber drohen die Tibeter nicht dadurch
ihre Einzigartigkeit in der Welt zu verlieren? „Wir brauchen Unterstützung,
nicht bloß Sympathie“, sagt Lhandup grollend. Wie den Schlachterhund
wollen sie die Chinesen provozieren. Wenn diese dann die explodierenden
Aufstände wie gewohnt brutal niederknüppeln würden, könne die internationale Gemeinschaft nicht länger wegsehen und wäre zu Taten gezwungen,
so die TYC-Theorie. Dass die internationalen Mächte in der Vergangenheit
genügend Gelegenheit hatten, Menschenrechtsverletzungen in Tibet zuzusehen und doch nicht ihre Wirtschaftsbeziehungen zu China aufs Spiel setzten, will keiner hören. Die TYC-Streiter aller Altersklassen scheint nicht
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Verena Bünten
Indien
nur ihre jugendliche Radikalität, sondern auch eine Portion jugendlicher
Naivität zu verbinden.
Beim Blick über den Himalaya haben die Jugendlichen allerdings allen
Grund, sehr, sehr verzweifelt zu sein. Der Raubbau an der tibetischen Natur
und das Abladen nuklearen Mülls hat das Land für alle Zeiten verändert.
Durch die aggressive Ansiedelung von Han-Chinesen sind die Tibeter
inzwischen Minderheit im eigenen Land. Sechs Millionen leben noch auf
dem Dach der Welt, zusammen mit acht Millionen Chinesen. Mischehen
werden gefördert, tibetische Familien aber mit Zwangssterilisierungen,
Abtreibungen und der Ein-Kind-Politik dezimiert. Die tibetische Sprache,
Religion und Kultur wird unterdrückt oder verboten. Zu Recht fragen
sich die jungen Exiltibeter, was in zehn Jahren noch von ihrer Rasse übrig
sein wird. „Time is running out“ – so lautet das stärkste Argument der Radikalen – „die Zeit drängt“. Der Dalai Lama reagierte mit Kompromissbereitschaft auf diese überaus ernste Bedrohung der tibetischen Kultur. Er hat
seine Forderungen nach der Unabhängigkeit Tibets auf Autonomie heruntergeschraubt. Aus dem Ruf „Free Tibet“ ist „Save Tibet“ geworden. Um
den TYC gruppieren sich die Anhänger einer genau entgegengesetzten
Strategie. Nie, nie werden sie die chinesische Flagge über ihrem Schneeland
akzeptieren, wo doch Unabhängigkeit ihr legitimes Recht sei. Wer garantiere in einem autonomen Tibet, dass die Chinesen ihr Wort halten, das sie
vorher oft genug gebrochen hätten? Der TYC hält am alten Ziel fest und
greift zu Formen der Gewalt, die sich vorerst nur gegen sich selbst richten.
Im Februar 1998 rief der TYC in Delhi einen Hungerstreik „bis zum Tod“
aus. Sechs Tibeter hungerten zwei Monate bei Wasser und Limonensaft
stellvertretend für die sechs Millionen Menschen in ihrer Heimat. Sie
wollten die Vereinten Nationen dazu bewegen, Beobachter nach Tibet zu
senden. Sollte es Hungertote geben, standen mehr als 60 Personen auf der
Warteliste, um deren Platz einzunehmen. Aus Verzweiflung, dass die indische Polizei den Streik gewaltsam stoppte, verbrannte sich Thupten Ngodup,
ein Kandidat von der Warteliste, selbst. Der Sechzigjährige war aktives
TYC-Mitglied gewesen und gilt heute als Märtyrer. Sein Opfer habe große
Aufmerksamkeit erregt, glaubt Generalsekretär Lhandup. Polen, Dänemark und Costa Rica hätten in Beileidsbriefen versprochen, bei den Vereinten Nationen das Tibetthema wieder anzusprechen.
Die Frustration der jungen Tibeter will der Dalai Lama nachvollziehen
können, doch die richtigen Worte dazu findet er nicht. Bei der Richtlinienkonferenz des TYC im September 1998 ließ er keinen Satz der Ermutigung hören. Stattdessen forderte er die politisierte Jugend auf, sich um die
Umweltproblematik und den Müll in Dharamsala zu kümmern. Eine Beleidigung sei das gewesen, ereifert sich Professor Dawa Norbu, einer der führenden tibetischen Intelektuellen, noch Wochen später. Ein hilfloser Dalai
Lama sieht sich einer Gruppe gegenüber, die seine Autorität nie offen kritisieren würde, sich aber zunehmend unverstanden fühlt.
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Verena Bünten
Indien
Die Allgegenwart „Seiner Heiligkeit“ - Kundun ist müde
Dalai Lama nennen ihn eigentlich nur die Westler, hat er doch so viele
andere Namen: Buddha des Mitgefühls, Gyalwa Rinpoche, Ozean der Weisheit, Kundun, Schutzherr über das Land des Schnees, Innehalter des weißen
Lotus. Die chinesische Führung hat die nicht enden wollende Liste an Titeln
um einen weiteren bereichert. Sie nennen ihn „Schlangenkopf“ als Ausdruck
höchster Verachtung. „Seine Heiligkeit“ ist allgegenwärtig in Dharamsala. Er
sieht lächelnd auf die Opfergaben auf dem Hausaltar, hängt im kleinsten
Café auf dem Ehrenplatz, steckt vor allem aber in den Herzen der Menschen. Kinder erzählen mit großen Augen und fester Überzeugung , er sei
ihnen wichtiger als ihre Eltern. Wenn er mit dem Wagen zum Flughafen
fährt, stehen seine Untertanen am Wegesrand mit gefalteten Händen in eigentümlich gesammelter Stille. Dann wird es seltsam ruhig in den Straßen Dharamsalas. Viel näher als noch im tibetischen Potala, dem dunklen 1000-Zimmer-Palast ist er den Menschen im Exil - doch soviel Verehrung macht
einsam.
Zu Besuch in der guten Stube des „Ozeans an Weisheit“: Der Dalai Lama,
klein von Gestalt und rot-eidottergelb gewandet, sitzt unter einem Portrait
Mahatma Gahndis wie ein stiller, in sich gekehrter Fels. Alle Sinne gesammelt, füllt der kleine gedrungene Mann den Raum aus mit seiner konzentrierten Ruhe. In einer Vitrine in der Ecke steht ein Kreuz einträchtig neben
dem jüdischen neunarmigen Leuchter und hinduistischem Götternippes religiöse Toleranz im Kleinen. An den Wänden hängen Thankas, Rollbilder
tibetischer Götter. Kundun wirkt müde. Wieso denn alle immer mit ihm sprechen wollen, anstatt die Tibeter zu fragen, will er wissen. Der Gott, der davon
träumt, ein einfacher Mönch sein zu dürfen, hält sich in vielen Dingen für entbehrlich. Dafür habe er doch die Demokratie eingeführt, damit die politischen
Geschäfte irgendwann auch ohne ihn funktionieren, meint er angestrengt.
Aber will sein Volk überhaupt Verantwortung übernehmen? „Keiner kann bessere Entscheidungen treffen als ‘Seine Heiligkeit’“, sagen tibetische CollegeStudenten in Delhi und misstrauen den demokratischen Institutionen. Es ist
so einfach, die Entscheidungen dem heiligen Übervater zu überlassen. Andererseits werden selbst die innovativsten Köpfe nicht gerade zum Mitbestimmen ermutigt. Solange die Politik von einem lebenden Gott gemacht wird,
können keine weiteren Führungspersönlichkeiten neben diesem wachsen.
Andere Köpfe und Führer würden als Bedrohung der Einheit im Exil gesehen
und vom Umfeld des Dalai Lamas unterdrückt, meint Professor Norbu, eine
der wenigen kritischen Stimmen unter den Tibetern. Kritik gilt allgemein als
Dolchstoß in den Rücken der Gemeinschaft, Kritik an „Seiner Heiligkeit“
sogar als Ketzerei. Solange die große gemeinsame Sache zu verfolgen ist,
heißt die Priorität Einheit, die durch interne Diskussionen nicht geschwächt
werden soll. Ob Einheit gleichbedeutend mit Stärke ist, darüber gehen die
Meinungen auseinander. „‘Seine Heiligkeit’ geniesst 100 Prozent Vertrauen
unter den Tibetern, wieso hat er Angst vor Leuten mit anderen Ideen?“, fragt
Norbu frustriert. So sehr sich der Dalai Lama Entlastung wünscht, er hält die
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Verena Bünten
Indien
Zügel fest in der Hand, damit keiner aus der einheitlichen Linie ausschert. Als
Konsequenz muss Kundun die Bürde ganz allein tragen.
Rückkehr nach Tibet – noch in diesem Leben?
Taga hat seine Beine gelassen, um nach Indien in die Freiheit zu kommen.
Auf Prothesen will er zurück über den Himalaya in ein lebenswertes Tibet –
irgendwann, möglichst bald. Doch seit Jahren liegt der Dialog zwischen chinesischer und tibetischer Seite auf Eis. Der Dalai Lama signalisiert seine Verhandlungsbereitschaft und wartet auf ein Zeichen. „Wir können über alles verhandeln, nur nicht über Unabhängigkeit“, sagte Deng Xiauping 1979. Schon
lange fordert der Dalai Lama keine Unabhängigkeit mehr. Er würde inzwischen in ein autonomes Tibet mit Selbstbestimmung in inneren Angelegenheiten zurückkehren, doch das Misstrauen sitzt tief. China argwöhnt, dass sich
die Tibeter langfristig vom sogenannten Mutterland absplitten wollen. Als Vorbild für die anderen 56 anerkannten Minderheiten in der Volksrepublik wäre
dies ein Alptraum für die chinesische Regierung.
Die für Hongkong geltende Formel „Ein Land – zwei Systeme“ stellt sich
die tibetische Exilregierung für ein autonomes Tibet vor. Damit würde Tibet
chinesischer Souveränität unterstehen, aber eine eigene Verfassung, kapitalistische Demokratie und das Recht zum Abschluss nichtmilitärischer Verträge besitzen. Die chinesische Seite hat dagegen eine andere Auffassung von
Autonomie: Nicht politische, sondern lediglich kulturelle Autonomie könne
der Dalai Lama sich erhoffen, um sich schleunigst in die glückliche Familie
des vereinigten chinesischen Mutterlandes einzureihen.
Zwei Konfliktpunkte erschweren die Wiederaufnahme des chinesisch tibetischen Dialogs:
Der Dalai Lama ist zu dem Zugeständnis bereit, Tibet inzwischen als Teil
Chinas anzusehen. Damit kapituliert er davor, dass die internationale Gemeinschaft Tibet schon seit 1959 als chinesisches Territorium betrachtet, wie in den
Atlanten dieser Welt abzulesen. Das geht der chinesischen Seite nicht weit
genug. Sie fordern vom tibetischen Oberhaupt, die Geschichte umzuschreiben. Er soll bekennen, Tibet sei von jeher Teil Chinas gewesen und so die faktische Unabhängigkeit des Landes vor 1950 leugnen. Damit sollen nachgeschobene Ansprüche auf ein unabhängiges Tibet für alle Zeiten ausgeschlossen
werden.
Die andere Frage, in der kein Kompromiss in Sicht ist, dreht sich um das
Gebiet des autonomen Tibets. Die chinesischen Besatzer teilten Tibet in
sechs Provinzen und rechnen nur noch Zentraltibet, d.h. die Hälfte des
ursprünglichen Terrains den Tibetern zu. Die übrigen fünf Provinzen wurden
den nachbarlichen chinesischen Gebieten zugeschlagen und erscheinen heute
gar nicht mehr als tibetisches Gebiet auf den Karten. Die chinesische Seite
will Autonomie nur für Zentraltibet, das sogenannte politische Tibet, zugestehen. Der Dalai Lama verlangt dagegen, das Amdo und Kham, die tibetisch
bevölkerten Gebiete im Osten oder das sognannte ethnische Tibet, miteinbe126
Verena Bünten
Indien
zogen werden. Mehr als die Hälfte der tibetischen Bevölkerung lebt in den
umstrittenen Ostregionen. Kham ist die Heimat von Taga und Chimi, Amdo
das „Grasland“ von Rinbow, „da, wo Tibet am schönsten ist“. Wenn er seine
Exilgemeinschaft zusammenhalten will, kann der Dalai Lama keine Zugeständnisse in diesem Punkt machen und einen Großteil seines Volkes aufgeben. China dagegen wird diese Regionen keinem anderen Einfluss unterstellen, da dort 59 Prozent des chinesischen Nuklearwaffenpotentials stationiert
sind.
Das diplomatische Tauziehen um Tibet entwickelt sich zunehmend zu
einem Kampf auf Zeit. Mit jedem Monat, in dem nicht verhandelt wird, strömen chinesische Siedler weiter nach Tibet, wo mehr und mehr Flüchtlinge
weichen. Während die einzigartige tibetische Kultur täglich ein bisschen
mehr stirbt, ist ein Ende der aggressiven Siedlungspolitik nicht in Sicht.
China braucht Platz für die 1,2 Milliarden Menschen, die im 21. Jahrhundert
das „Mutterland“ bevölkern sollen. Die „Gehirne“ verlassen Tibet. Zurück
bleibt ein führerloses Volk, das nicht den Mut hat, bei ethnischer Benachteiligung mit den Chinesen zu konkurrieren. Dabei wären gerade jetzt moderne
Tibeter dringend nötig, die im aufstrebenden Tourismus der wirtschaftlichen
Dominanz der Chinesen etwas entgegensetzen würden. Jungen Tibetern wie
Rinbow, die nach einigen Jahren im Exil frustriert ihrer Heimat entgegenfiebern, fehlt nur die Ermutigung und Perspektive zur Rückkehr. Ein Schulungsprogramm, das Heimkehrer fitmacht für den Wettbewerb, erscheint als
Lücke für pragmatische Hilfe, die noch keine unterstützende Organisation
angeboten hat.
Die Uhr tickt für das Ueberleben der tibetischen Rasse und versetzt den Dalai
Lama in die untergeordnete Verhandlungsposition eines Bittstellers. Sein
verzweifelter Kompromisswille wird als Zeichen der Schwäche ausgelegt,
doch darüberhinaus gibt es keinen Spielraum mehr: Weitere Zugeständnisse
wären der Ausverkauf Tibets und würden den Frieden in der Exilgemeinde
gefährden. So üben sich beide Seiten im Warten. Der Dalai Lama wartet, wenn
nicht auf die Geschichte, dann doch auf einen historischen Moment. Er setzt
auf den innerchinesischen Wandel und sieht Hoffnungszeichen: Mehr und
mehr Chinesen würden ihre Kritik gegenüber der Regierung ausdrücken und
zum Dialog mit dem tibetischen Oberhaupt auffordern. „Die heutige Situation
ist viel besser als in den 60er, 70er Jahren, da war unsere einzige Grundlage,
an die Wahrheit zu glauben“, meint der Dalai Lama. In diesem Punkt stimmt
Professor Norbu ihm zu: “China hat mit den Wirtschaftsreformen einen Stein
ins Rollen gebracht, der der politischen Basis der kommunistischen Herrscher
den Boden entzieht. Sie betrügen sich selbst, wenn sie meinen, die sozialen
und politischen Konsequenzen ihrer kapitalistischen Wirtschaftsreformen
kontrollieren zu können.“ Sollte die Öffnung zur Marktwirtschaft zwangsläufig liberale Demokratie in China mit sich bringen, braucht das Zeit. Doch
die Zeit drängt für die Tibeter …
Die chinesische Führung dagegen wartet darauf, dass auch ein lebender
Gott einmal stirbt. Sie verzögern die Verhandlungen, da sie in 15 bis 20 Jahren mit dem Ableben des 63jährigen Exilführers rechnen. Solchen Rech127
Verena Bünten
Indien
nungen zum Trotz gab der Dalai Lama schon die Durchhalteparole aus, er
beabsichtige, diesmal 130 Jahre alt zu werden. Seine kindliche Wiedergeburt
werde anschließend außerhalb Tibets auf sicherem Terrain zu finden sein,
damit sie nicht in chinesische Hände falle. Damit soll sichergestellt werden,
dass sich das Schicksal des Panchen Lamas nicht wiederholt. Die Wiedergeburt des zweithöchsten tibetischen Geistlichen in Person eines sechsjährigen
Jungens ist seit 1995 spurlos verschwunden und durch einen chinesischen
Kandidaten ersetzt worden. “Seine Heiligkeit“ selbst hat keine Zweifel, dass
er der beste Verhandlungspartner ist, den die Chinesen haben: „Solange ich
lebe, stehe ich für Autonomie und ich bin die Person, die die Tibeter überzeugen kann, das zu akzeptieren. In 10, 20 Jahren wird der Dalai Lama sterben und wer kann dann diese Radikalen überzeugen? Wenn der Dalai Lama
nicht da ist, kann die Tibetfrage vollkommen außer Kontrolle geraten.“
Nicht umsonst rufen die Tibeter „Lang lebe der Dalai Lama“ und beten täglich für seine Gesundheit. Im 61. Lebensjahr des Dalai Lama, das in der tibetischen Medizin als besonders kritisch eingestuft wird, beschworen die Namgyal-Mönche sogar täglich in einer speziellen Zeremonie die Langlebigkeit
ihres Führers. Soll die tibetische Sache einen glücklichen Ausklang finden, so
muss der Dalai Lama noch zu Lebzeiten in den Potala zurückkehren. Nur er
hat die einigende Macht, die konfusen Kräfte im tibetischen Volk beieinanderzuhalten. Zu den traditionell bestehenden Auseinandersetzungen zwischen den verschiedenen Regionen und Religionsgruppen im Buddhismus
kommt das Konfliktpotential durch die Entfremdung von Tibetern und Exilanten hinzu.
Kommt es zu einer Rückkehr, so werden sich zwei Volksgruppen mit 40
Jahren unterschiedlicher Entwicklung gegenüberstehen, die sich erstmal wieder aneinander gewöhnen müssen. All das ist nur durch die emotionale Bindung und höchste Autorität eines regierungsfähigen Dalai Lamas zu meistern.
Sollte „Seine Heiligkeit“ im Exil sterben, kann wohl kaum jemand für die Verzweiflungstaten der Tibeter garantieren. Ob Chimi Tashi in diesem Leben nach
Kham zurückkehren kann, das liegt in den Händen der Geschichte - wenn sie
sich beeilt.
128
Stephan Fessen
Vergangenheitsbewältigung auf
Südafrikanisch
- Die Wahrheits- und Versöhnungskommission auf dem Prüfstand
Südafrika vom 09.08. - 20.09.1998,
betreut von Thomas Wilfberger
129
Inhalt
0
Eine afrikanische Geschichte
132
Vorwort
132
1
Daten zur Erläuterung
133
2
Entstehungsgeschichte der
Wahrheits- und Versöhnungskommission (TRC)
133
3
Aufgaben und Arbeitsweise
134
4
Zwei Jahre TRC - die Eigenbilanz
142
5
Versöhnung - die nationale Aufgabe
144
6
Fazit
156
131
Stephan Fessen
Südafrika
Stephan Fessen, geboren am 2. Juni 1964 in
Eutin. Studium der Politologie und Publizistik
in Freiburg und an der Freien Universität Berlin.
Nach dem Diplom (Juli 1990) Besuch der Journalisten-Schule IFM in Bruchsal/Baden-Württemberg. Praktika bei Radio Victoria (BadenBaden), Fünfkirchener Rundfunk (Pecs,
Ungarn). November 1992 bis April 1995 Redakteur bei RadioRopa Info (Daun/Eifel). Mai
bis September 1995 Freie Mitarbeit beim
Deutschlandfunk (Köln). Juni bis September
1995 Nachrichten-Redakteur beim WDR
(Köln). Seit Oktober 1995 Nachrichten-Redakteur beim Deutschlandfunk.
0. Eine afrikanische Geschichte
Eine afrikanische Geschichte: Sechs lernbegierige Blinde berühren einen
Elefanten. Der erste untersucht die massive Seite des Tiers und kommt zu dem
Schluss: Ein Elefant ist eine Wand. Der zweite berührt die großen Stoßzähne
und glaubt: Ein Elefant ist ein Speer. Der dritte fasst an den Rüssel und ist
überzeugt, dass ein Elefant einer Schlange ähnlich ist. Der vierte berührt eines
der Beine und meint, ein Elefant fühlt sich an wie ein Baumstamm. Der fünfte,
der am Ohr des Elefanten steht, gelangt zu der Ansicht, ein Elefant sieht so aus
wie ein Fächer. Der letzte schließlich berührt den Schwanz und zieht daraus
den Schluss, dass ein Elefant Ähnlichkeit mit einem Seil hat. In der darauffolgenden Diskussion können sich die sechs Blinden nicht einigen, weil
jeder die anderen von der Richtigkeit seiner Erfahrung überzeugen will. Sie
hatten alle recht und doch lagen sie alle auch falsch!
Vorwort
Eine der Haupttätigkeiten der „Wahrheits- und Versöhnungskommission“
(TRC), nämlich die Sitzungen des Menschenrechtskomitees, wird in dieser
Arbeit nur kurz erwähnt. Das Komitee hatte seine Tätigkeit zum Berichtszeitpunkt bereits abgeschlossen. Was die TRC betrifft, so liegt der Schwerpunkt auf dem Amnestiekomitee, das ausführlicher dargestellt wird. Auch die
Betrachtung über den Abschlussbericht der TRC wird nur kurz ausfallen, da
sich die Veröffentlichung des mehrere tausend Seiten starken Werks um drei
Monate verzögerte und nicht mehr in die Zeit des Aufenthalts fiel. Die daraus resultierenden Umstände und eine Neubewertung der Situation während
des Aufenthalts führten dazu, dass der Blick über die TRC hinaus gerichtet
wurde. Wenngleich die TRC in der Nach-Apartheid-Ära Südafrikas von der
Öffentlichkeitswirkung her sicherlich als gewichtig einzustufen ist, gibt es
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Stephan Fessen
Südafrika
eine Vielzahl von Organisationen, die ebenfalls in puncto Versöhnung wertvolle Arbeit leisten und deswegen in diesem Bericht Eingang finden sollen.
1. Daten zur Erläuterung
Um die Einordnung der Wahrheits- und Versöhnungskommission in die
südafrikanische Gesellschaft zu erleichtern, zunächst einige Fakten: Im Sommer 1998 wurden die Daten der jüngsten umfassenden Volkszählung in Südafrika publiziert. Umfassend deshalb, weil erstmals alle Einwohner ungeachtet
ihrer Hautfarbe erfasst wurden. Die Zahlen beziehen sich auf eine Umfrage
des Statistischen Zentralamtes von 1996. Ergebnis: Südafrika ist noch immer
tief gespalten und stark vom Erbe der Apartheid geprägt. Registriert wurden
40,58 Millionen Menschen. 76,6% von ihnen sind Schwarze, 10,6% Weiße.
8,9% Mischlinge und 2,6% Inder. Jeder zweite Schwarze ist arbeitslos, in den
Townships sind es 80% und mehr. Bei den Weißen liegt die Arbeitslosenrate
bei 4,6%. Die weiße Bevölkerung hat noch immer bessere Chancen auf dem
Arbeitsmarkt und vor allem bei den qualifizierten Stellen. 32% der Weißen
ohne Abitur haben solche Posten, aber nur 8% der Schwarzen. Am höchsten
ist die Arbeitslosigkeit bei Jugendlichen zwischen 15 und 24 Jahren in ländlichen Gebieten. Ein Drittel aller weißen Frauen und zwei Drittel aller weißen
Männer verdienen etwa 3.500 Rand (etwa 1.200 DM, Stand August 1998) im
Monat, bei den Schwarzen erzielt nur jeder 20-ste ein Einkommen in dieser
Höhe. Nur 3% aller Schwarzen durchlaufen eine höhere Schulbildung, bei den
Weißen sind es 24%. Fast ein Fünftel aller Südafrikaner besuchte nie eine
Schule. 17% der Bevölkerung leben in primitiven Hütten, nur knapp 45% verfügen über einen Wasseranschluss am Haus beziehungsweise an der Hütte.
Anhand dieser Zahlen wird deutlich, dass die Arbeit der TRC in einem
schwierigen Umfeld stattfand.
2. Entstehungsgeschichte der Wahrheits- und Versöhnungskommission
(TRC)
Südafrika hat einen bemerkenswerten Weg hinter sich. Geprägt von jahrhundertelang andauernder Unterdrückung der schwarzen Bevölkerung hat es
weitgehend erfolgreich versucht, den Übergang vom rassistischen ApartheidStaat in ein demokratisches System zu vollziehen. Dass dies möglich war, ist
insbesondere den politisch Verantwortlichen, Nelson Mandela und Frederik
Willem de Klerk, zu verdanken. Beide suchten nach einem Weg, den Übergang friedlich zu gestalten bei gleichzeitiger Einbeziehung der früheren
Machthaber sowie deren Gefolgsleute. Dabei standen sowohl de Klerk als
auch Mandela unter dem Druck ihrer jeweiligen Anhängerschaft. De Klerks
Ziel musste es sein, eine General-Amnestie für alle zu erreichen, die möglicherweise aufgrund ihrer Vergangenheit unter der schwarzen Regierung mit
einem Gerichtsprozess rechnen mussten. Mandela wollte und durfte das
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Stephan Fessen
Südafrika
geschehene Unrecht nicht ungestraft lassen. Die beiden Ziele endeten in
einem Kompromiss mit hohem Anspruch: Sie vereinbarten, die ApartheidVergangenheit zu untersuchen und öffentlich zu machen. Desweiteren wurde
angestrebt, beide Lager dazu zu bringen, sich anzunähern und miteinander zu
sprechen. Dies alles sollte in einen Versöhnungsprozess münden. Die Vorstellungen wurden in der Wahrheits- und Versöhnungskommission zum Ausdruck gebracht (TRC). Im Juli 1995 verabschiedete das südafrikanische Parlament das „Gesetz zur Förderung der Nationalen Einheit und Versöhnung“,
dem die Gründung der TRC folgte. Schwerpunkt, so der Vorsitzende der
Kommission, Friedensnobelpreisträger Desmond Tutu, sei es, die Würde der
Opfer wiederherzustellen, Wiedergutmachung für sie zu erreichen und nicht
auf Vergeltung zu pochen.
3. Zusammensetzung, Aufgaben und Arbeitsweise
Die TRC wurde aus 17 Mitgliedern gebildet, die von Präsident Mandela
ernannt wurden. Unter dem Vorsitz von Desmond Tutu und dessen Stellvertreter Dr. Alex Boraine konnte die Arbeit beginnen. Damit sie ihre Aufgabe
wahrnehmen konnte, wurden der TRC drei Gremien zur Seite gestellt. Erstens:
Das Komitee zur Untersuchung von Menschenrechtsverletzungen: Menschen, die besonders unter dem Apartheid-Regime gelitten hatten, deren
Angehörige gefoltert, verschleppt oder ermordet wurden, sollten die Möglichkeit bekommen, ihre Geschichte, ihre Wahrheit, in der Öffentlichkeit zu
erzählen. Voraussetzung dafür war, dass die Gewalttaten in einem politischen Zusammenhang begangen worden waren. Das Menschenrechtskomitee
kann die Untersuchung eines Falls veranlassen, um den Tathergang zu prüfen
und die Verantwortlichen ausfindig zu machen (dafür stand eine ‘Investigative Unit’ zur Verfügung). Zweitens wurde das Amnestie-Komitee eingerichtet. Es gibt den Tätern die Möglichkeit, unter bestimmten Bedingungen Straffreiheit zu erlangen. Voraussetzungen sind ein volles Geständnis und der
Nachweis eines politischen Motivs für die Tat. Die Betroffenen hatten bis Mai
1997 Gelegenheit, einen Amnestieantrag zu stellen. In begründeten Fällen
sollten sie die Chance erhalten, sich vor dem Komitee zu ihrer Tat zu äußern.
Dem Komitee obliegt auch die Entscheidung darüber, ob Amnestie gewährt
wird oder nicht. Wird sie erteilt, ist der Spruch endgültig und überstimmt auch
ein bereits rechtskräftiges Gerichtsurteil. Drittens wurde ein Komitee für
Reparation und Rehabilitation ins Leben gerufen. Es erhält Informationen
über die Opfer von den beiden anderen Komitees und spricht Empfehlungen
aus, wie und in welcher Weise den Opfern geholfen werden sollte. Übergeordnetes Ziel der TRC ist es, den Prozess zum Aufbau einer Demokratie zu
unterstützen. Innerhalb von zwei Jahren - so die ursprüngliche Planung wollte das Gremium die Menschenrechtsverletzungen zwischen dem März
1960 und Mai 1994 aufarbeiten. Die TRC sollte dazu beitragen, eine Menschenrechtskultur zu entwickeln und ein lückenloses Bild über die jüngste Vergangenheit erstellen helfen.
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Stephan Fessen
Südafrika
3.1. Das Menschenrechtskomitee:
Da dieses Komitee seine Tätigkeit bereits vor meiner Einreise abgeschlossen hatte, soll es nur in groben Zügen dargestellt werden, ohne sein Gewicht
und seine Verdienste damit zu schmälern. Die Aufgabe des Menschenrechtskomitees war alles andere als leicht. Grausame Geschichten über Verbrechen,
die während der Apartheidzeit vor allem von Sicherheitskräften begangen
wurden, kamen ans Tageslicht. Psychologen hatten oftmals damit zu tun, vollkommen traumatisierten Menschen zu helfen. Die Anhörungen wurden im
Fernsehen und im Hörfunk übertragen oder in Zusammenfassungen ausgestrahlt. Von Anfang an aber hatte das Komitee mit einer Schieflage zu kämpfen: Der Gedanke war, Täter- wie Opferseite die Möglichkeit zu geben, ihre
Sicht der Dinge darzustellen. Wahrgenommen wurden die Anhörungen dieses Komitees aber fast nur von der schwarzen Bevölkerung, von Opfern, die
sich Aufschluss über die ungeklärten Vorfälle der Vergangenheit erhofften.
Von der Täterseite her gab es nur wenige, die bereit waren, Unrecht zuzugeben. Beispiele hierfür sind Dirk Coetzee, der der berüchtigten Vlak-Plaas-Einheit angehörte, die durch ihre Brutalität traurige Berühmtheit erlangte und der
ehemalige Polizeigeneral Nic van Rendsburg. Coetzee wurde für seine Offenheit amnestiert (immerhin kam die ganze Wahrheit über den Fall Steve Biko
zutage, der die „Black Consciousness-Bewegung anführte und 1979 unter
ungeklärten Umständen im Gefängnis ums Leben kam). Die meisten hohen
Funktionsträger des Apartheid-Regimes aber schwiegen oder verweigerten die
Ausaage, weil sie sich im Recht sahen (sie verschanzten sich meist hinter Aussagen wie „im Interesse Südafrikas“ oder „im Kampf gegen den Kommunismus“ gehandelt zu haben). Die Gefahr, dass Greueltaten, an denen sie
direkt oder indirekt beteiligt waren, ans Tageslicht kommen würden, war
gering. Nur wenige hatten Kenntnisse über den früheren Sicherheitsapparat
und Anfang der 90-er Jahre soll auf dem Hof der Geheimpolizei in Pretoria
ein Feuer gebrannt haben, in dem vermutlich die meisten belastenden Akten
vernichtet wurden. Aber auch der ANC - immerhin Regierungspartei - sah
keine Veranlassung, mit der TRC zusammenzuarbeiten. Bis heute gibt es in
der Organisation nur wenige, die zugeben, dass in ihren Gefangenen-Lagern
in Angola und Sambia gefoltert wurde.
Wie schwer Vergangenheitsbewältigung ist, zeigt auch die Tatsache, dass die
erste Anhörung vor dem Menschenrechtsausschuss in East London im April
1996 wegen einer Bombendrohung mit Verzögerung begann. Wichtig für
die Opfer war stets, den Teil der Geschichte kennenzulernen, den sie sich bisher nur zusammenreimen konnten. Allerdings wurden sie in diesem Punkt
häufig nicht zufriedengestellt. Am ersten Tag wurde eine Zeugin gehört, der
in den 80-er Jahren mitgeteilt worden war, dass ihr Mann - ein Anti-ApartheidAktivist - im Gefängnis Selbstmord begangen habe. Die Frau schenkte der
Behauptung der Polizei keine Beachtung und strengte einen Prozess an. Ein
Gericht befand schließlich, dass niemand für den Tod ihres Mannes verantwortlich zu machen sei. Die Frau erhielt eine Rechnung über die Gerichtskosten, wurde ein halbes Jahr eingesperrt und verlor ihre Anstellung als Leh135
Stephan Fessen
Südafrika
rerin. Die Polizei habe sie während ihrer Haftzeit zu einer Falschaussage zwingen wollen, erzählt sie weiter. Sie kann sich noch an einen Namen erinnern,
den sie auch nennt. Ihren Peiniger wird sie aber nie zu Gesicht bekommen.
Eine Entschuldigung steht bis heute aus. Obwohl mutmaßliche Täter vor der
Verhandlung informiert werden, erschien der Polizist nicht, nahm die Chance
nicht wahr, seine Wahrheit darzustellen. Nach wie vor weiß die Frau nicht
wirklich, was sich tatsächlich hinter den Gefängnismauern ereignet hat. Klar
ist aber, dass sich ihr Mann nicht selbst umgebracht hat. Immer wieder
äußern Opfer, sie würden gerne verzeihen, wenn sie nur wüssten wem.
3.2. Reparation und Rehabilitation:
Im April 1998 billigte die Regierung Richtlinien zur finanziellen Unterstützung von Opfern. Menschen, die von der TRC als Opfer anerkannt wurden, konnten sich Hoffnungen auf etwa 2.000 Rand machen (umgerechnet
etwa 700 DM) bei außergewöhnlichen Umständen auch mehr. Bis August
1998 war in dieser Hinsicht aber noch keine Entscheidung gefällt worden, was
Kritik seitens der TRC hervorrief. Die Vorschläge lagen nach Angaben von Dr.
Wendy Orr vom „Reparation and Rehabilitation Committee“ mehrere Monate
beim Justizminister, ohne dass ein Gesetz ins Parlament eingebracht wurde.
Vorgesehen ist, den Opfern über einen Zeitraum von sechs Jahren Reparationen zukommen zu lassen. Außerdem befürwortet das Komitee symbolische
Reparationen, zum Beispiel in Form von Gedenktagen oder Monumenten oder
in Form von Umbenennungen von Straßen, Gebäuden oder Plätzen. Desweiteren sollen die Opfer auf Hilfsangebote hingewiesen werden (Gesundheitsvorsorge, Sozialdienste). Das Komitee beziffert die dafür erforderliche
Summe auf drei Milliarden Rand in den kommenden sechs Jahren (umgerechnet circa eine Milliarde Mark) Im Oktober 1998 wurden überraschend
die ersten Reparationszahlungen geleistet. Etwa 800 Opfer erhielten zwischen
2.000 und 6.000 Rand (ca. 650 bis 2.000 DM) Etwa 13.000 Menschen haben
einen Antrag gestellt.
3.3. Das Amnestie-Komitee
3.3.1. Zum Procedere:
Ist ein Amnestie-Antrag gestellt, werden die vom Täter gemachten Angaben daraufhin geprüft, ob es sich um schwere Menschenrechtsverletzungen
handelt oder nicht. Werden noch weitere Informationen benötigt, kommen
Spezialisten zum Einsatz, die Klarheit über den Sachverhalt schaffen sollen.
Danach werden die Antragsteller darüber informiert, ob ihr Fall vor der Kommission abgehandelt wird oder vor Gericht kommt.
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Stephan Fessen
Südafrika
3.3.2. Anhörungen (Bloemfontein im August 1998):
3.3.2.1. Vorwort:
Es ist klar, dass die unten erwähnten Fälle nur einen Ausschnitt eines
Pakets darstellen, das insgesamt mehr als 7.000 Anträge umfasst. Eine Verallgemeinerung kann daraus nicht abgeleitet werden. Ebenso wird nicht der
Anspruch erhoben, den Amnestie-Prozess anhand der Fälle umfassend bewerten zu können.
3.3.2.2. Die Anhörung am 21. August 1998:
Das Gebäude in Bloemfontein - übrigens eine Hochburg des Burentums , in dem über den Amnestie-Antrag entschieden werden soll, ist eine Schule.
Stacheldraht zeigt an, in welchen Räumen die Anhörung stattfindet. Bewaffnete Polizisten sichern das Gelände. Das südafrikanische Fernsehen ist anwesend, außerdem ein paar Journalisten. Die Öffentlichkeit von Bloemfontein
nimmt kaum Notiz von der TRC. Am Eingang des Anhörungs-Saals wird ein
Security-Check vorgenommen. Die Sicherheitsvorkehrungen werden lax
gehandhabt. Wer wollte, könnte ungehindert eindringen. In der Schulaula, die
mehreren hundert Menschen Platz bietet, verlieren sich vielleicht 20 Besucher,
vorwiegend Opfer oder Angehörige von Opfern und Tätern sowie die Täter
selbst. Auf dem Podium nehmen der Vorsitzende Richter, zwei Beisitzer, der
Antragsteller und die Anwälte von Opfer- und Täter-Seite Platz. Der Prozessbeginn verschiebt sich um mehr als eine Stunde, weil nicht alle Opfer rechtzeitig mitbekommen haben, dass an diesem Tag ihr Fall abgehandelt werden
soll. Aufgeregtes Telefonieren des Vorsitzenden Richters bringt keine Klarheit.
Schließlich eröffnet er sichtlich genervt die Verhandlung und stellt den Sachverhalt kurz vor: In der Zeit von Juli bis Oktober 1993 haben sich die Antragsteller - darunter George Thabang Mazete -, die dem bewaffneten Arm des
„Pan African Congress“, der APLA (Azanian Peoples Liberation Army),
angehören, in der Ortschaft Wesselsbron aufgehalten, um sich Waffen zu
beschaffen. Nachdem dies geschehen war, wurden sie von einer Polizeistreife gestoppt. Es gab eine Schießerei, in deren Verlauf der Fahrer des Polizeiwagens verletzt wurde. Mit Hilfe von Verstärkung konnten die Täter
schließlich dingfest gemacht werden. Dieses Ereignis ist in personeller Hinsicht eng mit einem Überfall auf einen Supermarkt von Wesselsbron verknüpft, bei dem nicht nur Geld geraubt, sondern auch fünf Menschen (Weiße)
erschossen wurden. Dafür hat Mazete keine Amnestie beantragt. Er will
nicht dabei gewesen sein. Das schafft Verwirrung. Dem Ausschuss fehlen
Unterlagen, unter anderem das Geständnis, das Mazete vor Gericht abgelegt
hat. Andere Schriftstücke sind nicht kopiert worden, liegen niemandem vor,
so dass es kompliziert wird den Einzelheiten zu folgen. Der Vorsitzende
Richter bemüht sich, bohrt nach. Wann was gewesen sei und mit wem. Mazete
sitzt unbewegt da, wirkt so, als ob er jedes Wort zuviel vermeiden will, um keinen Fehler zu begehen. Er erweckt nicht den Eindruck, ein volles Geständnis
ablegen zu wollen. In einer Verhandlungspause sondert er sich mit einigen
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Stephan Fessen
Südafrika
Bekannten ab. Schließlich stellt sich heraus: Mazete war offenbar doch an dem
Überfall auf den Supermarkt beteiligt, will aber nicht geschossen haben.
Wiederum gibt es Verwirrung. Die Zahl seiner Komplizen ist unklar. Durch
intensives Nachfragen kommt heraus, dass einer der Täter sowohl mit seinem
richtigen als auch mit seinem Spitznamen vermerkt wurde. Mazete antwortet meist nur mit Ja oder Nein, fügt manchmal einen, in seltenen Fällen zwei
Sätze hinzu. Manchmal widerspricht er sich. Der Richter lässt nicht locker. Er
sieht hinter dem Überfall auf den Supermarkt ein politisches Motiv. Niemand
habe sich bereichert. Außerdem ist offensichtlich nachvollziebar, dass die
APLA zumindest einen Teil des geraubten Geldes erhalten hat. Der Besitzer,
so erzählt Mazete, sei der lokale Vorsitzende der (rechtsradikalen) AWB
(Afrikaaner Weerstandsbeweging) gewesen. Sein Geschäft wurde vor allem
von AWB-Leuten besucht. Die APLA brauchte Geld für ihren Kampf gegen
das verhasste Apartheid-System. Warum aber tötet man dann wehrlose, am
Boden liegende Menschen? Mazete beharrt darauf, niemanden erschossen zu
haben. Zudem bleiben die Namen seiner Mittäter weiter unklar. Für eines der
Opfer, den Besitzer des Supermarktes (er überlebte den Überfall verletzt), sind
die APLA-Mitglieder ganz normale Kriminelle. Auch er kann bei einer Befragung nicht zur Klärung beitragen, erzählt immer wieder mit gebrochener
Stimme, wie sich der Überfall aus seiner Sicht abgespielt hat, wie seine Frau
erschossen wurde. Identifizieren kann er die Täter nicht. Weil vieles nicht
mehr nachvollziehbar ist und mehrere Personen fehlen, die eventuell zur
Klärung beitragen könnten, bricht der Richter die Verhandlung ab. Sie wird
erst nach meinem Aufenthalt fortgesetzt. An diesem Tag wurde sechs Stunden
lang über den Fall gesprochen, ohne zu klaren Ergebnissen zu kommen. Ich
frage mich, soll man, kann man hier Amnestie gewähren? Sind die vielen
Unklarheiten mit eventuellen Übersetzungsfehlern zu erklären? Die ganze
Zeit wird simultan gedolmetscht. Die Schwarzen sprechen Sotho, die weißen
Englisch oder Afrikaans. Immer wieder stellen sich die gleichen Fragen:
War die Wahrheit offengelegt worden? Wollte der Täter wirklich alles erzählen? Lag dem Ganzen ein politisches Motiv zugrunde? Warum zeigte Mazete
so wenig Neigung, seine politischen Ziele glaubhaft zu machen? Schließlich
will er doch aus dem Gefängnis kommen. Zeigt sich hier das alte Misstrauen
gegenüber staatlicher Obrigkeit, obwohl in dem Gremium auch Schwarze sitzen? Selbst wenn, warum nimmt er seine Chance nicht wahr? Gab es irgendwelche Anzeichen für Versöhnung, Ansätze für eine Annäherung zwischen
Schwarz und Weiß? Man kann keine dieser Fragen mit Ja beantworten. Die
Kritik der Gegner der TRC (dazu kann man fast alle Parteien rechnen, außer
Teilen des ANC und der DP), die ihr Zeit- und vor allem Geldverschwendung
vorwerfen, erscheint nach diesem Tag nachvollziehbar.
3.3.2.3. Anhörung am 22.August 1998:
Diesmal ist der Fall klar: Zwar liegen auch diesmal keine Unterlagen vor,
aber es gibt keine Komplikationen. Der Antragsteller hat ein volles Geständnis abgelegt. Zusammen mit zwei anderen hat er ein Geschäft überfallen und
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Stephan Fessen
Südafrika
Geld geraubt. Es gab weder Tote noch Verletzte. Erwiesen ist auch, dass das
Geld der APLA zugeleitet wurde. Die Tat war politisch motiviert (APLA
braucht Geld für Waffenkäufe), eine persönliche Bereicherung fand nicht statt.
Ergebnis: Es wurde Amnestie gewährt. Dieser Fall erinnert an ein Schnellverfahren. Aber was hat das alles mit Versöhnung zu tun?
3.3.2.4. Anhörung in Pretoria im September 1998:
Die Anhörung in Pretoria birgt mehr Brisanz in sich. Es geht um die
Ermordung von Ruth First, einer der bekanntesten Menschenrechts-Aktivisten
und Frau des früheren Chefs der Kommunistischen Partei Südafrikas, Joe
Slovo. First wurde 1982 in Mozambique durch eine Briefbombe getötet.
Aufgekärt werden soll auch die Ermordung von Frau und Kind des ANC-Mitglieds Marius Schoon 1984 in Angola. Dafür haben der frühere General
Johan Coetzee und der Polizist Craig Williamson (in der Presse auch als
‘Super-Spion’ bekannt) Amnestie beantragt. Auch für andere Taten, die beim
selben Hearing zur Sprache kommen, wollen sie Straffreiheit erlangen. Hierin sind neben den beiden Genannten weitere zum Teil hochrangige Polizisten
verwickelt. Konkret geht es um einen Bombenanschlag auf das Londoner
ANC-Büro 1982 (dabei entstand großer Sachschaden, Tote oder Verletzte gab
es nicht). Dieses Thema nimmt zu Beginn der Anhörung, die ganz anders als
in Bloemfontein große Aufmerksamkeit genießt, breiten Raum ein. Damit
habe man nur zeigen wollen, dass Großbritannien ein Risiko eingehe, wenn
es Kommunisten Unterschlupf gewähre, führt Coetzee zur Begründung an.
Dieser müsste als einer, der an der Spitze des Sicherheitsapparates agierte, von
diesem und ähnlichen Fällen alles wissen; jedenfalls mehr, als er vorgibt zu
wissen. Der Rechtsanwalt der Opfer versucht mehr über den „State Security
Council“ herauszubekommen. Dabei handelt es sich um einen (Geheim-)Zirkel der Apartheid-Staatsspitze, in dem in unregelmäßigen Abständen das
weitere Vorgehen gegen die Widerstandsbewegungen - eben auch über
Anschläge - entschieden wurde. Vermutlich hat Johan Coetzee des öfteren an
SSC-Sitzungen teilgenommen. Ganz klar wird das jedoch nie. Als ständiges
Mitglied will er sich jedenfalls nicht verstanden wissen. Das Schweigen
Coetzees, der sich nicht mehr daran erinnern kann oder will, wer an den Treffen teilgenommen hat, verärgert den Rechtsanwalt. Er spricht von selbst-induzierter Amnesie. Grundsätzlich, so gibt Coetzee schließlich zu, hätten in den
80er Jahren Präsident Botha sowie die Minister für Verteidigung, für Recht
und Ordnung, für Justiz, für Arbeit und für Transport, Malan, Le Grange,
Kobie Coetzee, Fanie Botha und Schoeman an den „SSC“-Sitzungen teilgenommen. Andere Minister wurden gelegentlich hinzugezogen. Die Anhörung
wird immer umfangreicher, weil Coetzee bestätigt, bei anderen Militärschlägen auf Lesotho, Botswana und Mozambique seine Hand im Spiel
gehabt zu haben. Allerdings hat er dafür keine Amnestie beantragt. Er argumentiert, in diesen Fällen auf Befehle und somit legal gehandelt zu haben.
Dass dabei auch Menschen zu Schaden kamen (68 Menschen wurden bei den
drei genannten Angriffen getötet), sei in einem Krieg leider nicht zu vermei139
Stephan Fessen
Südafrika
den. Er fühle dafür keine persönliche Schuld, meint Coetzee, - ebensowenig
Schuld - so fügt er hinzu - wie auch US-Präsident Clinton fühle, der mutmaßliche terroristische Basen in Afghanistan und im Sudan habe bombardieren lassen (im Sommer 1998 nach den Anschlägen auf die US-Botschaften in Kenia und Tansania) und dabei Opfer in Kauf nahm. Im Falle der
Londoner Bombe allerdings führte er einen direkten Befehl des früheren
Polizeiministers Louis Le Grange aus und war sich dessen bewusst, dass er
illegal handelte. Coetzee macht einen abgeklärten Eindruck, bedauert den Tod
von Ruth First, sagt, dass er in die Angelegenheit nicht involviert war, dem
Anschlag nie zugestimmt hätte, weil er sie gekannt und trotz ihrer Ansichten
geschätzt habe. Er wirkt glaubhaft, bringt diesen Eindruck aber immer wieder ins Wanken, weil er sich schwammig äußert, sobald er die letztendlich Verantwortlichen für die Tat nennen soll. Am Rande der Sitzung wird bekannt,
dass die britische Regierung erwägt, gegen diejenigen juristische Schritte einzuleiten, die den Bombenanschlag auf das Londoner ANC-Büro 1982 verübt
haben. Das trifft vor allem Craig Williamson, der die Aktion in geheimer Mission vorbereitete. Selbst wenn das Amnestie-Gesuch positiv beschieden
werde, habe man keinen Einfluss auf Reaktionen anderer Staaten, meint
TRC-Sprecher Mbulelo Sompetha. Coetzee beharrt darauf, er habe keine
Morde gebilligt und weist auch Vorwürfe zurück, in den 80-er Jahren seien
Morde an ANC-Mitgliedern in Nachbarländern Staatspolitik gewesen. Das
klingt wenig überzeugend, denn jemandem in Coetzees Position (einem, der
Sitzungen des SSC beiwohnte und der 1980 Leiter der Sicherheitsabteilung
der Polizei wurde) dürfte diese Entwicklung nicht entgangen sein. Nach
Angaben des Anwalts der Opfer trägt Coetzee die Verantwortung für die
Ermordung von insgesamt 160 ANC-Mitgliedern innerhalb und außerhalb
Südafrikas. Coetzee ändert nun seine Taktik. Er gibt zu, dass die Sicherheitskräfte wohl größte Motivation besaßen, „Kommunisten“ zu ermorden
(wobei zu Kommunisten alle zählten, die das Apartheid-System beseitigen
wollten; Polizisten wurden außerdem ständig gedrillt, dass es einen ‘total onslaught’ (des Kommunismus) gebe (verstärkt durch die ständig wachsende
internationale Isolation), dem man ausgesetzt sei und weswegen man handeln
müsse) Die damals regierende ‘National Party’ - so führt er weiter aus - habe
die meisten der Militär-Aktionen begrüßt. Vermutlich habe die Situation
eines Quasi-Krieges gegen den ANC zur Herausbildung einer Grauzone
geführt, in der es nicht notwendig gewesen sei, entsprechende Anweisungen
zu geben. Einige Polizisten seien wohl davon ausgegangen, dass sie mit der
Unterstützung des Staates für ihre Taten rechnen könnten.
Am nächsten Tag ist Craig Williamson am Zuge. Er bedauere den unbeabsichtigten Tod von Katryn Schoon, der sechsjährigen Tochter der ANC-Aktivistin Jeanette Schoon, die 1984 in Angola bei einem Briefbombenattenatat
ums Leben kamen. Ihr Sohn Fritz - damals zweijährig - musste mitansehen,
wie Mutter und Schwester starben. Dieser sowie sein Vater sind bei der
Anhörung anwesend. Sie verfolgen das Geschehen mit steinerner Miene.
Zu einer Stellungnahme sind sie nicht zu bewegen, bevor der Fall nicht abgeschlossen sei. Er habe bis zum heutigen Tage Probleme mit dieser Tat, erklärt
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Südafrika
Williamson. Er habe Schoon aus seinen Zeiten als Spion gekannt. Williamson ist auch in den Anschlag auf Ruth First verwickelt. In beiden Fällen sei
er von Brigade-General Piet Goosen angeleitet worden. Goosen war der
Kopf einer Gruppe innerhalb des Geheimdienstes. Dieser wiederum bildete
eine Abteilung der Sicherheitspolizei. Goosen wäre sicherlich auch ein wertvoller Zeuge, aber alles, was von und über ihn zu erfahren ist, stammt von Williamson. Goosen starb 1993. In den 80-er Jahren jedenfalls soll Goosen Williamson befohlen haben, abgefangene Briefe mit Sprengstoff zu füllen, diese
dann wieder Goosen zurückzugeben, der sich um die Weiterleitung gekümmert habe. Einzelheiten, wie der Brief den Adressaten erreicht habe, habe er
weder erfahren, noch habe er sich darum gekümmert. Williamson meint,
diese Taten seien seiner Ansicht nach vollkommen mit der damaligen politisch-militärischen Strategie gegen ANC und SACP zu vereinbaren gewesen.
Die Schoons waren aufgrund ihrer Funktion und Aktivitäten für ANC/SACP
(die Williamson immer zusammen nennt) eines der Hauptziele geheimdienstlicher Überwachung und wurden als ‘prime targets’ betrachtet. Dies galt
auch für Joe Slovo und Ruth First. Die Briefbomben sollten die Anti-Apartheid-Organisationen psychologisch destabilisieren, Verwirrung und Angst
auslösen. Er habe bei einer Sitzung im Geheimdienst-Hauptquartier vom
Tod Ruth Firsts erfahren, erzählt Williamson. Goosen habe ihm leicht zugenickt, als über die Begebenheit in Maputo berichtet wurde. Williamson entschließt sich erst im Zuge der TRC zur Offenlegung einiger Details, nachdem
er unter Druck gerät: Die Schoons strengten ein Gerichtsverfahren gegen ihn
an, das aber 1997 unterbrochen wurde, um die Entscheidung des Amnestiegesuchs abzuwarten. Am folgenden Tag gerät Williamson in die Defensive.
Der Anwalt der Opfer wirft ihm vor, Williamson habe sich erst geäußert, als
sein Name bei einer Befragung Coetzees fiel. Williamson verschanzt sich hinter dem Argument, ohne seine Angaben hätte es nie Klarheit darüber gegeben,
wie sich die Fälle zugetragen hätten. Er erzählt aus seinem Leben als Spion:
Williamson infiltrierte den ANC als Student der Universität von Witwatersrand. Er wurde in den 70er Jahren aktives Mitglied bei einer StudentenOrganisation. In dieser Zeit freundete er sich auch mit den Schoons an, kam
so an Informationen über deren Aktivitäten heran, die er an die Geheim-Polizei weitergab. Der Anwalt gibt sich mit den Angaben Williamsons nicht
zufrieden, wirft ihm vor, er äußere sich vage, erfinde Geschichten, um die TRC
zu betrügen. Das lässt Williamson nicht auf sich sitzen. Er kontert mit der Antwort, dass er für die eine Seite ein Lügner, für die andere der Superspion sei,
für die eine Seite ein Terrorist, für die andere ein Held. Er betrachte die TRC
als Gremium, in dem er seine Sicht der Dinge schildern könne und so fügt
er hinzu, er sei müde und des Krieges überdrüssig, den er 26 Jahre lang
gegen seine Feinde gekämpft habe. Schließlich betont er nochmals, dass er
sich schäme, für den Tod von zwei Frauen und einem Kind die Verantwortung
zu tragen. Allerdings - so schränkt er ein - First und Schoon seien Staatsfeinde
gewesen. Aber der Tod des Kindes tue ihm unendlich leid. Es gebe nichts in
seinem Leben, das er mehr bedauere.
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Stephan Fessen
Südafrika
3.3.3. Bilanz des Amnestieausschusses:
Von den bis August 1998 bearbeiteten 4.500 Anträgen, wurden 4.350
abschlägig beschieden. Auf die Frage warum, gibt Vuyani Green von der TRC
folgende Antwort: Nur wenige Antragsteller hätten politischen Motive für ihre
Taten nachweisen können. Man müsse bedenken, dass mehr als drei Viertel
aller Antragsteller rechtskräftig verurteilt gewesen seien, als sie sich um
Amnestie bemühten. Dies lasse den Schluss zu, dass sich unter ihnen viele
gewöhnliche Verbrecher befänden, die versuchten, mit Hilfe der TRC früher
aus dem Gefängnis zu kommen. Der hohe Prozentsatz bereits Verurteilter
mache aber auch deutlich, dass nur wenige derjenigen, an die sich das Angebot richtete, davon Gebrauch machten. Das sei der Punkt, der am meisten
schmerze.
4. Zwei Jahre TRC - Was bleibt?
4.1. Die Eigendarstellung der TRC:
Für die TRC selbst - wie könnte es anders sein - ist die eigene Tätigkeit eine
Erfolgsgeschichte, die unter dem Motto lief: „The truth hurts, but silence
kills“. Mehrere TRC-Mitarbeiter der Kapstädter Zentrale betonen zwar, dass
vor allem die öffentlichen Anhörungen über Menschenrechtsverletzungen
während der Apartheidzeit viel Schmerz verursacht und alte Wunden wieder
aufgerissen hätten, zugleich betonen sie aber, dass die Wirkung für die südafrikanische Gesellschaft geradezu dramatisch (im positiven Sinne) gewesen
sei. Wichtig, so gibt Mary Burton vom Human Rights Violations Committee
zu verstehen, war vor allem, an die Öffentlichkeit zu gehen, den Menschen
klar zu machen, was in Südafrika passiert sei und natürlich auch die Arbeit der
TRC bekannt zu machen. Sie begrüßt es, dass den öffentlichen Anhörungen
breiter Raum bei Rundfunk und Fernsehen eingeräumt worden sei. So habe
sich eigentlich niemand der Auseinandersetzung mit der Vergangenheit entziehen können und niemand könne heute mehr behaupten, dass er nichts (vor
allem) über die letzten 30 Jahre wisse. Schwierigkeiten habe der TRC bereitet, auszuwählen, welche Fälle öffentlich vorgetragen werden sollten. Man
habe versucht, eine repräsentative Auswahl zu treffen. Zudem habe man darauf geachtet, dass das, was erzählt wurde, auch durch Fakten gestützt werden
konnte. Für viele Betroffene sei es das erste Mal gewesen, ihre Geschichte in
allen Einzelheiten erzählen zu können, ohne Verfolgung befürchten zu müssen. Die Betroffenen hätten sehr unterschiedlich reagiert. Während einige in
der Lage gewesen seien, den Tätern zu vergeben, hätten andere diese Bereitschaft nicht gezeigt. Nicht zu unterschätzen ist nach Burton auch die Tatsache, dass viele der traumatisierten Opfer in die Lage versetzt wurden, wieder
ein normales Leben führen zu können beispielsweise durch psychologische
Hilfe. Den Vorwurf, die TRC sei wie ein Wanderzirkus weitergezogen und
habe aufgewühlte Menschen zurückgelassen, mag Burton nicht gelten lassen.
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Aber sie gibt zu, dass sich die Kommission erst darauf habe einstellen müssen. Nach Bekanntwerden des Problems habe man versucht, auf lokaler
Ebene ein Unterstützungsnetz zu schaffen. Die TRC selbst habe keine ausreichenden Kapazitäten gehabt. Damit entschuldigt sie auch die Unmöglichkeit, alle Menschen anzuhören, die ihre Geschichte vortragen wollten. Bongani Finca vom Eastern Cape Office zählt die Probleme auf, mit denen die
Kommissionsmitglieder zu kämpfen hatten. Er räumt ein, dass die Anhörungen ihr Ziel verfehlt haben, einen Versöhnungsprozess einzuleiten, ja sogar
neue Feindschaften heraufbeschworen haben. Zudem sei viel Überzeugungsarbeit nötig gewesen, ehemalige Freiheitskämpfer dazu zu bringen, auszusagen, dass es auch in ihren Reihen Menschenrechtsverletzungen gegeben
habe. Die weiße Bevölkerung hat seiner Ansicht nach von Anfang an kein großes Interesse an den Tag gelegt, habe sich nur selten bei den öffentlichen
Anhörungen gezeigt. Auch das Ziel, Täter, die in den Statements genannt wurden, zu informieren, sei nicht immer erreicht worden. Ihnen habe man ebenfalls die Möglichkeit geben wollen, ihre Sicht der Geschichte darzustellen.
Problematisch sei, dass man eben nur eine Handvoll Zeugenaussagen habe
entgegennehmen können. Viele Gemeinden und Dörfer hätten sich im Stich
gelassen gefühlt, weil die TRC nicht in der Lage gewesen sei, alle gleichermaßen zu berücksichtigen. Dennoch beurteilt Bongani Finca die Tätigkeit der
TRC positiv: Den Menschen, die so lange zum Schweigen verurteilt gewesen
seien, habe man eine Stimme geben können. Viele schwarze Bürger seien
gekommen, um zu hören und Anteilnahme zu zeigen, ein nicht zu unterschätzender Faktor. Und, so fügt das Kommissionsmitglied Richard Lyster
unter Hinweis auch auf die Amnestieanhörungen hinzu, all dies werde dazu
führen, dass man die Geschichte Südafrikas langsam und Stück für Stück wie
bei einem Puzzle zusammensetzen könne.
4.2. Versöhnung durch die TRC? - eine Studie:
Hugo van der Merwe vom „Centre for the Studies of Violence and Reconciliation“ in Johannesburg führte von Januar bis Dezember 1997 eine Studie
in Duduza durch. Duduza ist ein Township für Schwarze, südöstlich von
Johannesburg in der Provinz Gauteng gelegen. Ein einziges Mal - so erzählt
er über seine noch nicht veröffentlichte Arbeit - habe die TRC auch hier eine
Menschenrechtsanhörung abgehalten, bei der drei Fälle zur Sprache kamen.
Van der Merwe nahm dies zum Anlass, um die Menschen von Duduza unabhängig davon, ob sie Opfer waren oder nicht - nach ihren Eindrücken von
der Kommission zu fragen. Ergebnis: Diejenigen, die ihre Aussage öffentlich
machen durften, zeigten sich einigermaßen zufrieden. Entscheidend war,
dass sie ihre Geschichte erzählen oder etwas klarstellen konnten und dies vor
einem Gremium, dessen Integrität niemand anzweifelte. Bald aber wurde
Unmut laut (ausgeblendet bleiben hier die Beschwerden beispielsweise der
lokalen Autoritäten, die sich von der TRC schlecht informiert fühlten u.ä.).
Denn das eine Hearing hatte zwar die Geschichte ein Stück weit begradigt,
143
Stephan Fessen
Südafrika
aber viele neue Fragen aufgeworfen, die unbeantwortet blieben. Die TRC
zeigte sich nie wieder und die Menschen von Duduza fragten sich nach dem
Sinn der Aktion, zumal diejenigen, die ihren Fall nicht öffentlich vorstellen
durften. Zurück blieb eine verwirrte Bevölkerung, die zwar angeschubst
worden war, sich mit ihrer Vergangenheit auseinanderszusetzen, aber nicht
wusste wie. Kein Wunder also, dass daraus viele unterschiedliche Ansichten
über das Phönomen Versöhnung resultierten: 1. Vom moralischen Standpunkt aus betrachtet, bedeutet Versöhnung Nachdenken, Demut, Reue und
Vergebung. 2. Versöhnung als Aufgabe, Verständnis zwischen den verschiedenen Kulturen zu schaffen. 3. Versöhnung als Bollwerk gegen die rassistische
Ideologie (jeder ist ein menschliches Wesen ungeachtet seiner Hautfarbe).
4. Versöhnung als Motor zur Schaffung eines sozialen Netzwerks zunächst in
der Gemeinde, um das aus der Geschichte resultierende Misstrauen zu beseitigen. Das alles gilt eigentlich nur für die schwarze Bevölkerung. Die weiße
nahm an den Anhörungen nicht teil, zog sich ins Private zurück und brachte
der TRC nur wenig Verständnis entgegen. In Duduza - stellvertretend für viele
andere Gemeinden - hinterließ die TRC einen schalen Geschmack. Die Menschen wussten, dass etwas geschehen müsse. Aber es wurde ihnen nichts an
die Hand gegeben. Lokale Hilfsorganisationen übernahmen mehr und mehr
die Initiative und versuchten fortzuführen, was durch die Anhörung seinen
Anfang genommen hatte.
5. Versöhnung - Die nationale Aufgabe:
5.1. Vorbemerkung:
Das bisher Gesagte macht zwei Dinge deutlich. Erstens: Trotz Bemühens war
die Kommission bei weitem nicht in der Lage, angemessen auf den Ansturm der
Menschen zu reagieren, die ihre Geschichte erzählen wollten. Zweitens geben
die unter 4.1. erwähnten Mitarbeiter zu, dass man lediglich einen Prozess habe
anstoßen, ihn aber nicht habe vollenden können. Daraus folgt, dass die TRC
allein keine Versöhnung herbeiführen kann, zumal ihr Auftrag zeitlich berenzt
ist. Das wiederum wirft die Frage auf, wie eine von Gewalt geprägte gespaltene
Gesellschaft befriedet werden kann und wer diese Aufgabe übernehmen soll?
Viele Organisationen und Menschen in Südafrika haben sich vor und während
der Arbeit der TRC Gedanken über dieses Problem gemacht und versucht, die
ihrer Ansicht nach richtige Antwort zu geben.
5.2. Die Haltung der Parteien:
5.2.1. Der ANC - Wasser- und Forstminister Kader Asmal:
Ganz staatsmännisch gibt sich Kader Asmal, lange Jahre im Exil ausharrender ANC-Aktivist. Die Wahrheitskommission sei der südafrikanische Weg
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Stephan Fessen
Südafrika
der Vergangenheitsbewältigung, meint er, ohne aber deutlich auszudrücken,
ob der ANC der TRC positiv oder negativ gegenübersteht. (Einen Eindruck
der ANC-Haltung hat man aber bekommen, als der Abschlussbericht vorgestellt wurde. Im Vorfeld gab es heftige Kritik an der Kommission, als bekannt
wurde, dass auch der ANC im Zusammenhang mit Menschenrechtsverletzungen genannt wird.) Asmal jedenfalls würdigt die TRC. Sie stelle ein Fenster dar, das einen Blick in die Vergangenheit ermöglicht. Gerichtsverfahren
hätten dies nie leisten können. Besonders wichtig sei, dass Täter amnestiert
würden, die ein volles Geständnis ablegten und dass Opfern über die Anhörungen hinaus geholfen werde. Den Vorwurf, die TRC habe Feindschaft zwischen den Bevölkerungsgruppen geschaffen, weist Asmal zurück. Klar würden alte Wunden aufgerissen, wenn Einzelheiten einer gewalttätigen
Vergangenheit offengelegt würden. Zudem müsse auch klar sein, dass Versöhnung nur dann möglich sei, wenn man sich nicht mit der eigenen
Geschichte beschäftigt habe. Auch er sei dafür, dass Apartheid-Buch zu schließen. Doch dies dürfe erst dann geschehen, wenn es geschrieben worden sei
und zwar in weitgehendem Einverständnis der Beteiligten. Zur Versöhnung
habe die TRC nur einen Anstoß geben können. Zum neuen Südafrika gehöre,
dass die Weißen akzeptierten, dass es nun eine gleichberechtigte schwarze
Gesellschaft gebe. Zu dieser Erkenntnis gehörten die Folgen der ApartheidPolitik, die beispielsweise in Townships ihren Ausdruck finde. In diser Hinsicht gebe es noch eine Menge zu tun.
5.2.2. Die South African Communist Party:
Generalsekretär Jeremy Cronin geht davon aus, dass so etwas wie ein
nationaler Versöhnungsprozess noch lange Zeit dauern wird. Stellvertretend
für seine Partei, die eng an den ANC gebunden ist (bei Wahlen treten sie mit
einer gemeinsamen Liste an, die SACP stellt fünf Minister und circa ein Drittel der gemeinsamen Abgeordneten), versucht er, ein differenziertes Bild zu
erstellen. Zwar sei die alte Staatsstruktur nicht mehr vorhanden, dies gelte aber
leider für die alte Denkweise, was Versöhnung so schwierig mache. Eine
Gesellschaft, die jahrhundertelang auf Gewalt aufgebaut worden sei, könne
sich nicht so leicht davon frei machen. Um sich zu schützen, habe jeder Mauern errichtet. Diese müssten nun abgetragen werden und das werde viel Zeit
in Anspruch nehmen. Die Weißen akzeptieren den Wandel, meint Cronin, sie
müssten sich aber erst daran gewöhnen. Für sie seien die Zeiten härter geworden, es gebe beispielsweise keine „job reservation“ mehr. Wichtig an der TRC
sei das „T“ gewesen. Die Weißen könnten sich jetzt nicht mehr der Realität
verschließen. Niemand in Südafrika könne heute noch behaupten, nichts
gewusst zu haben oder nichts zu wissen. Nur dieses Stück Wahrheit könne
Versöhnung möglich machen. Cronin bedauert, dass die Wirtschaft, die
schließlich das Apartheidsystem unterstützt und gestützt habe, aus den Anhörungen vor der TRC fast unbeschadet herausgekommen sei. Das bereite ihm
etwas Bauschmerzen. Er selbst fühle keine Rache gegenüber den früheren
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Stephan Fessen
Südafrika
Machthabern mehr. Er habe die Vergangenheit akzeptiert. Er sei verfolgt
und gefoltert worden, habe aber als Weißer das Glück gehabt, besser behandelt zu werden als schwarze Mitstreiter. Deswegen wolle er seine Geschichte
nicht zu hoch hängen, habe deshalb auch niemanden seiner früheren Folterer
angezeigt oder vor der TRC ausgesagt. Später gibt er aber zu, dass er manchmal noch immer von Alpträumen heimgesucht wird.
5.2.3. Die National Party:
Jacko Maree, TRC-Spezialist der ehemals herrschenden Partei NP, geht
sofort in Abwehrstellung. In einem Vortrag versucht er, zu erklären, dass der
Gedanke der Apartheid grundsätzlich nicht so schlecht war, wie er nun dargestellt werde. Die Ausführung sei misslungen, da habe man in der Vergangenheit Fehler gemacht. Die Realität in Südafrika sei nun einmal, dass es sehr
unterschiedliche Bevölkerungsgruppen gebe und dass sich deswegen jeder
besser entwickeln könne, wenn er unter seinesgleichen lebe. Die TRC sei
grundsätzlich nicht schlecht, aber sie habe von Beginn an erhebliche Mängel
gehabt. Zum Beispiel könne man die ANC-Lastigkeit der Kommissionsmitglieder nicht akzeptieren. Lediglich zwei der 17 Mitglieder seien nicht ausgewiesene ANC-Anhänger. Auch andere hätten Menschenrechtsverletzungen
begangen, aber stets sei nur die NP angeprangert worden. Für Maree ist das
Ziel der TRC, mit der früheren Regierung abzurechnen. Das Ergebnis sei
daher schon seit langem voraussehbar. Trotz dieser Mängel habe man mitgearbeitet, um nicht den Eindruck zu erwecken, man habe etwas zu verbergen.
In einem Brief legte die NP nach Aussage Marees ihre historische Wahrheit
dar. Aber das Schreiben sei nicht beachtet worden. Ständig habe man im Fernsehen und im Radio die Anhörungen vor dem Menschenrechtsausschuss
über sich ergehen lassen müssen, bis man es einfach nicht mehr habe ertragen können und abgeschaltet habe. Im übrigen habe sich nur die IFP (Inkatha Freedom Party) von Innenminister Buthelezi der TRC von Anfang an verweigert und bei der Abstimmung im Parlament dagegen votiert. Buthelezi sei
niemals vorgeladen worden, habe in einem solchen Fall gar mit Bürgerkrieg
gedroht, ein Manko, unter dem die Glaubwürdigkeit der TRC zu leiden
gehabt habe. Sinnvoller wäre es nach Ansicht von Maree gewesen, das Gremium wie die chilenische Wahrheitskommission zu besetzen nämlich paritätisch aus alter und neuer Regierung. Dies hätte im Resultat dazu geführt, dass
sich jeder im Abschlussbericht hätte wiederfinden können. Die Frage nach seiner Ansicht über Versöhnung beantwortet Maree mit dem Hinweis, dass man
jetzt die Vergangenheit ruhen lassen solle und in die Zukunft blicken müsse.
Es helfe niemandem, wenn man ewig auf der Geschichte herumhacke. Die NP
habe den Weg in die Zukunft aufgezeigt, in dem sie erstmals in der Geschichte
eines Landes überhaupt die Macht an eine ehemalige Widerstandspartei übergeben habe. Das Gespräch dauert länger als erwartet, andere NP-Parlamentarier kommen hinzu und merken an, dass es den Schwarzen unter der NPHerrschaft doch gut gegangen sei. Sie hätten den höchsten Lebensstandard in
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Stephan Fessen
Südafrika
ganz Afrika gehabt. Man habe etwas aus diesem Land gemacht. Es könne
doch jetzt nicht alles negativ sein, was früher gut gewesen sei.
5.2.4. Die Democratic Party:
„Die TRC war gut“, sagt Dene Smuts von der Democratic Party. „War“,
weil es jetzt genug sei. Man habe die Vergangenheit aufgearbeitet und das sei
auch gut so. Aber nun müsse man an die Zukunft, an den Aufbau eines stabilen Südafrika denken. Für die DP, die sich aus einer früheren, weitgehend
weißen, NP-Oppositionspartei herausgebildet hat, ist der Vorwurf, die TRC sei
ANC-gesteuert, zu verallgemeinernd. Ihre Kritik richtet sie nicht so sehr an
das Zustandekommen und die Arbeitsweise der TRC, sondern gegen das
Ziel der Versöhnung. Es sei unklug gewesen, das Wort „Versöhnung“ in den
Namen der Kommission mitaufzunehmen. Damit habe man Hoffnungen
erweckt, die man nie habe erfüllen können. Wichtig, so betont sie weiter, sei
aber der Aspekt, dass man viel mehr als in jeder anderen Weise über die NPPolitik und den Geheimdienst (SSC) erfahren habe. Die Aussagen vor dem
Menschenrechtskomitee sei in dieser Hinsicht besonders wertvoll gewesen.
Auf dieser Grundlage - Dokumente gebe es ja nicht - habe man entsprechende
Untersuchungen einleiten können. Immerhin habe es auch erste zaghafte
Versuche einer Annäherung/Versöhnung gegeben. Dass die TRC eben nicht
einseitig war, habe das Drängen gegenüber dem ANC bewiesen, zuzugeben,
dass auch er Greueltaten begangen habe (Quatro-Lager in Angola). Auch mit
der geforderten Generalamnestie für 37 seiner Mitglieder (darunter Regierungs-Politiker) sei der ANC nicht durchgekommen. Aber - so macht Smuts
immer wieder deutlich - jetzt gehe es um die Zukunft Südafrikas. Nur wenn
die seit Jahrhunderten Benachteiligten eine Chance bekämen, könne das
Modell Südafrika erfolgreich sein. Das Buch der Vergangenheit könne
geschlossen, ein neues müsse aufgeschlagen werden.
5.2.5. Die Conservative Party:
Wie die NP, nur viel radikaler, bemüht der Vorsitzende der rechtsextremen
„Coservative Party“, Dr. Hartzenberg, die Geschichte, um seine Position
deutlich zu machen. Jede Bevölkerungsgruppe solle für sich leben, wie man
es damals (Ende 1838) mit den Zulus im Vertrag am „Blut-Fluss“ vereinbart
habe. Man habe eine Grenze gezogen, jeder habe sich in seinem Gebiet aufgehalten und in Frieden gelebt. Von der ANC-Regierung verlange er den
Schutz der Minderheitenrechte. Nicht einmal dazu sei das neue Südafrika in
der Lage. Man dürfe nichts selbstbestimmen, dürfe keine eigenen (rein weißen) Schulen haben, die Afrikaaner-Kultur werde missachtet. Auch die TRC
sei in keiner Hinsicht hilfreich gewesen. Die ständigen Vorhaltungen, übertragen von allen Medien, hätten eher dazu beigetragen, dass man sich von der
TRC abgewendet habe. Außerdem habe die Kommission nur die halbe Wahr147
Stephan Fessen
Südafrika
heit herausgefunden, am anderen Teil habe sie kein Interesse gehabt. Für Hartzenberg stellt die TRC ein politisches Werkzeug in Händen des ANC dar. Versöhnung sei in dieser Weise nie und nimmer zu erreichen. Als Beispiel führt
er die Zahl der bei Gewalttaten Getöteten der letzten Jahre an. Seit 1989 (offizieller Beginn der Übergangsphase zur ANC-Regierung) seien 24.000 Menschen getötet worden, soviele wie in den zwei Weltkriegen, an denen Südafrika
teilgenommen habe. In den letzten Jahren seien zudem 600 weiße Farmer
ermordet worden. Versöhnung? Der einzig richtige Weg dorthin bleibe die
eigenständige Entwicklung von Schwarzen und Weißen in einer Art Konföderation. Jeder solle in seinen „Stammesgebieten“ leben auch die Weißen.
Allerdings bleibt Hartzenberg die Antwort schuldig, wo die Stammesgebiete
der Weißen liegen.
5.3. Die Wirtschaft und die Vergangenheit:
5.3.1. VW of South Africa und das reine Gewissen:
Der größte Automobilhersteller in Afrika, VW of South Africa in Uitenhagen, versucht, in jeder Hinsicht eine Vorbildfunktion einzunehmen. Das gilt
nicht nur für die Qualität der Produkte, sondern auch für die Vergangenheit.
Schon immer, betont Michael Lange, Public Relations Manager, habe man
sich bei VW Gedanken gemacht, ob Apartheid, beziehungsweise „Job Reservation“ der richtige Weg sei. Das Unternehmen habe für sich den Schluss
gezogen, dass diese Haltung keine Zukunft haben könne und deshalb schon
früh (Anfang der 80-er Jahre) angefangen, Farbigen und Schwarzen (an der
Ostküste gilt das vor allem für Farbige) bessere Ausbildungsmöglichkeiten
anzubieten als landesweit üblich. Davon profitiere das Unternehmen heute. Es
habe ausreichend Fachkräfte herangezogen und komme nicht in Konflikt mit
dem neuen „Employment Equity Bill“, ein Gesetz, das Firmen unter anderem
vorschreibt, dass sich die Bevölkerungszusammensetzung der Provinz im
Unternehmen wiederspiegeln muss. Percy Smith, Human Resources Manager,
ist bei Volkswagen der Ansprechpartner für diesbezügliche Fragen. Die Arbeiter würden gut bezahlt, seien motiviert, weil sich ihnen Perspektiven böten,
Stammesstreitigkeiten oder Konflikte im Zusammenhang mit der Vergangenheit gebe es praktisch nicht. VW betreibe ein Integrations-Modell. Es gebe
Arbeitnehmer-Gruppen, die sich aus den verschiedenen Bevölkerungsteilen
zusammensetzten und über etwaige Probleme diskutierten. Zwar sei die Provinz Ostkap besonders von Gewalt betroffen, im Unternehmen habe das aber
nie eine Rolle gespielt. Mit der TRC habe man praktisch nichts zu tun. Aber
Smith sieht durch die TRC die Diskussion um Gerechtigkeit erneut angestoßen. Nach wie vor müsse man noch eine Menge tun. Denn auch bei VW sei
die Vergangenheit nicht spurlos vorübergegangen. So gebe es beispielsweise
im oberen Managemant noch immer keinen Posten, der von einem Farbigen/Schwarzen ausgefüllt werde. Ob das neue Arbeitsgesetz da weiterhelfen
könne, lasse sich noch nicht sagen. Aus seiner Sicht wäre eine härtere Fassung
wünschenswerter gewesen. Darüberhinaus sei fraglich, inwieweit durch ein
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Stephan Fessen
Südafrika
Gesetz gesellschaftsimmanente Ungerechtigkeiten beseitigt werden könnten. Viel besser wäre es, das Bildungssystem effektiver zu gestalten, um
allen die gleichen Chancen zu eröffnen.
5.3.2. BayGen und der neue Weg:
In einem Gewerbegebiet in Kapstadt befindet sich die unscheinbar wirkende Firma BayGen. Natürlich muss auch dieses Unternehmen den für alle
geltenden Gesetzmäßigkeiten gehorchen, aber trotzdem fällt BayGen aus
dem Rahmen: Erstens wurden hier zu Beginn der Produktionsaufnahme ausschließlich Behinderte eingestellt. Zweitens produziert die Firma Geräte,
die ohne Strom funktionieren und somit auch in den entlegensten Gebieten
eingesetzt werden können. Drittens werden die Geräte (Radios und Taschenlampen) auch an Privatleute verkauft. Wer beispielsweise ein Kurbel-Radio
erwirbt, muss dafür zwar relativ viel auf den Ladentisch legen, finanziert aber
ein weiteres Gerät für eine Hilfsorganisation mit. Dass BayGen mit der TRC
wenig zu tun haben kann, liegt auf der Hand, trägt es doch auf ganz eigene
Weise zur Versöhnung der Gesellschaft bei, indem es Behinderten, die auf
dem südafrikanischen Arbeitsmarkt chancenlos sind, die Möglichkeit zum
Broterwerb bietet.
5.3.3. Nelson’s Creek - Neuer Wein in alten Schläuchen?
Diese Geschichte beginnt 1988. Damals kaufte ein weißer Rechtsanwalt
namens Alan Nelson ein heruntergewirtschaftetes Weingut bei Paarl in der
Kap-Region. Sein Ziel war es, das Gut in ein paar Jahren wieder auf die Beine
zu bringen. Weil es ihm aufgrund seiner Tätigkeit in Johannesburg zu groß
war, kam er auf eine Idee: Er versprach den auf dem Gut lebenden schwarzen
Farmern, ihnen ein Stück Land zur Eigenbewirtschaftung zu schenken, wenn
es gelinge, Nelson’s Creek zum Erfolg zu machen. 1996 hatte er sein Ziel
erreicht und machte sein Versprechen wahr. Insgesamt 16 schwarze Familien
sind nun erstmals in der Geschichte des Landes Besitzer von (rund 10 Hektar) Reben. Allerdings sind sie in jeder Hisicht auf Nelson angewiesen. Das
liegt daran, dass es keine Infrastruktur für kleine Weingüter gibt. Eine große
Genossenschaft (KWV) ist marktbeherrschend, hat Produktion und Marketing
in der Hand; kleine Weingüter haben ohne Unterstützung keine Chance. Nelson stellte zudem einen Manager, Anzill Adams, ein, der von sich selbst
sagt, der erste Farbige in dieser Position zu sein und der darüberhinaus das
Engagement Nelsons teilt. So gibt es seit zwei Jahren einen Wein namens
„New Beginnings“ des Gutes „Klein-Begin“. Aus dem Erlös werden die
Familien in die Lage versetzt, sich ihre Existenz aufzubauen. In einem konservativ geprägten Geschäft ist das kein leichtes Unterfangen. Es gibt kaum
einen Wirtschaftszweig in Südafrika, bei dem sich in struktureller Hinsicht so
wenig verändert hat wie der Weinbau. Noch immer leben viele schwarze
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Stephan Fessen
Südafrika
Arbeiter unter unwürdigen Bedingungen, müssen mehr als gesetzlich festgelegt arbeiten (über 60 Stunden pro Woche), werden schlecht bezahlt (unter
dem gesetzlichen Mindestlohn) und teilweise mit Wein abgefunden und
abhängig gehalten. Diese Tradition hat dazu geführt, dass eine regelrechte
Alkoholiker-Generation heranwuchs. „New Beginnings“ versucht, eine Perspektive zu eröffnen. Das Wichtige, so sagt Anzill Adams, sei, dass man
hergegangen sei und den Menschen die Möglichkeit gegeben habe, sich
selbst zu helfen, ihre eigene Zukunft zu bestimmen. Das sei eine neue Erfahrung und bringe eine neue Denkweise mit sich, die erst gelernt werden müsse.
300 Jahre lang habe sich im Weinbau nichts verändert, dies geschehe nun
langsam, dieser Prozess werde noch einige Zeit in Anspruch nehmen. Damit
„Klein-Begin“ ein Erfolg wird, muss noch viel getan werden. Perspektiven für
andere werden sich nur dann ergeben, wenn das Projekt gut verläuft. Auf dem
Etikett von „New Beginnings“ ist zu lesen, dass die eigenständige Entwicklung zum Versöhnungsprozess beitrage. Dem ist nichts hinzuzufügen.
5.4. Business Against Crime (BAC) - Die Wirtschaft wehrt sich:
Einen ganz anderen Ansatz hat „Business against crime“ im Nobelort
Sandton bei Johannesburg. Das Motto „Your chance to fight back“ klingt martialisch. Wer aber einen Blick hinter die Kulissen von BAC wirft, der bekommt
ein differenzierteres Bild. Ende 1995, so erläutert Barabara Holtmann, Projekt-Direktorin, ermunterte Präsident Mandela die Wirtschaft, zusammen
mit der Regierung etwas gegen die hohe Kriminalitätsrate im Land zu tun.
Nicht zuletzt aus Eigeninteresse wurde man aktiv. Von Anfang an fiel die Initiative trotz vieler Bedenken und Anfangsschwierigkeiten auf fruchtbaren
Boden. Zunächst wurde eine Bestandsaufnahme vorgenommen. Diese zeigte,
dass es sich bei der Kriminalität um ein komplexes Problem handelte, das vielfältige Wurzeln hatte: Da war (und ist) nicht nur das Denken einiger Schwarzer, einem Weißen etwas wegnehmen zu können, weil dieser ja sowieso
zuviel habe, sondern auch die Einsicht, dass Kriminalität dort auf fruchtbaren Boden fällt, wo es den Menschen besonders schlecht geht. Desweiteren
sinkt die Hemmschwelle für Kriminalität schlicht und ergreifend dort, wo sich
die Gelegenheit ohne großes Risiko bietet, sprich: wo staatliche Systeme versagen. Die Konsequenzen waren klar. Die Geschäftsleute mussten aktiviert,
auf das Problem aufmerksam gemacht und dazu gebracht werden, etwas in
Eigeninitiative zu unternehmen. Inzwischen hat BAC ein weit verzweigtes
Netz aufgebaut. Die Tätigkeit beinhaltet nicht nur die Zusammenarbeit mit
den entsprechenden staatlichen Institutionen (von Justiz über Polizei bishin
zum Innenministerium), sondern auch spezielle Programme gegen Diebstahl
und Wirtschaftskriminalität. BAC geht auch in die Gemeinden, versucht zu
erfahren, welche spezifischen Probleme es dort gibt. Dies geschieht in erster
Linie vor dem Hintergrund, herauszufinden, welche Art von Verbrechen sich
anbahnen könnte. (Die Programme haben Titel wie „Vehicle Theft Task
Group“ oder „Support Partnership for Police Stations“). Durch den Infor150
Stephan Fessen
Südafrika
mationsfluss an staatliche Stellen besteht zumindest die Möglichkeit, regulierend einzugreifen. Mehr Sicherheit ist in aller Interesse, denn sichere Orte
finden Geschäftsleute, die sich dort niederlassen. Diese wiederum schaffen
Arbeitsplätze und ziehen Kunden an... . BAC trägt durch sein Wirken dazu bei,
dass ein Stück mehr Sicherheit geschaffen wird. Der chronisch finanzschwache Staat könnte es sich nicht leisten, den Polizeiapparat aufzustocken
um an allen Brennpunkten Präsenz zu zeigen. Zudem geht BAC noch einen
Schritt weiter und bietet auch Opferhilfe und -betreuung (z.B. nach Überfällen) an. Barbara Holtmann hat schon Gebrauch davon gemacht, nachdem sie
selbst zum Opfer geworden war. Sie wurde gekidnappt, hatte aber Glück; sie
entkam unverletzt. Im Gespräch mit ihren Entführern sei ihr klar geworden,
wie wichtig gegenseitiger Respekt und gegenseitiges Verständnis füreinander
sei, meint sie. In diesem Sinne müsse eine neue Kultur geschaffen werden, die
es bislang noch nicht gebe. Vor diesem Hintergrund bewertet Holtmann die
Wahrheitskommission sehr positiv. Dadurch, dass sich die Schwarzen erstmals
öffentlich hätten äußern könnten, sei ein gewisses Verständnis entstanden,
denn viele Südafrikaner hätten die Realität nicht gekannt. Nun könnten sie die
Augen nicht mehr vor ihr verschließen. Das gelte auch für sie. In der weißen
Gesellschaft habe man wie auf einer Insel gelebt, den Großteil der Bevölkerung einfach ausgeblendet. Die Apartheidgesetze machten es möglich, dass
Berührungspunkte so gut wie nicht existent waren. Klar, man habe schwarze
Angestellte gehabt, die immer da waren und immer da zu sein hatten. Um
deren Belange habe man sich aber nicht gekümmert. Man habe nichts gegen
diese Menschen gehabt, aber sie seien eben Dienstboten ohne Privatleben
gewesen. Vor dem Hintergrund der Bewusstseinsmachung sei die TRC nicht
hoch genug einzuschätzen.
5.5. Der südafrikanische Kirchenrat (SACC):
Bischof Patrick Matholengwe gibt sich sicher. Der Kirchenrat habe stets
versucht, zur Versöhnung beizutragen. Nicht zuletzt deshalb sei man dem Projekt TRC von Anfang an positiv gegenüber gestanden. Man habe die Idee
unterstützt, die Opfer zu Wort kommen zu lassen. Er selbst habe allerdings
sein Anliegen, vor die Kommission zu treten, zurückgestellt. Seiner Ansicht
nach gab es wichtigere Fälle als seinen. Zwar sei auch er Opfer gewesen, aber
verglichen mit dem, was andere zu ertragen gehabt hätten, sei er noch gut
davongekommne, begründet er sein Verhalten. Vehement verteidigt er die
These, dass die TRC ein Erfolg sei: Es habe ein Forum gegeben, die jüngste
Geschichte Südafrikas aufzuarbeiten. Wahrheiten wurden zutage gefördert,
die sich niemand habe vorstellen können. Das sei ein Stück Wiedergutmachung und Gerechtigkeit. Zudem werde Opfern geholfen. Der Versöhnungsprozess sei angestoßen worden, müsse nun natürlich fortgeführt werden.
Hier sieht Matholengwe auch das Betätigungsfeld für die Kirchen. Da sie für
alle offen seien, könnten sie hier sicherlich eine wichtige Rolle übernehmen.
Allerdings, so gibt er zu verstehen, nationale Versöhnung könne nur dann
151
Stephan Fessen
Südafrika
gelingen, wenn sich zuvor jeder selbst mit seiner Vergangenheit versöhnt habe
und das brauche seine Zeit. Jahrzehntelange Apartheid lasse sich nicht über
Nacht beseitigen. Die Kirchen könnten allen, die es wollten, die Hand reichen.
Wer dieses Angebot ausschlage, der tue ihm leid, betont der Bischof, um dann
deutlich zu werden. Insbesondere die Weißen seien aufgefordert, zuzugeben,
dass in der Vergangenheit Verbrechen begangen worden seien. Nur solche, die
für sich den Entschluss gefasst hätten, dass ihre Zukunft in Afrika liege,
würden schließlich einsehen, dass ein Heilungsprozess notwendig sei und
daran gearbeitet werden muss. Alle anderen sollten ganz schnell gehen.
5.6. Das Umthathi-Projekt in Grahamstown:
Circa 120 Kilometer von Port Elizabeth entfernt befindet sich Grahamstown, eine Stadt mit etwa 60.000 Einwohnern, die sich insbesondere durch das
seit ein paar Jahren stattfindende Kultur-Festival einen Namen innerhalb
Südafrikas gemacht hat. Die Stadt macht einen netten, gepflegten Eindruck.
Doch das täuscht. Auch hier gibt es Townships und damit dieselben Probleme
wie in fast allen Städten Südafrikas. Nur muss Grahamstown eine zusätzlichen
Schwierigkeit bekämpfen: Es gibt so gut wie keine Industrie und damit kaum
Arbeitsplätze. Vor allem für die schwarze Bevölkerung - arbeitslos geworden,
weil sie auf den umliegenden Farmen nicht mehr gebraucht wird - bedeutet
das ein Leben in Armut. Aus Sicht Irene Walkers muss das nicht so sein. Sie
steckt nicht nur ihre gesamte Kraft, sondern ihr ganzes Leben in das Umthathi-Projekt, um den Menschen in den angrenzenden Townships zu zeigen, dass
man sich selbst eine Zukunft aufbauen kann. Ansatz ist, dass jeder das Potential hat, etwas aus sich zu machen, dass es aber an Ausbildungsmöglichkeiten fehlt. Hier greift Umthathi ein. In zahlreichen Workshops werden Interessierten Grundfähigkeiten beigebracht. Sie erhalten - soweit möglich weitere Schulungen, um die erworbenen Fähigkeiten zu verfeinern. Danach
kommt ihnen die Aufgabe zu, ihr Wissen weiterzuverbreiten. Einige Projekte
sind inzwischen so erfolgreich, dass sie sich finanziell selbst tragen oder nur
geringer Zuschüsse bedürfen. Zum Beipsiel unterhält Umthathi im Schwarzen-Township von Grahamstown eine Art Baumschule. Die dort gezogenen
Setzlinge werden an die umliegende Bevölkerung verkauft. Eine Preisausschreibung unter dem Motto: „Wer hat den schönsten Garten?“ kam gut an.
Das Township wurde grüner, die Menschen erkennen, dass sie etwas von angebauten Nutz-Pflanzen haben, dass ihnen ein Baum in der Hitze Schatten
spendet. Viele kennen das Wort Eigenverantwortung nicht. Es ist mühsam,
Verständnis zu entwickeln. Das kostet viel Geduld und viel Zeit. Das „Gardening Project“ mit inzwischen drei Angestellten ist ein voller Erfolg.
Zweimal pro Woche bekommt man hier außerdem traditionelles XhosaEssen (auch hier sind mehrere Arbeitsplätze entstanden) serviert. Alternative
Reiseveranstalter haben einen Stopp im Township von Grahamstown in ihr
Programm aufgenommen. Das Projekt brauchte nur eine Anschubfinanzierung, nun steht es auf eigenen Füßen. Irene Walker erläutert wie alles ange152
Stephan Fessen
Südafrika
fangen hat: Anfang der 90er Jahre habe es eine Art Aufbruchstimmung gegeben. Plötzlich sei alles machbar gewesen, niemand habe mehr versucht, etwas
zu verhindern, so auch in Grahamstown. Dort habe man sich zunächst einen
Überblick verschafft, was gebraucht werde. Danach habe man ein entsprechendes Angebot unterbreitet. Der nächste Punkt, das Bekanntmchen, sei
besonders schwierig gewesen. Es galt, das Misstrauen zu zerstreuen, das
gegen alles vorhanden war, was von außen herangetragen wurde. Erst nachdem einige Menschen aus dem Townships gewonnen werden konnten, habe
man Zugang bekommen und mehr Resonanz erhalten. Auf dieser Basis habe
man sich weiterentwickelt. Einige hätten schließlich den Wunsch geäußert,
etwas für ihre Gemeinde tun zu wollen. Obwohl Umthathi jahrelang mit
finanziellen Problemen zu kämpfen hatte, war dies in einigen Fällen möglich:
Toyoyo Kolithi ist Autodidakt. Durch eine Behinderung hätte er auf dem
Arbeitsmarkt keine Chance. Aber er hat seine Nische gefunden. Sind Touristen in der Stadt, arbeitet er als Führer, ansonsten geht er für das UmthathiProjekt einmal pro Woche in die Schule, um den Kindern kaufmännische
Grundkenntnisse beizubringen. Die Schüler dienen als Vermittler des Wissens
an die Eltern, von denen einige kleine Geschäfte (ohne das dazu nötige Wissen) haben. Kolithi will seinen Leuten zeigen, dass man etwas erreichen
kann, wenn man es nur will. Er wünscht sich, dass die Hautfarbe in Südafrika
in Zukunft keine Rolle mehr spielt. Seine Vision ist eine Nation, die aus vielen Kulturen besteht. Die Vergangenheit solle man ruhen lassen, meint er. Es
bringe einen nicht weiter. Man müsse sich frei machen vom Apartheid-Denken, sonst könne man keine Zukunft schaffen.
5.7. Rape Crisis - Hoffnung für die Frauen:
Carol Bower ist zufrieden. 1976 nahm ihre Organisation die Arbeit mit dem
Ziel auf, vergewaltigten Frauen zu helfen. Eine kleine Gruppe habe damals
das Problem erkannt und auf freiwilliger Basis begonnen, ein Netzwerk aufzubauen. Betroffene Frauen konnten sich Rat holen und wurden betreut. Aus
ihren Reihen wurden neue Beraterinnen ausgebildet. Es sei wichtig, dass
Frauen aus den Townships selbst diese Funktion wahrnähmen, erläutert
Bower. Jemandem, der von außerhalb komme, würde niemand vertrauen. Hier
wirke die Vergangenheit nach.
Nur drei Monate dürfen die Beraterinnen sich die Geschichten vergewaltigter Frauen anhören und Ratschläge geben. Dann müssen sie eine Pause einlegen; länger als dieses Vierteljahr soll niemand den niederschmetternden
Berichten über Gewalt, Vergewaltigung, Erniedrigung ausgesetzt sein. Die
Gefahr, Schaden davonzutragen, sei zu groß, meint Bower (zwischen April
und Juni 1998 wurden 110 neue Fälle betreut, die Beraterinnen hielten knapp
200 Sitzungen ab, etwa 1.000 Mal wurde die telefonische Beratung in
Anspruch genommen). Heute hat Rape Crisis drei Büros in den Townships
Heideveld (Coloureds) und Khayelitsha (Schwarze), ein drittes - die Zentrale befindet sich in Observatory, einer etwas besseren, vornehmlich weiß
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Stephan Fessen
Südafrika
geprägten Wohngegend von Kapstadt. Dort arbeiten Bower und einige Festangestellte und koordinieren die RC-Programme. Die Beratungstätigkeit
nimmt auch weiterhin einen wichtigen Rang ein. An Bedeutung haben zudem
vor allem die Lobby- und Rechtsarbeit gewonnen. Die bestehenden Gesetze
zu ändern, beschreibt Bower als eine der zentralen Anliegen von RC. Noch
immer hätten in Südafrika veraltete Bestimmungen Gültigkeit; so ist zum Beispiel nur dann von Vergewaltigung die Rede, wenn sich ein Mann an einer
Frau vergeht. Sexuelle Verbrechen an Kindern oder gleichgeschlechtliche Vergewaltigung sind rein juristisch gesehen nicht existent. Doch erst seit wenigen Jahren ist es möglich, an den veralteten Gesetzen zu rütteln. Niemand in
der alten Regierung kümmerte sich um die Belange der Townships; sie wurden ignoriert, waren im weißen Alltag schlichtweg nicht vorhanden. Außerdem bietet RC zahlreiche Kurse an. Vor allem dadurch gelang es der Organisation, sich einen guten Ruf in den Townships aufzubauen. Die Arbeit trägt
erste Früchte. Immer mehr Frauen holen sich Rat, versuchen, ihrem Elend zu
entfliehen, wenden sich gegen die Tradition, lassen sich nicht mehr von
Familien- oder Gemeinschaftszwang unter Druck setzen. Der Mann dürfe
nicht mehr glauben, er könne mit der Frau, die er geheiratet habe, alles
machen, weil er sie besitze (eines der größten Probleme ist, dass Vergewaltigung gar nicht als Verbrechen wahrgenommen wird), sagt Bower. Vereinzelt
gab es inzwischen Anklagen gegen Vergewaltiger. RC ist auch in Schulen
aktiv geworden, leistet dort Aufklärungsarbeit. Ein entsprechendes Programm
wurde in Heideveld entwickelt. Benita Moolman erzählt stolz von der Umsetzung der Idee „The birds and the bees“. Im April 1998 fanden erste Kurse
statt. Aufklärung bei 11- bis 14-jährigen Schülerinnen sowie bei Mädchen im
Alter zwischen 15 und 20. Ziel ist es, später auch Jungen miteinzubeziehen.
Probleme gibt es zuhauf. Manchmal findet man keine geeigneten Räumlichkeiten, Vorurteile müssen abgebaut werden. Die Bevölkerung von Heideveld steht diesem Programm noch sehr distanziert gegenüber. Man ist es
nicht gewöhnt, dass sich jemand von außen einmischt. Solche und andere Hindernisse gibt es auch in Khayelitsha, wo Ntombonzi Tinto für RC aktiv ist.
Khayelithsa ist besonders berüchtigt. Hier leben mehrere hunderttausend
Menschen auf engstem Raum, die meisten in ärmlichen Hütten. Die Kriminalitätsrate ist erschreckend hoch. Misstrauen gegen jeden und alles gehört
zum Überleben. Eines der größten Probleme für Tinto ist es, dass vergewaltigte Frauen meist erst dann zu RC kommen, wenn sie gar keinen anderen
Ausweg mehr sehen. Dann sei es häufig zu spät, um noch gerichtliche Schritte
einleiten zu können. In einem solchen Fall bleibe nur Beratung und die Hoffnung, dass es keine Wiederholung gebe.
Durch die Arbeit von Rape Crisis wird die Gewalt in den Townships vermindert. Frauen, die sich wehren können, lassen sich nicht mehr so viel
gefallen, können mit Konflikten besser fertig werden, können Veränderungen
bewirken. In einem Gebiet, in dem Gewalt zum Alltag gehört, ist das wichtig. Außerdem versucht die Organisation, nach und nach auch die Männer miteinzubeziehen, mehr Verständnis zu schaffen und damit ein Stück Versöhnung.
154
Stephan Fessen
Südafrika
5.8. Peace and Development Project Western Cape (PDP):
Wolfgang Burgmer leitet das seit 1994 existierende PDP mit Erfolg. Es handelt sich um den Versuch, die besonders gewalttätigen Townships (in Kapstadt) zu befrieden. Das Hauptaugenmerk liegt dabei auf der Jugend, die in
den Ghettos ohne Perspektive lebt. Eine gewisse Schulbildung ist eine der Voraussetzungen, um am PDP-Projekt teilnehmen zu können. Die Jugendlichen
werden von der Straße geholt, erhalten eine mehrwöchige Ausbildung über
Konflikt-Vermeidungs-Strategien und patroullieren (unbewaffnet) durch ihre
Viertel. Ziel ist es, Konflikte, Streitigkeiten und Gewalt zu unterbinden, zu
schlichten oder zu vermeiden. Die Zusammenarbeit mit den lokalen Behörden ist ein weiterer wichtiger Aspekt des Programms, das vom Auswärtigen
Amt in Bonn unterstützt wird und einmal auf eigenen Beinen stehen soll. Die
Behörden erhalten Informationen und können besser auf die Bedürfnisse
ihrer Gemeinden reagieren. Die „Peace-Worker“, die immer in Gruppen zwischen sechs und acht Personen unterwegs sind, erhalten ein geringes Entgelt
und die Perspektive, nach Beendigung ihrer einjährigen Tätigkeit einen Ausbildungs- oder Studienplatz zu bekommen. Seit PDP im Township Langha
aktiv ist, ging die Kriminalitätsrate um 25 Prozent zurück.
5.9. Centre for the Studies of Violence and Reconciliation (CSVR):
Das CSVR ist eine 1989 gegründete Nicht-Regierungs-Organisation, die es
sich zur Aufgabe gemacht hat, einen Beitrag zum friedlichen Wandel in Südafrika beizutragen. Das CSVR begleitete und untersuchte die TRC (siehe auch
4.2.) von Anfang an. Mit Beendigung der Anhörungen vor dem Menschenrechtsausschuss wurde klar, dass man damit nicht zugleich auch die Untersuchung der TRC einstellen konnte. Also wurde die sogenannte „Transition
and Reconciliation Unit“ gegründet. Ziel war und ist es, mit dem vorhandenen Sachwissen Versöhnung, Demokratie und die Entwicklung einer Menschenrechtskultur in Südafrika zu unterstützen. Die Ergebnisse der neuen
Untersuchungen sollen der Regierung sowie den Gemeinden zugute kommen.
Wichtig ist den Forschern auch, den Versöhnungsprozess verständlich zu
machen, psychologische, soziale und juristische Hilfe anzubieten sowie den
Opfern weiter eine Stimme zu geben. Unter dem Dach des CSVR existieren
daher auch eine „Trauma-Clinic“ und die „Khulumani“-Gruppen. Beide bieten Beratung für Menschen an, die unter Gewalt gelitten haben. In der
Trauma-Klinik finden außerdem Workshops zum Thema Gewalt statt. Diese
Kurse richten sich nicht nur an Opfer, sondern auch an Sozialarbeiter oder
Polizisten. Traumatisierte Menschen sollen wieder in die Lage versetzt werden, sich in die Gesellschaft zu integrieren. Die Khulumani-Gruppen wurden
1995 ins Leben gerufen, um das aufzufangen, was die TRC angestoßen
beziehungsweise hinterlassen hat. Khulumani bedeutet „Sprich es aus!“.
Alle, die es wollen und vor der TRC nicht die Gelegenheit erhalten haben, ihre
Geschichte zu erzählen, sollen es hier tun können. Zudem wird praktische
155
Stephan Fessen
Südafrika
Hilfe angeboten (z.B. Formular-Ausfüllen). Khulumani leistet ein unschätzbaren Dienst in Gemeinden, in denen durch die Gewalt der letzten Jahrzehnte tiefe Gräben entstanden sind. Ähnlich wie CSVR arbeitet aus das
„Centre of Conflict Resolution“ in Kapstadt. Der Ansatz ist noch wissenschaftlicher als der von CSVR, aber das Ziel ist das gleiche: Einen Beitrag leisten, damit Südafrika befriedet werden kann.
6. Fazit:
Nach allem, was ich während meines Aufenthalts in Südafrika gesehen,
erlebt und erfahren habe, fällt das Fazit sehr nüchtern aus: Die Wahrheits- und
Versöhnungskommission hat 20.000 Statements bearbeitet, geprüft und dokumentiert. 2.000 Menschen konnten sich die Last der Vergangenheit von der
Seele reden. 7.000 Personen haben das Angebot wahrgenommen und einen
Amnestieantrag gestellt (die meisten wurden allerdings abschlägig beschieden). Diese Zahlen lassen nur erahnen, wieviele Menschenrechtsverletzungen
es in Südafrika tatsächlich gegeben haben muss. Das gilt vor allem, wenn man
bedenkt, dass sich die TRC nur mit schweren Menschenrechtsverletzungen
befasste. Wer gefoltert wurde, aber keinen bleibenden Schaden davontrug, fiel
durch das Anhörungsraster. Auch Verbrechen, die im Rahmen gültiger Apartheid-Gesetze begangen wurden, fanden vor der TRC keine Beachtung;
genannt seien hier nur „Group Area Act“, „Job Reservation ACT“). Trotzdem
begrüßte die schwarze Bevölkerung die TRC und nahm sie an. Die Erwartungen konnte das Gremium allerdings nie erfüllen. Dieser Eindruck hat
sich in vielen Gesprächen vor allem mit Schwarzen verfestigt. Nur 10 Prozent
der Antragsteller fanden vor dem Menschenrechtsausschuss Gehör. Mit den
Nachforschungen zu Verbrechen, die jahrelang zurücklagen, war die Investigative Unit überfordert. Immer wieder waren Vorwürfe zu hören, dass Informationen und Antworten von seiten der TRC nur spärlich geflossen seien. In
den meisten Orten zeigte sich die Kommission nur ein einziges Mal. Unzufriedenheit und Frust waren die Folge. Die TRC stand außerdem von Anfang
an unter Zeitdruck. Wie sollten unter solchen Umständen dreißig Jahre Menschenrechtsverletzungen in zweieinhalb Jahren aufgearbeitet werden? Chronisch unterbesetzt und stets am finanziellen Abgrund arbeitend stieß die TRC
zudem bei der weißen Bevölkerung und bei den meisten ‘weißen’ Parteien auf
wenig Kooperationsbereitschaft. Dies gilt auch für den regierenden ANC, der
sich vor allem kurz vor der Veröffentlichung des Abschlussberichts in negativer Hinsicht hervorgetan hat. Die Herausgabe sollte verhindert werden,
weil auch der ANC in Zusammenhang mit Menschenrechtsverletzungen
darin erwähnt wird. Vehement wird die Ansicht vertreten, während des Befreiungskampfes begangene Verbrechen seien weniger schwerwiegend als die des
früheren Apartheid-Regimes. Die „Inkatha Freedom Party“ (IFP) von Innenminister Buthelezi hat der TRC stets die Zusammenarbeit verweigert. Bekannt
ist, dass die IFP und das Apartheid-Regime Berührungspunkte hatten. Aber
die Drohung Buthelezis, Südafrika werde brennen, falls die TRC Inkatha156
Stephan Fessen
Südafrika
Leute behelligen sollte, wurde ernst genommen. Zu einem Statement zur TRC
war trotz meines starken Bemühens niemand aus den Reihen der IFP bereit.
Die „National Party“ konnte sich bislang noch nicht von ihrer Vergangenheit
lösen. Sie tut sich schwer die neuen Verhältnisse zu akzeptieren. Ihren anfänglichen Widerstand gegen die TRC gab sie nur vorübergehend auf. Die Kommission wurde immer wieder in Frage gestellt und als Instrument bezeichnet,
das benutzt werde, um mit der alten Regierung abzurechnen (von ‘witch
hunt’ war die Rede). Einzig die „Democratic Party“ kann als hauptsächlich
weiß geprägte Partei auf eine unbelastete Vergangenheit zurückblicken und der
TRC eine positive Seite abgewinnen.
Die in das Amnestie-Angebot gesteckte Hoffnung erwies sich als Fehlschlag. Nur vereinzelt zeigten sich ehemals ranghohe Politiker oder Militärs
bereit, die Tür zur Vergangenheit einen Spalt breit zu öffnen. Mehr aber auch
nicht. Das zeigen die Anhörungen, die ich in Bloemfontein und Pretoria mitverfolgen konnte. Die meisten Apartheid-Politiker gehen offenbar davon aus,
nicht entlarvt werden zu können. Sie ziehen es vor, der Geschichte schweigend
ihren Lauf zu lassen und hoffen darauf, dass beim großen Feuer auf dem Hof
der Geheimpolizei in Pretoria auch sie betreffende Dokumente in den Flammen zu Asche wurden. Der Amnestie-Gedanke stieß außerdem bei vielen
Angehörigen von Opfern auf wenig Gegenliebe. Beispiele hierfür sind die
Hinterbliebenen von Studentenführer Steve Biko oder der Anti-ApartheidAktivistin Ruth First. In ihren Augen ist es falsch, Folterer und Mörder freizulassen, wenn sich diese im Gegenzug lediglich bereit erklären müssen, die
volle Wahrheit über eine Begebenheit zu erzählen. Eine Wahrheit, die nur die
Wahrheit der Berichtenden sein kann, weil es nichts und niemanden gibt, der
das Erzählte widerlegen könnte.
Trotz der genannten Unzulänglichkeiten meine ich aber doch, dass die
Wahrheits- und Versöhnungskommission das Gesicht Südafrikas tatsächlich
verändert hat. Das wird an Hand von zwei Dingen deutlich: Erstens stellte die
TRC einen Kompromiss dar, mit der sowohl die alten Machthaber als auch die
neue Regierung leben konnten. Die Übergabe der Macht konnte dadurch
relativ friedlich gestaltet werden (wobei ‘relativ’ mit starken Einschränkungen verbunden ist, schließlich wurden zwischen 1990 und 1994 15.000 Menschen bei politisch motivierten Gewalttaten getötet). Zweitens: Zwar wird die
TRC längst nicht mehr von allen Bevölkerungsgruppen wahrgenommen,
aber sie hat eines tatsächlich erreicht: Niemand kann noch behaupten, nichts
über die Greueltaten der Apartheid-Ära wissen zu können (wenngleich die im
Rundfunk übertragenen Anhörungen nach Aussagen vieler Weißer im Laufe
der Zeit zum Abschaltfaktor wurden). Nicht vergessen darf man auch, dass
höchstwahrscheinlich nie so viel Wahrheit ans Licht gekommen wäre, hätte
man auf Gerichte vertraut. Ohne (schriftliche) Beweise ist die Bereitschaft
auszusagen sicherlich noch geringer, als das ohnehin schon der Fall war.
Außerdem kann man davon ausgehen, dass Gerichtsverfahren die tiefen Gräben in der südafrikanischen Gesellschaft verfestigt hätten. In der schwarzen
Bevölkerung gibt es nach meinem Eindruck nur wenige, die Wert auf ein
Gerichtsverfahren legen würden. Wichtiger ist es, die Wahrheit zu erfahren
157
Stephan Fessen
Südafrika
und zu wissen, wo Angehörige verscharrt worden sind, um deren sterbliche
Überreste bestatten zu können. Nur so kann der Geist des Toten Frieden finden.
Betrachtet man die schlechte Ausstattung und das strenge Zeitkorsett der
TRC sowie die stetigen Appelle in die Zukunft zu blicken, wenn die Kommission ihre Arbeit erledigt hat, dann wird deutlich, dass das Gremium hauptsächlich den oben erwähnten politschen Zweck erfüllen sollte nämlich den
friedlichen Übergang von der alten zur neuen Regierung. Diesen Zweck hat
die TRC erfüllt. Zusätzlich hat sie durch ihre Tätigkeit eine Grundlage
geschaffen, auf der viele Nicht-Regierungs-Organisationen (NGO) aufbauen
können. Die NGO’s leisten einen unschätzbaren Dienst, denn sie versuchen,
die Folgen der Apartheid zu beseitigen. Außerdem sind sie in der Lage, an die
örtlichen Gegebenheiten angepasste Programme anzubieten, um den Menschen Perspektiven zu eröffnen. Beispiele wurden vorgestellt. Einigen Organisationen ist es gelungen, ein Stück Gewalt aus der Gesellschaft zu verbannen. Das ist wichtig in einem Land, in dem Gewalt nach wie vor eines der
größten Probleme darstellt. Auch die Staatsspitze hat das erkannt: „Die Beseitigung von Ungleichheit und Armut ist die beste Garantie für die Überwindung von Verbrechen, Instabilität und Spannungen in den Kommunen“, sagte
Mandela im Winter 1998 auf einem Kongress, der anlässlich der Gewalt
gegen weiße Farmer in Kwa Zulu/Natal und Mpumalanga anberaumt wurde
(seit 1994 wurde dort rund 600 weiße Farmer ermordet). Zudem belasten viele
ungelöste Fragen das Verhältnis zwischen Schwarzen und Weißen. Zum Beispiel besitzt die weiße Minderheit trotz der vom ANC versprochenen Bodenreform noch immer 80 Prozent des Landes. Hohe Arbeitslosigkeit, die Armut,
der latent vorhandene Rassismus und die daraus resultierende Perspektivlosigkeit bieten ebenfalls keine guten Voraussetzungen für den erfolgreichen
Aufbau eines Landes. Das klingt sehr düster. Aus meiner Sicht gibt es aber
auch Hoffnung. Sie wird getragen von Menschen, die daran glauben, eine
Gesellschaft ohne Rassenhass und ohne Gewalt aufbauen zu können. Sie wissen, dass die TRC nur den Anstoß zur nationalen Versöhnung geben konnte.
Und sie wissen, dass sie deswegen noch einen langen Weg vor sich haben.
158
Reham Halaseh
Unlimited free dimensions
governed by harmony
Germany from 01.09. - 28.02.1998
159
Inhalt
Words of thanks
162
My first time
162
Finally in Germany
164
The Goethe Institute: learning and getting to know Germany
164
Knowing Germany and Europe
166
Iserlohner Kreisanzeiger
167
Weimar: Europe`s cultural centre / 1999
167
Buchenwald
168
Bonn
169
Christmas in Germany
171
WDR: Mehr hören - Mehr sehen
171
Deutsche Welle: One big world
174
Kölle alaaf
174
Schlusswort
175
161
Reham Halaseh
Deutschland
Reham Halaseh, born 1972 in Jerusalem, from
Bethlehem University. Started working with
Palestinian Broadcasting Corporation (PBC) in
1994. Took several courses in Journalistic and
scientific translation. Worked with UNDP on a
documentary film about Bethlehem 2000. Speaks English and German.
Words of thanks
First of all I would like to extend my deepest and warmest gratitude and
thanks to Frau Op de Hipt for all her help, support and assistance, and mostly
for being there for us. She had dedicated her time to help us in a way I found
so touching. She would call almost every day to ask how our day was, and if
we had any problems. I was always astonished because when ever I had a test,
she would call and ask how it was, and I was pleased that she cared. Also, I
would like to thank Frau Ingrid Lategahn, who is a German TV professional
sent by CIM to train TV personnel nel at the Palestinian Broadcasting Corporation (PBC), Frau Lategahn was the one who told us about the Heinz Kühn - Stiftung and encouraged us to apply for a scholarship. She always called to make sure we were fine and happy in Germany. Also, I would like to
thank the teachers and the personnel at the Goethe Institute, particularly: Frau
Barbara Frankenberg, Frau Marles Happe and Herr Andreas Deutschman.
During my first days at Goethe Institute, I was a little bit depressed because
I found the German language really difficult. I had learned German at school,
but I almost forgot everything because I never used the language. Frau Barbara had always encouraged me, and she had always said: ‘I know that the
German language is in your brain, you had learned German for a long time
and it is all there somewhere, it will come back, just give it time’.Also, I would
like to thank all the people who assisted us in the Heinz - Kühn - Stiftung,
Goethe Institute - Iserlohn and in WRD and made our stay in Germany useful and interesting.
My first time
It was the first time for me. The first time in everything, well - not everything. It was the first time I travelled abroad, the first time I travelled by
plane, the first time I visited Europe and consequently, the first time I visited
162
Reham Halaseh
Deutschland
Germany. Travelling was a bit of a problem to me. In 1992 I was forbidden
by an Israeli military court order from leaving the country as a means of
punishment for what they called ‘being active and taking part in demonstrations against the Israelis’. In 1995 my lawyer won a court sentence abolishing
the first, and I was able once again to travel. I recevied after that several invitations to visit media institutions in European countries. At that time Palestinians used to travel using either Jordanian Passports (only to cross the Jordan
River and then to travel from Amman Airport) or Israeli Travel documents, not
really a proper passport. Of course at the time you will need a lot of other
papers with a lot of signatures from all places to ‘prove’ that you are not a terrorist, and one of those papers was a document that will allow you to travel to
Tel Aviv (a permit).
At one time I had an invitation to visit Germany. I was glad that I could travel and go abroad. I had all my documents and necessary papers ready, and I
was sure that the next day I would be in Germany. But it was only a dream, for
at the Ben Gorion Airport in Tel Aviv, a ‘security’ check up was conducted usually such check ups last from 2 to 3 or even more hours, depending on your
nationality, where you are going to, what your profession is, and a lot of other
questions, or in other words reasons to prevent you from going abroad. One
of the security personnel came and wanted to check my passport and my documents. Of course three or even four weeks before I was supposed to travel, I
had to run from one place to the other in order to get all the necessary papers
and documents. Then the Israeli security personnel at the airport took my travel document and the other papers. He came back after half an hour. The plane
had already gone, so I had to postpone my flight to the next day. The next day
I was at the airport with all my papers once again. When the same security personnel made the check up he told me that one very important paper was missing. I inquired what it was and he said the permit to come to Tel Aviv, ‘But I
have it and it is pinned to the inside of the Travel document’, He opened the
travel document and there was nothing inside. The place where it was pinned
was visible, but it was not there. Then I was really angry and I demanded to
speak with someone in charge. When he came, I told him that they themselves have taken the paper out when I was here yesterday, because when I was
delayed at the check up yesterday and could not travel, I went home and everything in my bags and of course my documents were kept as they are and
were not to be touched or removed. But, whom would they believe: me or their
security personnel. And so my travelling days were over, and I said to myself
that travelling was not meant for me, and that I would never travel or even try
to travel once again.
Then, one day I heard about the Heinz-Kühn-Stiftung in Düsseldorf, and
the scholarships it offers. I was tempted to apply, because from the experience
of my colleagues at work, who have attended training courses in various
countries, language was a big problem and it prevented the trainees from benefeting 100 % from the course. And so, when I heard that the scholarship consisted of two German Language courses and then the practical training, I
found it most convenient. It was an opportunity to learn German and live in
163
Reham Halaseh
Deutschland
Germany with Germans for 6 months. And in order not to have any problems
at the Airport with the Israeli Security, my husband and I decided to go to Jordan and to travel to Germany from Amman Airport.
Finally in Germany
My first day in Germany was a day full of destress. We had to wake up at 3
in the morning to go to Amman Airport. Our plane was due to fly very early
in the morning. Our flight from Amman to Paris was supposed to last 5
hours, but due to some reasons there was a delay and so it was a 6 hour flight.
I did not like the food offered on board the plane so I stayed hungry the whole
time. Then due to the one hour delay in arriving to Paris, we had to run
quickly and find out from where our plane to Düsseldorf was supposed to take
off. The difference in time between the two flights was one hour, and since we
were delayed one hour, then there was no time for us to have a rest, or even
buy anything to eat or drink in that short rest period. When we finally were
ready to get on board the plane to Düsseldorf we were told there was another
delay, and so we had to sit and wait.
When we finally reached Düsseldorf, we tried to look for our luggage, but
without success. Obviously it had not left Paris. I was depressed, tired and hungry, and then no luggage. The whole time we were in the plane I was thinking
of the time when we’d reach the place we’re going to stay in, then I would have
a hot bath, wear something comfortable, and we would eat something good
and delicious. We had to run from one place to the other in order to inquire
about our luggage, then we gave details about the whole thing to the office in
charge of missing or delayed luggage. Then we were welcomed by Ruth
from the Heinz-Kühn-Stiftung, she was really very nice, and had been waiting
for us to arrive, and I felt that things might start to get better. She went with
us and spoke with the people in the office of missing luggage and gave them
the address of the hotel we were going to stay in that night.
With Ruth there was a tall, American styled, young man. Untill that moment
I had not noticed him. When we were about to get in the car to go to the hotel,
he came forward and introduced himself: ‘I am Ivan, from Croatia’, and we
shook hands. The way he came and introduced himself, with that big smile,
like comforting us, knowing how distressed we were that our luggage was missing, I knew that we would be very close and good friends, and so it was.
Goethe Institute: learning and getting to know Germany
We arrived to Iserlohn on a Monday. It was a cloudy day, and as usual there
was some rain. I could recall that day as if it happened yesterday. Everybody
at Goethe Institute was so friendly and smiling. Goethe Institute personnel welcomed us, helped us with our bags and they explained a little bit
about the place and then gave us a list of things we were supposed to do on that
164
Reham Halaseh
Deutschland
day. Not only the Goethe Institute personnel were helpful, but also the teachers
and the other students, who were already there since two or three months.
Most of them came, introduced themselves, and asked if we needed any
help. On that day we met three students from Yeman, and it felt good to know
that some Arabs are here also. Next day with the beginning of our first lessons,
our life in Germany began.
In Iserlohn everything was different. It always rained and there was almost
never a bit of sunshine. It was really rare to have any sun shine there. And as
my Mittelstufe 2 teacher Herr Andreas Deutschman once said’When the sun
comes out in Iserlohn, all the people run out into the streets to take photos of
it’. And one time one of the students said that he saw a small documentray film
about Iserlohn, and it was always sunny in the film, and then our teacher
said:’Yes, of course, but the film must have been made in three or four years,
because everytime they wanted to shoot something or somewhere, they had
to wait for the sun to come out!’.
During my first language course I met one student from Morokko. Khadija
is her name. We would always sit and talk about the Palestinian problem. She
always said that it was not only a problem of the Palestinians but also a problem of the whole Arab world. She would sit for hours and talk about the former Soviet Union. She could never understand why the people in countries
that once belonged to the Soviet Union are happy that they no more constitute
one big united country. That was a very big, feared but respected country, she
said, ‘now the Americans have no one to be afraid of, and they act as if they
were the police of the world. At first I also could not understand that. To us the Palestininas - the Soviet Union was our first ally, like the United States is
the everlasting ally of Israel. The USA would always take into consideration
the USSR regarding any world problem, but after there was no more USSR,
the leaders of the USA would do whatever they liked without consulting the
UN Security Council or the concerned parties, and as for us we had no allies
any more.
After two months in Germany I could understand why those nations wanted independence. I had always looked at the world from my small and narrow point of view. I had never been abroad, and I would always compaire everything to Palestine. It is a very small country, and I had never imagined that
the USSR would be so big. Whenever somebody talked about those former
USSR states demanding independence, I would laugh because to me it was
like Ramallah or Bethlehem were demanding independence and forming
their own states. Then I realised that these were nations, where each one of
them had it’s own language, traditions, history and characteristics of its people. They were independent countries put together under one government. It
also would have been a good idea to unite the world instead of having so many
borders and so many governments and leaders, at the end we are all equal and
we are all the children of Adam and Eve. This would only be possible, when
such a government would think about the benefit of it’s people first and not
itself. Khadija and I are still friends, she went back to Morokko after the end
of the first course, she was a very clever student. We still write to each other
165
Reham Halaseh
Deutschland
and hope that maybe one day all problems of the world would be resolved once
and forever.
During my second German language course at Goethe Institute there
were about 6 or 7 students from Spain. These students made Goethe
Institute so lively, that I had just at least to mention them. They were 18 or 19
years old. Everyday there would be a party at the Students House in Stennerstraße 4, and of course it would be the Spanish students. They were so full
of energy and life, all the time partiying, dancing, singing and shouting, they
never spoke in a low voice, I think they never knew how to do that, but to me
it was fun to watch them, mainly because they reminded me of our Arab characteristics. Always shouting, and laughing the whole time.
In Mittelstufe 2 I got to know one student who was a good friend of mine
and with whom I could speak freely. This was Maria from Brazil. Maria spoke
very well German, and I think that she was the best. She was older than me
and had children. I felt when she was talking with me that she was treating me
like her own daughter. She was so kind, and once I was sick and could not go
to class, and she was really worried and asked me if it was bad and if I felt any
pain. We talked also about Palestine and Brazil. She told me that the people
have a wrong idea about Brazil, and that they always think of it as a the land
of poverty. There is strong industry and people lead a comfortable life, of
course there are poor people, but it is not the majority. I told her that it’s the
same with us, because we are under occupation and because we are Arabs,
Europeans and Americans tend to treat us like poor needy and stupid people.
They don’t know that we have the highest rate of educated people among Arab
countries, and that we are a more free, open minded and democratic nation
than perhaps other countries in the region.
There was one thing she could not understand, and that was why Israelis and
Palestinians would not live together in this land. To her Palestine was the land
for both Palestinians and Israelis. She knew nothing of the Belfore Promise
for the Jews to give them a homeland in Palestine. She did not know that Palestinians were living in Palestine long before the United Nations decided a give
a homeland to the Jews after what was done to them in Europe, mainly after
World War II. It was also difficult for me to explain all this. People always tend
to believe what exists infornt of them. To her there was Israel, in which Israelis and Palestinians lived.
Knowing Germany and Europe
We have made a lot of trips with thr Goethe Institute. Trips abroad to
Amsterdam and Paris, and trips in Germany to: Münster, Altena, Bonn, Weimar, Bremen, and Wuppertal. One of my dreams was to visit Paris and London, and part of the dream came true when the Goethe Institute organized a
trip to Paris. It was just too amazing, we went in tours on foot and in bus, we
toured in the various sections of the city, and we visited the Eifel Tower, and
the Louvre. In Germany , for me the most impressive trips were the trips to
166
Reham Halaseh
Deutschland
Weimar and Bremen. Weimar introduced me to the literary and poetic face of
Germany, and Bremen introduced me to the industrial and rich face of Germany. On our way back from Bremen, I was so impressed of what advancement I have seen in the fields of industry and trade, that I said to myself:’No
wonder everybody was afraid of the union between East and West Germany.
This is a great country and a powerful nation. They have all means of self satisfaction. They possess natural resources as well as intelligent minds and experience in all fields of life, whether industry, trade, science, literature, medicine
or others’. I have always admired the German way of working: strict, hard but
fruitful, and my admiration increased the more I got to know this country. I
never realized how big and wonderful our world could be. So many people,
so many places and all fascinating and unique.
Iserlohner Kreisanzeiger
During our first German language course in Iserlohn, we were told that
there was a project between the Iserlohner newspaper ‘Iserlohner Kreiszeitung‘ and the Goethe Institute, and that every month there was a page in the
newspaper for Goethe Institute ‘Goethe - Seite’, where students would
write about their countries, their experiences in Germany or any other subject
of interest. We were seven journalists, and all had scholarships from the
Heinz - Kühn - Stiftung. The Director of the Goethe Institute told us that it
would be nice if every one of us made an interview with the other, and so we
would have articles about each one of us, but at the same time we would not
be the ones who have written them. We wuld be the ones to ask and at the
same time the ones to answer. It was very interesting. Basheer and I had to
write about Viktoria from Ukraine, and Ivan wrote about us. Our articles consisted of a mixture of personal feeling, politics, social life and every day work,
and that’s why I think they were interesting to read.
Weimar: Europe`s cultural center / 1999
Our trip to Weimar is very special to me. This place was a completely new
experience. For one thing it was in former ‘East Germany’. There was a
huge obvious difference between West and East Germany. It was like travelling from one world to another, from a developed country to a ‘less developed’ one. The difference between the two parts was vast. West Germany was
a much ‘advanced ‘place, evereything was new and modern - industry, technology, etc.... On our way to Weimer we could see that the situation in East
Germany was really bad, and most of all, bad and difficult for the simple
people who lived there.
Weimar itself is very special and unique to Germans in particular and to the
world in general. It was the home of Goethe: Germany’s greatest poet and writer.
167
Reham Halaseh
Deutschland
He had lived in Weimar from 1775 till 1832. I always have had interest in
European Literature . It was a hobby of mine to read mainly English and
French Literature. I had rarely read anything from the German Literature. Of
course, I had read ‘Faust’ and ‘Werther Leider’, but these were only in simplified forms. During our two day stay in Weimar we visited Goethe’s house
and museum and saw a film about his life and works. I was disappointed that
I had not read earlier about this genious and some of his work, but as we say
‘better late than never’. The nature surrounding Weimar, was so magnificient,
that it makes it so clear that such a great poet like Goethe would choose such
a place to be his home. We were also told by a local guide that Carl August
who lived in Weimar wanted to make the place the capital of culture and the
a center for German and European literary activities.in the 18th century, and
that is why he build libraries and sent for many poets and authors such as Goethe to come and stay in Weimar. Nowadays Weimar has one of the most
valuable literary libraries, where original works of some authors are still
reserved. Weimar is this year ,1999, the Cultural Capital of Europe, it is also
the 250 anniversary of Goethe’s birthday. There was a lot of reconstruction and
renovation taking place during our visit.
Also, there was Schillers house, I wanted to visit it but there was not time,
instead we had to visit the Bauhaus museum. It was interesting to know that
this Bauhaus, or school of Arts of Architecture, started with the beginning of
this century in 1919, but the Nazi regime had abolished such Bauhauses, and
it was forbidden during Nazi time. It was also the place where the first German republican constitution was established. In 1919 the Weimar Repubic was
established not to last long, but it was the first German Republic. It was really
a very interesting visit.
Buchenwald
On the next day, we were told that we would visit Buchenwald, and I had no
idea what that was. Then when I was told it was a former Nazi Consentration
camp, I was a little bit astonished. Such places are no exhibition. On our way
to the main gate, I was thinking:’If I was being taken to this place, and I knew
that I will never come out alive, what would be my last thoughts of the outside world, would I look at the beautiful nature surrounding the place, and be
thankful that at least I have had some happy days, or would I wonder at the
injustice of life and what wrong have I done to deserve such a fate’. My feelings were a mixture of bitterness, astonishment… At the main gate there was
only one sentece there and in German: ‘Everyone Gets What He Deserves’
What wrong did the children do to deserve such a fate, what wrong did the
women do, or the men. Their only wrong was that they stood up for what they
believed in, for their country, or for their religion. Inside everything was silent
and horrible, you could see and feel death all around you. It was a big barren,
grey land with a big huge forest surrounding it. I could fully understand why
such a consentartion camp was being built here, it was almost impossible to
168
Reham Halaseh
Deutschland
escape from such a big huge forest. Besides, there were electrical wires,
guards, watch towers and dogs. Inside we saw the gas chambers, and in other
corners of the big camp some paintings done by the former prisoners were
exhibited. I could feel the shivering of the hand that drew such paintings, the
pain and misery. It was a sort of connection with the outside ‘free’world, and
a way of registering the pain of one who is being dragged to untimely death.
Then we saw a documentary film about the place, and how the American
and British allies came to the place with the end of the war and the defeat of
the Nazi armies. This was live footage taken from the place, dead people being
piled up as if they were some kind of dirt or rubbish. Others who miraculously
survived barely alive, they were simply human skeletons. Then the American
general ordered his men to bring the people of Weimar to the camp. When they
came and saw what was going on, they were shocked and some of them were
crying. The American General asked if they knew about all this, and they said
that they never knew, then he said to them: ‘We are so far away and we knew
that such thing was takinmg place here, and you, so close to the camp and you
never knew, I can’t believe it, this is a lie’. I also find it very difficut to believe
that they did not know about it. People being killed in such a horrible way, and
what about the prisoners who excaped from Buchenwald, didn’t any of them
mention what was going on.
From the names and tags of prisoners I have seen in Buchenwald, I have
realized that not only Jews, or members of resisitance from countries occupied
by Nazis face such a horrible fate in Buchenwald, there were also Germans
who stood up for what they believed in, they were against the Nazis, they did
not want to be part of that regime, they beleived in freedom and liberty to all
nations, and so they had to pay the price.
Bonn
During Christmas holidays we received an invitation from a German friend
to visit her in Bonn. We stayed in Bonn for a couple of days. These were our
happiest days in Germany. We would go every day to the city center, walk
around, sit a little bit in the main square and enjoy the sun. The people there
are very friendly and helpful. We wanted to visit Beethoven’s house, but we
did not exactly know where it was, so we asked a man to describe the way. He
not only described the way to reach the house, but also went with us, to make
sure we found it. In the main market, the fruit and vegetable sellers were shouting out the prices of the various fruits and vegetables, it was like we were walking in Ramallah, Bethlehem or Jerusalem. Everyone was smiling, children
playing in the streets of the main square, old women sitting together and talking, the sun shining, and even to my astonishment, women sitting at the window sells of their houses and watching the people in the market. It was like a
piece of Palestine was placed here in Germany. You could feel the warmth of
the people against the cold weather. To me this was the warm heart of Germany.
169
Reham Halaseh
Deutschland
Our Old Friend From the ‘Zug’
On our way back from Bonn to Iserlohn, we sat next to an old woman in the
train. At first no one of us said one single word, but after some time the woman
said that the sun was coming in her eyes and she asked if she could change her
place, we said it was alright and then she asked us from where we are, and
we replied: ‘From Jerusalem’. She did not give us the chance to add anything
more, for she immediately said: ‘I have nothing against Jews, I am No Nazi and
never was’. Then she started talking about the Nazis and that neither her
family nor a lot other Germans had anything to do with Nazis, as if apologizing for what had happened during World War II. Then when finally she had
a little break, I said: ‘We are not Jews, we are Palestinian Arabs from Jerusalem, from Palestine’. She was a little bit shocked, or maybe a little bit embarrassed because she kept talking about Jews without giving us a chance to say
that we were not. But she recovered quickly from the shock and once again
started talking about the Palestinian problem. She knew about it and about the
Peace Process and the Israeli Occuptaion of the West Bank, and the problems
concerning withdrawal and Jerusalem. I was really pleased that she knew so
much and that she had given some of her time to hear about this problem. We
discussed about this problem and the Israeli obstacles being placed every now
and then in order to hinder the Peace Agreement. She sympathised with us.
She was pleased to see that we were forigenrs, yet we spoke with her in German. She asked us what we think of Germany and whether we liked it here or
not, we answed that it was really a very good experience for us.
Then she asked if we would like to stay here in Germany, ‘Yes I would’ I
said, but that was only to myself, I told her: ‘Everything is great here, but our
home is where our work, families and friends are’. I felt she was relieved to
hear this, for then she started talking about foreigners who come here, to work
or study and they stay and receive German citizenship, then they bring their
brothers and sisters also to live in Germany. I knew what she was takling
about. I have had a lot in the last four months about this problem. She was particularly annoyed that these people, who have been living in Germany since
15 or 20 years don’t speak German. They don’t even bother to learn German
or ‘even when they know German’ they don’t want to speak in German.They
want German citizenship, but at the same time they want to remain foreigners.
She did not feel good about such an attitude Then she said that it was not that
easy and comfortable in Germany, now with the East and West parts united
once again, pensions are less, and taxes are more in order to cover for the deficiency in East Germany.
To conclude: It was a long conversation, but interesting. Then to my amazement she started talking about her private life, I left happy because she liked
us enough to speak about so private things in her life. And when finally we
reached our station she said: ‘The most precious thing a person can have is
health and so I wish you both good health and long life and happiness’. It was
the first time I saw that old woman, and maybe the last, but I will never forget her, because I could feel her wishes for us coming deep from the heart.
170
Reham Halaseh
Deutschland
Christmas in Germany
It was a custom of mine to celebrate Christmas every year in Bethlehem. I
would go with friends or relatives to the old city, walk around, and then visit
the Nativity Church. We would spend Christmas Eve with all others who have
come from everywhere in front of the Nativity Church. Usually there would
be a lot of fire works, singing and dancing. At midnight most of the people
present would go into the church to participate in the Midnight mass. It is also
a tradition in Palestine that the Patriarch would come from Jerusalem to
Bethlehem in a huge parade, and at the entrance of Bethlehem a big crowd
would welcome him. This crowd normally consisted of representatives of the
various Christian sekts, representatives of the Moslems in the area of Bethlehem, mayors and heads of the various towns and villages in the district of
Bethlehem. Then they would all go together to the Nativity Church.
Here in Germany I have witnessed other Christmas traditions. The streets
of Iserlohn were decorated for Christmas from the first of November. We had
an Advent calender in our class with how many days remaining till Christmas.
Then, a week before Christmas, our teacher Barbara Frankenberg organized
a small Christmas ‘party’ at Goethe Institute, where students from various
countries sat together and sang Christmas corals in German. It was very nice
and it reminded me of my school days, where we used to sing Christmas carols
in our last music lesson before the Christmas holidays. Then of course there
was the Christmas celebration with Santa Claus and a lot of gifts. We were
invited to a Christmas family dinner .
Our teacher Frau Frankenberg had invited the students who spent Christmas
in Iserlohn to a warm traditional German dinner. We sat by candle light and
near us there was a wonderfully decorated Christmas tree. We sat and talked
like one big family about our traditions and habits. It was like an international dinner, for there were students from Japan, Croatia, Ukraine, Lettland and
last but not least Palestine. We were also invited by Frau Op de Hipt for dinner, where we talked for hours about various subjects including our own
experiences at home and in Germany. It felt good to know there are people
who would welcome you into their homes and hearts, and with whom you
would feel you are no stranger , but at home among family.
WDR: Mehr hören - Mehr sehen
We had to do a two month practical training at WRD studio in Siegen. I was
very disappointed at the beginning because I thought that the practical
will take place in WDR in Cologne. It would have been a chance to see work
in a big station and also to live for two month in such a city as Cologne: the
capital of German media. Siegen was to the very south of North RhineWestphalia. It was cold most of the time, well the sun practically never
shone during our stay there. But at least it was a big city, not in any way like
Iserlohn. The people still went to bed early, and all shops would be closed at
171
Reham Halaseh
Deutschland
7 or 8, but still there was a lot to be seen. It was a lively place, and that was
good.
Our first day at WDR was a Monday, we arrived there at 12 and we were
accompanied by Frau Op de Hipt. We were introduced to the others and the
radio editor called Stefan Michel took and showed us the whole studio. He was
very nice and helpful. I was to stay in the radio for two weeks and then I would
go to the TV. The work in the radio was never interesting to me as with TV.
I went with Stefan to a number of press conferences, and with another radio
editor who went to make some interviews with the peopel in the streets.
It was really very difficult for me to cope witz the people in the radio section. Most of them where very friendly and helpful, and I had enjoyed talking
with them, but the working conditions under which we where all placed were
not that comfortable, which in turn affected us all. I had been told that some
time ago the WDR Studio in Siegen was given sufficient time for local radio
and TV programmes, but a new policy was being passed by the main Studio
in Köln, which prevented small regional studios such as Siegen studio from
having long hours of local transmission. They would only transmit one radio
newsbroadcast every hour (for only 2 or 3 minutes), and one TV news broadcast for half an hour. The radio crews would usually sit in their offices or
the technicians would usually sit in the studio or editing rooms, and most of
the time there would be nothing to be done.
It was very frustrating for everybody and they were all complaining. Some
of them told me that this policy was not good for the WDR in general,
because they would lose more an more listeners to the newly opened private
radio stations, but nobody would listen to them. One technician told me that
the private stations in Siegen are now broadcasting the same type of programmes the WDR Studio in Siegen used to produce and transmit from this
studio, programmes that really interest the people here in Siegen. They were
alle complaining, but they had quarters in Cologne thought that in would be
better to have a unified programme for all regions in North-Rhine-Westphalia,
but not all people agree, because for example when I am in Siegen I would like
to hear what is going on in Siegen even it is not important, and not what is
going on in Cologne. The employees have most of the time no work to do, they
are always complaining, the people in Siegen are complaining, and WDR studio in Siegen is loosing listeners to the private stations.
As for the internal organization, I was impressed by the way thay conduct
their work, and the cooperation in which they work. I had noticed that there
was a very big number of trainees there, and I was told that whenever somebody applied for the WDR in Cologne to get training, they would send him to
Siegen. Unfortunately there was no training plan, and sometimes we would
have something to do and sometimes not. Whenever we asked to do something
we would be told that because our German is not that good we can’t conduct
our own interviews or make our own reports. I spoke with several journalists
an they told me that I spoke German well enough to do what I wanted, and
that the language was not such a problem, especially that I wa not a trainee
trying to learn a job, it is what I do and what I have been doing for some time
172
Reham Halaseh
Deutschland
now. But I thing with the TV section it was much better, everybody was nice
and they were all more cooperative. They took good care of us, whenever there
was something to be done they would tell me and I would accompany them.
Unfortunately, I was still supposed to go to the TV in February so I did not
have that much of a chance to work closely with those people.
I went with the TV crew one time to Soest, there was a story to be covered.
It was about a young boy of around twelve years old vom Eretria. He lived in
a small village near the borders with Ethiopia, and he use to study at a nearby
school in the Ethiopian part of the borders. That part of the land was previously a stage of fierce fighting between armies of both countries. It was an
area planted with land mines.
One day this small boy was going back home from school, and unfortunately he stepped on one of this mines, which almost cost him his life. He lost
one foot which was immediately amputated as a result of the explosion, and
the other leg was severly damaged, it was all burned. He lost one arm, his
lower jaw and became blind. It was obvious that he was in a very critical situation, and it was not possible to treat him in Eritria. He was operated in one
of the hospitals here in Soest. He was able once again to eat, drink and talk,
which was after the accident almost impossible. It was not that easy because
the was there since six months and he was able to speak again with a lot of difficultly only very recently.
We made an interview with the head of the hospital, with the little boy who
could speak English very well (in fact it was the way by which the doctors and
the nurses could communicate with him), and with some of the nurses who
took care of him. We were told that during the last five or more years this hospital had treated several cases such as this one, and all were small children who
were innocent victims of wars. The head of the hospital told us that this was
all possible through a German organization which has opened offices in
areas of war such as Eritria and Kabol and other parts of the world, and they
have opened clinics there to treat the victims of wars, who otherwise don’t
have the financial means to get medical treatment. But usually very critical
cases would be sent to Germany to get the necessary treatment.
It was really very interesting to hear about this organization, unfortunately
I don’t remember exactly its name, but I think it is the „Hammer Forum“ or
something like this, and from what I have seen, it was very active in helping
and assisting people who otherwise have no one to care for them in their own
country. The journalist who made the interviews told me that as soon as the
news spread that there was a young boy from Eritria, and that he was a victim of a mine explosion, a lot of his native people who were living here in Germany started calling him and several of them even visited him.
I remember that last December, when I was still in Iserlohn, I had read in
one German newspaper an article about a young boy from Bethlehem who was
brought here to Germany to get treatment from a severe disease, because the
necessary treatment for him was not available in Palestine. These young children were brought here to get treatment for severe injuries or diseases, which
otherwise was not possible in their native lands, and those German physicians
173
Reham Halaseh
Deutschland
and nurses would take these children into their hearts, and take good care of
them, and stay with them till they were well and fit again. One of the nurses
who took care of the young boy from Eritria told us that he was brought here
to Germany alone, and he had not seen any member of his family since six
months, and yet he never showed any signs of distress or homesickness. He
missed his parents and brothers and sisters of course, but the hospital team
were so friendly, helpful and kind that he never cried or asked to go home.
Deutsche Welle: One big world
Frau Op de Hipt organized for us that our second month in practical and
last month in Germany would be in Deutsche Welle, in the Arabic section.
It was very interesting, because most of our colleagues in PBC had attended
training courses at the Deutsche Welle, also our friends (the other scholarship
holders) were here. In the Arabic section we got to meet al lot of colleagues
from different Arab countries. There were three Palestinians working there and
they took good care of us. We could sit together and talk about Palestine and
one of these three spent some time at the PBC training radio people there.
They told us that some colleagues of theirs went to Palestine because a radio
training center was opened at the Bir Zeit University in Ramallah and it was
founded by the Germans. These Palestinians are training at the training centre at the moment in Ramallah.
The colleagues at the Arabic section told us that the Arabic section is one
of the biggest sections here at Deutsche Welle. I could understand that very
easily because every section here transmitted to one specific country, like the
Russian to Russia. But the Arabic section is to transmit to about 24 Arabic
countries, so in the newsbroadcast they have to mention everything that has
to do with the Arab countries or the Arabs, and it would be much and that is
why they transmit three hours daily, while other sections transmit one or one
and a half hour daily.
Deutsche Welle is one big world all gathered here in Germans, specifically
here in Cologne. I feel like one familiy member in this international media
centre. Every day we would gather in our section, discuss the major news in
the world and what interests the listeners, distribute the work and then everybody would do what we asked from him. Our news would mainly be about the
Arabic world and it would include Germany’s political point of view of world
crises and problems. It is a hard work knowing the number of listeners but also
a very interesting one. The people here are very helpful and friendly and I like
it here a lot.
Kölle Alaaf
Every year the Germans celebrate the famous carneval. It is always before the
fasting of Easter. At school in Jerusalem we had always celebrated carneval, but
174
Reham Halaseh
Deutschland
it was only a small parade and we would wear strange costumes and put on
make up. No other school celebrated this carneval and so whenever I told my
friends from Bethlehem that we had carneval they would ask what it was. Here
in Cologne I had the chance to witness the famous Cologne carneval. It was
really fascinating. Everybody dressed up in wonderful costumes. There where
people from all over the world, and all had come to watch and participate in
this carneval. I have never see the Germans so happy and full of humour.
They were talking with us and laughing and every body was friendly. The
parade itself took 6 hours and at the end of the parade there was the carriage
of the Prince of the carneval. Several carrages carried political motives and
others expressed social problems which the people were facing and talking
about daily. Also, a lot of chocolade was being thrown to the people who came
in thousands (I think there were one and a half million people in Cologne).
There were also carnevals in Düsseldorf, Bonn, Mainz and Aachen, but the
most famous and the biggest was the Cologne carneval. It was a wonderful
experience, and I hope that I can attend this huge event once again.
Schlusswort
The time I spent in Germany was a new experience for me. I met new people, had the chance to work in the WDR and at the Deutsche Welle, and visited several places in Germany and in Europe. I believe now more than ever
that peace and harmony are the solutions to all our problems. In a region like
our region where there is war, hatred and every day someone is killed all you
think of is death and sorrow. Here I was given the chance to see new places
and to express myself in more free unlimited dimensions. Once again I would
like to thank all those who made it possible for me to visit Germany, and
I hope I will have the chance to travel again an see more free dimensions.
175
Basheer Salamah
New horizens opened and
new friendships made to last
Germany from 01.09. - 28.02.1998
177
Inhalt
Words of thanks
180
Goethe Institute
180
Iman and Amr
182
Spaß, Spaß, Spaß
183
Old memories are national heritage
184
Medeival Germany: a powerful nation
185
East and West Germany: one nation; two countries
188
Christmas in Germany
189
Heinz-Kühn-Stiftung brings journalists together
190
WDR: Mehr hören - Mehr sehen
190
Deutsche Welle
193
Cologne carnival
194
Closing remarks
195
179
Basheer Salamah
Deutschland
Basheer Salama, born 1972 in Jerusalem, studied two years in Ukraina. Took several courses
with various foreign and local media institutions. Started working in PBC since 1995.
Works as Freelancer for several Arab Satellit
Stations. Speaks English, German and Russian.
Thanking words
Before I start my report, I would like to write some words of thanks to all
those who made it possible for me to visit Germany, to make a practicum here,
and most of all to have the chance to know Germany and the Germans, and
to have a close contact with them. Most of all I would like to thank Frau Op
de Hipt. She helped us a lot, and we never felt we were alone, she was with
us in the hard and the good times, and she made our stay in Germany enjoyable and beneficial. Then I would like to thank Frau Ingrid Lategahn, a German professional sent by CIM to train TV personnel at the Palestinian Broadcasting Corporation (PBC). Frau Lategahn told us about the Heinz-KühnStiftung and encouraged us to apply for a scholarship.
Also, I would like to thank the teachers and the personell at the Goethe
Institute in Iserlohn. Our time there was divided between learning German,
meeting new friends, having parties and getting to know Germany and
Europe. And I would like to thank the people at WDR Studio in Siegen. Also,
I would like to thank the Deutsche Welle, especially the head of the African/
Middle East Section Herrn De Mayer, the Arabic Section, especially the
Chief Editor, Herrn Faris, and all the colleagues there who were very friendly
and helpful.
Goethe institute
I have always enjoyed going to new places and meeting new people. I had
spent two years in Ukraine studying, and then I was in Turkey where I attended a practical training course at the TRT (Turkish Radio and TV Station), and
other places. It was the time now that I visit Germany and get to know it. To
us, Germany always represented the modern and industrial Europe. All my
colleagues who attended training courses in Germany would come back
home and would speak about the great achievements they have witnessed in
180
Basheer Salamah
Deutschland
the field of media in the various German radio and TV stations, and so to me,
it became a dream and an ambition to go to Germany and receive training
there.
I did not only fulfill my dream by receiving training at the WDR,and the
Deutsche Welle, but also I had the chance to visit several places in Germany
and to visit Paris and Amsterdam.
I spent four months in Iserlohn, attending 2 German language courses at
Goethe Institute. Among the students at the Goethe Institute were also four
other journalists who had scholarships from the Heinz-Kühn-Stiftung. One of
them was Ivan from Croatia. We met Ivan at the airport in Düsseldorf on our
first day in Germany. He was very friendly. We would talk freely and about
almost everything, and we could talk so freely and openly only with Ivan
because we felt we understood each other very well, and he would listen to you
for hours without being bored. We would sit and discuss the situation in
Palestine or in Croatia. We always felt that we knew each other a long time
ago.
Whenever the Goethe Institute planned something or planned a trip to one
of the places in Germany, we would always have our own agenda in this programme, we would go with the others to museums and exhibitions, but also
when we have free time we would walk around and get to know the place
more.
When we went to Köln to get training at the Deutsche Welle, Ivan was also
there together with Nenad from Mazedonia and Viktorya from Ukraine.
Riham and I would go almost every evening together with Ivan and walk
around in the city, and sit in some place and talk about Germany, philosophy,
religion, and all other subjects that interested the three of us.
The famous Köln Carnaval was due to take place while we were there. Daily
we would see people from all nationalities dressed in Carnaval clothes, laughing and singing. A lot of foreigners have come from all around the world especially Europe to witness this famous Carnaval.
We have had a lot of friends here in Germany and mostly through the
Goethe Institute. There was one aspect of getting to know Germany and Germans through the ‘Tandem Partner’, this would be anyone from Iserlohn or the
areas nearby, who would want to learn a foreign language from one of the students and so the Goethe Institute would bring two people together, one to learn
German and the other to learn another language such as English, French or
Spanish. This would be doe through day to day contact and conversation and
social visits. We would have liked to have such a partner to talk to about Palestine and to ask about Germany, but unfortunately nobody was interested in
Arabic, everybody wanted to learn French or Italian or other languages but not
Arabic. We could speak English well and so we could speak with these people in English, but they would have wanted a native speaker so as to learn the
language better.
181
Basheer Salamah
Deutschland
Iman and AMR
We were a big group. Our German language was not that good. There was
one student from Egypt. Her husband was studying in German, he was preparing for his Ph.D. in chemistry. I was glad that there was an Arab in my
class. But later I realized that she did not want to speak with me in Arabic, and
she rarely spoke in German. I thought she was that type of people who when
they know one sentence in a foreign language think they speak the language
very well, I was very angry but did not care after that.
Then one day they was a party at Goethe Institute, and I sat with Riham
watching the students and talking here a little bit and there a little bit. Then the
Egyptian student came and with her a man and he introduced himself as her
husband,’ Amr, and asked if they could join us. We then sat and talked a lot,
then I asked her why she would not speak with me in Arabic, and she said that
when her husband first came to Germany, he was a student at the Goethe Institut and there were two students from Tunisia, and he wanted to speak with
them, but they refused to speak with him in Arabic, not because it is better to
speak in German when you are learning German, but because they thought
now that they speak German, then the Arabic language is not good enough for
them, and that is why Iman did not want to speak with me in Arabic, because
she was afraid I would be like the two Tunisian students. We became very good
friends and they invited us to their small apartment in Iserlohn. It was the first
time we have an Arabic dinner in Germany. It was Egyptian and really delicious.
We sat for hours talking about the the political situation in our region. ‘Amr’s
brother was killed in Sinai in the War of 1973 while liberating that part of
Egypt. He was very proud of his brother, and of being an Egyptian. He said
that usually Europeans support one another and they would look at Arabs as
uncivilized people. He told us that at the University where he is preparing his
Ph.D., in the break the students used to play this game of football match on a
table where you have small figuers of players and you move them with wooden sticks. He said that they would always form two teams and play against
each other. Every time they played the heads of both teams would choose their
players from the group of students waiting to take part in the game. They had
never chosen him. He was the only Arab student and they would always
choose Germans or Europeans but never him.
Then one day, one player was missing and he knew that one of the teams
would have to choose him in order to have a full team and to play, so he just
waited till he was the only person left, and when they told him they needed
him to play to have a full number of players he said that he was not interested
and he just left. He was very angry because the only time they thought of
having him join in their game was when they needed a player and he was the
only one present. Nevertheless, he likes Germany and he told us that once you
get accustomed to living here, everything becomes better and better. The last
time we saw both of them Iman was pregnent and she was due to have a baby
in January 1999, while we were in Siegen we called her at home and asked
182
Basheer Salamah
Deutschland
what she was doing and she said that the baby was due in a couple of days. We
hope that by now they have a lovely and healthy baby.
Spaß, Spaß, Spaß
During the four months we spent at the Goethe Institute, we were engaged
in the various activities offered. We were once taken by the Goethe Institute
to visit the Studios of Radio MK. This is one of the private radio stations found
in Iserlohn. It is a small studio and the range of its transmission is not that
wide. We were very anxious to go, because it had something to do with our
profession. One technician welcomed us and explained about the whole place
and gave us some booklets. Then he took us in a tour around the place. The
studio was very small, and there were only a few people there, most of the
equipment used was analogue. They have had recently installed some digital
equipment and the technician there told us that he was still practicing on how
to use the digital equipment.
I admit I was very much disappointed. In our studios we have had the digital radio equipment installed a long time ago. But then this was only a local
private and very small radio station. But it was very interesting to hear about
their methods of working and what material interests their listeners in Iserlohn
and the area surrounding it.
During this time I have had the chance to watch some programmes of the
German TV stations, whether private or public. I have noticed that the level
of live talk show or live game programmes was very high, and a great
number of old American or British TV series were being rerun over and
over. I had always considered that a TV station with a high level of live talk
shows is not a successful one, because they would waste the time (2 to 3 hours
per programme) on discussing matters (the issue here is not whether the
subject under discussing is important or not) and so the director would be sure
that 2 to 3 hours of live talk show, then another 2 live game shows then we get
6 to 8 hours of talk or game shows, and not enough documentaries.
During our stay at the WDR Studio in Siegen, I had the chance to speak with
some of the journalists about this. They told me that usually the director tends
to use live talk shows and game shows when he has nothing else to show, and
when I noted that this meant that the programme was not that successful, they
said yes, but there was competition between the main public TV stations here
in Nordrhein Westfalen (WDR, ARD and ZDF), and a lot of private TV stations such as RTL, Sat 1 and Pro 7, and the private stations have a higher number of viewers. No one would want to watch talk shows the whole time, and
since there were not such good distribution of programmes (youth programmes, pop music and others that interest the young generation), no wonder that
most people would prefer to watch private stations.
In Palestine it was completely the opposite, everbody watched the governmental TV station, and the private TV stations did not have that many viewers
because they would only show films and songs, there were no news broadcasts,
183
Basheer Salamah
Deutschland
no cultural or political or other types of programmes, only films, and in Palestine everythig is connected with politics so everybody wants to hear news
broadcast and know what is going on in the world. Also in our country there
is the competetion coming from nearby TV stations. Our country is very small
and not like Germany and so it is very easy for us to watch the Jordanian TV,
the Syrian TV, the Egyptian TV, the Israeli TV, and the Middle East TV Station
and all this without satellite dish. We did not have our own TV station until after
the Oslo Agreement in which it was stated that the Palestinians have the right
to one radio and one TV stations. It was very difficult to do so with all the
Israeli obstacles being placed in our way. There was first the problem of deciding the wave to be used by the Palestinians, then there was the problem of
equipment and transmission network, but finally we were able to have our own
radio and TV stations which transmit daily and reach to nearby countries, and
recently we had our own satellite transmission station.
I also found it interesting that the Goethe Institute would provide some activities connected with sport. Among one of the activities offered in the Freizeit programme of the Goethe Institute was a live game of ice hockey. The
game took place in Iserlohn, it was between the Iserlohn team and the Dortmund team. This was the first time I saw a hockey game. Usually I could only
see such games on TV and I never paid any attention to them because I
found this game boring. But after I watched the game in Iserlohn, I started to
understand the rules of the game, and really enjoyed watching it. Off course
I was on the side of the Iserlohner team and they won 4 - 0. The game lasted
two hours, but it was very interesting and to me this is a game that is really
worth watching.
One time we went to Dortmund and we were told that there was a climing
club. I though it was a mountain and one would climb using robes and other
equipment, like what we have in Palestine, but to my surprise it was a only a
walls in a hall. I was discouraged when I saw this ‘mountain’, I have always
enjoyed climbing in Palestine, but in real mountains, and this was no mountain at all. Everybody was climbing, and I was watching them, then I decided
that I should try, even if it was not that interesting, It was hard at the beginning but I did enjoy it. I was pleased that our activities included sports
because it was healthy and you would have the chance to meet new people and
to see new things and it was exciting watching a football match or a hockey
game, or even playing football with students from nearby schools and getting
to know them and spend time with them.
Old Memories are a National Heritage
One time there was a big book market in the streets of Iserlohn. In Palestine
we never have such things, to sell old books in the streets, so we decided to
go and watch. There were people from all over the region. They had books,
photos, post cards and old toys and other things. It was amazing to find such
old and valuable books being sold in the streets, and more astonishing was that
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Basheer Salamah
Deutschland
a lot of these people were selling their own family photos and post cards.
These were photos from the beginning of the century, and photos from the
times of the First World War and the Second World War. There were alos post
cards from soldiers sent to their families during the war. How could somebody
sell his own family heritage?. For me it was unbeleivable.
Then there was this old woman who sat selling her own photos and photos
of her family members. I could see from the photos that she was once a very
rich person. She had lived once a very wealthy life in a big house with servants
and all the riches which such a living presents, and i seems she lost everything
during the war. I have heard about a couple of people who were rich and wealthy and from nobel families, and who lost everything as a result of the Second
World War. This woman could have been one of them, and because usually
such people had pride she would sell her own photos and the only remains she
had of her family it feed herself rather than steel or beg. I also wonder why
the government of the Nordrhein Westfalen region would not collect such old
books and photos and put them in a museum, and in return find a home or a
shelter for those people. This is part of Germany’s history and it should not be
sold in the streets in such a way as I have seen.
Mideavel Germany: a powerful Nation
It was the first time I visit a European medieval castle. This was Burg
Altena. It was so big and huge that we had to spend hours walking inside and
visiting the various parts of it. We could see the equipment and weapons that
were used by the Germans since medieval time. It was all very well preserved
and exhibited in a very unique way. We toured among the various sitting and
study rooms of the castle. It was build on the top of a mountain surrounded by
a small forest and overlooking a river. We went inside the towers of the castle
and we could see the town of Altena with all the houses scattered at the foot
of the mountain.
This visit took me back to that time in which they did not have today’s
modern facilities. I had read about German history, and about the difficulties
they faced in establishing the country.
It was thought that Germany was first to be found in the year 9 A.C. after
Armenius won a battle against three Roman legoins in the Teutoburger Forest,
and thus was considered as a national hero and a big statue was built in his
honour near Dortmund during the period from 1838 till 1875. But recently,
things have changed, it is believed now that the process of evolvement of the
German people took hundreds of years, and the word Deutsch was used in the
eights century and it refered to the language that was used in the eastern part
of the Frankish empire and which constituted a lot of groups that spoke German dialects and the other part of the empire used Roman dialects.
This empire collapsed after the death of emperor Charlemagne in 814, and
due to the various divisions that took place after his death, two kingdoms were
formed one in the East and one in the West. The language border was exactly
185
Basheer Salamah
Deutschland
the same as the political border. In the East part the German language was
being used and thus the word Deutsch was transferred from the name of the
language to mean the name of the country: Deutschland.
The German kingdom was formed from the Frankish kingdom in 911, after
the extinction of the ‘Carolingian dynasty’. ‘Conrad the First’ was elected king
and he is considered as the first German king. The kingship was based upon
electoral constitution, where the king is being elected by the nobles, and besides that the law of relatives was also vital and taken into consideration, meaning that the new king should be a relative of the old king, but this was not
always the case. The authority of the king was not necessarily being always
taken into consideration. The king was respected by the princes of the various
German clans.
This authority was reinforced by military and political authorities. This is
what the second king - the Saxon duke ‘Henry the First’ (from 919 till 936)
- was able to do. But with stronger and better authority was his son ‘Otto the
First’ - 936 till 973 - who made himself an actual ruler of the empire, by being
crowned in Rome in 962. This offered its holder the full and conclusive
power and authority of the whole west. This idea never became a political reality because the king had to go to Rome to be crowned by the Pope.
The emperorship ended in the west with the fall of the Staufer dynasty in
1268 and which began in 1138, and the fighting powers inside prevented Germany from becoming a national country, meanwhile that was taking place in
other European countries and this was one of the reasons why the Germans did
not fulfill their national identity earlier and it was to take place at a late stage.
In Palestine students usually study the history of the Islamic and the
Arabic world. We also study the history of Europe with main emphasis on
the modern history. Our study of the hitory of Europe concentrated on the
French Revolution and what followed it. We studied something about the
English history, but nothing about Germany, and I have always thought that
it may be that the Grman history is not that old, and I mean by history the political history. But here in Germany I have seen several castles, palaces, ancient
places and statues of famous Germans.
Our visit to Weimar was also very interesting and it gave us some idea about
German history. We have seen that ‘Carl August’ had brought a number of well
known authors and poets such as Goethe to live in Weimar, as he wanted to
make it a literary center of Europe. Now Weimar has one of the most important Literary heritages: consisting of Goethe’s house and museum, Schiller’s
house and museum, and a number of libraries and one of the most precious
literary archive in the world. A lot of Art and Literature students go to Weimar to look through the invaluable books found in it’s libraries.
There was also the Bauhaus, which is an architecture school. This was an
idea developed in the early days of this century, more specifically in the 1919.
Weimar at the time was a political and literary centre, and thus it was most
convenient to open such a unique school in such a place. Unfortunately and
due to the Nazi regime which ruled the country not long after this, the Bauhaus was banned. We had spent two days in Weimar. During those days we
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Basheer Salamah
Deutschland
toured around, and I was amazed to see how many old and historical buildings
where found in such a small place. But after you read the history of Weimar
it becomes all understandable and acceptable. Weimar was the home of the
first German republic.
I sometimes wonder how in a country such as Germany where in the early
1900 a democratic republic was being establihed by the people, would later and
after only a couple of years embrace a regime so inhuman such as the Nazi
regime. What is really shocking is that Hitler was elected by the people, and
he did not force himself like any other diktator. Looking through some history
books, I realized why Hitler was choosen by the German people to lead their
nation, why such a man had so much support, and why it was so easy for him
just to come out of nowhere and become well known to the Germans in a few
months.
At that time there was a world wide financial and economical crisis. The
First World War had just ended. A lot of people killed, and no economy. The
people were frustrated. Germany was divided by the League of Nations. The
situation was very bad: depression, destruction, and hunger everywhere.
Then when the general elections took place, the people were so anxious for
a change that they believed that with Hitler’s leadership things might get better. By coincidence a lot of things became better as Hitler was elected. Germany was given back the right of control over its army. Parts of Germany
which were taken away after the First World War were returned, and the economical situation became better. It was not Hitler who did all these things, it
was only coinsidence, but the people believed more and more in Hitler, and
when he staterd to declare in open his nazi ideas, and to plan to invade
Europe, a lot of Reichstag members realized what kind of a man he was, and
they stood against him, but they were either executed or expelled.
Hitler had the whole power for himself. It was the time for propaganda, he
played with the people’s feeling. He promised them of a better and a stronger
Germany. He was ‘A strong leader for a strong nation’ as he said. He told them
that Germans are the best people among other nations. But despite all of this
a lot of Germans did not beleive in him, they could see the danger that was in
such a radical person.
A lot of Germans stood against him. I read about the ‘White Rose’ group,
which consisted of young men and women who fought against such a diktator. These people payed their lives for what they beleived in. I think there
would never be an excuse for those people who stood by Hitler’s side for what
they have done, humanity will never forgive them, they had their own minds
and they should have decided for themselves whether to fight with a diktator
or to fight against him, like a lot of other Germans who decided to fight
against him, and they did so, even if it meant that they had to pay with their
lives for what they beleived in.
During our stay here in Germany we have been to several exhibitions in
Münster and in Bonn about the Second World War. People know that this war
has destroyed them as it had destroyed others. The war only brought destruction and disaster to Europe in specific and the world in general. I hope that
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Basheer Salamah
Deutschland
people will always remember that such wars only lead to disasters and in the
end nobody benefits, everybody loses, because everybody loses a brother, a
father, a family member or a friend. We have seen so much distruction in our
region that we beleive that the best thing for everbody is peace and harmony
among the world’s nations.
East and West Germany: one Nation; two countries
The second language course I attended at the Goethe Institute was full of
excitement. There were six new students from Spain. They were 18 or 19 years
old. They were full of energy, and every day there was a party in Stennerstraße 4
where they were staying. At the beginning of the course, the Spanish students
sat near each other, and three students from Turkey sat near each other, and the
students who were together in G1 sat together, and so there was not much
contact among the new and old students.
Then one day our teacher said that she did not like the arrangement in our
class. She made a new arangement in a manner that there is a young man then
a young woman then a young man then a young woman and so on. And she
did not allow the Spanish students to sit near each other, and all students who
belonged to the same nationality or spoke the same language were kept away
from each other. In time we were all very close friends and that was the best
time I have had in Germany.
There was one group of school students from Italy, who came here to
attend a language course funded by the German international cooperation
institution. They were 15 students all coming from various schools in Italy
where German was being taught. They made a research about East and West
Germany, and one day they came to our class to alk about their research and
about the results they had. They said that the people in East Germany were not
educated well enough, they hated each other, and they lived in very bad conditions. They also said that everybody was working for the secret service and
so everybody doubted everybody. These students spoke about East Germany
as if it was another world.
Then our teacher was so upset that she started crying. She had lived in East
Germany, and in the eighties she escaped to West Germany leaving everything
behind. Now she has a Ph.D. and teaches German at Goethe Institute. She
said that he situation was bad in East Germany and not as good as in West
Germany, but it was not so bad as these students described it. ‘We had our
friends, we had our families, we helped each other, and we had our dignity’,
she said.
There was one problem which I heard about almost daily during my stay in
Germany. A lot of people were complaining that with the unification, a lot of
money was to be spent on the process of ‘modernizing’ the eastern part of Germany, and so the people in West Germany had to pay more and higher taxes.
I have seen the diffence between East and West Germany during our visit to
Weimar. It was very obvious that the people there lived under very hard con188
Basheer Salamah
Deutschland
ditions. It was really like another world. A lot had to be changed so that both
parts of Germany would be the same once again. A lot of people had sacrificed and endangered their lives in order to escape to West Germany before the
fall of the Berlin Wall and the reunification.
I had always heard about the problems between East and West Germany, but
never thought it was complicated. When I heard people saying that they did
not want the unification, and that the people from East Germany did not work,
I wassurprised, because in my country we are living in a state of ‘occuption’,
and for me East Jerusalem and West Jerusalem are one Jerusalem and not two,
because I have always known Jerusalem as one city and our capital. But here
some people are really against the unification, the unification of their own
country. It is really strange for me.
Christmas in Germany
Christmas is always a very special time of the year in Palestine. First of all
because Bethlehem is the birth place of Jesus Christ, and it is a very holy place.
The Christmas of 1998 we were in Iserlohn. You could see that everybody was
happy, adults and children. Everybody was counting the days till Christmas Eve,
because it meant presents, family and most of all holidays.
On Christmas Eve, Frau Barbara Frankenberg, one of the teachers at the
Goethe Institute told us that her family intended to visit `Dechen Höhle` in Iserlohn,
and asked if we would like to join. We did know what that was, but we were
very curious to find out. When we arrived there, we found a lot of people waiting in turn to enter the Dechen Höhle. It was a big underground cave. When
finally our turn came, we entered. It was dark with a little light, like candle light.
We could see the stones forming such fascinating shapes together with water.
I think it is frozen water together with stone, which had been formed into such
strange shapes over thousands of years. Then as we walked inside we passed by
several groups of musicians who would welcome us, sing and play Christmas
carols and would give some sweets to the children. Then one man came and
explained about the whole place and how they discovered it. At the end of the
cave there was one young lady who gave us and all the other people who visited the place Christmas biscuits and wished us a happy Christmas.
During the Christmas holidays, a German teacher from Vietnam, who was a
friend of Frau Barbara Frankenberg, a teacher at the Goethe Institute, came to
Iserlohn. She had attended a two month German Language course at Goethe
Institute in Munich during November and December, and now that the course
was over she decided to visit Iserlohn. Frau Frankenberg arranged with Goethe
Institute that she (Dot) would stay in the room next to ours, so we had a new
neighbour. At that time all the other students had already left Iserlohn and
gone back home, and only very few students remained and we were among
those who spent Christmas in Iserlohn.
Every night we would sit long hours and talk with Dot about Germany, the
Germans and the Goethe Institute. She was once an English teacher, but
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Basheer Salamah
Deutschland
then she found that German is interesting and now she is a German teacher.
She said that it was very difficult for her to teach people German, and they
would ask her about Germany or they had already visited Germany and
would speak about it, while she the German teacher knew nothing. She knew
the language, but not the country or the traditions of the people. She also said
that she had a very unique problem here in Germany, she had allergy against
water and humidity. That is why she always wore warm clothes (summer clothes) and sandals, with no stockings, even when it was very cold. It was very
interesting when students of the Goethe Institue would meet and speak about
their experiences in Germany and about their own countries.
Heinz-Kühn Stifftung brings Journalists together
We were once invited by the Heinz-Kühn-Stiftung to a brunch. A big number of German and foreign journalists were present. They all have had at some
point a scholarship from the Heinz-Kühn-Stiftung either to get a training here
in Germany (for non Germans) or to go abroad and work at a radio or TV station or a newspaper. There I met a big number of journalists among whom
were some who have worked for some time in Palestine and Israel. It was very
interesting to talk about the political situation or the various places and the
other part would know exactly what you are talking about. We had also spoken with journalists from othere regions of the world, and it was interesting
also to speak to some journalists from the German media organizations who
explained to us about their work and the rules and regulations that govern their
work.
Also, we met one German journalist who is married to a Palestinian, she
spoke very well Arabic, and she spoke about Ramallah and mentioned some
of the people living there as though she had been living there all her life. Martina told us that a German media institution was to be opened in Ramallah in
the summer of 1999. She said that it would be a good chance for us to work
with these people because we had spent some time here in Germany and could
speak German, and since we knew a lot about media work, like camera shooting and tape editing, and we already live in Ramallah, it would be a good
chance for us. We were pleased to hear about this, because it would be really
a very good chance for us, we would not forget our German and we would use
all our skills and knowledge in media to work there.
WDR: Mehr hören - Mehr sehen
We were supposed to conduct our practical training at the WDR Studio in
Siegen. We had never heard about Siegen, and so we asked our friends in Iserlohn about it, and most of them told us that it was a city but not a very big one.
We were a little bit disappointed but on the other hand it was a chance for us
to meet new people and to get to knew new places in Germany. Our practical
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Basheer Salamah
Deutschland
was to start on January fourth. Frau Op de Hipt took us from Iserlohn and we
went to WDR Studio in Siegen. We are very thankful that she came with us,
otherwise we could not have found our way there. It was a big place, and one
could get lost easily.
We went to the studio, were introduced to the people there and spoke with
the head of the studio. We told her about our previous experience and showed
her that we were not beginners. The Studio was really very well equiped with
both analogue and digital equipment. I had not thought that it would be that
‘big’, it was a five floor building (not so big) but everybody told us that it was
a very small studio, so I just thought it would be two floors. There were both
radio and TV studios. I was to work in the TV studio for one month and Riham
in the radio studio and then I would go to the radio for the second month.
The people at the TV studio were very cooperative and friendly. Every day
there was a conference at 11 a.m., where they would discuss the stories and
the reports of the day and who would do what. There was also this meeting
with the other WDR regional studios and the main studio in Cologne. The
chef editor would sit near a telephone hybrid and would listen to the other
chef editors in the various studios and everybody would say what stories they
had, I had never seen such a conference and it was good to see how big stations such as WDR communicate with their regional studios and how they
organize the daily transmission programme among themselves to ensure that
no collision or repetition happens.
Every day there was something new. There was a daily programme and I
would just look at it and see what was interesting for me and then ask if it was
possible to join in. Most of the time it was possible, and that was a chance for
me to see how they work, to visit new places in Germany I have never been
to, and to communicate with my new colleagues at the WDR. We would sit
and talk about the equipment being used or the type of work we usually conduct at home.
One thing was very interesting and that is here in WDR I noticed that every
person is only confined to do what his work is, for example the cameraman
cannot edit or be soundman, or the journalist cannot edit or be cameraman,
and I found that this sometimes caused problems, because they would need to
edit something quickly and the editor was not there and so they would just sit
and wait for him, and one journalist said that she had to go to the WDR studio in Arnsburg to make some interviews there because the journalists working there had other things to do and were busy, and I was wondering, if they
had the ‘one man show’ training we had then the cameraman or the editor
would do that interview themselves instead of sending for somebody from
another studio.
I was not able to work in the full meaning of the word because they told us
that we cannot conduct our own interview due to language difficulties, it was
depressing so I decided to use my time for something beneficial to me and
to my work in Ramallah. I had seen that here they had AVID equipment for
TV, we did not have these equipment but it was to be bought in the near future,
so it was a chance for me to get to know the technology of such digitilized
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Basheer Salamah
Deutschland
equipment and to know how to operate it. I used to sit with the editors and the
journalists after we would come back from covering one news report, and we
would watch the editor as he would edit the story.
What was also very interesting was that every crew member is a vital
member in covering a story, for example the journalist prepares the story and
the questions to be asked, at the site of shooting the cameraman is the boss,
and he decides what shooting positions are the best and naturally he communicates with the journalist but as he is an expert in shooting he says what
is to be done. Every crew member is very vital to the whole team work, and
I think this is the best way of working.
I went with the TV crew for several interviews. Such interviews gave me the
chance to get to know the Germans in a better way. Most impressive was one
time when I went with the crew to a town where a coal mine used to exist. It
was now a museum. We were 1500 metres under ground. They used to get
coal, silver, and zinc from under the ground, but because the amount was not
sufficient they closed the mine. Before the team started doing their work, the
mine workers invited us all to eat and drink in their small restaurant.
I was astonished when they said that whenever a guest comes to visit them
they give him food and drinks for free. This was a habit of the Arabs to be so
generous, and to feed the guests, but I never expected to find this habit here
I had always felt that the Germans and the Europeans in general don’t care
about such things, and you would live for 50 years in the same building with
a German and he would never come and introduce himself or visit you. But
this was really strange because these people did not let us go home until after
they gave us another time something to eat and drink. They were very simple
people, but kind hearted and friendly.
After we finshed our work under ground, we went outside, and there I spoke
with the mayor of this town who was very helful. He told me a little bit about
the history of this town, and about the mine and the mine workers. He asked
me about Palestine and the political situation now. He also asked about my
work, and if such a training (in the WDR) was beneficial to me. He was pleased that people from various countries and from all fields of specialization
have the chance to get some training in Germany.
Also, one time I went with the colleagues to an interview, which gave me
some information about the German social system. We went to a social institution to make an interview with a young teenager of fourteen years, she had
had problems with her family, and left her parents’ house, and here in this
institution she lived and they pay for her education. Such institutions care for
teenagers who face problems within the family, like a drunk father or a drug
addicted mother or parents who use violence against their children, and these
institutions take these teenagers, and care for them and provide them with a
home and education until they are able to find their own job and live independently.
I found the idea most interesting, because otherwise those teenagers would
have either to live in the streets and resort to unacceptable means of living, or
they would stay within this abnormal family and suffer psychological disor192
Basheer Salamah
Deutschland
ders, in both situations the future of these teenagers would have been wasted.
Unfortunately we could not stay in the WDR for a longer time. I have had
a good and beneficial time with the TV people, maybe it would not be the
same with the radio, but at all maybe it was better for us to go to Deutsche
Welle. Here in WDR we only had the chance to watch how they worked, to
give comments and to discuss things with the colleagues. We never had the
chance to do the work ourselves because of the language problem and because
they considered us as trainees. At Deutsche Welle we would be given the
chance to work, because it is in Arabic our mother language.
Also, before speaking about Deutsche Welle I would like to speak about Siegen. It is not a very well known city as Cologne, Düsseldorf or Bonn, but it is
quite a big city. I have noticed during the month I stayed there that the inhabitans are in general wealthy. There are a lot of villas, and and detached family
houses. There had been once here coal mines and a lot of factories. This was
for some time the centre of heavy industry, but the people have deceided to
change this industrail place into a green place and so it was. The factories were
not as many as they used to be but it is greener now and no moke factory
smoke is covering the sky.
I have read that North Rhine-Westphalia was once an industrial centre, it
was the foggy part of Germany because there were so many factories there.
Then it was decided that it was time to change all this and a lot of factories
were closed and the industrail centre became once again one of the most beautiful and green part of Germany, with the Siegerland and the Sauerland
areas.
Deutsche Welle
After one month at the WDR, we went to the Deutsche Welle, the Arabic
Section. The language barrier at the WDR prevented us from benefeting fully
from our stay there, so Frau Op de Hipt suggested that we go to Deutsche
Welle, specifically to the Arabic Section where we could work and in our
mother tongue. We had never been at the Deutsche Welle, but heard a lot
about it from our colleagues. We knew that here they conduct usually training
courses for journalism, administration and technical training. Here we met
journalists from several Arab countries. For me it was interesting to sit with
my Arab colleagues, and discuss various regional and international problems.
They told me that the Arabic section was one of the biggest sections in the
Deutsche Welle, and there had been two sections: the Arabic section and the
Marakkesh section. Marakkesh refers to the three North African Arab countries which are: Tunisia, Algeria and Morocco. They were devided although
they spoke the same language, because the dialect used by the people living
in the Marakkesh was so difficult and different that other Arabs could not
understand it. Then it was decided that the two sections would be joined into
one, and the Literature Arabic, ‘Hoch Arabisch’ , would be used, and all
193
Basheer Salamah
Deutschland
Arabs whether in Africa, Asia or any other place would understand this
Arabic.
The work of our colleagues here at the Deutsche Welle was mainly to broadcast to the Arabic world the German point of view of problems relating to the
Arabic world. They have broadcast hours from two till 4 p.m., which consisted
of one hour news headlines and political analysis of day to day wide - world
crises. Then there would be also an economical and business daily magazine,
one cultural magazine and other magazines. It was very interesting to see how
many different types of programmes they would produce daily. Then they
would broadcast another news headlines with political analysis, and so one till
4 p.m. Everyday at 11 a.m. there would be a conference where all journalists
would sit with the editor in chief and discuss the daily programme. There
would be daily two main editors who would produce the two news headlines
and political anaylsis. They would decide what news headlines were important and destribute the work among the other journalists.
The Deutsche Welle itself is a very important part of the German media
institutions. It is a window of German culture to all other nations and cultures. You ould find people from every country, and every section transmitting
in its mother tongue. I feel like everybody here is a member of one very big
family, an international family. What gathers all these different nationalities
is the German language. You could see one person from Japan talking with
another from Mexico, they would communicate in German. To me Deutsche
Welle is a small version of our world, all working together in harmony.
I have recently read in the newspapers that the government will reduce the
yearly funds given to the Deutsche Welle. This reduction will be around 400
million marks. As a result a number of sections will be forced to close, such
as the Ukrainian section. There was a lot of talk about this matter in the last
period. A lot of sections threatened of closure because of the reduction have
objected the closure and journalists demonstarted and wrote letters to the
embassadors of their countries in Germany. It would be really a big loss if such
a huge media institution will not be given the chance to expand and build new
horizons. The world is expanding every day and our time demands that we
move on forward and not go backwards.
Cologne Carnival
I had never celebrated carnival or took part in such an activity. It was the
first time for me here in Cologne. Since we were in Iserlohn at the Goethe
Institute, everybody would talk about the carnival, and the teacher would say, ‘if
you are here next February, then you should celebrate the carnival like we do’. On
Thursday, the Deutsche Welle made a big party celebrating the beginning of
the carnival. Then every evening we would go to the center of the city and we
would see all the poeple there dressed for the carnival.
On Sunday we were watching TV, and then we saw live coverage of carnival parades at the cathedral. We were surprised because we knew that the
194
Basheer Salamah
Deutschland
carnival parade begins on ‘Rosen Montag’ and not on Sunday. Then we directly
went to the cathedral and were surprised how many people were present. It
was fantastic. They were all dressed up in costumes, even little children, and
the various groups would pass by, play music and throw chocolade at the people on both sides of the streets.
Then on ‘Rosenmontag’ we went early, because we knew that a lot of people will come from all over Germany and also from Europe. When we arrived
at the cathedral, we could not walk because there were so many people, but
it was great. The parade lasted for 5 or 6 hours. It was freezing cold but simply wonderful. It was one experience I will never forget, and I hope I can once
again watch this carnival live.
Closing remarkes
I have stayed here in Germany for six months, my stay was not only a
chance to see this beautiful country and get practical training here, but also a
chance to meet the people and to get to know them and to make new friends.
It was a chance that opened new horizens for me and I will always be thankful for the Heinz-Kühn-Stiftung. Now I will be going back home, taking with
me the experience and the knowledge of all that is new here, and the memories of the good and friendly people I met here, and I hope that I will have the
chance to visit Germany once again in the near future.
195
Ivan Salecic
Societies in bringing closer
and turning apart
Deutschland vom 01.09.1998 - 28.02.1999,
betreut von der Friedrich-Ebert-Stiftung
197
Inhalt
Transition countries and independent media
200
The real distance
201
Do not keep silent
202
BRDigen
202
Legal alien
203
Happy hours in Cologne
204
Foreigners: integration or ghetto?
205
Melting pot
206
The war
207
Cosmo boy
208
How the governments fight the independent media?
208
Knocked out from the business
209
Weimar Undercover
210
Fog, freezing, and wet
210
When Germans and Croats marched together
211
Oooops, there were Yankees
212
Political revisionism and nazification of society
213
Denazification and its flops
213
Guilty or not guilty?
214
It is up to me!
214
Wings of Desire or Himmel über Berlin
215
199
Ivan Salecic
Deutschland
Ivan Salecic, born May, 9-th, 1968, in Zagreb,
Croatia. University degree in Psychology (at
the Faculty of Arts in Zagreb), studied also Biology, (Faculty of Natural Sciences and Mathematics), and Film & TV direction, (Academy of
the Art of Drama), both in Zagreb. From 19881992 film critic, film columnist and free lance
journalist, published mostly in print media, but
also on TV and radio. In 1993 Editor at the
Centre for Culture and Information in Zagreb;
1994 - Editor at weekly teenmagazine „ok!“;
1995 - Editor at political weekly „Globus“;
1996 - Editor at media magazine „Studio“; 1997
- Editor at weekly news-magazine „Tjednik“.
From 1998 Executive editor of Croatian issue of
„Cosmopolitan“. From 1992 Editor at the cultural magazine „Godine“ (From 1997 „Godine
nove“). Co-author of the book „Feature Film in
Balkans“, special issue of Austrian film-magazine „Blimp“.
Transition countries and independent media
This what finished as a lovely six-months staying in the state of North
Rhine-Westfalia, started in a completely different way. For me, in September 1997, everything was worse than bad. I would like to describe it, because
it seems to me that situation was not typical just for Croatian media market,
but also for many independent media projects in the socalled „transition
countries“. These circumstances participated very deep in my later decision
to come to Germany. So, I was editor of the media section at one Croatian
weekly, whose circulation got every week smaller and smaller. It was very
stressfull. I had to stay in the office, for instance, from 10:00 a.m. one day
till noon, or 1:00 p.m. next day, and so, at least one but sometimes even two
times weekly. Our salaries were very late, for instance, in September we got
half the salary for June, and some percentage from May. It was, of course,
less than defined in our contracts. With no biorhythm, eating just pizzas in the
office, I got a couple of kilos, and lost a lot of hair. Sleeping at home in the
short breaks between two deadlines, I did not see any of my friends for
months, and even my relationship came to troubles. Together with my colleagues from the editorial board, we actually have been trying something
impossible: to save the project. We were very cared about it.
So, it was September when I finally realized that I can not stay there anymore - it just became too dangerous for my health, because - I forgot to sayworking for different projects, it was actually the fifth year of that upsidedown period of my life. It took me more than one month to realize how to
200
Ivan Salecic
Deutschland
manage to leave, and at the 4th of November I finally stopped working. At
that time, I actually planned to change my job, and not to work as a journalist
any more - at Croatian media market, which suffers pretty hard of lack of the
freedom of the press, it seemed completely meaningless to me. Than, I really
did not have the necessary strength to start to look for something new
immediately, and than to be cheer and motivated in some new projects. I
actually slept for the next two months.
The real distance
Than, in January 1998, from the Deputy editor of the same magazine I just
have left, I heard of the German Media Scholarship and Heinz Kühn Foundation. The Foundation had not its office in Croatia, but looked for a Croatian participant through the two other Foundations - Friedrich Ebert’s and
Friedrich Naumann’s. Psychologically, I already felt myself pretty far away
from my profession, and from the complete and difficult Croatian social and
media scene. Possibility to improve that state of mind to a real, physical
distance, seemed to me immediately like a chance to put myself back in
order, hear the experiences of my foreign colleagues, compare them inbetween and with the situation in Germany, and even, from around, find new
motives to come back to journalism. I found a new job in a completely different kind of magazine, lived at the „low intensity“, tried to manage my life
from the beginning, and finally, at the 1st of September 1998, I took a flight
to Germany. This what I would like to write does not have any intention to
become some crucial was not observation, satisfying the methodological
basics of positivistic sciences. Actually, it has the intention NOT to become
anything like this. During my stay in Germany, I did not want just to watch
the local life - I wanted to live it, to experience it, and to participate in it, as
deep as I could. At the end of this period, I don’t want to write just about
Germany for Germans - I am afraid, they still know much more than me. I
would try to compare two societies, and describe my thoughts and feelings
about the society I came from, and the society I came to, from the points of
view I have already got at home, but also that I made here. When I told
somebody where I was from, the typical (and predictible) reaction was:
„From Croatia!? Oh, how lovely! I would like to go there for the holidays!
But now, excuse me, I have to join my friends.“ But on the other hand, I was
surprised to realize that there were also the Germans pretty much interested
in Croatia. They asked me a lot. To be away from home helped me to make
the things that surrounded me during the hole my life more conscious, and
to talk to the interested people gave me a possibility even to articulate
them, and then to check them in discussion, almost immediately as they
came to my mind. This possibility to see something from the distance,
from the other point of view, is for me the most precious thing that I have
experienced during all my visits abroad.
201
Ivan Salecic
Deutschland
Don’t keep silent
In Croatia, it always seemed to me pretty strange: contacting to the foreigners, even Croats from the opposition, and intelectuals or artists, very often
try to hush up the things that happen in our country. It is some hypocritic
model of thinking: „we can fight in the house however we want, but it would
be not good if the neighbours heard something from it“. Croats think that it
can help the young and undeveloped country, with pretty bad reputation outside. Right on the contrary, this period in Germany and talks I had daily, made
me sure of something completely different: to keep silent about a bad situation in your country helps neither to the country, nor to your people. To keep
silent about the bad things just helps them to go on. On the other hand, to describe and share them means at least a message „There are people in this country that mean something else, and do not support the picture which official
politics or govermental media try to impose. Of course, it is important to
„translate“ your message, into the terms your new environment could understand. Deep political, or economical, or social problem which surround you
since the time you were born can be completely obvious to you, but completely out of the perception of the people you are talking to. It seems to me that
the easiest would be to blame the other society as distant or arrogant, and proclaim yourself as the victim of foreign misunderstanding, or even humiliating.
But, I think and hope I’m right, if you make your attitudes clearer, and do not
expect from anybody to read your minds, however they could seem obvious
and simple to you, most of the people would like to hear your message, to give
a period of their time to you, and to advice, consolve or even help you. In the
neverending talks about states, societies and politics, in which I took part
together with the other fellowship holders, teachers from the Goethe Institute
or the people connected to the Foundation, I usually had a much darker picture about the situation and perspective in my country, than the others. Maybe
it’s just because I’m the only one from our group that works for non-govermental media or maybe the situation in Croatia is more difficult because of the
war that was really finished not earlier than in summer 1995. In all these conversations, I have never had the opportunity to add to my attitudes: actually,
I do not think that the situation in Croatia is much harder than in the other transition countries, or at least in the transition or developing countries where
other fellows came from. But I am very dissatisfied because Croatia in the last
10 years doesn’t show any progress at all, actually right on the contrary - the
state is ruined and many others ex-communist countries, that 10 years ago
were in the same, or even more difficult social, political and economical situation (Slowenia, Tcech-Republic, Hungary), overtook Croatia by now.
BRDigen
Like great hosts, my German friends consoled me - I was told that life in
Germany isn’t any more like it was. One of the teachers at the Goethe Insti202
Ivan Salecic
Deutschland
tute used to write the german verb „beerdigen“, to burry, like „BRDigen“. We
really had the opportunity to talk a lot, and to compare similar things at different places, usually without any fences. Others described to me today’s ordinary situation of waiting for a job for five or ten years after the graduation at
the university.
„Forget about the prejudices about Germans like hard working, well organised people. Everything changed since the unification“, I heard at the Deutsche Welle Radio Station~18. „Deutsche Welle is, for instance, exactly the
same like Yugoslavia in the seventies - you would better come later, and leave
earlier, and go to play tennis and to the hairdresser in the meantime.“ While we
had been there, the budget of foreign language programs at Deutsche Welle
was cut for some 40 millions of German marks, some small sections already
had stopped to broadcast and a lot of others were pretty worried of the level
of their further production, and even the future work. It was quite a crowd in
the house for a while: actually, I have even heard that Croatian section should
stop to broadcast in April, but of course, in that situation of the intensive emotional tenses, you can hardly separate rumours from the facts. There were a lot
of speculation about political consequences of that decision. Actually, I witnessed a lot of times to the cutting-budget situations, but I do not know what
to think about this particular case.
At Deutsche Welle I had seen a lot of administration and sometimes it seems
to me that even the broadcasted program is under its influence. On the other
hand, I have rarely worked for the media whose financial sources came from
the national budgets, and not straight from the market, so that kind of stress and
worry about the lack of money was not extraordinary situation for me, or reason to make panic. It is just a sad reality of this job.
Legal alien
During these six months I have rarely felt like a stranger. I was told about
the young right radicals, especially from the ex-DDR, who fight the foreigners, but I have never experienced or seen anything like that. Sometimes it
happend that I had a contact to some rude person - in the store, or in the street
- but I do not believe that they behaved to me in that way because I was foreigner, or my German was not perfect. They were just rude and they would be
also rude to Germans. In Cologne, people of my age, or even younger were
usually in a hurry, or just answered my questions: „I’m also not from here.“
Because of that, I usually looked for information by older people - I thought
they should have more time and there was a bigger chance, that they lived in
Cologne for some time. And, I could say, between so many different people I
have seen, from guys, with blond moustache and sharp haircut, with a slim
pony-tail, exactly like I picture the barbarian warriors, till the girls in Cologne,
with narrow and upright faces, with strong, but feminine characters, that look
like the Ghotic beauties from the medieval pictures, most of all, I liked the
„oldies but goldies“- I was really surprised by their kindness, patience, and dig203
Ivan Salecic
Deutschland
nified manners. Personally, if I really have to come to ages, I would like to do
that in „koelsch“ way. But on the other hand, inspite of my intention to go out
and experience the street life as oft as possible, I must also say I have hardly
meet somebody in Cologne in the real sense of that word. Of course, so
oft I was shy because of my German, and felt difficulties with the understanding of the urban slang. Also I could hardly decide to call somebody,
because it seemed to me, that I was going to interrupt him and bring him to
unpleasant situation, to explain to me that he already has a meeting, even if
he does not. These reactions of mine were strange even for me, because I usually do not think in that way, and of course, when I am at home, I do not think
that the phonecall of some foreigner can interrupt my own evening. Actually,
right on the contrary. But for some reason, I felt that I would force somebody
to guilt-trips. I thought: „Shit, who would meet me, when I’m leaving in two
weeks.“ This idea of „give up“ seemed to me pretty dangerous for the need of
social integration. I know that all these states of my mind are supposed to be
pretty wrong, but I would mention them anyway, just to show what kind of
thoughts can appear on your mind.
Happy hours in Cologne
So, to cut the long story short, during the happyhours in Cologne’s caffees.
I could relax and watch the people around me, but the socialising, I sometimes looked so much for, was missing. So, although I could say I was surprised by the kindness I experienced in the short and unobligatory, superficial
street contacts, I must say I agree pretty much with the pictures of Germans
I have heard about before - in the try to establish a closer contact, I realised
Germans as distant and closed, and maybe even afraid of closeness to somebody. In that frames I experienced the famous Carneval in Cologne: I heard
a lot about it in advance, and maybe I waited too much for it, but at the end although I can’t say I didn’t like it at all - All in all it seemed to me not very
different from a try of inverted reaction, exaggured in the same way like the
German sense of strict, serious, and cold, you can see during the rest of the
year, but just with the opposite sign. Of course, from time to time, I met somebody. For instance, through the „Mitfahr Zentrale“, I met two girls, to whom
I joined on the way to Paris for a weekend. Actually, they were lesbians in the
relationship, and - of course - were preoccupated by each other and didn’t pay
to much attention to me. However, I liked the younger one, chubby, so I spent
most of our travel time trying to realize was she maybe bi, or not? But, at last,
I couldn’t crash the barrier - so, when we dismissed in Rue Rambuteau, in
Paris 1st, I even did not try to give my phonenumber to them. Anyway, they
told me to go out to belgian quarter in Cologne, between Rudolfplatz and Friesenplatz, and avoid turist traps in the Rhine river area. So, they saved a lot of
my evenings. This distance I could face, on general level seems to me able to
become a barrier for the next step of developing of the multicultural integration in this country. It just pushes a foreigner, to realise their social needs
204
Ivan Salecic
Deutschland
through the community of his own compatriots. For instance, coming to
Cologne gave me a connection to the large number of activities of Croatian
community in the State of North-Rhine Westfalia. I got the invitations to the
celebration of the anniversary of the declaration of the Croatian independence, to the meetings and lectures organised through the Society of Croatian
Students at the University of Cologne, to the concerts of Croatian hit singers,
than annual meeting of Croatian cooks, etc. Because of their number and of the
enthusiasm of some of the people from the Croatian section at Deutsche Welle
Radio Station about that events, it seems to me that many of German Croats
- and even their here born children - in the heads still live in their old Croatia,
and not their new - German - society. I did not agree with that point of view,
and except one lecture about some Croatian political movement from the start
of the seventies, which I had covered as a journalist, I have never visited any
of those events. „If I would like to meet a lot of another Croats“, I thought, „I’d
better stay in Croatia.“ I seriously doubt people from my section would share
my point of view. I also seriously doubt that if I would stay in Germany for a
longer period, I could stand this problem of social being in the state of separation. At last, maybe I would also join the events of my native community. This
situation is, of course, not just a problem of German society - same things face
most of developed countries, with a large foreign population.
Foreigners: integration or ghetto?
Why I did not like the idea of sinking deep into Croatian ethnic community from the first place? Actually, the problem of social integration seems
to me to be one of crucial social questions. I understand society as a common
interest of all of its structures and participants. It seems to me that the social
nonintegration, which should be supstituted by national integration in the nonnational society, lead to the desintegration, and than to ghettoisation, or to the
different ways how to understand that common social interest. Then in the
society begin to apperar the barierrs, and the function of society is not possible any more. I do not know if Croatian community in Germany solved this
problem or not. On the other hand, being together with different people at Goethe Institute in Iserlohn, I had the opportunity to expand my interests for
distant cultures, even on the simpliest basis: I could taste Thai, Mexican, Arabic and Japanese food, Lithuanian sweets, Macedinian wine (so bad, that I had
to take the pills for stomach, exactly like after a glass of croatian home-made
wine I tried at Deutsche Welle). I experienced Corean massage, and tried to
teach to swim a friend of mine who grew up under the occupation, suffered
from the limited possibility of moving away, far away from the seaside. My
German teacher from the Institute invited us for a dinner, but at that time, German food was not scheduled: she prepared some hot spanish sauces from the
Canarian islands.
And German influences? I enjoyed very much late breakfasts during the
weekends, with sudsy wine Sekt. By Sekt, I like mostly the end of a gulp,
205
Ivan Salecic
Deutschland
when bubbles bomb the last part of your soft palate, just a moment before they
flow down the throat. And, before I forget - just like champagne - I disclosured that sekt was very good against the flu. Then, of course, beer - but I must
say that I like Koelsch - tender beer, but with identity, which you should drink
quickly, and a lot of it. I like it more than weak, boring, and in a matter of fact
patetic Iserlohner Pils, or Schlosser Alt, which has just a little bit more of its
sleazy personality, than his light brother. Still to little.
Melting pot
A lot of nation and race mixes - two German girls with mulatto children
laughing and drinking capuccino in Gloria Theatre in Cologne or a guy from
Wuppertal whose girlfriend was from Thailand - our colleague from the
Institute... Now I can remember opposite example from my country, which
seems to me like a good illustration of the Croatian social atmosphere. So,
friend of mine had a relationship with a man from the Adriatic Sea, the Croatian Mediterranean coast. They moved to his place at the seaside, but then,
he suddenly became very mean to her - he beat her over palms of hands, prohibited her to leave the house and work, gave her just approximately 30 German marks to buy food for a whole week. He even forced her to write „the
diary of her mistakes“. It lasted for the whole year. In the meantime, she got
the baby, but soon after that, she ran away, with the just born daughter. Today
two of them live on their own. Last summer they were on the beach and the
daughter started to play with other children. But then, other mothers asked the
child where her daddy was, and because she could not answer, they did not
allow their children to play with my friend’s daughter any more. Since then,
my friend usually tells to other parents on the beach, or at the playground that
her father was killed during the war. After this lie, her daughter is always
warmly welcomed - because in this situation she is daughter of „father the
hero“, and not of „mother the whore“. I am very curious about present discussions about double citizenship - it seems to me like the last confirmation of
everything I saw here. But anyway, I really admire that multicultural melting
pot I had found here, specially because in Croatia - unfortunatelly - obviously
isn’t like that. Gerrman people wandered pretty oft, when I explained the
social situation in my country, growing of nationalism, conservativism and
hermetisation, which is something right on the contrary from most of the
European social mainstreams. Catholic catechism at primary schools, for all
the children - without regard for their own religion, taking away the title
„Miss“ from a Muslim girl that won the beauty competition, are just some of
sad and embarassing highlights my country exactly faces. So-called „Croatian
Studies“, ridiculous try of establishig of university, where teachers lecture
„national science“, and produce the generations that we call „Croats cum
laude“. By the way, another highlight of Croatian science is throwing away the
evolution theory from the primary schools, „because children could be confused by the two tipes of data - from the Book, and from Darwin.“
206
Ivan Salecic
Deutschland
The war
I have also an ultimative personal reason to like the multicultural societies.
Like many things, I brought it with me, from my home. Profileing itself like
a national Croatian state, problem of Croatian minorities became one of the
hottest questions of Croatian innern and foreign politics. But I would like to
expand that problem for a while: in that national (or tribial, because it seems
to me that is a better description of croatian public opinion) terms, I am, whatever it means, a „pure“ Croat - both of my parents are Croats, and even their
ancesstors were Croats. But anyway, today’s Croatia I do not feel like my
motherland, because I am afraid, that Croatian just grounded society did not
plan with „my kind“ of Croats. After the war, so many people from my generations, who were lucky not have been killed, became depressive persons or
alcoholics, suffering of Post-traumatic-stress-disorder, just realised that: a) The
war was over. b) We were between 25 and 30. c) We have not got any money.
d) We have not got any jobs. d) We have not got place to live, and e) We did
not finish the university. Actually, we had a kind of proverb: It was a war
without winners, but we lost it. The end of the war did not change our situation a lot. My country is just a big barrier for me, which pushes me to the
social environment I do not belong to, does not allowe me to develop myself
according to my talents and interests, and to try to earn money from it. It anticipates a place for me, and now excepts me to accomodate to that state, with
no regard, is it good for me or not. It seems to accept me just in the moments
in which I have to pay the taxes. So, till today, I also feel like minority in my
own country and I am not lonley: in the last couple of years, more than
40.000 high educated Croats left the country, and many of them - like me
during the last year - spend longer time abroad, than at home. Our president,
who runs the country like a king, or even a pharao, shared a lot of decoration
to the people who will still have to proove that they were not the war criminals, and promoted some of the most disgusting and sleazy obediencers to
some of feudal titles - so, Croatia has its own „keeper of national seal“.
When the journalists had asked that person about a catastrophe of middle
class, and intelectual professions, he just answered: „One kilo of brain costs
approximately two German marks. „And, average weight of masculine brain
is 1200-1500 grams, and female 1000-1300. So, from that time, every educated person knows exactly his own price in Croatia. When I read the reports
from the other people from the Heinz-Kühn Foundation programs, it seems to
me that the word „nostalgy“ comes out pretty often. I can not say I feel any
nostalgy, but groove, energy, large nunber of events, parties for more than 100
people, which we lived before the war, do not exist any more. Because of that,
come back home, return to Zagreb, the Croatian capital, the town where I was
born, can not solve my feeling of nostalgy and problem of missing developed
urban life - yes, you can walk through the same streets, or meet the old
friends, but that place is dead, and you can feel it from every minute you stay
there.
207
Ivan Salecic
Deutschland
Cosmo boy
Today, I work as executive editor for Croatian issue of girls’ and life style
magazine Cosmopolitan, one of the 35 of its international issues. When
others ask me what I covered for that magazine, I usually say „microbiotics,
fitness, and multiple orgasms.“ But actually, I understand very well that my
present employment can look pretty strange comparing to the profile of the
papers of the other scholarship holders. Cosmopolitan is really another kind
of media. Comparing it to the conventional pictres of the magazines we usually call „print media“, it shares just the DTP technology, but in its meaning
it is completely another type of the magazine, with a lot of advertising, and
without covering of the relevant public and political events - we could say that
in focus of Cosmopolitan you can find the anonymous reader, and not the
publicly exponated persons. Actually, I am pretty sure that no one of the
Cosmo editors can get this kind of scholarship. So, it seems to me necessarry
to give a short explanation - how it happend? After the fail of the magazine I
used to work in, before I signed a contract with Cosmopolitan, it seemed to
me that it didn’t remain a lot of the Croatian independent media scene. With
my professional biography, I would hardly find a job in govermental media,
or national televison anyway, and I can also say that kind job would not
satisfy me, at all. On the other hand, a couple of remainded independent projects were just - full with the stuff. I was also completely disgusted from the
situation on Croatian political-media market, and almost complete disappearing of the freedom of the press. In that situation, I accepted the invitation
from Cosmopolitan, and got down to the work on the launching process of the
just established magazine. But, I am satisfied to say - in the polarizated Croatian public scene, even Cosmopolitan can reach the political influences when that magazine engages in free understanding of sex, independence of
women, methods of contraception, and rights of abortion, it can provoke a
wide range of reactions from the recently increasing defenders of new Croatian christian ethics, conservativism and excludation.
How the goverments fight the independent media?
Because the society articulates itself through the media, it is pretty predictable that the societies are not free, it should be hard to except the high freedom-level of the press. But, what is todays meaning of the freedom of the
press? This question is not simple if you are going to put it in the transition
country like Croatia, exactly between postcommunist goverments, who is not
used to read bad things about itself, and proto-capitalistic economics, which
insists at big titles and large circulations. Both sides are enemies of the profession. Of course, todays editors are allowed to print any article and nobody
is going to protect you to write whatever you want, there is no censorship in
explicit sense. But then, how the goverments fight the independent media?
There is well known Playboy case from the fifties in the States, when Ame208
Ivan Salecic
Deutschland
rican post executed the roll of censorship and refused to distribute Playboy
magazine because of the photos of naked girls inside. In the so many ways that
it developed to rob the country, Croatian leading party involved socalled
auditing committees to almost all croatian companies. In the major companies,
the members of the committee usually are politicians that belong to the
ruling party, and membership in the committee is another way for them to
duplicate, or multiplicate, their salary - they are paid for their sitting in the
committee, of course not by their party, which put them there, but by the company itself. That is also just one way how the ruling party discharges its own
account sucks the money not just from the national budget, but also directly
from the national economics. (Of course, this money is just a „drop in the sea“
comparing to the robbery of the whole state and nation, which was planned
and executed by the Croatian ruling „mafiocraty“.) So, this situation seems to
me to be a good example how structure and state of mind, preserved from
communist period, still exists, but improved by the political and economical
plot of the proto-capitalistic rapacity. Sitting in the auditing committee, its
members usually have enormous influence at the bussiness strategy of the
company - that is the way how politics controls economics. By the example
of independent media, there is no such a possibility for corruption, like by the
decision about big investments. But, for the political fighting against independent media, it is actually not necessary. Here you can face the logic - if you
can not have it destroy it. And to do that, it could be enough if the members
of the auditing committee stop the company to sign, for instance, the contract
for the advertising campaigne in the independent media. Actually, this is the
way how the independent media can loose the major companies as the advertising clients very easily.
Knocked out from the business
Weimar Undercover
We visited Weimar in the middle of retouching of the city which became a
cultural capital of Europe in 1999. I do not know if it was connected to the
period of DDR, but the mentality there, as far as I could see was pretty different then in western part of Germany. People are quite and close, and there
is not to much certainty in their behaviour. I have never heard „Tschüss“,
instead of „Auf Wiedersehen“. Unfortunately for us, but luckily for the city,
all the important buildings were invisible, under the plastic covers, and surrounded by iron constructions and hills of sand. „You can not see this house,
but this is Schiller’s house, this one which you also can not see is Goethe’s.
This, you can not see it, but this is another Schiller’s. Pitty because you can
not see this, but this is Eckerman’s house. Johann Sebastian Bach used to stay
in this one, under the yellow plastic...“, talked our guide to us. Actually, it seemed to me at that moment that the only non-covered houses were the exbar209
Ivan Salecic
Deutschland
racks of Russian Red army. It was also the holyday, so everything was closed.
The only house we could somehow enter was Goethe’s house. „Shit, this is
huge! You can have the wife and two lovers in the same house, for twenty
years, and they should never meet“, we whisperd during the minuteslong walking through the six in-lined, connected salons of the house. I do not know
very much about Goethe’s work - I just could say that - as distinguished from
the most of the people - I had more fun reading just a couple parts of Faust,
than reading that newromantic bestseller of Werther. About Goethe as a person, except couple of anegdotes we heared at the Goethe Institute, I know even
less, although, as far as I remember, at my parents’ home, there is at least
Eckerman’s Talks to Goethe, but, I must admit, I have always been to lazy to
start it. Anyway, I was really surprised by his life standard, than such a versitale interests, and the level of his systems, which are all so obvious in his
house.
Fog, freezing and wet
However, our jokes about lovers and superficial impressions from the visiting of Goethes house disappeard pretty suddenly when we passed the lines
of fences and iron door with awfull title: „Everybody gets what he deserves“,
and entered Buchenwald. I was very angry when I had heard for the first time
that Buchenwald was also on our Weimar schedule: „Shit, who the hell needs
that so-called picture of two Germany with just a couple of kilometers
distance from one to another“, I thought, „I have already visited a couple of
conc-camps, I have seen so many pictures, and even a couple of movies (I
mean documentary movies, not just Steven Spielberg’s Schindler’s List). So,
I am not going to see anything new, actually, I am just going to need a week
to throw out all the negative energy I am going to collect there.“ Then, I was
embarrassed when I have heard from my theacher that she had been visiting
Auschwitz for the 16 times. I still do not know was it my projection or not, but
approaching Buchenwald, in the lightgreen thicket, swaying in the wind in the
complete, ghostly silence, it seemed to me that somehow, all these deaths were
still around. Fog, freezing and wet in the middle of the nowhere were my first
impressions when I had left the bus. To stay there, to work outside with no proper clothes, to live in the barracks with no heating, I tried to picture myself in
the same situation, walked through the that horse-stable, which was supposed
to be the ambulance, autopsy room, crematorium, than through some spacy
rooms which purpose I could not guess, clearing one really terrible and
awfull image of the second world war period.
When Germans and Croats marched together
Second world war was a point at which we came pretty often, during our
staying in Germany. With regard to the war, I really had many possibilities to
210
Ivan Salecic
Deutschland
compare things which I had seen at home, and now here in Germany, because
- in the form of so called Independent State of Croatia, my country was also
a confederate state of German Third Reich. Germans have a real patience more than Croats - to talk and talk about war, ever and ever again. It seems to
me that Germans still feel a kind of obligation, to listen the foreigners - usually comming from the hostile countries from the war period - at the time
again and again, and to express changes in German political and social mainstream during the last 50 years. But, inspite of that positive attitude, sometimes could be very obvious that the subject of second world war still can be
pretty unpleasant for Germans. In the classes at the Institute, we once talked
about the weather, and step by step, we came till the storms. The girl from States told us she lived in the tornado-area, so she had to go to the shelter in the
basement pretty often - every time when a tornado passed by. Then I told the
story from 1991, form the last war period in Croatia. Because of the danger
of airattacks, we also had to go to basement, sometimes even a couple of times
daily. Usually, I was not at home, but in the office, or out of the city, in refugee camps, volunteering as the student of psychology at the project called
„Psychosocial structure of Croatian War Refugees“. But this time, it was very
late at night and I was already at home, when the sound of alarm woke us up.
So, I went downstairs, together with my family. In the basement, I just sat on
the first chair I had seen, next to the door. But, than one old lady came, and
told me: „Ivan, how could you sit here, you do not know this is my place since
1942?“
„Oooops, there were Yankees!“
Actually, I avoid to tell any of the war stories, because it always seems to me
in that way I force my environment to feel a kind of sorry, and I hate that. So,
I did not tell this story to „fish for complaint“ - I just wanted to make fun of
old lady’s point. But, when I mentioned the year of 1942 and running to the
basements because of the air-attacks, my teacher’s face got immediately
serious, and her laugh spontaneously disappeared. I do not think somebody
else noticed it, but it was pretty clear to me that I definitely should change the
subject. Later in the afternoon I was angry with me, I thought how could I be
so stupid and not to anticipate that, talking that war stories I could hurt my teacher. But than, I suddenly remembered - „Wait, there is no sense that Germans
would bomb their war confederates. So... shit, at that time that must have been
American, and not German planes over Croatia, because of them people ran
to the basements! How could I forget that?“ The period of independent state
of Croatia is one of the hardest questions in the recent Croatian political circumstances. Because of daily political needs, Croatian history is actually
misused. Proves of Croatian glorious past were collected everything what
could be any evidence, mostly without any criteria, and actually, with not so
many interesting for facts, or at least, common sense. Talking about Croatian
history, it is not possible to speak about the state, because Croatian state does211
Ivan Salecic
Deutschland
n’t exist since 1102, but „continuity of Croatian stateness“, which lasted for
centuries. But, the period of nazi Independent State of Croatia was also proclaimed as „a part of continuity of Croatian statenes.“ Doing this, the very
strong Croatian left political wing (not just communists, who took the power
after the second world war, but the whole range of left political ideas) was
completely ignored.
So, Croatian society was absolutely polarized during the second world
war, but the country was ruled by nazis. It was also obvious on the pictures at
the exhibition Crimes of Wehrmacht, that we had visited in Muenster. On the
pictures from Croatia, the soldiers, who bring the prisoners to the conccamps, wear black uniforms, but it is actually very obvious that these uniforms
are not German Wehrmacht uniforms. These soldiers were Croatian nazis, socalled „ustase“, in the political structure they were actually pretty similar, not
like Wermacht, but like German SS-troops, established like another army of
the country, and defined like a special, volunteer police-force, belonging to
local nazi party. So, these were Croatian soldiers, who prisoned the other Croats, who had different political opinion, and of course, the Jews, the Gipsys,
the Serbs, and so on.
Political revisionism and nazification of society
The people from the Croatian resistent movement, who had fighted against
nazi-state, who after surrender of Italy in 1943 had brought the medditerinean
coast back to Croatia, who at last belonged to the forces that had won the war,
and who had achieved - during the communist regime - the later constitutional basis for Croatian independence, in the revisionistical interpretation of
history, ended out of history, and were supstituted by the representatives of
Croatian nazi-state. Result: today in Croatia, radical right political ideas are
very common, they are actually very deep involved in daily life, and even from
the highest ranged govermental politicians you can hear the points of view, or
recognize some political acts, that you can very easy compare to the German
nazi period. The most shameful were the pictures from the time just before the
start of the war in Bosnia. You can see the Croatian minister of defense, on the
very big meeting in open-air with Bosnian Croats (so, it was informal visit
deep inside another land), wearing black clothes and saluting with a nazi,
„Heil Hitler“ salutation with his right, extended and lifted hand. After that, he
hadn’t to resign - he remained the member of the government till his death in
1998. Extreme conservativism, nationalistic hermatisation, and a parody of
democratic institutions we in Croatia call „the social fascism“ for a very long
time, but when I really started to live in successfully denazificated Germany,
one of my most terrible experiences became my comprehension that handle
with the term of fascism in Croatia isn’t just the word any more, and that we
did not exaggerate. To keep silent about that is completely the same like some
unconscious try not to know anything about the concentrations camps in the
neighbourhood, or some of these thing which are not to clear to Germans even
212
Ivan Salecic
Deutschland
by now: how could we not to know about that was the question I have heard
so many times. There is a typical Croatian joke, which describes a attitude
about the place called Jasenovac, the largest Croatian conc-camp, actually
local Auschwitz. So, two Croats talk: - Do you know that my father died in
Jasenovac? - No shit! How? - Well... he was drunk, and felt from the watching
tower!!! Huh-huh-huh! Today, Germans claim they didn’t know about conccamps, and admit they maybe didn’t want to know. Right on the contrary, in
Croatia, sometimes it seems to me that everybody knows everything, but
keeps silent and even contributes into some pervert national complot about the
nazi-past as the common community thing, hidden from the rest of the world.
Denazification and its flops
Why was the German denazification after second world war successfull,
and, for instance, Croatian not? Croatian sociologists usually maintain that the
difference between two societies was not exactly in the nazi period, but in the
circumstances that followed the war. They say in Germany was the nondemocratic nazi regime supstituted by democratic one. On the contrary, in Croatia nazi regime was supstituted by another non-democratic, communist
regime. Comparing to the situation in ex-DDR, it could be true - it is also German society, but with a different past, and as far as I know, there are many
more right radicals there, than in west Germany. To previous historical, you
can add present economical reasons, but also, today’s Croatian particularity
in a frightening, completely opened political encouragement of growing of
radical right ideas.
Guilty or not guilty?
The relationship to the problem of war, that I had noticed talking to Germans, as I already described, reminded me about something which I used to
discuss a couple of time with my friends in Croatia: it is the question of guilt,
or if I would be more precis - sense of collective guilty. Saying as simply as
possible to keep the meaning, in Balkans it looks like this: you have Croatian
Catholichs, Serbian Ortodox, and Bosnian Moslims. Everybody fights against
each other, on national and/or religical basis. But everybody refuses to pay
attention to problem of guilt, because, there is no sense of guilt on the other
side. Actually, everybody in Balkans can say: why should I feel myself guilty,
and they who attacked my village, killed my parents, burned my brother
alive, raped my wife and my daughter just in front of my eyes, and then put
me to conc-camp, they do not feel any guilt at all? From that thought, it is just
one step to the next idea: „Instead of torturing myself feeling the guilt, I should
better do the same in their village! How this brilliant idea already did not occur
to me?“ And than, spiral of fights and deaths goes on. I think that Germans
would agree: to accuse some whole social structure because of the crimes
213
Ivan Salecic
Deutschland
commited by its members isn’t more than another social crime. Also, to feel
guilty because of the crimes of the other members of the group you belong to
- not because of sharing the group ideas - but just because of the random facts,
like the fact of birth - in the sense of collective responsibility - seems to me
like the social suicide. On the other hand, I can not say that I do not feel any
guilt when I see the pictures of the crimes that Croats did in the last couple of
years: from Croatian conc-camps from the first part of 90-es in Bosnia, or the
picture of the ruins of the couple of hundreds of years old bridge, built in islamic style, in the city of Mostar, which used to have the largest arch in the
whole islamic architecture, and than was crashed by Croatian artillery troops.
(The Croatian general who had orderd to rockett it, said cinically later: „Don’t
worry, we are going to build another one, more beautiful, and even older than
the previous one.“)
It’s up to me!
So, I think that the sense of guilt - just like religical senses, or political opinions
- should be the ultimative private thing. It is not supposed to be connected to the
people or the nations that did the same or even worse crimes to your people. They
are not supposed to be connect to the public expectations of the opposite or third
side. They are absolutely not the obligation of political correctness. They are
exclusive personal choice, but just in the sense of taking the blame, and not at all
of blamig somebody else. Sense of guilt can not be the common thing, and if you
can feel a sort of responsibility and sorry for the crimes done of course not by
yourself, but by your people, for me it is a noble and precious feeling which can
contribute the crimes come to the end one day, but it seems important for me to
realize that the prize for that kind of thinking can be just and only your own ethical satisfaction, and you can not expect anything else in return. It seems to me,
that the question of guilt represents a unification of some philosophical, ethical,
political, and even religical points, which belongs to the highlights of wisdom of
the west. The question of guilt also seems to me to be basic in the Max Frisch’s
book Homo Faber. Excellent movie, directed by German Volker Schloendorff,
forced me to read it. Actually, there is not to much poetry in it, and Volker Faber,
a main charachter, is deep in positivistic sciences, with both legs on the ground,
an engeneer who likes to think about numbers. But, it is almost impossible to imagine such a small number, which should describe a poor probability of the
things he’s going to face. The message could be - the things that are waiting for
him, we can say pretty surely, should not be connected to the random appearance
of the events during somebody’s life, but to - the destiny itself. Although Faber
does not believe in destiny - it is against all of his set ups; attitudes and education. But, the way he is going to face the destiny will be pretty cruel. After incestuos episode with his daughter, which he did not know at all, she suddenly dies
in Greece. The story which inspires itself in the mythology so obviously, has it
tragical end exactly on the locations of anthic dramas. The rest of Faber’s life, we
can say pretty surely, is going to be filled by guilty.
214
Ivan Salecic
Deutschland
Wings of Desire or Himmel ueber Berlin
Completely different form the Max Frisch’s book is ethereal and out-of-thedimensions Wim Wenders movie Himmel ueber Berlin. One of the strongest
scenes in the movie shows Damiel, walking through the snowy street. Damiel,
played by actor Bruno Ganz, one of the Berlins angels, fell in love with
French dancer and acrobat, Marion, played by actress Solweig Dommartin.
Because humans could not see the angels, that girl actually even does not
know that he exists. Comparing to the just discovered love, to stay an angel
seems to Damiel pretty boring, and even meaningless. Camera is behind, and
we see him walking, but without spots in the snow - he is an angel, so he does
not leave any. Suddenly, the spots start to appear, which is the moment of
Damiels conversion. Because of the love, Damiel decides not to be an angel
any more, and to became a mortal and limited, but emotional, human being.
Instead of abstract love and loyality to the God, which Damiel, as an angel is
supposed to, he decided to love just a person, and because of her, he left - in
the matter of fact - the boring eternal concept. The message of the Wenders
eternal heros approach, as I understood it, was: Why to seek something out of
the life, when there are enough beautiful things in life itself. In that sense, we
realised next thesis: where is your love, there is your real heaven, and also your
eternity, and if you find yourself in situations like that, you do not have to seek
for the further extern influences. For me it is a very posh and smooth way toreject the God. English translation of the title is Wings of Desire and in a matter of face we could say that Damiel founds new wings in his desires. Now it
seems to me that this my descriptions look prety poor, and pathetic, but, on the
contrary – if everybody could tell thes points like Frisch and Peter Handke,
who wrote the sreenplay for Wim Wenders’ film, their art works would not be
able to be so precious. And even Frisch and Handke, needed some 250 pages,
or 2.5 hours to tell thes stories in a more distinguished way. I do not believe
neither in angels, nor in destiny, but I liked a lot both of these points – to look
for love, and to face the destiny, and actally, I would like to leave Germany
wirh that plan on my mind.
Thanl you, people
As I have worked at this article, I could remember so many people I have
met and who had all helped me a lot to come to Germany for the six months.
I’m so sorry I can’t mention here all of them, I would like to thank, but I really
would like to say how grateful I am to my teachers at the Goethe Institute in
Iserlohn, Dr Barbara Frankenberg, Marlies Happe, and Andreas Deutschmann.
I would also like to thank to Nenad Zakosek from the Friedrich Ebert Foundation in Zagreb, and to my editor-in-chief at Cosmopolitan Croatia, Alemka
Lisinski. Then of course to Barbara’s husband Peter, who cared so much
about my lonely Sundays in Iserlohn. Also, a lot of my thanks belong to Volker Wagener, editor of the Croatian section at the Deutsche Welle Radio Sta215
Ivan Salecic
Deutschland
tion. I really can not find enough words to describe my gratitude to Erdmuthe op de Hipt from Heinz Kühn Foundation in Düsseldorf, who actually had
made possible and managed my coming, travelling and entire staying in Germany. Last, but not least, I would like to thank to all other Heinz Kühn Foundation scholarship holders who were in Germany at the same time, for so
many wonderful and unforgetable moments we passed together; Iveta Else
from Latvia, Viktoriya Vlasenko from Ukraina, Reham Halaseh and Basheer
Salama, both from Palestina, and Nenad Zivanovski from Macedonia.
216
Viktoriya Vlasenko
Priorities of foreign policy:
in documents and in reality
Deutschland
betreut von der Friedrich-Ebert-Stiftung
217
Inhalt
1.
Instead of prologue
220
2.
Testing by Iserlohn
221
3.
„Das Gespenst des Kommunismus“
223
4.
Phenomenon of „non-noticing“
226
5.
„Deutsche Welle“: the birth of Ukrainian program
229
6.
Storm on the „Deutsche Welle“
231
7.
Words of thanks
233
219
Viktoriya Vlasenko
Deutschland
Viktoriya Vlasenko, was born on 18.02.1974 in
Kyiv. In 1996 graduated from the Institute of
Journalism (National Taras Shevchenko’s University, Kyiv), department of International Journalism. In 1997 - post-graduated student in the
Institute of Journalism. Since 1995 has been
working in the „Uriadoviy Courier“ newspaper
(„Governmental Courier“, newspaper of Ukrainian government) as a correspondent in the
department of foreign policy. Collaborated with
„Intel-news“ agency (English language news
agenty in Kyiv), „Inetrfax-Ukraine, „Kyiv Post“
(English language newspaper in Kyiv), „Svoboda“ newspaper („Freedom“, Ukrainian language newspaper in New-York).
Instead of Prologue
I remember how I was pleasantly surprised, when I received news about my
scholarship from Heinz-Kühn Foundation and realized how great was a
chance to spend six months in Germany. Although I have already been there
couple of times. My first trip to Germany in 1991 was also my first trip
abroad, out of borders of the former USSR. The place of my first date with socalled capitalistic world was München. In that time I was impressed by
unspeakable atmosphere of internal freedom, which I felt when I was just walking through the streets, when I was smiled back to people who smiled to me.
You could feel yourself totally free in your acts and wishes, you just turned
into one piece of that multicolored crowd. You felt that strength and complexes slowly melted and than disappeared at all. But in the event of the HeinzKühn Foundation it was going to be different. I knew that during six months
I would not be just a tourist, guest, to whom usually is shown only the best:
famous museums, fashionable stores and cozy restaurants. Of course, I was
going to be, relatively for a short time, but anyway a member of that society,
who lived according to its laws and rules. Moreover, I had one more important task - to learn German. Because without it I could be only foreigner,
„Ausländerin“, who was deaf and dumb, who had no possibility to hear and
to be heard. And I especially needed German because the last two months of
my staying in Germany I had to take the experience of my German colleges,
to find out about their styles of working and about ways how journalism is
working under conditions of real freedom of the press. It was expected that the
place of my journalistic practical training would be „Westdeutsche Allgemeine
Zeitung“ in Essen.
220
Viktoriya Vlasenko
Deutschland
Testing by Iserlohn
I am a city person. I was born and grew up in Kyiv. I have got used to permanent cars’ noise, crowd, hustle and broad streets. I like this crazy life. But
the Goethe-Institut, where I studied German, was situated in Iserlohn, a
small German town, not far from Dortmund. It was pretty cozy and quiet. Although after eight o’clock it looked like a dead town and it seemed to me you
could hear the echo of your steps in the opposite side of Iserlohn. But if you
want to have an average picture of life in Germany, and want to see typical
representatives of German society, you better should go to Iserlohn. Because
there are hundreds of towns like Iserlohn in Germany and I dare say, there you
can watch the typical German life style. Actually in Iserlohn our friendship
with Reham and Bashir from Palestine, Iveta from Latvia, Ivan from Croatia,
Nenad from Macedonia appeared and got rather close. We were students from
Heinz-Kühn Foundation. Maybe it sounds trivial but during these four months
we were really like one family. Except of everyday life we were united by one
common profession. We spent a lot of time, discussing the question – in what
country it is more difficult to work as a journalist: in Latvia, Croatia, Palestine,
Macedonia or in Ukraine. Speaking about political and economical conditions
of our states was a long conversation for many hours. In spite of some differences between our countries they hardly can be called welldeveloped and stable democracies of the world. Our countries are only trying to find their ways.
By the way, in Iserlohn first time I’ve acknowledged, that some people in Germany pretty often judge about you and make impression about you according
to the Level of economic development of the country, where you come from.
Your education and personal features are scarcely important to them. It happened to me like this. After a couple of days in Goethe-Institut I decided to
change my room. I am not a kind of indoor girl, spoilt by very rich parents.
My room was really bad. It was in the basement, had a small, half-in-theground window, and the worse was, it was always dark and wet. When I told,
that I would like to have another place to live in, one very respectable Lady
from the Goethe-Institut said, „Are you complaining, that your room is dark
and wet? But as far as I know you have come from a country, where it is not
always sunny and dry“. I answered that nevertheless the people in my country did not live in basements.
Interesting, that this at the first glance banal and trifling story with accommodation had the continuation. Finally I moved to a much better room. And
the person, who was put into my former basement room was Fee from Thailand. She was not satisfied because of the room too, but she was told in the
Goethe-Institute administration, that there was not other choice (which was not
true). We studied with Fee in the same group in the Institute and were friends.
She told me a lot about her mysterious and exotic of her country and taught
me how to cook Thai soup with coconut milk. Close to the end of the course
Fee, her boy-friend Denis (he was a German) and I went to the Kneipe. To be
frankly, I did not remember exactly after how many beers Denis told me „Do
you know, that Fee is a famous actress in Thailand?’’. From my astonishment
221
Viktoriya Vlasenko
Deutschland
he understood that I did not know anything about that. So it turned out, that
last year Fee, who studied in the Bangkok University TV-design, played the
main role in the film, which won the first prize on the national Thai film festival. Smiling shy, Fee told that she was tired of permanent people attention,
because many of her fans recognized her on the streets, so that she could not
have a private life at all. She decided to learn German and to study in a German University. (By the way, Fee’s Mom is a German, she already lived in
Thailand for a long time. Fee asked me not to tell people in Goethe-Institut
about her mystery. But I think, now I have right to do it. Of course, the
respectable Lady from the Goethe-Institute did not know all these exiting
details, when she puts Fee on my place into the basement. She probably
again made judgement about person according to her stereotypes about economic and political situations in Thailand. Fake logic. And I got reversed conclusion from this situation - coming from well-developed country does not
mean automatically high intelligence.
Actually, problems of foreigners in Germany are very popular, everybody
writes or talks about them: journalists, politicians and normal people. I do not
want to repeat well known facts about problems of the eight-millions foreign
community in Germany and the points of view of different political parties
about them. As I have already told, I’m speaking as a foreigner, Ausländerin,
who lived in this country for six months. One evening I was going from the
supermarket to my dormitory with heavy packets and two boys, approximately 12-13 years old passed me. They asked, how to find a certain street. I answered, that I unfortunately did not know that and kept walking. I heard them
talking behind my back „Look at these foreigners! They do not know anything,
except where to buy food!“. Doubtfully, that this mean phrase was born in
these still childish heads. Where they have heard it?! From their parents? At
school? On the TV or from friends? I was trying to find an answer, but I could
not. Theoretically, all ways were possible.
Certainly, now I am not going to count how many times somebody was
friendly or not friendly to me only because I was a foreigner. I just would like
to say, that in general in my memories polite and friendly person will be associated with the image of the average German. I pretty often received a good
advice, patient explanation or just a warm smile from people I scarcely knew,
random Germans on the street.
I was lucky to be in Germany in the year of elections, I dare say, in the year
of historical elections. Almost everybody waited for the finish of so-called
Helmuth Kohl era and connected the hope for the better future with Gerhard
Schroeder’s name. Who knows, maybe if I would have been in Kyiv at this
time, I would come to Bonn for journalistic trip from my newspaper, to
watch the elections from the huge journalists’ crowd. But on 27th September
I was not in Bonn, but in Iserlohn. In the evening of this day I went to the Rathaus, where, as I was told, the information center „Elections-99“ was situated. I was astonished to see a lot of people there. They looked very attentively
at the monitors with the results of voting. I was astonished even more, when
I realized, that the monitor showed results not of all Germany, but only of Iser222
Viktoriya Vlasenko
Deutschland
lohn and a couple of other small towns. It was a phenomenon, how the federal system of Germany worked. Not only the political level, but also the people’s conscientiousness. Economical strength and political stability of whole
Germany depend on the welfare of Iserlohns. A little bit later the deputy from
SPD, who had balloted in Iserlohn, also came to the Rathaus. It was already
known, that she would be in the Bundestag, and the people in the Information
center met her with applause. This picture looked like common celebration.
But frankly speaking, lately I told this story to one of my German friends and
she said it was possible that people in the Rathaus were just local members of
parties, which won elections. They celebrated their victory.
In Iserlohn we studied a lot and we traveled a lot. Step by step Germany was
becoming for me more close, it got colors, smells and tastes, I started to feel
her. Münster, Weimar, Bremen, Bonn, Dortmund, Düsseldorf...
Moreover in Iserlohn I mean, in Goethe-Institut I had a unique opportunity,
communicating with its students, to open for myself other world’s countries.
It is a really precious experience. We were so different in our habits, behavior
and at last in our religious and cultural ideas. On the other hand we were similar, because we were sad and happy, went to parties or studied hard in Mediotek, discussed in the kitchen movies and sense of a human being... How
many times, when somebody put me probably the most common question in
the Goethe-Institut „Woher kommst du?“ I answered „Aus der Ukraine“ and
heard immediately after that. “Wo ist denn das?“ And how many times I
showed on the map, hanging in our class-room. Kyiv and Ukraine’s borders?
And how many people found out from me about Ukraine and could tell in
Ukrainian „Budmo“ what means „Prost!“ now. I guess, a lot.
Das Gespenst des Kommunismus
„Why did you destroy the USSR?“, asked me Khadiga from Morocco. In
Soviet times the friendship between the USSR and Arab’s world was strong.
It was so-called international support and solidarity. „My father is a member
of the communist party. I was supposed to study in Moscow or in Kyiv. But
when all this had happened, my father forbade me to go there’’. I have actually forgotten such sort of discussions, because on Ukraine they are not
popular anymore. Of course, there are USSR’s fans, but even they have
understood, that there is no way back. And I started to explain to Khadiga as
clear as it was possible with my German, about everyday life of simple soviet
citizen. „But they all were equal, all had jobs, salary, medicine and education
were free of charge! We do not have it!“, Khadiga’s arguments were serious.
I told her about permanent lines in the stores, ridiculous low salary, lying newspapers, KGB, russification. „Are you happy in your independent Ukraine
now? Do not lie, I have read that the situation in your state is very difficult“,
she put me into the deadlock. I explained that present Ukraine’s economical
problems were not a result of the USSR’s breakdown, but consequence of the
over 70 years Soviet Union’s existence and domination of command-admini223
Viktoriya Vlasenko
Deutschland
strative economic system. „Soviet Union was a strong state. It could resist to
the USA“, she gave me an argument she obviously had heard from her father.
I told that 15 republics worked for the Military Industry of the Soviet Union,
reminded her of „cold war“ and of the divided world, but finally I did not reassure the young USSR’s supporter from Morocco Machinery of soviet propaganda worked well. I admitted it. Even its inertia eight years after collapse of
Soviet empire was amazing.
Generally, it turned out, that in Iserlohn I spoke about the USSR much
more, then I did it in Kyiv. As I told, there is another time in Ukraine, life
goes on. And here people keep calling the Commonwealth of Independent
States (CIS) as the USSR or just Russia and do not try to take seriously the
new political order there. I was surprised by the irony of many Germans,
when they were speaking about new independent states. I could not understand the reason of their skeptical tone in phrases like this „Oh, it is so difficult to get used to the names of these new states“.
„Wenn ich mich mit Gorbatchov treffen würde, würde ich...“. This is the
sentence from the exercise, which was given us by our teacher in the Goethe-Institut when we studied the grammatical topic Konjuktiv II, nonreal
wish. Today Gorbatchov is still beloved by Germans. It looks like they
always be in his debt. They are sure, that the reunification of Germany and
the fall of Berlin’s Wall happened thanked to Gorbatchov. Almost every
German family I visited had a different editions of books about Mikhail
Gorbatchov. Strange, because our observers call Gorbatchov „politician of
the historical moment“ and there is an opinion, that Gorbatchov hardly
suspected, when he had started perestroyka and glasnost, that it would lead
to the collapse of the USSR, which political and economical by itself was
close to its end. The last soviet president is not popular anymore. Sometimes he is invited as a guest on the TV talk-shows, from time to time he
gives interviews, in Moscow is founded the Gorbatchov Foundation and he
has lectures in the universities abroad. That was all I could remind me of
Gorbatchov, when Germans asked me about him (and they did it often).
When I was listening to the ode in his honor, I started to think, that we
really had to be thankful to Gorbatchov. Germans - for reunification, we
now that he anyhow made the end of „Evil’s empire“ more close.
One more thing made me think a lot about the USSR. It was communication with our wonderful teacher from Goethe-Institut Barbara Frankenberg. She is a super teacher and great specialist. She was the only in Iserlohn’s Goethe-Institut who had a degree „Doctor“. She came from the
Eastern Germany. Moreover she escaped from the East in 1986, when
Germany was still divided. That is why we had a lot of similarities. When
we had the lesson topic „History of FRG“, she told students about life in
the Eastern Germany, lines and so-called communal apartments. I did not
need her explanations. Although I think that I belong to the post-soviet
generation, but I remember very well all realities of soviet life. And I
should just compared the ugly signs of socialist regime in our both countries.
224
Viktoriya Vlasenko
Deutschland
In the Eastern Germany it was forbidden to watch Western Germany programs and the Westem-TV signals were jammed. But in spite of that it was
possible in some towns and villiges on the East. And people sometimes watched TV program from the West. But when somebody rang on the door at that
moment, TV channel was changed, because you never knew what kind of
unexpected guest could visited you, said Barbara. Teachers in schools had to
control the level of ideological upbringing of little citizens of socialist Germany. They discovered their own method to check if this ideological upbringing in pupils’ families was good enough. Usually before the start of information programs of the Western German TV channel on the T-set’s screen
appeared the watch with small strips near the digits, but on the Eastern German TV channel - the watch had dots, in the morning, the teacher in the class
asked, for example, Barbara, „Well, tell us: Frankenberg, what kind of watch
did you have yesterday in your TV, with strips or with dots?“
Usually in Leipzig every year took place big books’fairs. And bookhouses
from the Western Germany were also invited to take part in these fairs. People from the Eastern Germany, who had no opportunity to read western
newspapers and books, just stole western books from the fairs’ stands. But on
the entrance security checked everybody and if for example, they had founded in the pocket of a student one book by western author, he was chucked
from the University away, said Barbara.
...In the USSR there was no way you could get western mass-media information (except of jammed western radio voices). On the book-shelves in the
stores were western translated books, but only by the authors, who were
communist party members and wrote about,’’mean capitalism’s face’’...
I remember, how many contradictory emotions were caused in me by the
movie „Das Versprechen“ („The Promise“), which was shoot by the Western
Germany film-makers. We watched this movie in the Goethe-Institut. It was
a love story. She, because of some fatal circumstances, came to Western Berlin, he stayed in Eastern Berlin. It was the story of tragic love on the political background. Berlin Walls went through peoples lives. Movie was
pretty touchable and tears making, but as I have said, my impressions were
rather contradictory. „Das Versprechen“ reminded me in some moments of
American movies about USSR in the „cold war“ times; permanent snow,
„babushkas“ in the wool scarfs on the heads, always drunk men poverty.
Many things were exaggerate and primitivied. To make clear, what I mean,
I give an example. Little daughter of the main hero in the movie „Das Versprechen“, who lived with the family in Eastern Berlin, received the present
from the Western Berlin - panda Teddy-bear. And main hero in the night
dyed white spots on the Teddy-bear’s fur with black paint. He did that
because in the Zoo in Eastern Berlin were no panda bears, that is why the
toy-industry of the Socialist Germany did not produce them, and he was
afraid that „stasis“ (Ministerium für Staats-Sicherheit, Ministry of State
Security of GDR, twin of the soviet KGB) would find out about this present
from the Western Berlin. It looked, of course, touchable, but exaggerated and
hardly truth worth.
225
Viktoriya Vlasenko
Deutschland
One more moment. The „stasis“ representative kept „a convincing“ conversation with the main hero. In the movie this „stasis guy“ was fat, mean and
stupid (in comparison with the main hero). Unfortunately, many people in the
security service under socialistic regime had perfect education, were good
psychologists and had a talent to convince. In the other way this political
system, under which fear of security service invisible power played one of the
main role, wouldn’t have existed so long. And that attempt to show Good and
Evil was pretty naive and primitive. And I just want to remind that this movie
was shoot by the famous German movie producer Marguerite von Trotta
after the „cold war“ when it wasn’t difficult to gather truthfull materials for
it.
„I can not tell, that everything was so gray and gloomy“, agreed Barbara
with me. „It seems to me people in the Eastern Germany were more united
more close and were ready to help you at any minute“ said Barbara.
Of course, I have no right to judge how bad or good life was „behind the
Berlin’s Wall“. And the tragedy of one nation, artificially divided into two
enemy parts, is unspeakable. But would like to telI that both pro-regime
kitsch and anti-regime kitsch is not fair.
I also was surprised that some of eastern Germans I met did not want to talk
Russian. Actually I did not eager to do it by myself, because I missed speaking
Ukrainian very much, but all of them, when they found out I came from
Ukraine, said, that in spite of that, they learnt Russian in schools, but they wanted to forget it.
In the Goethe-Institut was one guy, Frank, who had his civil service there.
During four months he was a good friend and adviser for me and other students. He came from the Eastern Germany, as he described, from the small village not far from small town, which was near Berlin. In my first day in Iserlohn, when he helped me with my luggage I started to talk to him in English,
but he answered me in Russian. I made a compliment to his language’s skills,
but he answered that he spoke Russian seldom and not willingly.
I, as Ukrainian, have more reasons not to like Russian language, which in
Soviet time was prevailing. I prefer to talk my native language, Ukrainian, and
Russian is also a foreign language for me. For many people now, as well as for
Eastern Germans, Russian language turned into sign of aggression. Unfortunately this language has brought itself into discredit. But there is one old
proverb: how many languages you know so many times you are a Person.
Phenomenon of „non-noticing“
Among priorities of Ukrainian foreign policy Germany has one of the first
places. Many times on the official levels was stressed that Ukraine and Germany are strategic partners. „Strategic partnership“ isn`t just a goodsounding
term from international diplomatic vocabulary. Announcement of strategic
partnership between two states really means that these two states develop their
tight bilateral relationship, taking account of comon interests.
226
Viktoriya Vlasenko
Deutschland
The fact that Germany is a strategic partner of the Ukraine you can here not
only during official visits of Germany dignitaries to Kyiv. Image of Germany
always presents in Ukrainian mass-media. Certainly, Germany is one of the
most powerful European states, member of the „G7“ and this fact also
explains why news from Germany and about Germany appear nearly every
day in the newspapers columns. But frankly speaking, I still can’t fully understand what’s caused the ignorance of Ukraine in German mass-media which
I caIl „phenomenon of non-noticing“.
One of the reasons hides in the nature of journalism as itself. Well, we can
talk about classical conception of journalism, that journalists in their activity
must accept human values as an general orientation. But practical journalism
shows that first of all events, connected with wars, disasters and catastrophes
attracted journalists’ attention. And it is not a choice and wish of journalists.
Some days one of my college from the „Deutsche Welle“ („German Wave“
- German Broadcasting Station) told me, journalism - it is one of the public
service’s brunch, journalists task is to professionally search and present news.
It is not a secret that audience, people, journalists work for, has a high interest
in certain news from so-called „hot points“, places of earthquake and plain’s
crash. So, service works for its client. Client is a king.
Ukraine’s territory size is often compared with France. Yes, Ukraine ist a big
European country with 52-millions poplulation. But thanks to God after the
USSR collapse there have not appeared „hot points“, famine or earthquakes.
And the way the West (Germany) accept Eastern and Central European states, including Ukraine, I would compare with the relationship of teacher
with school pupils. Excellent pupils are always as pattern for others and the
teacher always praises them. Really bad pupils receive the special tuition, the
teacher organizes consultations for their parents. And quiet pupils, who as a
rule received satisfactory „3“, study actually bad but not bad enough to cause
teacher’s worry. So, till now the West treats Ukraine as a quiet pupil with permanent mark „3“, not good and not bad enough to pay special attention to.
Five-six years ago on the West was one bitter, but stable association with
Ukraine - Chornobyl. But today, after almost thirteen years since the day of
its explosion, the memory of average German citizen not always recalls the
word „Chornobyl“. Because instead of fashionable early in the western massmedia reportages from the 30-kilometers Chornobyl’s „estranged zone“ now
has come articles that Ukraine blackmails the West and demands to give her
money for the closing of Chornobyl nuclear power station....
Average German citizen knows very well on what stage is the peacemaking
negotiations about regulation of arabic-israeli conflict. Many times I was a
witness, when Germans with sympathize put the question to my friends
Reham and Bashir „And how things are going now in Palestine?“ after every
new information about talks between Arafat and Nethanyahu which appeared
in the evening news program. Well, I understand, of course, this uneasy situation in that region and also complicated attitude of Germans to all things,
concerning Israel and Jews. And me either with understanding and compassion listened to Reham and Bashir stories about political situation in Palestine
227
Viktoriya Vlasenko
Deutschland
and just about their not easy everyday‘s life and journalistic activity in Bethlehem and Ramallah. But the thing I am trying to tell that nobody asked me about
destiny of Ukraine, which is just to reach in a two hours by airplane from Germany.
On the other hand it would be fair to ask: why the earth Germans have to
care about Ukraine? They have enough more important things to care about.
It’s true. And exactly this thing I was told by one German journalist from
the „Handelsblatt“ newspaper. He said that Ukraine as object of journalistic
attention is not interesting and not so important as, for example, Russia,
which is huge, unpredictable and has a nuclear weapon.
I remember when I was in Germany in the group of journalists for so-called informational trip, organized by German Embassy in Kyiv. We had a meeting in „Der Spiegel“ magazine. And the editor of political department told us
that they recalled „Der Spiegel“s correspondent from Kyiv, because after
Ukraine had refused from its nuclear weapon there was not need to have correspondent in Kyiv. „Der Spiegel“s correspondent in Moscow could write
about both countries.
It is a well known fact, that after the „cold war“ former USSR lost its image
of enemy and simultaneous the interest of the West to new founded states went
down. Permitted fruit is not sweet anymore. And now not only „Der Spiegel“
looks at Ukraine through the „Moscow’s glasses“, forgetting that they are two
different states, sometimes with difference interests and different points of
view at the some international political problems.
I argued with my German colleague from „Handelsblatt“ newspaper. I
told him that real democratic Ukraine in the center of Europe with stable economy can protect Germany from unpredictable Russia. Now Ukraine has two
ways of development. The first - deep European integration: close partnership with European Union and other international structures. The second one
- more close relationship with Commonwealth of Independent State (CIS),
tight cooperation with Russia and, who knows, maybe in the future the fate of
Belorussia. The western mass-media, unifying Ukraine with Russia, pushing
Ukraine to the second way. And I don’t think that is in the West’s interests.
I have read one interesting article in the newspaper „Die Woche“
(15.01.99). Its title was „Nukleares Mega-Serbian“. The author rather critically
spoke about russian-belorussion Union. After he mentioned about visit in Russia one famous Serbian nationalist Voeslav Sheshel, who suggested Russian
and Belorussian members of parliaments to create „Union of Slavs“ as „alternative to NATO and European Union“ in spite of that Serbia has no common
borders with Russia and Belorussia. The author talk with certain irony about
„Union of Slavs“, which used to be a popular idea in the 19th century. But in
our days, told the author, this idea is just a ghost. Because, for example,
“Ukraine, clings to its Independence, and arranges NATO’s maneuvers in the
Black see with the USA and Turkey, for what Lukashenko (Belorussia´s President) already called her „betrayer“ („Auch die Ukraine klammert sich vehement an ihre Unabhängigkeit, veranstaltet im schwarzen Meer Manöver mit
der USA und der Türkei, wurde deshalb von Lukaschenko auch schon des Ver228
Viktoriya Vlasenko
Deutschland
rats bezichtigt“). Yes, Ukraine’s relationships with NATO are close. And
Ukraine approves the policy of NATO’s enlargement (by the way, Russia
officially declare, that she is again of NATO’s enlargement). But the author of
the article has not written if it is easy for Ukraine „to cling to its independence“, having so powerful and nervous neighbour as Russia, which can not
excuse Ukraine for its being independent till now.
One more article about Ukraine attracted my attention. It was newspaper
„Süddeutsche Zeitung“ for October 1998. It was about freedom of the
press in Ukraine, to be exact about the absence of it, that Ukrainian President
Leonid Kuchma started to hunt independent and oppositional mass-media. As
an example, in an article was told that the most popular Ukrainian newspaper,
which was famous its critical position as to Presedential Administration
„Kyivskie-Vedomosty.“ („Kyiv’s News“) was closed, because authorities
were not satisfied by its content. I called my friends in Kyiv. I asked about
„Kyivskie Vedomosty“. „Yes, they said, it was closed for three days, but then
it was opened and now „Kyievkie Vedomosty“ comes out again“. Of course,
readers of „Süddeutsche Zeitung“ have not founded out about this fact...
I am not trying to describe my country with rose paint. I have pretty criticaI points of view as to many things and politicans in Ukraine. And by the way,
freedom of the press in my country leaves much to be desired. But there are
also fresh way of thinking and acting people, who really want to serve this
country, to change it. German newspaper seldom write about them. It is
much more exciting to write only about corruption and bureaucracy about
Mafia and bad invest climate, because it is readable.
So, that is why there is no wonder that average German has no special interest to Ukraine. It is a sad result of the ’’phenomenon of non-noticing“, which
excists in German mass-media as to Ukraine.
„Deutsche Welle“:
The birth of Ukrainian program
„Deutsche Welle“ is German broadcasting station, which is financed from
the state’s budget. On the „DW“ are 35 foreign languages radio programs. The
state contract between “Deutsche Welle“ and German government say that
these foreign languages radio programs „have to inform abroad about political, cultural and economic life of German and Europe at all“. But in all presented books about „DW“ is said, that German government does not interfere
in the activity of journalists and does not have any influence or censorship
right on the content of „DW“ programs.
Until now among 35 „DW“ programs has an been Ukrainian program is not
be found. Although the listeners in the former Soviet Union remember very
well programs of Russian section from „DW“, which were pretty popular in the
Soviet times, when all radio voices from the West were the only source of truthful information in the USSR that is why they were jammed and to catch them
was not very easy.
229
Viktoriya Vlasenko
Deutschland
The main argument of „DW“ authorities in the discussion with the topic
„Why there isn’t Ukrainian section“ was that listeners in Ukraine could very
well understand Russian languages, that’s why there wasn’t need to open special Ukrainian section, they said. This way of Russia-Ukraine unification was
rather critically excepted in Ukrainian mass-media. Because in spite of that
Ukrainian listeners could understand Russia Ukraine is different country,
with own internal and external policy, and specific of Russian programs is not
always suitable for Ukraine.
But from the 1992 the idea of opening Ukrainian programs has become more
real. And the finally decision said that Ukrainian program has started to broadcast from 1 February 1999. There was a gossip that it was a political decision. And the authorities of „DW“ was forced to decide to open Ukrainian section, because they received the special notification from Bonn. But the chief
of Eastern European section, Miodrag Soric, in his interview told, that the only
reason why Ukrainian section was not open before was easy-lack of money (as
you will see later this money question will play a fatal role in the future of
Ukrainian section). Anyway Mr. Soric told, the opening of new program on the
„DW“ costs 2 millions DM, and now the birth of Ukrainian section has
become possible thanks to the general director of „DW“ Dieter Weirich. „Völliger Unsinn ist, was ich dieser Tage in einigen Zeitungen las. Danach hätte die
„Deutsche Welle“ politischem Druck aus Bonn oder aus Kiew nachgeben
müssen und dann das Ukrainische Programm eingerichtet“, he said.
Mr. Soric also told me about the specific of „DW“ journalistic style.
News from „Deutsche Welle“ do not include any journalistic comments.
„We are not teachers, we are journalists. We assume that our listeners are clever and intelligent people and they can do their own conclusions by themselves,“ he told me. Really, „DW“ news are just pure facts and events, no more.
Journalists do not try to present their positions or points of view as to some
certain events. They let to do it to the listeners.
As I told I thought that the practical part of my HKS scholarship would be
in the „WAZ“, because of coincidence of circumstances (as for me, fortunate
coincidence), I came to Köln. I received the opportunity to be the first Praktikantin in the „Deutsche Welle“ Ukrainian program and to watch the birth of
new radio program taking part in this exiting process.
My practical training started on January. We have the whole month till the
beginning of broadcasting and during this month we make the last preparation.
Five Ukrainian journalists were invited for work in Ukrainian section of the
„DW“: Juriy, Anna, Zahar, Volodia and Masha. They are professionals. And
for me it was a real pleasure to work with them. I am a press journalist, moreover I have never worked on the radio. That is, why everything was new for
me. Work in studio, journalistic slang, rhythm of programs and many other
things were quite different from newspaper journalism. From the beginning
Ukrainian program was supposed to have half an hour of broadcasting time.
We had to prepare current news, reviews of the international press, short morning interviews, radio-magazines („Europe and Europeans“, „About Germany
from Germany“, „Week-end“, „Topic of the day“ and others), on Sunday liste230
Viktoriya Vlasenko
Deutschland
ners of Ukrainian program could hear the radio German language course and
even to receive from German embassy in Kyiv free of charge special learning
books. We were looking for the correspondents in all big European and world
capitals. And finally we found Ukrainian journalists in Rome, Paris, London,
Washington, Brussels and of course in Kyiv, Moscow, Minsk and other CISstates, who with pleasure agreed to do reports for us. I finished a special
course of work with AWS (audio working system). And I already could work
by myself with correspondents’ materials, make telephone interviews and do
small radio programs. We chose jingles and invited professional actor to
record the title of our radio-magazines.
Our chief, Mr. Soric, organized a big advertising company on Ukraine and
officiaIly opened the office of „Deutsche Welle“ Ukrainian program in Kyiv.
Almost all big Ukrainian and German newspaper published positive articles
about the opening Ukrainian program, commenting this fact as „great input
in bilateral ukrainin-german relations“.
Storm on the „Deutsche Welle“
„ Bj^le§ l]ijf, _]m _én]å „Jéhbrxf] q_eg{“ d Gbgxi]“ (Good morning,
you listen to „Deutsche Welle“ from Köln) - this signals of Ukrainian program
were supposed to sound first time on the 1st February at 7.30 Kyiv’s time in
the morning. But it did not happen.
On the eve of this event the cultural representative of a new German
Government Michael Naumann suggested to cut the budget of „Deutsche
Welle“ by 40 millions DM. Last year its budget was 637 million DM, but 1999
year budget is supposed to be only 596 millions. Consequently of this a few
„Deutsche Welle“ programs such as Greek, Polish, Slovak, Check and programs of some other eastern-european countries could be closed.
Michael Naumann’s decision was dictated not only by the common policy
of economy of state budget money, which is very relevant in a new German
government. He told that it is time now to finish with informational influence
and hegemony of the West. With this opinion agreed the German newspaper
„Handelsblatt’’, which wrote that western radio voices „müssen sich auch
reformieren. Sie hatten ihre Blüte im „Kalten Krieg“ als Antwort auf die Propaganda des Ost Blocks und brauchen heute neue Aufgaben“. But to find „new
tasks“ does not mean to close radio programs. „Handelsblatt“ suggests: „Sie
könnten bei der Ost Erweiterung von EU und Nato sowie bezüglich der zu
erwartenden Ost-West Migration eine zentrale Rolle spielen und sollten gerade
ihre Position in Mittel- und Osteuropa eher festigen statt abbauen“.
Actually this decision of German government to cut the budget of „Deutsche Welle“ has caused strong resonance in Ukrainian as well as in German
mass-media. Union of German journalists protested against it. The representatives of the Union critically pointed, that Michael Naumann had not met with
the authorities of „Deutsche Welle“ before to make this decision. „Naumann
stelle den christdemokratischen DW-Intendanten Dieter Weirich und Außen231
Viktoriya Vlasenko
Deutschland
minister Joschka Fischer vor vollendete Tatsachen“, commented „Handelsblatt’’ newspaper.
„Die Ukrainer hatten sich schon gefreut. Am 1. Februar I999 sollte das neue
ukrainische Hörfunkprogramm der Deutschen Welle seinen Dienst aufnehmen. Aber in der Ukraine blieb es stumm“ wrote „Tagesspiegel“ newspaper.
„Weirich, der DW Intendant, bezeichnet die geplante Kürzung als „lebensbedrohlich“, quoted „Tagesspiegel“.
It is hard to describe the feelings of Ukrainian journalists a new non-born
program. It turned out that they suddenly lost their job. And in Kyiv Yuriy and
Zahar quited in Kyiv good job because of contracts with „DW“, Masha has not
prolonged her contract with BBC Ukrainian service, where she used to work
before. The well-equiped radio studio of „DW“ Ukrainian program in Kyiv has
turned out to be useless. And the Ukrainian listeners were fooled by advertising. An awful situation.
This topic was very popular in German newspapers. Partly because it is the
Naumann’s devision was accept like attack on the freedom of the press. But
on the other hand, there was an suspicion that this decision was not dictated
only by policy of reasonable spending of state’s money. Because Mr. Weirich
the former deputy from CDU/CSU party in the parliament, has certain contradictions with new „red-green“ German government and Ukrainian program
was just a sacrifice of these political games. Ukrainian mass-media describe
it like ignorance of Germany as to Ukraine. „Die Einstellung des ukrainischen
Programms noch vor Sendebeginn hatte unter anderem zu Kritischen Kommentaren der Regierung in Kiew geführt. Allgemein verweist die DW auf verheerende Wirkung der Haushaltskürzungen im Ausland“: wrote „Frankfurter
Allgemeine Zeitung“.
Exactly at this dramatic time the minister of foreign affairs of Ukraine,
Boris Tarasjuk, arrived in Bonn with official visit. He and his German college
Joshka Fisher were supposed to make speeches during the ceremony of opening the new founded German Ukrainian forum in Bonn. This forum, nongovernmental organization, unites German journalists, businessmen, politicians, who are interested in the developing of the relationship with Ukraine.
It was an important event in ukrainian-german relationship.
„Die Ukraine darf künftig nicht mehr als “Grenzland’.’ - das ist die wörtliche Übersetzung von „Ukraine“ - sondern als integraler Teil Europas wahrgenommen werden“, said Joshka Fisher on the ceremony. „Die Ukraine ist zu
einem gewichtigen Partner in Europa geworden und spielt eine konstruktive
und engagierte Rolle beim Aufbau einer gesamt europäischen Friedensordnung“, said the chief of German diplomacy.
„In sieben Jahren der Unabhängigkeit wurde Deutschland zu einem der
wichtigsten Handelspartner der Ukraine und nimmt nach dem Handelsvolumen den ersten Rang in Europa ein“, stated Boris Tarasjuk.
WeIl, friendship and partnership between two states in official speeches as
a rule have only positive epithets. And probably this incident with opening of
Ukrainian program is small on the general background of ukrainian-german
relationship, but....
232
Viktoriya Vlasenko
Deutschland
I met Boris Tarasjuk in Bonn. I asked him, if they spoke with Joschka Fischer
about Ukrainian program on the „Deutsche Welle“ during their tet-a-tet meeting. He told me that they actually didn´t have so much time to discuss even
more important problems, but they „mentioned about Ukrainian program too“.
„On the other hand, Ukrainian Minister told me of foreign affairs, we have no
right to comment this decision of German government. It is internal bussiness
of Germany. We have to respect that, when the government wants to save state’s money. But, of course, we would like to hear „Deutsche Welle“ programs
in Ukrainian language.“
It was a diplomatic answer. I knew that it was planed before that Mr. Tarasjuk would visit „Deutsche Welle“ in Köln and would give interviews for
Ukrainian and Russian programs. But after the postponement of Ukrainian
program broadcast he refused to visit „Deutsche Welle“ at all. And diplomatically he was also right.
It looks like all this so-called public opinion has forced Mr. Naumann to
check his decision. Anyway Mr. Soric, the chief of the Eastern European Section, was in the last conversation with journalists rather optimistically. He said,
that on the 1st April Ukrainian program will start the broadcasting for sure.
I’m leaving Köln on the 28th of February. I hope that on the 1st April I would
hear in Kyiv: „ Bj^le§ l]ijf, _]m _én]å „Jéhbrxf] q_eg{“ d Gbgxi]“
Words of thanks
I would like to express my speciaI thanks to Heinz-Kühn Stiftung for the
great opportunity to spend in Germany these six months. Thanks to this
scholarship I have got new experience in communication with people, new
professional skills and great friends. It was a chance not only to meet new
people and find out the life in the foreign country, but also better find out
myself and maybe change myself.
I am deeply thankful to my great teachers from Goethe-Institute Barbara
Frankenberg and Andreas Deutschman, for their professionalism and sense of
humor. I will never forget the wonderful X-mass evening in the house of Margaret Strothman in Iserlohn. Thank you my friendly roommates in Köln from
the Mozartstrasse, meine netten Mitbewohnerinnen, Karin und Susanne. You
have taught me to love Köln. Thank you everybody, who was by me with
friendly support and kind words during this time.
233
Nenad Zivanovski
Deutschland und die Ausländer
Deutschland vom 31.08.1998 - 28.02.1999,
betreut von der Friedrich-Ebert-Stiftung
235
Inhalt
Danksagung
238
Abschied nehmen von den alten Bildern,
dass alle Deutschen blond sind
239
Antagonismus gegenüber den Ausländern
239
Das neue Staatsbürgerschaftsgesetz
240
Die gefährliche Gespaltenheit der Öffentlichkeit
241
Arbeit erst für die Deutschen
242
Die Ausländer sind für Deutschland von Nutzen
244
237
Nenad Zivanovski
Deutschland
Nenad Zivanovski, geboren 1969 in Gnjilane,
Jugoslawien. Mit der journalistischen Tätigkeit
begann er sich mit 19 Jahren zu beschäftigen,
und zwar in der makedonischen Jugendzeitung „Mlad Borec“. Berufserfahrung: beim
Fernsehen „A1“ aus Skopje, der Zeitschrift
„Fojus“ aus Skopje, als Korrespondent aus
Makedonien für die Belgrader Zeitungen
„Dnevni Telegraf“ und „Gragjanin“. Diplom
der Journalistik an der Universität „Sv. Kiril i
Metodij“ in Skopje. Teilnahme an mehreren
Workshops und Seminaren im Ausland. Im
Moment ist er free-lancer, wohnt und arbeitet
in Skopje. Adresse: Sava Kovacevic 70-3/9,
Skopje, Makedonien. Tel.: 00 389 91 20 52 72.
Danksagung
Am Ende meines Stipendiums und meines sechsmonatigen Aufenthaltes
in Deutschland möchte ich meine große Zufriedenheit ausdrücken, dass ich
Mitglied der ausgewählten Reihe der Heinz-Kühn-Stiftung geworden bin.
Ohne zu übertreiben kann ich sagen, dass die in Deutschland verbrachten
Monate die schönsten in meinem bisherigen Leben waren und ohne Zweifel der Höhepunkt meiner journalistischen Karriere. Die Fahrten nach
Münster, Weimar, Amsterdam, Bremen und Paris sind ein großer Beitrag
für die Gestaltung meiner Betrachtungsweise in Bezug auf andere Nationen und Kulturen und die Toleranz, die man nur über Kommunikation und
gegenseitiges Kennenlernen erreichen kann. Ich werde mich bemühen,
diese Erkenntnis mitzunehmen und sie im täglichen Leben in meiner Heimat auf dem Balkan zu verwenden, wo ich sie sicherlich sehr gut anwenden werde.
Ich möchte mich nochmals bei den Personen bedanken, die einen erheblichen Beitrag geleistet haben an meiner Gestaltung als zukünftiger Europäer.
Die sind Frau Erdmuthe Op de Hipt, Frau Radmila Trajkovska von der Friedrich-Ebert-Stiftung in Skopje, Frau Nada Steinmann und die Mitarbeiter der
makedonischen Redaktion bei der Deutschen Welle, die Professoren des
Goethe-Instituts in Iserlohn, sowie die anderen Stipendiaten: Iveta, Reham,
Basheer, Viktorija, Ivan und Aleksander.
Und nun etwas über mein Thema: „Deutschland und die Ausländer“. Während meines Aufenthaltes in Deutschland wurde eine heftige Diskussion
über die Rechte der Ausländer in Deutschland und die doppelte Staatsbürgerschaft geführt. Ich glaube, dass niemand, mich eingeschlossen, bei diesen
Konstellationen im Hinblick auf die Probleme, die Deutschland spalten,
unberührt bleiben konnte. Meiner Ansicht nach sind die Argumente beider
Seiten akzeptabel.
238
Nenad Zivanovski
Deutschland
Während meines sechsmonatigen Aufenthaltes in ihrem Land begann ich,
mich nur für eine kurze Zeit als Teil dieser Gesellschaft zu fühlen, wobei ich
angefangen habe, einige Dinge zu sehen und meinen Standpunkt in Bezug auf
auf die Frage „Die Ausländer in Deutschland“ zu bilden. Eine bedeutende
Rolle dabei spielten auch die Fahrt nach Münster und meine erste Begnung
mit dem Pro und Kontra zu dieser Frage. Ohne besondere Ambitionen einen
endgültigen Beschluss zu fassen, möchte ich es den Lesern dieses Textes überlassen zu beurteilen, inwiefern meine Darstellung des Problems erfolgreich
ist. Diese Niederschrift sollte überhaupt ein weiterer kleiner Beitrag im
Gesamtbild der objektiv bestehenden Realität sein.
Während ich diesen Text verfasst habe, hatte ich keine Absichten und keinen
Wunsch, mit der Darstellung meiner Gesichtspunkte jemanden zu kränken.
Ich bedanke mich nochmals.
Abschied nehmen von den alten Bildern,
dass alle Deutschen blond sind.
Das deutsche Dilemma bei der Frage der reinen Nation oder der Rechte der
Ausländer spaltet auch weiterhin die Nation. Beide Seiten glauben, die glaubwürdigeren Argumente vorzuweisen. Viele werden ihr Bedauern für den
Umgang und die Gewalttaten gegenüber den Ausländern und den rechtsradikalen Gruppen zum Ausdruck bringen. Aber viele spüren auch eine klare
Abneigung gegen die Ausländer.
Bedauerlicherweise ist es normal, dass in den deutschen Tageszeitungen, auf
den Seiten reserviert für die „schwarze Chronik“, täglich ein Beitrag über eine
Gruppe junger Menschen, die sich selbst als Neonazis bezeichnen, veröffentlicht wird, die ohne jeden Grund einen Ausländer geschlagen haben. Parallel
kann man in der gleichen Rubrik einen Beitrag über einen Ausländer lesen, der
nach langer Zeit, wegen Diebstählen oder Terrorismus, eingesperrt wurde.
Wenn man versucht, das Verhältnis der Deutschen gegenüber den Ausländern oberflächlich zu analysieren, wird man feststellen, dass der Fall aus der
Zeitung die eigentliche Situation darstellt: ein Bild des deutschen Antipods.
Viele werden ihr Bedauern über den Umgang und die Gewalttaten gegenüber
den Ausländern und den rechtsradikalen Gruppen zum Ausdruck bringen.
Aber viele verspüren auch eine klare Abneigung gegenüber den Ausländern,
weil sie, nach Meinung der Deutschen, die Hauptträger der kriminellen
Erscheinungen in Deutschland sind.
Antagonismus gegenüber den Ausländern
Die geteilte Meinung der Deutschen gegenüber den Ausländern wurde
vor kurzem in Zahlen ausgedrückt. Aufgrund einer Umfrage ist ersichtlich,
dass 42% der Befragten ausgesagt haben, dass die Ausländer in Deutschland
239
Nenad Zivanovski
Deutschland
kultureller Reichtum sind. Ganze 58% haben eine andere Meinung in Bezug
auf diese Frage. Das besonders Indikative dabei ist, dass diese Zahlen vor nur
sieben Jahren umgekehrt waren. Die Xenophobie ist im ehemaligen Ostdeutschland im hohen Maße ausgeprägt, besonders bei der jüngeren Generation und bei den niederen Gesellschaftsschichten, obwohl immer mehr
Anhänger des Rechtsextremismus aus den intellektuellen Kreisen stammen.
Die Soziologen weisen darauf hin, dass der Grund dafür die schwere Wirtschaftslage und das hohe Prozent an Arbeitslosigkeit sind. Die erste Euphorie nach der Wiedervereinigung ist auch schon vorbei. Viele Ostdeutsche werfen Helmut Kohl vor, dass er vorher immer über „unsere Brüder und
Schwestern“ gesprochen hätte, nach 1989 sie aber niemals wieder so genannt
hat. Frau Dr. Barbara Frankenstein, die früher selbst in der ehemaligen DDR
gelebt hat, jetzt Deutsch am Goethe-Institut in Iserlohn unterrichtet, meint
diesbezüglich: „Den größten Verdienst an der Wiedervereinigung Deutschlands hat Michail Gorbatschow, dann die damalige ungarische Regierung, die
ihre Grenzen öffnete und den tausenden Unglücklichen die Einreise in den
westlichen Teil genehmigte.“ An der dritten Stelle sind es die Ostdeutschen
selbst, die es für sich erkämpft haben. Und erst an vierter Stelle ist es Helmut
Kohl, der es aber geschafft hat, den größten politischen Nutzen von den
Geschehnissen für sich zu gewinnen.
In einer Situation, in der mehr als 4 Mio. arbeitsfähige Deutsche arbeitslos
sind, sind die 7 Mio. Ausländer, die in Deutschland leben, deren Zahl um
400.000 jährlich steigt, eine regelrechte Provokation. Mit der großen Zahl der
Ausländer wird Deutschland ohne Zweifel in der Reihe der Emigrationsländer gezählt. Diese Tatsache wird von den Parteien zwar negiert, aber nicht von
der Gewerkschaft. Viele sind der Meinung, dass die neue Schröder-Regierung
viel liberaler sein wird, und sie befürchten den Tag, der nicht mehr so weit ist,
an dem die Ausländer in den Bundestag kommen und ihre Interessen im politischen System artikulieren werden.
Das neue Staatsbürgerschaftsgesetz
Die liberale Haltung der rot-grünen Koalition gegenüber dem Ausländerproblem wurde schon in den ersten 100 Tagen ihres Bestehens angekündigt,
mit dem Vorschlag für das neue Staatsbürgerschaftsgesetz. Gegenüber dem
immer noch geltenden „Kaisergesetz für die deutsche Staatsbürgerschaft“, das
sehr restriktiv in Bezug auf die Ausländer und ihr Recht auf die deutsche
Staatsbürgerschaft ist, sieht das neue Gesetz Änderungen mit einer viel weiteren Perspektive vor. Der deutsche Innenminister, Otto Schily, hat sich dazu
geäußert, dass das neue Gesetz ein Beitrag für den inneren Frieden in Deutschland sei.
Wenn der vorgestellte Gesetzentwurf vom Parlament verabschiedet wird,
wird das bisherige Gesetz für die Staatsbürgerschaft und die Zugehörigkeit
zum Reich, das seit 1913 gilt, aufgehoben. Nach dem Kaisergesetz sind nur
diejenigen, die eine deutsche Abstammung haben, Deutsche. Dies bedeutet,
240
Nenad Zivanovski
Deutschland
dass die Nachfahren der deutschen Emigranten in Russland, die sich dort in
der Zeit der Kaiserin Katharina angesiedelt haben, ohne weiteres die deutsche
Staatsbürgerschaft bekommen, aber nicht die Türken, die schon Jahrzehnte
lang in Deutschland leben.
Das neue Gesetz sieht vor, dass die Ausländer, die länger als acht Jahre, in
Deutschland leben und einen ständigen Aufenthalt hier haben, die deutsche
Staatsbürgerschaft bekommen können, ohne deshalb die andere ablegen zu
müssen. Bisher mussten die Einwanderer 15 Jahre auf den deutschen Pass
warten. Die Kinder, die in Deutschland geboren werden, bekommen automatisch die deutsche Staatsbürgerschaft, soweit ein Elternteil die schon hat
oder vor seinem 14. Lebensjahr nach Deutschland gekommen ist.
Wenn man nach dem neuen Gesetz Deutscher werden möchte, muss man
aber auch einige Bedingungen erfüllen. Die neuen Regelungen gelten nicht für
diejenigen, die sich in Deutschland strafbar gemacht haben oder auf irgendeine Weise gegen die deutsche Verfassung oder die deutsche Ordnung arbeiten. Um den deutschen Pass zu erwerben, muss man auch die deutsche Sprache sprechen können und erwerbstätig sein. Für die Ausländer, die hier
Sozialhilfe oder Arbeitslosengeld beziehen, gilt das Gesetz nicht.
Die gefährliche Gespaltenheit der Öffentlichkeit
Obwohl der Bundesinnenminister meinte, dass das neue Gesetz ein Beitrag
zum inneren Frieden sein wird, hat der Entwurf heftige Reaktionen und eine
Gefahr vor größeren Unruhen hervorgerufen. So hat die konservative Oppositionspartei eine Unterschriftenaktion gestartet mit dem Ziel, die öffentliche
Meinung gegen die Pläne der neuen Regierung zu mobilisieren.
Die liberale Öffentlichkeitsseite wirft den Konservativen vor, dass sie mit
populistischen Methoden mit dem Feuer spielen, das Problem instrumentalisieren im Kampf um die Wählerstimmen und dabei letztendlich die Entstehung einer neuen Welle der Agressivität gegenüber den Ausländern riskiert.
Diese Gründe führten dazu, dass in der konservativen Koalition selbst gegensätzliche Meinungen in Bezug auf die angekündigte Aktion entstanden sind.
Dazu äußerte der Vorsitzende der Kommission für Sozialangelegenheiten
der Christlich-Demokratischen Union, dass die Unterschriftenaktion nur
dann einen Sinn hätte, wenn sie eine breite Diskussion auslöse. Der Berliner
Sonderbeauftragte für Ausländerfragen der CDU fürchtete, dass die Unterschriftenaktion falsch verstanden worden sein könnte, und zwar als eine
generelle Äußerung gegen Ausländer. Die Regierungsbeauftragte für Angelegenheiten der Ausländer, Marie-Louise Beck, warf der Union vor, dass sie
Unsicherheit bei den Bürgern verbreitet.
Wie emotional die Auseinandersetzungen zu diesem Thema geführt werden,
zeigt der Fall, als der Parteivorsitzende Wolfgang Schäuble einen Vortrag an
der Technischen Universität in Berlin halten wollte. Dabei wurde er noch vor
dem Beginn des Vortrages mit folgenden Worten ausgerufen: „Nazis raus“ und
„Stoppt die ausländerfeindliche Unterschriftenaktion“. Die Diskussion wurde
241
Nenad Zivanovski
Deutschland
abgebrochen, noch bevor Wolfgang Schäuble zu Wort gekommen ist. Der
Standpunkt des Parteivorsitzenden in Bezug auf die doppelte Staatsangehörigkeit ist bekannt. Dazu äußerte er, dass derjenige, der die doppelte Staatsbürgerschaft unterstützt, den deutschen Teil der Bevölkerung vernachlässigt.
Anlässlich aller Kontroversen schreibt eine Journalistin der Deutschen
Welle, Cornelia Rabitz, in einem ihrer Beiträge: „Sicher ist, dass mit dem
neuen Gesetz die Pässe nicht im Ausverkauf sein werden. Schuld an der Vertiefung der Meinungsunterschiede sind auch diejenigen, die, wie der der
bayrische Ministerpräsident Edmund Stoiber, die Regulierung der Staatsangehörigkeit und das Erhöhen des Gewaltpotentials und des Terrorismus` in
einem Atemzug aussprechen. Deshalb müssen beide Seiten dazu beitragen,
dass ein erfolgreiches Zusammenleben, Verständnis und Toleranz gewährleistet sind, und sie müssen verstehen, dass die Integration ein Prozess ist, der
viel Mühe und Anstrengung verlangt“ - unterstreicht Rabitz. Ähnlich war die
Ansicht der „Westdeutschen Allgemeinen Zeitung“ aus Essen: „Das, was den
Ärger hervorruft, sind die präsentierten Argumente. Sie sind auf die Instinkte
gerichtet und nicht auf den Verstand. Von dem Gesetz für die doppelte Staatsbürgerschaft werden die drei Mio. Ausländer profitieren, die schon über
zehn Jahre unter uns leben. Wer behauptet, dass diese Ausländer die innere
Sicherheit des Landes gefährden? Diese Behauptungen sind nicht durchdacht und unanständig.“
Bei den letzten Landtagswahlen in Hessen siegte die konservative CDU und
somit gewann sie die Mehrheit im Bundesrat. Die Folge davon ist, dass die rotgrüne Koalition auf Bundesebene von nun an die Zustimmung der CDU
benötigt um jegliche Gesetze zu verabschieden, was sich auf dieses Gesetz
über die doppelte Staatsbürgerschaft bezieht. Deshalb überrascht die angekündigte Änderung dieses Gesetzes seitens der regierenden Koalition nicht.
Arbeit erst für die Deutschen
Wo ist der einfach Deutsche, der in den 42% oder 58% erwähnt wurde, in
dieser ganzen Geschichte? Während eines Aufenthaltes in Münster war
ich Zeuge zweier Demonstrationen, die einerseits von Antinazis und andererseits von Neonazis veranstaltet wurden. Der Auslöser war die Eröffnung der Ausstellung „Die Brutalitäten des Krieges“, auf der zum erstenmal
Fotografien ausgestellt waren, die die deutschen Kriegsverbrechen in Serbien, Russland und der Ukraine dokumentierten. Was mich besonders
schockiert hat, und ich glaube auch jeden Besucher, der aus dem ehemaligen Jugoslawien kommt, war die Zahl von 1500 Erschossenen in Kraguevac gegenüber den 7000, laut der ehemaligen jugoslawischen kommunistischen Nomenklatur. Auf der Ausstellung in Münster waren mit Namen
und Vornamen, Geburtsdaten Fotografien aller Opfer des Massakers in
Kraguevac zu sehen. Die bizarre Liquidierung war erneut anwesend, sowie
die Motive, die zu dem Hinrichten von über 100 Schülern geführt haben. Ein
älterer Herr, wahrscheinlich ein guter Kenner des Widerstands in Serbien,
242
Nenad Zivanovski
Deutschland
erklärte uns, dass sich die Nazis damit an den Partisanen rächen wollten,
weil diese bei einem Angriff zehn Mitglieder der „Hitlerjugend“ erschossen
haben.
Diese Ausstellung zeigte, dass der Geist Hitlers immer noch anwesend ist,
und er schafft es immer noch, die Nation so stark zu spalten. Die Sympathisanten der Nazibewegung von heute weisen alles, was offizielle Deutung
dieser Geschichtsphase heißt, ab und heben hervor, dass Deutschland nie
einheitlich, wirtschaftlich und militärisch stärker war als zu Hitlers Zeit. Ihre
eigene Xenophobie rechtfertigen sie mit der großen Zahl der Arbeitslosen
und den verschiedenen asozialen Erscheinungen, die für die Ausländer
üblich sind. Ihre Devise lautet: „Arbeit erst für die Deutschen und dann für
die Anderen.“. Ihre Proteste zeichnen sich aus durch die gute Organisation,
das angsterregende Schreiten, ähnlich wie bei Hitlerparaden, die einheitliche Bekleidung: schwarze Hosen, schwarze Lederjacken und das blonde,
auf unmögliche 5 Millimeter kurz geschnittene Haar als Zeichen der Angehörigkeit der teutonischen Nation.
Soweit man objektiv bleiben möchte, muss man zugeben, dass die Ausländer auch dazu beitragen, dass einige sie hier in Deutschland nicht willkommen heißen. Das eklatanteste Beispiel dafür ist das illegale Einschmuggeln nach Deutschland. So heißt es, laut Aussagen des Experten für
die Innenpolitik der konservativen Bundestagsfraktion, Erwin Marschewski,
dass die Zahlen sowohl der illegalen Einwanderer als auch der sog. „Schlepper“, die für bestimmtes Entgeld die Ausländer illegal über die Grenze
schleusen, im vergangenen Jahr rapide gestiegen sind. 1998 waren es insgesamt 39.700, im Gegensatz zu 1997, als 35.200 Ausländer die Grenze illegal überschritten haben. Die Zahl der professionellen „Schlepper“ ist um
35% bzw. auf 2020 gestiegen und sie haben über 11.000 Menschen nach
Deutschland eingeführt. Die deutschen Medien schreiben, dass das Innenministerium keine endgültige Zahl genannt hat, doch Bonn bestätigt, dass
die Zahl immer weiter steigt. Die meisten Ausländer, die sich illegal in
Deutschland aufhalten, gibt es in Bayern, Sachsen, zur Tschechischen
Grenze hin.
Im letzten Jahr ist die Zahl der Unglücke bei den illegalen Aktionen
angestiegen. Ende Juli sind sieben von insgesamt 27 Kosovo-Albanern, die
von einer „Schlepperbande“ von Tschechien eingeschleust werden sollten,
ums Leben gekommen. Sie sind zwar nach Deutschland eingereist, aber in
einer Verfolgungsjagd mit der Polizei ist der Kombi, der mit sehr hoher
Geschwindigkeit gefahren ist, umgekippt. Wegen dieser und ähnlicher Vorfälle hat die konservative Union von der regierenden rot-grünen Koalition
verlangt, die Kontrolle an den Grenzen zu verschärfen, die Zahl der Grenzpolizisten zu erhöhen und die Kontrolle an den äußeren Grenzen der Schengenerstaaten zu erhöhen. Die Grenze zwischen Deutschland und den Nachbarländern Polen und Tschechien ist 1300 km lang und regelrecht von
illegalen Einwanderern und Schlepperbanden belagert.
243
Nenad Zivanovski
Deutschland
Die Ausländer sind für Deutschland von Nutzen
Nach dem, was man in Münster sehen konnte, sind die Antinazis das völlige
Gegenteil der Neonazis. Deren Demonstrationen waren schlechter organisiert, sie waren ehe still, die meisten Teilnehmer waren Adoleszente bis zwanzig Jahre, angeführt von einigen älteren ehemaligen Studenten von 1968
und verlorenen Idealisten - Sympathisanten der Roten Brigaden. Sie deklarieren ihre eigenen politischen Überzeugungen als linksradikal und anarchistisch.
Die jungen Antinazis hinterließen den Eindruck, dass für sie das wichtigste der Kontakt mit den Neonazis war, damit sie ihre Mehrheit in einen Triumph bei einem Kräftemessen kapitalisieren konnten. Die Anhänger sind vor
allem nicht sozialisierte junge Menschen, mit einem polizeilichen Dossier,
deren einziges Motiv bei diesen Demonstrationen das Durchbrechen der
Pufferzone der Polizei war. In dieser Gruppe konnte man auch ältere, ernsthafte Leute sehen, wahrscheinlich solche, die im Krieg jemanden verloren
haben oder Mitglieder der jüdischen Gemeinde sind. So hatte uns eine Frau,
die ruhig mit der Antinazi-Gruppe ging, erklärt, warum sie dies tat: „Die Ausländer sind für Deutschland von Nutzen, materiellem Nutzen. Wenn sie nicht
wären, die meisten aus der Türkei und dem Balkan stammend, besteht die
Frage, ob Deutschland wirtschaftlich so stark geworden wäre? Deren Arbeit
und Fleiß hat dazu beigetragen, dass wir heute sicher und komfortabel leben
können. Sie arbeiten hier die schwersten Arbeiten, die sehr viel Kraft beanspruchen. Stellen Sie sich vor, ein Türke würde von dem Hüttenwerk im Ruhrgebiet entlassen. Ich bin mir nicht sicher, dass sich die jungen Männer in den
Lederjacken um seinen Arbeitsplatz schlagen würden.“
Einige ganz gewöhnliche Bürger, die sich für ihre positive Einstellung
und ihr positives Verhältnis gegenüber den Ausländern im letzten Jahr ausgezeichnet hatten, waren vom Präsidenten der Bundesrepublik Deutschland
zu dem traditionellen Neujahrsempfang im Schloss Bellevue in Berlin eingeladen. Eine von ihnen war auch Almut Leuke Siverich, die letztes Jahr, als
sie Straßenbahn fuhr, Zeugin eines unangenehmen Vorfalls gewesen ist.
Junge Skinheads hatten einige Schwarze mit ihrem Hund bedroht. Nach einigen Warnungen ihrerseits hatte sie die Notbremese gezogen und die jungen
Gewalttäter wurden festgenommen. „Es ist nicht in Ordnung, wenn Leute
gedemütigt werden, nur weil sie schwarz, weiß, grün, bunt sind oder weil sie
einem nicht gefallen. Das Schlimmste ist, wenn man sich unmenschlich
gegenüber anderen Menschen verhält. Die Einladung des Präsidenten hat
mich sehr gefreut, obwohl ich keine besonderen Verdienste dafür habe. Es
sollte eine ganz normale Reaktion sein“, sagte Frau Siverich bescheiden. Zu
dem Empfang wurde auch die junge Angela Fleischer aus Brandenburg eingeladen, die sich auch mit einer menschlichen Tat ausgezeichnet hat, indem
sie sich um einen Nigerianer, der von einer Gruppe junger Leute geschlagen
wurde, kümmerte.
Seit 1998 wird die Auszeichnung CIVIS seitens des Ausländerbeauftragten
der Bundesregierung, des Westdeutschen Rundfunks (WDR) und der Freu244
Nenad Zivanovski
Deutschland
denberg Stiftung für Sendungen, die am meisten für das Verständnis und die
Toleranz zwischen Deutschen und Ausländern in Deutschland beitragen,
verliehen. Deshalb ist das Motto dieses Preises „Leben in einer kulturellen
Vielfalt und gemeinsames Achten“. Bei der diesjährigen Preisverleihung hat
die Ausländerbeauftragte der Bundesregierung, Marie-Louise Beck, die Realität in Deutschland mit einigen Sätzen dargestellt: „Ich glaube, dass wir uns
endlich von den alten Bildern der Vergangenheit verabschieden müssen, dass
alle Deutschen blond sind, weil es jetzt auch sehr viele Dunkelhaarige gibt.
Wir müssen lernen, dass dieses normal ist, dass wir unterschiedlich sind, mit
unterschiedlicher Herkunft. Die Leute werden beweglicher, es gibt immer
mehr Mischehen und die doppelte Staatsbürgerschaft wird weltweit immer
mehr als normal angenommen. Deutschland war schon immer im Europainnern, sodass Migrationen auch eine ganz normale Sache werden.“
Das deutsche Dilemma für eine reine Nation oder die Rechte der Ausländer wird das Land auch weiterhin spalten. Beide Seiten glauben, dass ihre
Argumente glaubwürdiger sind. Einer der Redakteure der Westdeutschen
Allgemeinen Zeitung, der schon vier Jahre die Arbeit der Polizei in Essen verfolgt hat, sagte den Stipendiaten der Heinz-Kühn-Stiftung aus Jugoslawien,
Aleksandar Bogdanovic, dass die am stärksten organisierten kriminellen
Gruppen in Essen nach den Nigerianern die der Albaner aus Kosovo und
Makedonien sind und dass sich jeder Zweite mit einer ungesetzlichen Tätigkeit beschäftigt. Am gleichen Tag wurde in derselben Zeitung ein Artikel über
eine weitere Gewalttat einer neonazistischen Gruppe gegenüber einem Ausländer veröffentlicht. Erneut war der Grund dieses Vorfalls die ausländische
Herkunft des Mannes.
Nenad Zivanovski
245
Else Iveta
Jede Zeit hat ihre Zeugen
Deutschland vom 01.09.1998 - 28.02.1999,
betreut von der Friedrich-Ebert-Stiftung
247
Inhalt
Etwas über Impulse
251
Deutsch lernen und dabei Spaß haben
251
Die Fragezeichen
252
Die historische Realität in greifbarer Nähe
253
Duisburg
254
Essen
256
I
256
II
257
Neue Worte und neue Begriffe
257
Stereotypes Verschwinden
258
PRO Selbständigkeit
259
Deutschland-Messeland
259
Hier und jetzt: WAZ
261
249
Elsa Iveta
Deutschland
Else Iveta, geboren: 22. Juli 1964
1991 Absolvierung der Philologische Fakultät
der Universität Lettlands (Fach: Journalistik).
1995 Zusatzbildung: sachliche Psychologie und
Grundlage der Unternehmertätigkeit.
1985-1994 Korrespondentin in der Lokalzeitung „Auseklis“;
1994-1995 Leiterin des Vidzemes Büros für die
republikanische Zeitung „Labrit“ („Guten Morgen“).
1995-1996 freie Journalistin, Veröffentlichungen in der republikanischen Zeitung „Dienas
bizness“ (Tagesbusiness“)
seit 1996 Korrespondentin der republikanische
Zeitung „Lauku Avize“ („Landzeitung“); Veröffentlichungen in der Lokalzeitung „Auseklis“.
Arbeit an der Herausgabe des Anzeigers „Vidzemes UAC Zinnesis (Unternehmenaktualitäten).
1997 und 1998 Projektleiterin der Regionalmesse in Vidzeme, Schwerpunkte: Wirtschaft
und Unternehmertätigkeit.
Jede Zeit hat ihre Zeugen
Kurz bevor ich nach Deutschland fuhr, las ich ein Zitat von Johann Wolfgang von Goethe: „Wir lernen die Menschen nicht kennen, wenn sie zu uns
kommen; wir müssen zu ihnen gehen, um zu erfahren, wie es mit ihnen
steht.“
Und jetzt kann ich sagen: „Er hat Recht.“ Man kann nicht die Mentalität
eines anderen Volkes kennenlernen, wenn man in einem fremden Land ein
paar Tage oder einige Wochen bleibt. In seinem Haus ist jeder, wie er wirklich ist: ohne Spiel, ohne Theater, ohne Lüge...
Natürlich gibt es das Deutschland, das die Touristen oder Fachleute kennen.
Doch nach sechs Monaten, als ich mich nicht mehr wie eine Touristin, sondern wie eine ganz normale Einwohnerin mit meiner alltäglichen Gangart,
Routine und Gewohnheit fühle, entdecke ich das vielfarbige und vielseitige
Deutschland. Ich hatte die Gelegenheit, die Kultur, die Geschichte, den Alltag und die Feste des deutschen Volkes kennenzulernen. Ich habe nette Menschen getroffen, die mir diese ziemlich lange Zeit, weit weg von Lettland, meiner Familie und meinen Freunden, leichter machten. Der Einblick in eine
andere Kultur und die zwischenmenschlichen Erfahrungen sind auch eine persönliche Bereicherung.
250
Elsa Iveta
Deutschland
Etwas über Impulse
Im Laufe der Geschichte haben sich die lettische und die deutsche Wirtschaft und Kultur immer wieder berührt. Viele Städte in meiner Heimat sind
alte Hanse-Städte. Und Handelsbeziehungen bestehen zwischen Lettland
und Deutschland seit vielen Jahrhunderten. Deshalb war mir Deutschland
nicht völlig fremd. Für engere Deutschlandbeziehungen zu Lettland sprachen
in der sowjetischen Zeit die Existenz des weltweit einzigen, lettisch-sprachigen Gymnasiums in Münster. Seit 1991, als Lettland seine Unabhängigkeit
wiederherstellte, gibt es viele Projekte in den Bereichen Landwirtschaft,
Umweltschutz, Wirtschaft, Bildung und Wissenschaft. Oft haben ich oder
meine Kollegen in Lettland über den neuesten Stand der deutsch-lettischen
Partnerschaft berichtet. Ich wohne in der Stadt Walmiera, wo NordrheinWestfalen und der Kreis Gütersloh oft erwähnt werden. Zwischen NordrheinWestfalen und Lettland bestehen feste und intensive Beziehungen.Es wachsen auch die Bedeutung der Sprache und das gegenseitige Verständnis
zwischen unseren Völkern.
Ich bin nicht zum ersten Mal in Deutschland. 1997 war ich in Hagen, im
Journalistenzentrum Haus Busch, wo ich an einem Austauschprogramm der
Lettischen und Hagener Industrie- und Handelskammer teilgenommen habe.
Intensive und wertvolle zwei Wochen in Hagen gaben mir einen Impuls zur
Erweiterung meines Wissens über die Arbeitsorganisation bei den Presseausgaben in Deutschland. Außerdem hatte ich die Möglichkeit, das deutsche
Wirtschaftssystem kennenzulernen und meine Deutschkenntnisse zu verbessern.
Noch jetzt erinnere ich mich, wie glücklich ich war, als ich die erste Nachricht von Frau Op de Hipt bekam, dass das Heinz-Kühn-Kuratorium mich für
einen sechsmonatigen Ausbildungskurs in Deutschland ausgewählt hatte.
Ich machte mir große Sorgen über meine Deutschkenntnisse, die ich seit meinem Uni-Abschluss total vergessen habe. Aber in Iserlohn, im Goethe-Institut, waren alle Sorgen vorbei.
Deutsch lernen und dabei Spaß haben
In Lettland ist der erste Schultag der 1. September. Und das ist immer ein
besonderes Gefühl, wenn tausende Schüler ihren Schultag beginnen. Mein
Sohn Kristaps begann seinen Schulalltag und dieses Gefühl kam auch über
mich, weil der 1. September mein erster Schultag war, diesmal im GoetheInstitut.Vier Monate lang nannte man unseren Kurs im Goethe-Institut Journalisten-Kurs, weil wir vier Kollegen in dem Kurs waren. Alle vier HeinzKühn-Stipendiaten: Viktoria aus der Urkaine, Reham aus Palestina, Ivan aus
Kroatien und ich.
Seit 1960 gibt es in Iserlohn das Goethe-Institut. Seit dieser Zeit ist es zu
einem Teil des gesellschaftichen und kulturellen Lebens der Stadt geworden.
Iserlohn mit etwa 100.000 Einwohnern ist eine typische Kleinstadt im Sau251
Elsa Iveta
Deutschland
erland mit ihrem ruhigen, routinierten Alltag. Das Ruhrgebiet, Deutschlands
größte Industrielandschaft, beginnt wenige Kilometer westlich. Und ich finde
das so: Goethe-Studenten machen das Leben in Iserlohn reicher.
Goethe-Institut und Lokalzeitung „Iserlohner Kreisanzeiger“ haben ein
gutes gemeinsames Projekt: Alle acht Wochen erscheint in der Zeitung eine
ganze Seite mit Texten, die von Kursteilnehmern geschrieben wurden. Im Oktober regierten in der Zeitungswerkstatt die Heinz-Kühn-Stipendiaten! Wir
interviewten einander und schrieben über berufliche Erfahrungen unserer Kollegen in ihrer Heimat. Das war wirklich interessant: nicht nur der Prozess, sondern auch das Resultat.
Wir hatten großes Glück mit unseren Lehrern: Dr. Barbara Frankenberg,
Andreas Deutschmann und Marlies Happe, in deren Unterricht wir nicht nur
aktiv Deutsch lernten, sondern auch viel Spaß gehabt haben. Die Sprache ist
die wichtigste Voraussetzung, um mit der gesellschaftlichen Wirklichkeit
eines Landes vertraut zu werden, sich gegenseitig kennenzulernen, Erfahrungen auszutauschen und miteinander zu diskutieren. Ich war begeistert
von Lernmaterialien und Unterrichtsstil im Goethe-Institut, die nicht nur am
Erlernen der deutschen Sprache, sondern auch an realitätsnahen Deutschlandkenntnissen orientiert sind. Ich kann mir vorstellen, dass die Lehrer am
Goethe-Institut gleichzeitig auch Public-Relations-Fachleute sind, weil sie bei
ausländischen Studenten Verständnis für diese Stadt und die Identität des deutschen Volkes wecken.
Die Fragezeichen
Deutschland war für mich keine fremde Welt, aber doch entdeckte ich in
Deutschland eine andere Welt. Das war im Goethe-Institut, wo sich Leute aus
allen Kontinenten treffen. Früher konnte ich mir nicht vorstellen, dass ich nach
Deutschland muss, um z.B. für mich Marokko, Mexiko, Brasilien, Indonesien
oder die Philippinen zu entdecken. Leute, die aus einer ganz anderen Welt kommen, wo unterschiedliche Kulturen und Traditionen herrschen. Im Deutschunterricht erzählten wir manchmal auch über unsere Heimat. In schlechtem
Deutsch, aber voll Gefühl und mit dem Bedürfnis unser Land vorzustellen.
Doch manchmal bin ich total überrascht, dass die Ereignisse und Sachen,
die mich aufgeregt und nicht kalt gelassen haben, für andere ganz gleichgültig waren. In diesem Zusammenhang war für mich die größte Überraschung
die Interpretation und das Unverständnis einiger meiner Kurskameraden über
den zweiten Weltkrieg und die Verbrechen des Nazi-Regimes.
Natürlich tauschten wir nach der Fahrt nach Weimar unsere Eindrücke
aus. Wir sprachen über Weimar, das 1999 Europäische Kulturstadt ist. Und wir
sprachen über das andere Weimar, in dessen Nähe das ehemalige Konzentrations- und Internierungslager Buchenwald lag. Von 1937 bis 1945 wurden
238.980 Menschen, Angehörige aus 32 Nationen, durch das eiserne Eingangstor in das Lager getrieben. mehr als 65.000 erlagen Misshandlungen,
verhungerten, erfroren oder wurden systematisch ermordet....
252
Elsa Iveta
Deutschland
Ich bin überrascht, dass in unserem Kurs Studenten waren, die früher über
die Barbarei des zweiten Weltkriegs nichts gehört haben, und sie suchten für
diese Barbarei noch eine Rechtfertigung. Das kann ich nicht verstehen. Aber
.... auf der anderen Seite muss ich verstehen, dass Völker, die gar nichts mit
diesen Ereignissen zu tun haben und Barbarei des Krieges niemals erlebten,
es ganz einfach nicht verstehehen können.
Im Verlauf des Kurses beim Goethe-Institut hatten wir die Möglichkeit,
viele Städte und wichtige Sehenswürdigkeiten in Deutschland kennenzulernen. Aber wir hatten auch die Gelegenheit, nicht nur „die glänzenden Seiten“,
sondern auch „die dunklen Perioden“ in der Geschichte Deutschlands kennenzulernen. Das sahen und erlebten wir in Buchenwald, das sahen und
erlebten wir auch in der Ausstellung „Vernichtungskrieg, Verbrechen der
Wehrmacht 1941 bis 1944“ in Münster. Dieses Ausstellungsprojekt entstand
als ein Beitrag zum 350. Jubiläumsjahr des Westfälischen Friedens.
Die Ausstellung zeigte, wie Teile der Wehrmacht an der Ermordung und
Vernichtung von Zivilisten in den besetzten Gebieten Ost- und Südeuropas
mitgewirkt haben. Ich stimme zu, dass wir in die Vergangenheit sehen müssen um die Gegenwart besser zu verstehen und zu wissen, welchen Weg wir
in Zukunft gehen werden.
Die Ausstellung ist ein Impuls zur Beschäftigung mit dem Zusammenbruch
individueller und kollektiver Moral sowie mit der Frage nach den Ursachen
für gesellschaftliche Gewalt. Dass diese Frage nicht so einfach ist, sondern es
verschiedene Meinungen und Emotionen bis zum extremen Exzess der NeoNazis gibt, erlebte auch ich. Jeder hat ein Recht auf seine Meinung. Die Frage
ist nur: Warum hat er diese und nicht eine andere Weltanschauung. Warum?
Die historische Realität in greifbarer Nähe
Das Westfälische Freilichtmuseum Hagen hat mir ein besonderes Verständnis über die Geschichte des Handwerks und der Technik in NordrheinWestfalen vermittelt. Das Museum zeit das Alltagsleben in der Arbeitswelt des
18. und 19. Jahrhunderts unter vielen Gesichtspunkten. Auf dem Gelände des
Museums sind ungefähr 60 historische Werkstätten und Fabrikbetriebe wieder errichtet worden. Wie war der Weg von der Früh- bis zur Hoch-Industrialisierung? Das erleben Besucher in alltäglichen Situationen am Arbeitsplatz in der Drahtzieherei, der Papiermühle, der Bäckerei, der Brennerei, der
Blaufärberei oder im Kolonialwarenladen und der Fleischerei. Zahlreiche
Ausstellungen illustrieren verschiedene Aspekte zur Technik-, Wirtschaftsund Sozialgeschichte der vergangenen Jahrhunderte.
Ich hatte Glück: Ich konnte das museumspädagogische Programm in der
Druckerei und Ölmühle beobachten. Die historische Realität rückt durch
Vorführung und Erklärung näher. In der Druckerei fand ich auch eine interessante Information: Am Anfang des 19. Jahrhunderts erschienen die ersten
regionalen Zeitungen auf dem Markt. Eine der ersten bedeutenden Zeitungen
war der „Hermann“, eine Zeitschrift „von und für Westfalen“, die erstmals am
253
Elsa Iveta
Deutschland
1. Februar 1814 das Licht der Welt erblickte. Aber das Zeitschriften-Leben war
kurz: 1819 verbot die Zensur die Herausgabe. Dennoch wurden zahlreiche
neue Blätter gegründet. Und was für eine Überraschung für mich: Infolge der
raschen Entwicklung verschiedenster Industriezweige bildete sich gerade in
Iserlohn(!) eine beachtenswerte Pressevielfalt heraus.
Im Freilichtmusuem Hagen erlebte ich einen wurnderbaren Herbsttag.
Und er bleibt noch lange in meinen Erinnerungen.
Die Industriedenkmäler in Deutschland zeugen von einer mächtigen Vergangenheit. Und das Interessante ist: Sie sind miteinander verbunden. Du
bist in einem und dort wird dein Interesse geweckt: Was ist im nächsten? Ich
finde, diese Marketingstrategie ist nicht nur für Touristen, sondern auch für die
Einwohner des Landes erfolgreich. Über die Idee, eine Routenführung zu
historischen Attraktionen alter Industrieregionen zu machen, hörte ich zuerst
in Duisburg von Dr. Wolfang Ebert, der die Deutsche Gesellschaft für Industriekultur leitet. Es ist wichtig, dass die Identität, das Besondere von einigen
Orten, die im Gesamtsystem stehen, nicht verloren geht. So stehen 20 „Ankerpunkte“ nacheinander: Essen, Zeche Zollverein XII; Bochum, Jahrhunderthalle des ehemaligen Bochumer Vereins; Recklinghausen, VEW-Elektromusum... bis zur 20. „Haltestelle“ in Gelsenkirchen: Nordsternpark.
An jedem dieser Orte ist Geschichte greifbar. Jeder kann sie entdecken und
erleben. Keine Langeweile kommt auf. Das attraktive Neue lebt im alten
Ruhrgebiet.
Duisburg
Die Nachricht, dass mein Praktikum nicht in der „Neue Ruhr Zeitung“
(NRZ)-Redaktion in Essen, sondern in Duisburg läuft, bekam ich erst an dem
Tag, als ich in die NRZ-Redaktion in Essen kam um mein Praktikum zu
beginnen. Das war eine große Überraschung für mich, weil ich eigentlich
Essen und das Leben dort besser kennenlernen wollte. Aber -wie es scheintgibt es manchmal Pech auch bei einer ordentlichen Planung.
In Duisburg war der bunte Vogel in der Innenstadt ein markanter Punkt zur
Orientierung. Als ich nach dem Weg zum Pressehaus fragte, hörte ich zum
ersten Mal über ihn. Gut, wenn Vogel, dann Vogel. Aber das, was ich sah DAS, DAS.... War das ein Vogel? Doch! Bunt, lebendig und ... ungewöhnlich.
Ich kann mir vorstellen, dass vor einigen Jahren dieses exotische Wunder für
die Duisburger ungewöhnlich in ihrem Alltag und ein Grund für scharfe
Polemik war. Aber meine Augen suchten im Stadtzentrum immer nach dem
bunten Vogel, und wenn ich ihn sah, bekamen graue Wintertage freundliche
und lebendige Farben.
Erst danach lernte ich Duisburg von der anderen Seite kennen. Duisburg hat
etwa 540.000 Einwohner und gehört zu den zwölf größten Städten Deutschlands. Die Stadt liegt an der Mündung der Ruhr in den Rhein und der RheinRuhr-Hafen spielt eine große Rolle in der Entwicklung Duisburgs. Von Duisburg aus gibt es direkte Verbindungen zu über 100 Häfen in Großbritannien,
254
Elsa Iveta
Deutschland
Skandinavien und den Ostseestaaten, auf der iberischen Halbinsel und am
Mittelmeer. Über 180 Hektar Wasserfläche, 37 Kilometer Uferlänge, ungefähr
100 Krananlagen und Verladebrücken, riesige Lagerflächen für Erz, Kohle
und Schrott und ein Tankraum von über 1 Million Kubikmetern weisen den
Hafen als wichtigen und seriösen Wirtschaftsfaktor aus.
Die Stadt, die zuerst durch Schwerindustrie und Kohlebergbau bestimmt
war, orientiert sich in Zukunft in Richtung Forschung und fortschrittliche
Technologien, Umstrukturierung und Ausbau des Hafens. Über die allernächsten und weiteren Zukunftsvisionen und wichtigsten Neuigkeiten, die
nach dem Erscheinen der Zeitung in die Geschichte eingehen, berichten (wie
die Journalistenschar überall) auch Journalisten in Duisburg. Schwerpunkt der
Lokalredaktion sind Lokalnachrichten und alles, was für die Duisburger
interessant sein könnte. Woher ich das wusste: Auch meine Kollegen in Lettland arbeiten so ähnlich. Aber ich muss sagen, etwas fiel mir doch schwer:
Information über verschiedene Weiterbildungskurse. Die fand ich oft in den
Lokalseiten der NRZ. Die musste ich auch bearbeiten. Warum das für mich
so schwer war? Diese Information hatte Werbungscharakter und Leute, die
diese Maßnahme organisieren, verdienen damit Geld. Informationen, die
mit Geld verdienen, Veröffentlichung der Arbeitszeit oder Telefonnummern
der verschiedenen Büros zu tun haben, gelten in Lettland als Werbemittel.
Darum stehen sie getrennt von anderen Informationen. Ich kann verstehen,
dass das aktuell für die Stadtbürger ist, aber wenn jemand damit Geld verdient,
warum sollen die Anbieter dafür nichts bezahlen? Ich sehe eine Antwort in den
unterschiedlichen Presse-Traditionen und Prinzipien.
Die Arbeit vieler Organisationen und Institutionen in Deutschland ist zur
Öffentlichkeit hin orientiert. Darum bekommen Journalisten so viele Informationen per Fax, die fast 100-prozentig in der Zeitung widergespiegelt werden.
Aber ich beobachte auch, wie meine Kollegen neue Themen in Gesprächen und
zufälligen Bemerkungen „finden“, um sie später als Hauptthema zu bearbeiten.
In Duisburg war ich zu einer Zeit, als in der Stadt viel über den Neubau
einer Moschee diskutiert wurde. Die Meinungen zu diesem Thema waren sehr
unterschiedlich. Aber schlimmer war, dass ein Journalist, der darüber berichtete, mehrere schreckliche, anonyme Erpresserbriefe bekam. In einem war
kurz und deutlich geschrieben: „Am 18.01. bist du tot!“ Später erfuhr ich, dass
ähnliche Briefe in dieser Handschrift schon öfter angekommen waren. Immer,
wenn die Zeitung eine Diskussion über das Zusammenleben Deutscher und
Leuten anderer Nationalitäten in Deutschland geführt wurde. Leider war ich
Zeugin mehrerer feindlicher Konflikte zwischen Deutschen und Ausländern
im Bus und auf der Straße. Und ich habe wirklich große Angst gehabt, wie
diese Situation sich weiterentwickelt. Darum fand ich, dass das Wort „Toleranz“ für viele leider ein Fremdwort ist.
Später, in Essen, hörte ich über eine gute Initiative: eine Forschung auf dem
Gebiet Konfliktmanagement. Untersuchungen werden im Bereich christliche
& islamische Religion; Arbeit; Gesundheit & Sport und Ethnisierung durchgeführt. Wenn man die Probleme erkennt, kann man besser den goldenen
Mittelweg finden.
255
Elsa Iveta
Deutschland
Essen
I
Mit 611.000 Einwohnern ist Essen die bevölkerungsreichste Stadt des
Ruhrgebiets und zugleich die sechstgrößte Stadt Deutschlands. Noch 1956
war Essen mit 126 Kohlezechen die größte Bergbaustadt Europas. Heute ist
sie das Dienstleistungszentrum des Ruhrgebietes. Elf der hundert umsatzstärksten Konzerne Deutschlands haben in Essen ihre Hauptverwaltung. Die
Namen der großen Essener Unternehmen -RWE, Krupp und Ruhrgas- sind
Worte, die auf dem Weltmarkt bekannt sind.
Essen ist eine Stadt, die sich noch entwickelt. Man sieht viele Baustellen,
Essener Politiker diskutieren über die Verbesserung der Verkehrsmöglichkeiten, die Innenstadt soll ein aktives und lebendiges „Gesicht“ bekommen.
Auch der alte Hauptbahnhof wartet auf seine Modernisierung. Und noch, und
noch ....
Ich bin überrascht, dass ich in Essen viele Firmen mit jahrhundertelanger
Tradition finde. 1723 begann die Geschichte der Glashütten Wisthoff, 1777
die des ältsten Büchergeschäfts in Essen: BAEDEKER. Auch das älteste
Taxiunternehmen im Ruhrgebiet stammt aus Essen. 1887 gründete Johannes
Schwarz, im Volksmund „Vadder Hannes“, seine Firma.
Als letztes Essener Bergwerk wurde die Zeche Zollverein 1986 geschlossen und unter Denkmalschutz gestellt. Essen war die Stadt der Zechen und ist
es immer noch. Doch jetzt leben die Zechen ein anderes „kulturelles“ Leben.
Die Zeche Zollverein gehört zu den Sehenswürdigkeiten der Stadt, wo jeder
ein bedeutendes Stück Industrie des Reviers im Original erleben kann. Unterwegs erzählen die Förderwagen von ihren täglichen Fahrten ins Bergwerk.
Jeder kann den „Weg der Kohle“ verfolgen und vom Dach der Kohlewäscherei
ein Panorama des Reviers sehen. Jetzt ist die Zeche Zollverein nicht nur ein
Industriedenkmal, sondern ein wichtiges Kulturzentrum, wo verschiedene
Aktivitäten in Verbindung mit Architektur, Kunst, Design und auch Medien
regelmäßig stattfinden.
Jede Stadt hat ihr Gesicht, eine besondere Atmosphäre, die jedem hautnah
kommt, wenn er es nur fühlen will. Die Suche oder Wahrnehmung ihrer
Identität ist das Problem der modernen Menschen, die heute hier, morgen dort
und übermorgen noch tausend Kilometer weiter sind. Die Zeit verändert
alles zu schnell. Doch merken wir das in unserem dynamischen Alltag nicht.
Tradition und Moderne, Provinz und Welt - diese Assoziationen kamen über
mich, als ich die Ausstellung „Bilder aus den 60er Jahren“ sah. Fotografien
sprachen wie unbeeinflussbare Zeugen über eine Zeit der Veränderungen.
Krise des Bergbaus. Hippiezeit. Politische Demonstrationen. Freizeit. Die
wechselnden Bilder gaben ein Gefühl der hautnahen Realität.
Besonders überrascht war ich, als ich die Wirklichkeit des Ruhrgebiets kennenlernte. Man spricht immer über Stahl, Kohle, Bergbau, Bruttowertschöpfung, Gewinn, Export, Investitionen und andere wirtschaftliche Kategorien.
Aber: Dunkle Wolken, unglaublich schwere Arbeitsverhältnisse, zerstörte
256
Elsa Iveta
Deutschland
Natur - auch das gehört zur Wirklichkeit. 1979 beschrieb der Schriftsteller
Günter Wallraff in seinen „Industriereportagen“ die schwierigen Arbeitsbedingungen beim Stahl: „In der Fabrik gibt es keinen Morgen und keinen
Abend. Hier ist immer Nacht. In den Mauern fehlen die Fenster. Es glitzt und
flimmert. Das ist der pulvrige Metallstaub -Sinter genannt- der hier überall
ist.“
II
In Essen bekam ich zwei Listen, die während meines Aufenthaltes in Essen
wichtige Anhaltspunkte waren. Die erste bekam ich in der Lokalredaktion
WAZ. Es war ein wirklich umfangreiches Programm, mit dem ich innerhalb
eines Monats fertig sein musste. Interviews, Reportagen, Pressekonferenzen,
Fototermine und noch anderes, was im journalistischen Alltag wichtig ist. Ich
hatte die Möglichkeit, die Arbeit meiner deutschen Kollegen zu beobachten.
Ich konnte Fragen, Fragen und noch einmal Fragen stellen und bekam Antworten. Die Kollegen ließen mich auch selbst arbeiten und waren so freundlich, meine Fehler zu korrigieren.
Die zweite Liste bekam ich auch in der Lokalredaktion der WAZ. Die gab
mir die nette Essenerin Britta Harnischmacher, die, wie auch ich, ein Praktikum bei der WAZ machte. Darauf waren Sehenswürdigkeiten und Sehenswertes in Essen geschrieben, die ich UNBEDINGT sehen sollte. Villa Hügel,
Margaretenhöhe, Zeche Zollverein, „Meteroit“, Aalto Theater, Grillo Theater,
Bergbaumuseum Bochum, Gasometer Oberhausen, Baldeneysee, die alte
Synagoge... Kann ich das alles in einem Monat schaffen? Doch! Tag für Tag
strich ich eins nach dem anderen aus der Liste und bin wirklich froh, dass ich
das kenne. Für „Du musst das sehen!“ und die Zeit, die Britta mir widmete,
bin ich sehr dankbar.
Neue Worte und neue Begriffe
Natürlich habe ich in Deutschland viel gelernt. Zuerst die Sprache. Und
selbstverständlich ist, dass im Lernprozess viele, früher unbekannte Worte ihre
Bedeutung bekommen. Aber es gibt einige deutsche Worte, die ich in meinem
Wörterbuch nicht finden kann. Warum? Das ist einfach: Etwas Ähnliches gibt
es bei uns in Lettland nicht.
Stammtisch, der, 1. der Tisch in einem Lokal, der für Stammgäste reserviert
ist; 2. Kollekt.; eine Gruppe von Personen, die sich regelmäßig (meistens in
einem Lokal) trifft.
Das war ein Begriff, auf den ich schon in der ersten Woche im Goethe-Institut traf. Tisch-? Ja, klar! Stamm-...das kann ich auch verstehen! Aber
Stamm+Tisch? Was kann das sein? Aber das war wirklich toll! Das Bier war
nicht das Wichtigste, wichtig waren unsere Kontakte, Gespräche über Dieses
und Jenes und natürlich das Interesse füreinander. Danach sah ich viele Anzei257
Elsa Iveta
Deutschland
gen in der Zeitung, dass der nächste Stammtisch am ... um ... Uhr stattfindet.
„Fässchen“ - jeden Donnerstag war das ein Zauberwort für Kursteilnehmerinnen und Freunde des Goethe-Instituts. Dort trafen wir uns, dort lernten
wir einander besser kennen, dort bereicherten wir unseren Wortschatz.
Wochenendticket, das; eine im Preis reduzierte Fahrkarte für die Bahn, die
am Wochenende gültig ist.
Dieser Begriff war mir früher unbekannt und ich wusste nicht, wie das
Wochenendticket funktioniert. Jetzt finde ich, dass das eine tolle Erfindung
ist, die mir die Möglichkeit gab, viele Treffen mit meinen neuen Freunden zu
veranstalten. Nur 35 DM für zwei Personen, und samstags und sonntags geht
es los! Entweder Köln oder Bonn, man kann auch weiter, überall in Deutschland, fahren...
Im Januar lernte ich noch zwei Worte: „Alaaf!“ und „Helau!“. Noch wusste ich die Bedeutung dieser Worte nicht genau, aber ich wusste, dass sie mit
Karneval zu tun haben.
Ich freue mich, dass ich die Möglichkeit hatte, die fünfte Jahreszeit, die Karnevalszeit, in Deutschland zu erleben. Früher konnte ich mir nicht vorstellen,
dass man Karneval in Deutschland so temperamentvoll und lebendig feiert.
Die fünfte Jahreszeit beginnt immer am 11. November pünktlich um 11.11
Uhr. Aber im Januar geht es wirklich los! Einen Monat lang singt und tanzt
ganz Deutschland den Prinzen-Blues. In den Straßen kann man phantasievoll
kostümierte Leute treffen und abends finden viele tolle Partys statt. Der
Rosenmontag ist der Höhepunkt des Karnevals und Köln ist die Karnevalhauptstadt. Durch die Stadt fährt ein großer Rosenmontagszug und eine bunt
kostümierte Karnevalsschar jubelt alle Ecken und Enden.
- Kölle Alaaf!
- Alaaf....
Stereotype verschwinden
Im Gedächtnis behalte ich eine Deutschstunde im Goethe-Institut. Wir
sprachen über die charakteristischen Eigenschaften des deutschen Volkes.
Unser Kurs war multinational und jeder nannte eine Eigenschaft, die er mit
Eigenschaften des deutschen Volkes assoziierte. Charakteristisch waren:
reserviert, pünktlich, ordentlich, vorsichtig, kalt, laut, ausländerfeindlich und
bürokratisch. Ich kann sagen, ich war auch früher nicht einverstanden mit diesen Meinungen. Aber in diesen sechs Monaten, die ich in Deutschland verbrachte, verflogen auch einige von meinen Stereotypen. Man kann verschiedene Leute mit verschiedenen Charaktereigenschaften finden, überall - egal,
ob das in Deutschland, Italien, Brasilien oder in Lettland passiert.
In meinen persönlichen Erinnerungen gibt es das Gute, das ich in Deutschland erlebte, und mein herzlicher Dank gilt wirklich hilfsbereiten und netten
Leuten, die ich in Iserlohn, Unna, Hagen, Duisburg und Essen traf. Unsere
Gefühle sind abhängig von unserem Verhalten zum Leben. Das ist wirklich so!
Aber Bürokratie - das ist eine andere Frage. In dieser oder anderer Form exis258
Elsa Iveta
Deutschland
tiert sie immer und überall. Gegen dickköpfige Beamte, die nur einen Paragraphen in einer Vorschrift sehen, und für die Menschlichkeit völlig fremd ist,
sind nicht nur Bürger, sondern auch Journalisten oft machtlos.
PRO Selbständigkeit
Die im Weltmarkt bekannten deutschen Unternehmensnamen können die
Vorstellung hervorrufen, dass in Deutschland industrielle Giganten dominieren. Aber das ist nicht so. Den Markt beherrschen kleine und mittlere Unternehmen (ungefähr 90%) im Bereich Handwerk, Handel und Dienstleistungen.
Die Zahl der Unternehmen in Deutschland wächst. Diese Tatsache bezeugt
die Information der Industrie- und Handelskammer. 1998 gehörten in Nordrhein-Westfalen insgesamt 745.028 Unternehmen zur Kammer (im Vergleich
mit 1997: + 1,3%). 513.130 (+ 3,4%) weitere Unternehmen sind nicht bei der
Kammer eingetragen. Selbständigkeit als Weg sich selbst und für andere
Arbeitsplätze zu schaffen, gewinnt immer größere Bedeutung.
In Deutschland habe ich auch von dem „Verband selbständiger Frauen“
gehört. In Deutschland gibt es 1 Million Unternehmen, die von Frauen geführt
werden. Der Frauenanteil bei den Selbstständigen liegt bei 26%, der Anteil bei
der Firmengründung sogar bei 33%. Frauen haben Ideen, Motivation und sie
können (nicht schlechter als Männer!) ihre Geschäfte erfolgreich führen. Aber
wie in Lettland, müssen auch in Deutschland Frauen als Geschäftsführerinnen
oder Unternehmerinnen immer und immer wieder beweisen, dass sie besser
sind und seriöse Partner im Business sein können. Die Gleichheit existiert nur
in Worten. Darum empfand ich das Echo, das Unternehmensgründerinnen in
Deutschland bekommen, als gute Rückendeckung, um in den Markt einzusteigen, dort zu bleiben und Geschäfte zu entwickeln.
Wahrscheinlich sind auch gemeinsame Verbandsaktivitäten, wo Unternehmerinnen und Freiberuflerinnen der verschiedensten Branchen Fachdiskussionen führen, Erfahrungen austauschen und Geschäftsbeziehungen aufbauen können, eine gute Basis für Selbständigkeit. Zu meinem Bedauern muss
ich sagen, dass ich zu wenig Zeit hatte, um diesen Aspekt der Unternehmenstätigkeit besser kennenzulernen.
Deutschland - Messeland
Ein Stereotyp, das herrscht, wenn man über Deutschland spricht: Deutschland ist ein wichtiges Messeland, das nicht nur europäische, sondern auch
internationale, weltweite Bedeutung hat. Jedes Jahr finden ungefähr 100
internationale Messen in verschiedenen Bereichen in Köln, Hannover, Bonn,
Essen, Düsseldorf, Stuttgart, München und noch anderen großen Städten
statt. Man zählt, dass dort insgesamt etwa 40% ausländische Firmen teilnehmen. Viele der in Deutschland veranstalteten Messen gehören weltweit zu den
Leitmessen der jeweiligen Branche. Heute sind internationale Messen nicht
259
Elsa Iveta
Deutschland
nur ein Ort, wo gekauft und verkauft wird, sondern ein Platz für Partnerschaft,
wo es einen Start für nähere Zusammenarbeit und politische Dialoge gibt.
Auf besondere Weise gehören Messen zu Medien. Aber keines der traditionellen Medien (Zeitung, Zeitschrift, Rundfunk oder das Internet) kann
einen so breiten Kreis neuer Kontakte anbieten wie die Messen. Nach
Deutschland kommen auch Unternehmen aus Lettland, um die Konkurenz auf
dem europäischen Markt kennenzulernen, neue Informationen zu bekommen
und Kontakte zu knüpfen. Die Suche nach einem neuen Markt und einer Existenz ist ziemlich schwer, aber jede Erfahrung oder jeder Erfahrungsaustausch ist immer wertvoll.
Wenn ich so lange Zeit in Deutschland bin, muss ich eine Messe besuchen:
Koste es, was es wolle! Die erste war die große Bootsparade in Düsseldorf.
Die internationale Wassersportausstellung „boot 99“ feierte im Januar ihren
30. Geburtstag. Rund 1650 Aussteller aus 37 Ländern belegten 15 Messehallen mit 190.000 m2 Ausstellungsfläche. Zum Vergleich: Mit 116 Ausstellern in einer Messehalle ging die Veranstaltung 1969 erstmalig an den
Start. Diesmal fasste „boot 99“ unter einem Dach fünf Messen zusammen:
für Boot und Yachtsport, für Surfer und Taucher sowie für maritimen Tourismus.
Kreative Wohnideen, gute Möbel, sowie moderne Designartikel präsentierten 1600 Anbieter aus 50 Ländern in der Internationalen Möbelmesse in Köln.
Das größte Möbelangebot vonTischen und Stühlen bis zu Avantgarde-Möbeln
zeigte viele neue Ideen und bekräftigte die dynamische Entwicklung im internationalen Möbelmarkt.
Die Frühjahrsmesse „Haus + Garten“ in Essen war nicht so eindrucksvoll.
Aber sie ist auch keine internationale Messe. 300 Aussteller präsentieren ihre
Produkte und Dienstleistungen rund um Bauen, Haustechnik, Einrichten
und Wohnen sowie Angebote zu Zimmerpflanzen, Balkon, Terasse und Garten. Unterschiedlich war die Besucherfreundlichkeit. Hier finden nicht nur
Erwachsene, sondern auch Kinder und Jugendliche etwas für sich. „Grüne
Klassenzimmer“ und die „Kindergärtnerei“ wecken Interesse zum Leben mit
Natur und Umwelt.
Besonders interessant und aktuell finde ich „START - die Existenzgründungsmesse für Deutschland“.1999 wird die bundesweite Leitmesse zum
Thema Unternehmensgründung, -sicherung und -übernahme insgesamt viermal, jeweils in Nürnberg, Hamburg, Leipzig und Essen stattfinden. Die
Messe bietet Gründungswilligen und Jungunternehmern eine Plattform, auf
der Banken, Versicherungen, Industrie- und Handelskammer, Handwerkskammern, Arbeitsämter oder Unternehmensberater vertreten sind.
Im Januar und Februar, als Messefachleute die Bilanz von 1998 resümierten, berichteten Wirtschaftsjournalisten, dass viele Messen in Deutschland größer, internationaler und servicefreundlicher werden wollen. Darum
suchen die Ausstellungsmanager neue Partner nicht nur in Europa, sondern
auch in Asien und im Fernen Osten.
Die größte Veranstaltung für Deutschland steht aber noch bevor. Der
Anfang des neuen Jahrhunderts kommt nach Deutschland wie ein grandioses
260
Elsa Iveta
Deutschland
Fest der ganzen Welt. Als Visitenkarte für dieses Land sieht man die Weltausstellung EXPO 2000, die vom 1. Juni bis zum 31. Oktober in der niedersächsichen Landeshauptstadt Hannover stattfindet. 175 Länder und internationale Organisationen werden dabei sein. Das Thema der EXPO „Mensch Natur - Technik“ wird nicht nur im 100.000 Quadratmeter großen Themenpark, sondern auf den zahlreichen Ausstellungen, Festivals und anderen Projekten präsentiert. Bis zu 40 Millionen Besucher werden erwartet. Mit ihrem
Kultur- und Ereignisprogramm ist die EXPO auch das erste große Festival
zum Beginn des 21. Jahrhunderts. Man zählt die Tage bis zur EXPO 2000, die
einen attraktiven Schauplatz in Deutschland gefunden hat.
HIER und JETZT: WAZ
Im Frühling 1998 feierte die „Westdeutsche Allgemeine Zeitung“ (WAZ)
ihr 50. Jubiläum. Im Laufe der Zeit ist die WAZ mit zahlreichen Tageszeitungen, Herstellungsbetrieben, Anzeigenblättern sowie Zeitschriften ein großer Medienkonzern nicht nur in Deutschland, sondern in Europa geworden.
Nach dem Konzept der WAZ-Gründer Erich Brost und Jakob Funke sollte die
Zeitung für das Ruhrgebiet und für die Menschen hier sein. Vom ersten Tag
bis heute stehen das Ruhrgebiet und das Neueste dort im Mittelpunkt der
Nachrichten. 50 Jahre - das ist eine lange und ereignisreiche Zeit. Die
Geschichte des Ruhrgebiets spricht aus den Zeitungsblättern der 50er, 60er,
70er, 80er und 90er Jahre.
Es gibt keine besseren Zeitzeugen als alte Fotos und Zeitungen. Ich lese alte
Berichte und spüre einer Zeit nach, die weit in der Vergagenheit liegt.
19. Juni 1948, die WAZ berichtet: „Ab Montag, 21. Juni, gilt in den westlichen Besatzungszonen nur noch die neue „Deutsche Mark“.
Ein Jahr später, 23. Mai 1949: „Unter einer riesigen, schwarz-rot-goldenen,
Fahne, bei den Klängen „Ich hab` mich ergeben mit Herz und Hand“ und im
grellen Licht der Scheinwerfer, vollzog sich am Montag genau um 17 Uhr in
der Bonner Pädagogischen Akademie die Geburt der Bundesrepublik
Deutschland.“
17. Juni 1953: Die WAZ berichtet über den Aufstand in der DDR - er
beginnt mit der Auflehnung von Bauarbeitern und endet mit Toten und Resignation. Das Aufbegehren zerbricht an massiver Staatsgewalt und am Stahl der
sowjetischen Panzer.
1956/1957: Man spricht von Wirtschaftswunder. Autor des Konzepts der
sozialen Marktwirtschaft: Ludwig Erhard, damaliger CDU-Wirtschaftsminister.
1958/1959: Die Bergbaukrise erschüttert das Revier. Zechen sterben.
13. August 1961: „Ostzone“ sperrt ihre Bürger ein. Der Bau der Berliner
Mauer überrascht den Westen.
1962: Kuba-Krise.
1963: Konrad Adenauer tritt nach 14jähriger Kanzlerschaft zurück.
Man kann noch weiterlesen:
261
Elsa Iveta
Deutschland
1998: Der Euro kommt!
1999: Der Euro ist da!
Realität, Wirklichkeit, Unabhängigkeit ziehen sich durch Jahrzehnte. Das
herrschende Credo: „Wir sollten überall dabeisein, aber nie dazugehören“, gilt
noch immer für die Journalisten der WAZ. Und nur mit dieser Position kann
man wahrheitsgemäß und unabhängig berichten.
Elektronische Medien machen ihre Rechte auf dem Markt geltend. Aber nur
Zeitungen haben „Fassbarkeit“. Kann die Zeitung den Wettlauf mit dem
Fernsehen gewinnen? Natürlich nicht! Wie baut man ein Zeitungskonzept, das
erfolgreich ist? Die WAZ gibt eine Antwort. Es ist die Markenidentität mit
starken Presseprinzipien und gleichzeitig die Vermittlung eines Gemeinschaftsgefühls mit dem Leser.
Ich bewundere, wie nahe die WAZ an den Menschen ist. Praktische Lebenshilfe, Beratungen, Telefon-Aktionen, eine Rubrik „Mitmenschen“, wo jeder
über das Wichtigste in seinem Leben erzählen kann. Dies sind die Hilfsinstrumente, um einen besseren Dialog mit den Lesern zu führen. Und jetzt,
nahe dem Jahrtausendwechsel, sind die Leser aufgerufen, gemeinsam bedeutende Essener Persönlichkeiten von 1900 bis 2000 zu suchen. Wieder stehen
die Menschen im Mittelpunkt der WAZ-Aktion.
Ich hatte die Gelegenheit, den journalistischen Alltag in der Essener Lokalredaktion der WAZ kennenzulernen. Ich schätze die professionelle Arbeit, die
meine deutschen Kollegen jeden Tag machen, und die Menschlichkeit, die
dort im Vordergrund steht. In der Essener Lokalredaktion der WAZ habe ich
nur positive Eindrücke gewonnen. Und mit diesem Gefühl kann ich mit
leichtem Herzen nach Hause, nach Lettland, fahren.
Auf Wiedersehen, Deutschland!
262
Barbara Hoynacki
Der Ahnenbaum und die Menschen,
die anders aussehen
- In der Heimat der Buschleute -
Namibia vom 15.09. - 21.10.1998,
betreut von der Friedrich-Ebert-Stiftung
263
Inhalt
Erste Eindrücke
266
Farmleben
269
Jagdfarm als Existenzsicherung
271
Mitbestimmung
272
Von Frauen und Straßenkindern
272
Ein Stück vom Kuchen
273
Wer sind die Buschleute?
274
Ilse Schatz und der Medizinmann /Garugu //Khumob
276
Der Ahnenbaum und die Menschen, die anders aussehen
278
Jäger und Gejagte
279
Hilfe zur Selbsthilfe
280
Gespanntes Verhältnis
282
„Ombili“ heißt Frieden
283
Schulreform
285
Buschmannland
286
Das Geld verdienen die anderen
290
Nyae Nyae Development Foundation
291
Perspektiven
291
265
Barbara Hoynacki
Deutschland
Barbara Hoynacki, geboren 1965 in Recklinghausen. 1985 - 1994 Studium der Germanistik
und Slavistik an der Ruhr-Universität Bochum.
Abschluss: Magister Artium. Teilnahme an
einem Kurs der Jagiellonischen Universität Krakau vom 11.07. bis 21.08.1987. Sechswöchige
Hospitation beim ZDF in Mainz von Mai bis
Juni 1991. Freie Mitarbeit bei der Westdeutschen
Allgemeinen Zeitung (WAZ) seit dem 20.
Dezember 1991. Volontariat bei der WAZ vom 1.
April 1996 bis zum 31. März 1998. Redakteurin
in der WAZ-Lokalredaktion Mülheim von April
bis September 1998. Seit dem 1. Dezember 1998
Redakteurin in der WAZ-Lokalredaktion Hattingen.
Erste Eindrücke
WINDHOEK. 15. September 1998. 6.20 Uhr. Angekommen. Endlich!
Über zehn Stunden in diesem verflixt engen Flugzeug. Dann auf dem Rollfeld der erste Kontakt mit Afrika. Wie das riecht. So süßlich - nach Steppengras. Doch irgendwie auch streng - wonach riecht das bloß? Nach Wildtieren?!
Ringsum kilometerweit nur Sand, Gras und dürres Buschwerk. Die Landschaft
ist durchzogen von den tiefen Furchen trockener Flussläufe. Übers Rollfeld
geht’s zu Fuß zur Passkontrolle. Mein Herz rast. Trotz Antragstellung vor
Monaten: Das Einreisevisum - für ausländische Journalisten ein Muss in
Namibia - war nicht mehr rechtzeitig vor Abflug in Deutschland angekommen. Frau Wilms von der Namibischen Botschaft in Bonn hatte alle Hebel in
Bewegung gesetzt. Resultat: Ein mageres Fax vom Ministry of Information
and Broadcasting, in dem kurz bestätigt wird, dass es keine Einwände gegen
meine Einreise gebe, das benötigte Visum würde ich vor Ort in Windhoek
erhalten. Ob das reicht? Der Grenzbeamte starrt minutenlang auf das Schreiben, fixiert mich, sieht wieder auf das Dokument. Plötzlich verzieht sich sein
Mund zu einem herzlichen Grinsen. Für welche Organisation ich denn
arbeite? Für die Heinz Kühn Stiftung, sage ich. Er nickt beflissen. Wie lange
ich bleiben will? „Oh, sechs Wochen nur.“ Er drückt den ersehnten Stempel
in den Pass. Geschafft. Der Anfang ist gemacht. In der Eingangshalle des
Flughafens sehe ich mich nach dem vom Reisebüro zugesagten ShuttleExpress meiner Mietwagenfirma um. Da, die Dame der TUI hält das Firmenschild hoch. Ich melde mich bei ihr: „Hoynacki? Ihr Reisebüro hat mir Ihr
Kommen erst heute gemeldet, tut mir leid, in unserem Wagen ist kein Platz
mehr für Sie. Nehmen Sie doch den Bus“, schlägt sie vor und marschiert trotz
meines lautstarken Protestes eilig Richtung Ausgang. Der Pendelbus zur
City ist weg. Taxis sind keine in Sicht. „TUI - schöne Ferien, Sie haben es sich
verdient“, saust mir durch den Kopf. Zwei schwere Taschen und ringsum 45
266
Barbara Hoynacki
Deutschland
Kilometer Steppe. „Probleme?“, fragt mich ein Schwarzer, der meine Misere
offensichtlich beobachtet hat. Für 90 namibische Dollar (25 DM) könne er mich
nach Windhoek bringen. Ich bin einverstanden. Gerry schnappt sich meine
Taschen und führt mich zu einem VW Bus. Er ist freier Taxi-Unternehmer,
erzählt er. Ohne Konzession allerdings. Gerry ist Ovambo.
Die Ovambo stellen mit einem Bevölkerungsanteil von 51,2% die größte der
elf ethnischen Gruppen Namibias (Gesamteinwohnerzahl: ca. 1,7 Mio). Gerry
lebt in Windhoeks Armenviertel Katutura (übersetzt etwa: „Der Platz, an dem
wir nicht leben möchten“). Ein Vorort, in dem ausschließlich Schwarze leben.
Angelegt während der Zeit der Apartheid - ähnlich wie Soweto bei Johannesburg - als Stadtteil mit eigener Infrastruktur. Es gibt ein Einkaufszentrum,
Schulen, Kirchen und ein Krankenhaus. Doch nicht etwa, weil den Schwarzen
nahe Versorgungswege geboten werden sollten, sondern vielmehr, um sie vom
„weißen“ Windhoek fernzuhalten. Denn den weißen Stadtvätern war die „Old
Location“, das alte Schwarzenviertel der Stadt, ein Dorn im Auge. 1959 begann
man deshalb mit Zwangsumsiedlungen. Dreizehn Menschen, die sich widersetzten, wurden am 10. Dezember 1959 von Polizeikräften getötet. Heute ist dieser Tag in Namibia der „Tag der Menschenrechte“, ein öffentlicher Feiertag.
Ursprünglich verfügte Katutura über ein relativ geordnetes Erscheinungsbild.
Die Einheitshäuser - rund 45 qm groß - beherbergten eine Familie. Mittlerweile
aber wohnen durch den Zuzug von Freunden und Verwandten bis zu zwanzig
Menschen auf dieser Fläche, die oft durch provisorische Anbauten erweitert
wurde. Und der Zustrom vieler Schwarzer aus anderen Landesteilen, die in der
Hauptstadt auf Arbeit hoffen, ist ungebrochen. Schätzungen sprechen von
mehr als 100.000 Menschen, die in dem Slumviertel leben. Nur wenige davon
finden in der Hauptstadt eine Anstellung. Diejenigen, die einen Job bekommen
konnten, laufen meist zu Fuß zu ihrer Arbeitsstelle. Die niedrigen Löhne (der
Durchschnittslohn liegt noch immer bei 500 Namibische Dollar, eine DM
enspricht ca. 3,5 ND) machen Bus oder gar Taxi für die Mehrheit unerschwinglich. Dennoch: Auch in Katutura ändert sich die Bauweise allmählich.
In den letzten Jahren wurde dort viel gebaut und eine Reihe von modern anmutenden Häusern hebt sich von den Provisorien ab. Ein Zeichen dafür, dass es
einigen Schwarzen gelingt, in die gesellschaftliche Mittelschicht vorzudringen.
Einer von ihnen mag Gerry sein, der mit seiner Pilotenbrille und der Golduhr am Arm nicht gerade einen verarmten Eindruck macht. „Die hohe Arbeitslosigkeit ist für alle Bevölkerungsgruppen das größte Problem in unserem
Land“, sagt Gerry nachdenklich, nachdem er von mir erfahren hat, dass ich
Journalistin bin und einen Bericht über die in Namibia lebenden Buschleute
schreiben werde. Offizielle Zahlen sprechen von einer Arbeitslosenquote von
über 40 %. Doch in den schwarzen Bevölkerungsschichten ist sie weit höher. In
Windhoek liegt sie mittlerweile bei 80 %. Arbeitslosengeld gibt es nicht, auch
keine staatliche Arbeitsvermittlung. „Wer hier überleben will, muss sich selbst
etwas einfallen lassen“, sagt Gerry mit einem Schmunzeln, dem der Stolz, es
selbst geschafft zu haben, anzumerken ist.
Ungefähr 40 Minuten dauert die Fahrt bis Windhoek. Gerry meistert die
Schotterpiste mit rasender Geschwindigkeit. Der Linksverkehr ist ziemlich
267
Barbara Hoynacki
Deutschland
gewöhnungsbedürftig. Rechts tauchen plötzlich graubraune Gestalten aus
dem Busch auf. Eine Pavianherde überquert vor uns die Straße. Um 8.30 Uhr
kommen wir in der Hotel-Pension Moni an. Mein Zimmer ist noch nicht fertig. Also mache ich mich auf zu einer Erkundungstour durch die Stadt. Fast
alle Häuser haben Gitter vor Fenstern und Türen, sind durch hohe Mauern und
Stromdrähte abgeschottet. Ist die Kriminalität so hoch? Oder sind das noch
Altlasten des erst Ende der 80er Jahre beendeten Bürgerkrieges?
Namibia ist das jüngste unter den afrikanischen Ländern. Am 21. März
1990 wurde es, nach nahezu 20 Jahren Bürgerkrieg, von Südafrika in die
Unabhängigkeit entlassen. Seitdem wird Namibia von der Partei des ehemaligen Gegenspielers des südafrikanischen Apartheidregimes, der SWAPO
(South West African People’s Organization), regiert. Bei den zweiten Wahlen
1994 errang die SWAPO die von der weißen Bevölkerung so sehr gefürchtete
Zweidrittel-Mehrheit im Parlament: Regierungschef Sam Nujoma kann in seiner zweiten Amtszeit ohne Rücksicht auf die Opposition agieren und sogar die
Verfassung ändern. Dass er aber bisher auf radikale Beschlüsse wie die
immer wieder angedrohte Enteignung der Farmer verzichtete und statt dessen
auf eine Politik der Versöhnung setzt, weist ihn als pragmatischen Politiker
aus, der die Zukunft in einer multikulturellen Gesellschaft sieht.
Hektisches Treiben in Namibias über 200.000 Einwohner zählenden Hauptstadt. Von Armut ist jedenfalls auf den ersten Blick nicht viel zu entdecken.
Europäischer Baustil und, wie überall in Europa auch, Läden links und rechts
der Hauptgeschäftsstraße, der Independence Avenue (früher Kaiserstraße,
auffällig viele Straßennamen erinnern noch heute an die deutsche Kolonialzeit). Windhoek, der Name der Stadt, ist auf den Nama-Häuptling Jonker Afrikaaner zurückzuführen. In Geschichtsbüchern heißt es, ihn hätten die bis zu
2.500 Meter hohen Berge um Windhoek an die Farm Winterhoek in der
Gegend von Tulbagh/Kapprovinz (auf der er einige Zeit gelebt hatte) erinnert.
Himmel! Ein Möbelgeschäft mit Waren, die dem biedersten Gelsenkirchener Barock Konkurrenz machen würden. Der deutsche Einfluss ist allgegenwärtig. Ein Café in einer Seitengasse lädt zum Zwischenstopp ein.
Erstaunt registriere ich, dass aus dem Radio hinter der Theke deutsche Schlagermusik dröhnt. An meinem Nachbartisch sitzt ein Schwarzer, ziemlich
genervt. Er saß schon vor mir da, doch auf seinem Tisch kann ich kein
Getränk entdecken. Als die weiße Bedienung mich bemerkt, kommt sie sofort
auf mich zu. Keine Minute später steht das Gewünschte vor mir. Den Mann
am Nachbartisch würdigt sie keines Blickes. Für ihn ist die schwarze Bedienung zuständig, wie ich wenige Augenblicke später erkennen muss. Trotz aller
Bemühungen der heutigen Regierung sitzen die Keile, die das südafrikanische
Protektorat zwischen die Bevölkerungsgruppen getrieben hat, tief.
Während ich zur Pension zurückschlendere, fallen mir die vielen Jugendlichen auf, die in Grüppchen gelangweilt am Straßenrand stehen. Perspektivlosigkeit ist auch hier eines der zentralen Probleme. Mir klingen die Worte
meiner Gastgeber Monika und Peter Breitenstein noch in den Ohren: „Wenn
Sie einen Stadtbummel machen, verzichten Sie darauf, Ihren Rucksack mitzunehmen. Erst in der letzten Woche mussten wir einen Gast ins Krankenhaus
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Deutschland
bringen. Taschendiebe hatten ihm den Rucksack vom Rücken geschnitten und dabei nicht nur die Riemen durchtrennt, sondern auch gleich eine seiner
Nieren.“ In den vergangenen Jahren ist die Kriminalität besonders in Windhoek und Namibias Küstenferienort Swakopmund sprunghaft gestiegen.
Breitensteins selbst mussten das am eigenen Leib erfahren: Während sie
sich in ihrer Pension um die Gäste kümmerten, wurde ihr in der Nähe liegendes Eigenheim zum zweiten Mal komplett ausgeräumt. Diebstähle und
Autoaufbrüche sind an der Tagesordnung. Die Polizei ist machtlos. Das Budget der Ordnungshüter wurde für ‘98 mit 4,9 Mio ND so knapp bemessen,
dass die Beamten noch nicht einmal in der Lage sind, ihre Dienstfahrzeuge zu
unterhalten, und die Geschäftsleute - wie soeben in Windhoek - zu Spendenaktionen aufrufen. Windhoek, das wird mir schnell klar, ist ein Brennglas
namibischer Wirklichkeit: Wohlstand und Armut, „heile und heillose Welt“
konzentrieren sich hier geographisch auf einen Punkt.
Farmleben
Namibias wirtschaftliches Kapital waren und sind seine natürlichen
Ressourcen: Weideflächen, Fischgründe, Bodenschätze und ein bemerkenswerter Wildreichtum. Das größte ökologische Problem ist neben der fortschreitenden Erosion der Böden der Mangel an Wasser: Häufigkeit und Intensität der Niederschläge nehmen von Norden nach Süden und Westen hin ab.
Während die Felder am Kavango dank reichlicher Regenfälle gedeihen, fällt
im zentralen Hochland, wo die meisten Farmen liegen, zu wenig Regen für die
Landwirtschaft. Deshalb haben sich die Farmer dort auf die Viehzucht spezialisiert: Rinder-, Schaf- und Ziegenherden bilden ihre Lebensgrundlage. Da
ganzjährig wasserführende Flüsse fehlen und Regen nur in den nordöstlichen
Landesteilen ausreichend fällt, muss man im Farmland Zentralnamibias, aber
auch im Süden, auf die Grundwasserreserven zurückgreifen. Ob für die Viehtränke, für das Touristencamp oder bei der Uranverarbeitung: Das Wasser
wird den unterirdischen Reservoirs entnommen und der Grundwasserspiegel
sinkt. Bleiben zudem noch die mageren Regenfälle aus (wie zu Beginn der 90er
Jahre im Süden und 1995/96 im östlichen Zentralnamibia), reichen auch diese
Reserven nicht mehr. Die Existenzgrundlage der Farmer ist gefährdet und mit
dieser auch diejenige der dort Beschäftigten (34 Prozent der Bevölkerung).
Windhoek stellt den Mittelpunkt eines besonders bedeutsamen Farmbezirks
dar, der vor allem auf Rinderhaltung und Karakul-Schafzucht ausgerichtet ist.
Rund 4.000 Farmen insgesamt gibt es in Namibia. Die durchschnittliche
Größe der Anwesen liegt zwischen 3.000 und 8.000 Hektar. In der Regel sind
sie nach wie vor in weißer Hand. Die Farmer sind die Hauptarbeitgeber der
schwarzen Bevölkerung. Ich beschließe, eines dieser Landgüter exemplarisch
unter die Lupe zu nehmen, und wähle die Farm Mon Desir bei Otjiwarongo,
die von Caroline (31) und Joachim (29) Rust betrieben wird.
Joachim Rusts Urgroßvater war einst Chef des Kaiserlichen Reitstalls.
Was ihn wohl bewogen hatte, 1892 in Berlin seine Koffer zu packen und nach
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Barbara Hoynacki
Deutschland
Südwestafrika zu ziehen? „Abenteuerlust“, schätzt Joachim Rust. Sechs
Wochen dauerte damals die Reise mit dem Schiff. Vier weitere Wochen mit
Pferd und Ochsenwagen von Swakopmund ins 356 Kilometer entfernte
Windhoek. Joachim Theodor Rust war kein armer Mann. Hatte doch seine
Familie wesentlichen Anteil daran, dass im 19. Jahrhundert die erste Tram
durch Berlin tuckerte. 32.000 Reichsmark (heute wären das etwa 2 Mio DM)
legte er damals für ein 16.000 Hektar großes Stück Land bei Windhoek auf
den Tisch: die Geburtstunde der Farm „Ondekaremba“ („Platz, an dem Schafe
gut weiden“), Land, das die deutsche Schutztruppe den Herero abgekauft
hatte. Joachims Eltern, sein Bruder und seine Schwester leben noch heute
dort. Doch mittlerweile hat sich das Farmgelände auf 7.300 Hektar verkleinert. Einen Teil verkaufte die Familie in Notzeiten, ein anderes Stück Land
wurde dem Bau des Windhoeker Flughafens geopfert, der nur elf Kilometer
von der Farm entfernt ist.
Von Landausverkauf durch die deutschen Einwanderer konnte damals
noch nicht die Rede sein: 1903 waren knapp 4% des Herero-Landes in den
Händen der Weißen. Die Herero kamen im 18. Jahrhundert von Norden über
den Fluss Kunene in den mittleren Teil Südwestafrikas. Ab 1840 siedelten sie
im Gebiet zwischen Grootfontein, Windhoek und Gobabis. Als nomadisches
Bantuvolk betrieben sie Viehwirtschaft und vertrieben, versklavten oder töteten die Damaras, die dieses Gebiet vorher bewohnten. Zu Streitigkeiten zwischen den Herero und den Deutschen kam es nicht etwa wegen der Landverkäufe. Vielmehr fühlten sich die Herero durch die Hegemonieansprüche der
deutschen Kolonialmacht bedroht. 1904 kam es zum Aufstand und am 11.
August desselben Jahres zur entscheidenden Schlacht zwischen Hererokriegern und deutscher Schutztruppe am Waterberg Plateau. Die Schutztruppe
kesselte die Herero in einem Tal ein und ließ sie verhungern und verdursten.
Das Herero-Volk wurde dabei nahezu ausgerottet. Heute stellen sie nur noch
7,5 % der Gesamtbevölkerung.
Joachim und Caroline Rust übernahmen 1990 die Farm Mon Desir bei Otjiwarongo von der Familie Dedig. Dedigs hatten Milchkühe gezüchtet und Butter hergestellt, wie übrigens fast alle Viehzüchter in dieser Zeit, denn für
Fleisch gab es zu wenig Geld. Als Rusts das Gelände kauften, hatte die Erosion - verursacht durch Überweidung - schon einen hohen Preis gefordert: Der
kleine See hinter dem Farmhaus war ausgetrocknet, die Verbuschung des
Bodens weit fortgeschritten. „Mit acht Rindern fingen wir an, heute weiden
knapp 500 auf unseren 7.500 Hektar Land“, sagt Joachim Rust stolz. Und das,
obwohl er seine Herde im zweiten Dürrejahr 1996 von 600 auf 140 Stück Vieh
hatte reduzieren müssen. Wassermangel ist das größte Problem, mit dem die
Farmer zu kämpfen haben. „Ökologische Rinderzucht nach den Richtlinien
des Holistic Management“ das Mittel, mit dem die Rusts dem kargen Boden
dennoch das Machbare abtrotzen. Ökologische Rinderzucht, Holistic Management - was damit gemeint ist, kann Joachim Rust wohl am besten selbst erklären: „15 bis 20 Hektar Weidefläche - je nach Bodenqualität - benötigt ein
Rind. Um eine Überweidung zu verhindern, haben wir unser Land in 24
Parzellen eingeteilt, die in Etappen abgegrast werden: Erst weiden die 85 Mut270
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tertiere mit den Kälbern, anschließend der Rest der Herde. Die Tiere werden
von Gatter zu Gatter getrieben. So hat der erste Weidegrund über 15 Monate
Zeit sich zu erholen, bis die Rinder sich dort abermals über das Gras hermachen können.“ Eine Methode, die sich bezahlt gemacht hat. Fast ausgerottete
gute Grassorten konnten sich wieder erholen. Gute Gäser, das sind Pflanzen,
die auch nach monatelanger Dürre noch grüne Triebe bilden. Gegen die
zunehmende Verbuschung dagegen hilft nur eins: die Axt. In regelmäßigen
Abständen zieht Joachim Rust mit seinen elf schwarzen Mitarbeitern über die
Weiden und holzt die wild wuchernden Büsche ab: „Je weniger Büsche,
desto mehr Gras wächst wieder nach.“ Das geschlagene Buschwerk wird entweder zu Holzkohle weiterverarbeitet oder in dem ausgetrockneten Flussbett
zu einer natürlichen Barriere gegen den in der Regenzeit reißenden Strom aufgestapelt. 450 Tonnen Holzkohle exportierten die Rusts 1997 nach Deutschland und England. Ein schöner Nebenerwerb. Und eine Arbeitsbeschaffungsmaßnahme. Denn für die Köhlerei stellt Joachim Rust zusätzlich
Saisonarbeiter aus Otjiwarongo an.
Ich wandere mit dem Farmer durch das trockene Flussbett des Ohakaue, das
sich fast durch sein gesamtes Land schlängelt. Als Folge der Erosion hatte sich
der Fluss immer tiefer ins Bett gegraben. Fällt der ersehnte Regen, fließt das
Wasser mit rasender Geschwindigkeit. „Zu schnell, um von der Erde ausreichend aufgenommen werden zu können“, weiß Joachim Rust. Die Barrieren,
die er mit Hilfe des losen Buschwerks errichtete, bremsen nun den Strom des
Wassers ab und sorgen gleichzeitig dafür, dass sich das Bett durch Sandablagerungen allmählich wieder hebt. Innerhalb weniger Jahre hat er es auf diese
Weise geschafft, den Fluss wieder langsamer fließen zu lassen. Der Boden
wird besser bewässert, der Grundwasserspiegel steigt an. „In den vergangenen acht Jahren um ganze sechs Meter von 54 auf 48 Meter“, freut sich der
Farmer. An manchen Stellen ist das Flussbett fast schon wieder so hoch wie
das Ufer. Hier bilden sich Seen, ein Paradies für Fische und Vögel. Während
wir langsam weitergehen, deutet der 29jährige auf die Spuren von Oryx,
Kudu, Perlhuhn, Riesentrappe und Gepard. Die Wildtiere, die seine Farm
ungehindert überqueren können (die Zäune sind extra so angelegt worden),
betrachtet Joachim Rust nicht als Konkurrenz für seine Rinder. „Wildtiere grasen das Land nicht so rückhaltlos ab wie Rinder. Außerdem sind stetig wandernde Huftiere wichtig, um die Erosion des Bodens zu verhindern“, erläutert er, denn die Tritte lockern den Boden auf. „Und nur wo der Boden
gelockert ist, hat die Saat beim nächsten kleinen Schauer eine Chance zu
sprießen.“
Jagdfarm als Existenzsicherung
Doch das Wild hat für Rusts darüber hinaus noch eine andere existentielle
Bedeutung. Auf Joachim Rusts Farm - wie auf unzähligen anderen namibischen Farmen auch - haben Besucher die Möglichkeit, auf die Jagd zu gehen.
Wer etwa ein Kudu erlegen will, muss 1.000 DM berappen, eine Oryxantilope
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wird für 750 DM zum Abschuss freigegeben, ein Springbock für 600 DM.
„Nach den Dürrejahren waren wir finanziell am Ende“, sagt Joachim Rust.
Die Familie habe vor der Wahl gestanden, die Farm aufzugeben oder sich
etwas einfallen zu lassen. „Wir beschlossen, den Anbau unseres Hauses zum
Gasthaus umzugestalten und Touristen einen Einblick in namibisches Farmleben zu ermöglichen“, erinnert sich Caroline. Das Jagdangebot sei für die
Familie eine zusätzliche Möglichkeit den Betrieb über die Runden zu bringen.
„Einmal im Monat muss ich eh auf die Jagd gehen, weil meine Leute Fleisch
haben wollen“, sagt der Farmer und meint: „Also wenn das nun jemand für
mich macht und dafür auch noch Geld zahlt, ist das doch eine gute Sache für
beide Seiten.“ Geschossen wird bei Rusts nur das, was später auf dem Tisch
landet. Geparden und Leoparden bleiben verschont. „Wer die Artenvielfalt in
unserem Land erhalten will, muss schon in Kauf nehmen, dass das auch
schon mal vier bis fünf Kälber im Jahr kosten kann“, findet der Farmer.
Doch nicht nur für Jäger, auch für Touristen ist das Wild auf der Farm eine
Attraktion. Ein Grund mehr für alle Farmer, die die Jagd zusätzlich im Angebot haben, ihren Tierbestand sorgfältig zu hegen. „Raubbau geht immer nach
hinten los, damit vernichten wir doch letztlich nur unsere eigene Lebensgrundlage“, sind sich Joachim und Caroline Rust sicher. „Unser Ziel ist es, die
natürlichen Ressourcen unseres Landes zu nutzen, ohne sie zu zerstören.“ Das
bedeutet auch, dass die Rusts Wild dazukaufen, wenn der Bestand sich nach
Dürreperioden zu sehr dezimiert hat.
Mitbestimmung
Farmleben bedeutet für Rusts auch, dass alle, die auf der Farm leben, über
die Lage des Betriebs stets informiert sind. Jeden Monat setzt sich Joachim
Rust mit seinen Mitarbeitern zusammen um sie über die aktuelle finanzielle
Situation zu informieren. Gemeinsam wurde beschlossen, dass in der Ferienhauptsaison niemand Urlaub nimmt. Denn im Juli und August wird wegen des
Gastbetriebes an sieben Tagen in der Woche gearbeitet. Als Ausgleich erhält
jeder am Ende des Jahres einen Sonderbonus und kann statt der gesetzlich
zugesicherten 24 auch schon mal 30 oder mehr Urlaubstage antreten. „Wir
müssen zusehen, dass unsere Arbeiter selbst ein Stück vom Wohlstand abbekommen um den sozialen Sprengstoff zu entschärfen“, lautet Joachim Rusts
Devise.
Von Frauen und Straßenkindern
Wohlstand fängt für Rusts gleich bei den Unterkünften an: Schon beim
ersten Rundgang über die Farm fiel mir auf, dass jeder Arbeiter ein eigenes,
wenn auch kleines Haus besitzt. Kleine gemauerte, weißgetünchte Häuser mit
einer Feuerstelle, einem Gemüsegarten und einem Viehgatter. Das ist in
Namibia keine Selbstverständlichkeit, leben doch die meisten Farmarbeiter
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nach wie vor in Wellblechhütten mit Stoffetzen vor den Eingangstüren.
Besonders benachteiligt sind Frauen, die auf Farmen als Hausangestellte
arbeiten. Noch heute unterscheidet sie nicht viel von den Leibeigenen von
damals. Gut 150 ND erhalten sie monatlich. Kost und Logis sind frei. Kinder
auf die Farm mitzubringen ist verboten. „Das erklärt die hohe Zahl der Straßenkinder“, berichtet Gisela Mittendorf, eine deutsche Lehrerin, die in Windhoek unterrichtet. Warum geben sich aber so viele Frauen dennoch mit den
schlecht bezahlten Arbeitsstellen zufrieden? „Oft hatten sie einfach keine
Gelegenheit und kein Geld für eine bessere Schulbildung“, weiß die Pädagogin. In vielen Fällen habe es ihnen aber auch eine frühe Schwangerschaft
unmöglich gemacht, die Schulausbildung abzuschließen. Dadurch werde es
für sie schwer, sich weiterzubilden, einen Beruf zu erlernen und so einen besser bezahlten Arbeitsplatz zu finden. Und noch eines sollte man wissen:
„Kindererziehung ist Frauensache, nur in Ausnahmefällen fühlen sich die
Väter verpflichtet, Mitverantwortung für Versorgung und Ausbildung ihrer
Kinder zu übernehmen“, sagt Gisela Mittendorf. Das liege hauptsächlich an
der traditionellen Sozialordnung.
Die meisten Völker Namibias sind matrilineare Gesellschaften. In diesen
Gesellschaften sind Männer, die in einer matrilinearen Beziehung zu ihren
Blutsverwandten stehen, Träger der Macht. Deshalb bekleidet nicht der Vater,
sondern der Bruder der Mutter die wichtigste Stellung gegenüber den Kindern. Die Söhne sind die zukünftigen Erben ihres Onkels mütterlicherseits.
Alle Kinder gehören ausschließlich der Familie ihrer Mutter an. Nicht selten
haben Frauen acht oder mehr Kinder. Und nicht selten stammen diese Kinder
von verschiedenen Vätern ab. Während die Frauen früher auf Gehöften in der
Nähe ihrer Verwandten lebten und durch diese einigermaßen sozial abgesichert waren, zieht es sie heute auf der Suche nach Arbeit in die Nähe der
Städte. Und dort sind sie auf sich allein gestellt. Eine staatliche soziale Absicherung existiert nicht, ebensowenig eine gesetzliche Verpflichtung der Väter
zur Unterhaltszahlung. Also nehmen die Frauen jede Stelle an, die sich bietet, und die Kinder bleiben häufig sich selbst überlassen. In Windhoeks Vorort Katutura entschlossen sich mittlerweile mehrere Mütter dazu, in ihren Privatwohnungen Tagesstätten für fremde Vorschulkinder einzurichten. Diese
Kinder sind auf finanzielle Unterstützung angewiesen, denn oft können sich
die Mütter den Minimalbeitrag von 50 bis 70 ND monatlich nicht leisten.
Gisela Mittendorf gründete deshalb das Patenschaftsprogramm „Katutura
Kinder“. Sie sucht in Deutschland für besonders arme Kinder Paten, die mit
50 DM Monatsbeitrag helfen, die Grundversorgung des Kindes zu sichern.
Ein Stück vom Kuchen
„Gerade bei jungen Farmern setzt sich allerdings mehr und mehr die Einsicht durch, dass sie ihren Leuten ein Stück vom Kuchen abgeben müssen“,
meint Joachim Rust. Dahinter steckt nicht allein ein plötzlicher Sinneswandel, sondern eben auch einfach die Furcht davor, sonst vielleicht eines Tages
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Deutschland
durch Enteignung alles zu verlieren. „Ein kleiner Teil der Menschen hier
besitzt den Großteil des Geldes, der Rest aber wird immer ärmer. Diesen Prozess müssen wir stoppen“, sagen die Rusts. „Verschenkt darf aber auch nichts
werden, denn dann haben die Dinge keinen Wert.“ Eine Erfahrung, die Joachim Rust machte, als er seinem Vorarbeiter Lukas eine Kuh schenkte: Der
Ovambo verkaufte das Tier noch am gleichen Tag weiter. Dabei war es eigentlich als Grundstock für eine eigene kleine Herde gedacht. Joachim Rust versuchte es mit einem Trick. Lukas erzählt: „Er bot mir eine Gehaltserhöhung
an, von der ich mir selbst Vieh zulegen sollte.“ Die Gehaltserhöhung habe er
wohl haben wollen, nur Vieh wollte er sich davon nicht kaufen.
„Bei uns gibt es keine Rentenzahlungen, nur ganz bedürftige Leute erhalten 160 ND im Monat, ich dachte, wenn ich meinen Vorarbeiter überzeugen
könnte, sich selbst einen gewissen Wohlstand als Altersvorsorge anzuschaffen, würden vielleicht auch die anderen seinem Beispiel folgen“, erinnert sich
Joachim Rust. Der Farmer stellte seinen Vorarbeiter vor die Wahl: „Gehaltserhöhung, die angelegt wird, oder es gibt kein zusätzliches Geld.“ Lukas entschied sich für die Erhöhung. Heute ist er stolzer Besitzer von acht Tieren.
Dass Besitz nicht nur Vergnügen bereitet, sondern gelegentlich auch Sorgen,
hat er allerdings auch schon erkennen müssen: Viehdiebe wollten sich aus der
Herde der Rusts, bei der nun auch seine Tiere stehen, bedienen. „Früher hat
ihn das nie interessiert, doch wenn er jetzt hört, dass in unserer Gegend
Viehdiebe unterwegs sind, warnt er mich sofort“, erzählt Joachim Rust
lachend. Die anderen Arbeiter dagegen machten bisher vom Angebot des Farmers keinen Gebrauch: „Die denken einfach nicht an später, haben das nie
gelernt“, meint der Farmer. Rund 1.200 ND verdienen seine Arbeiter. Wer sich
für besondere Aufgaben qualifiziert, bekommt mehr. Damit liegt der Gehaltsspiegel auf Rusts Farm 700 ND über dem Landesdurchschnitt. „Die Arbeit auf
einer Farm ist hart, wenn ich nicht genügend Anreiz biete, wandern die guten
Leute in die Städte ab“, bringt es Joachim Rust auf den Punkt.
Lukas (32) zählt zu den 65 % Analphabeten des Landes. Er kann seinen
Namen schreiben, ein paar Zahlen - das war’s auch schon. „Ohne Bildung aber
haben wir Schwarzen keine Chance“, ist sich der Vorarbeiter sicher. Deshalb
sorgt er mit seinem Verdienst dafür, dass wenigstens seine jüngeren Geschwister die staatliche Schule in Otjiwarongo besuchen können. „Mein Bruder
David (19) studiert heute an der Universität in Windhoek, er will Mathematik- und Physiklehrer werden“, erzählt Lukas stolz. Er ist sich sicher: Der kommenden Generation eine gute Ausbildung zu ermöglichen ist das Fundament, auf dem die Zukunft des Landes aufgebaut werden muss.
Wer sind die Buschleute?
Knapp 100.000 Buschleute leben heute noch im südlichen Afrika, ca.
38.000 davon in Namibia (Quelle: Kalahari Peoples Fund 1996). Der Name
„Buschleute“ geht auf das holländische „Bosjesmans“ zurück. So bezeichneten die Kolonisten an der Südspitze Afrikas die kleinen Bevölkerungs274
Barbara Hoynacki
Deutschland
gruppen im Hinterland, die als Nomaden umherzogen und vom Sammeln und
Jagen lebten. Die Bezeichnung „Bosjesmans“ aber wurde schon bald zum
Synonym für Banditen oder Herumtreiber, denn sie raubten gelegentlich das
Vieh der Siedler. Bis in unser Jahrhundert behielt dieser Name diese negative
Konnotation. Eine unkritische Übernahme der Bezeichnung ist auch deshalb
problematisch, weil unter „Buschleuten“ Menschen zusammengefasst werden,
die weit voneinander entfernt leben, verschiedene Sprachen sprechen und vielfältige kulturelle Traditionen entwickelten. Die „Buschleute“ selbst haben in
ihrer Geschichte keine Vorstellung von einer ethnisch-kulturellen Gemeinsamkeit und sahen sich selbst nie als Einheit. Erst in den letzten Jahren ist ein
politisch motiviertes Solidaritätsgefühl unter ihnen entstanden. Soziales
Abseits, Armut und Benachteiligung sind alltägliche Erfahrungen, egal in welchem Staat des südlichen Afrika sie leben. Bosjesmans, Buschleute, San,
Basarwa, Remote Area Dwellers - Fremdbezeichnungen, die sie von ihren
weißen und schwarzen Nachbarn erhielten und in denen sich deren Geringschätzung ausdrückt. In der Wissenschaft haben sich die Bezeichnungen
Buschleute und/oder San in Ermangelung eines anderen Oberbegriffs dennoch
durchgesetzt.
Die Buschleute gehören der Khoisan-Sprachfamilie an. Das Khoisan ist die
kleinste der vier Sprachfamilien auf dem afrikanischen Kontinent. Merkmal:
die Schnalz- oder Klicklaute am Anfang von Worten oder Silben. Das Khoisan wird in Nord-, Zentral- und Süd-Khoisan unterteilt. Das Nord-Khoisan
oder !Kung (! = alveolarer Schnalzlaut, ähnlich dem Knallen eines Flaschenkorkens) gliedert sich in drei Dialektgruppen. Die nördlichen !Kung
leben im Waldgebiet des südlichen Angola. Sie selbst nennen sich !íO!Xu (=
Waldmenschen). Nach dem Ende des Bürgerkrieges, der in Angola in den 70er
und 80er Jahren tobte, flohen viele !Kung nach Namibia. Wenn allerdings in
Namibia von !Kung die Rede ist, sind meist die östlichen !Kung gemeint, die
sich als Ju/íhoan (/ = dentaler Schnalzlaut, wie das von einem Kopfschütteln
begleitete, stimmlos ausgesprochene „tete“) bezeichnen. Sie leben in der
wild- und pflanzenreichen nördlichen Kalahari auf beiden Seiten des Grenzzauns zwischen Namibia und Botswana. Die zu den westlichen !Kung zählenden !Xu leben im Norden Namibias, im Kavangoland sowie im nördlichen Teil des Farmlandes.
Die Herkunft der ebenfalls zu den Buschleuten gerechneten Hai-//íom (// =
lateraler Schnalzlaut, ähnlich dem Geräusch, das man zum Antreiben eines
Pferdes macht) ist noch nicht geklärt. Berichte aus der ersten Hälfte des 19.
Jahrhunderts bezeugen, dass die Buschleute Handelsbeziehungen zu anderen
Völkergruppen pflegten. Mit ihren bantusprachigen Nachbarn handelten sie
Eisenwaren, Tontöpfe, Glasperlen, Tücher, Tabak und Cannabis gegen
gegerbte Häute, Straußenfedern, Schmuck aus Straußeneischalen sowie Hörner und Schlangenhäute. Siedlungsgebiet der Hai-//íom ist die Region um den
Etosha-Nationalpark, aus dem sie 1954 vertrieben wurden. Sie handelten mit
Salz aus der Etosha-Pfanne und beuteten um Tsumeb Kupferminen aus,
deren Lage sie geheimhielten. Das gewonnene Kupfer verkauften sie an die
Ovambo. Den Ovambo-Häuptlingen mussten sie Tributzahlungen in Form von
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Barbara Hoynacki
Deutschland
Salz, Kupfer und Vieh leisten. Sie arbeiteten für sie als Leibwächter, Henker,
Spione, Boten, Jäger oder Feldarbeiter. Kriegerische Auseinandersetzungen
gab es vor allem mit den viehzüchtenden Gruppen. Zu Kämpfen kam es
etwa mit den Herero, die von Süden in das Gebiet der Buschleute vordrangen.
Dem Hai-//íom-Führer Tsameb gelang es, die verschiedenen Clans zum
Widerstand gegen die Herero zu vereinen und gemeinsam mit den Nama die
Herero zum Rückzug zu zwingen. Sein Sohn Aribib setzte den Widerstand
gegen die Herero und später auch gegen die Deutschen fort. Gegen Ende der
1890er Jahre war er so mächtig, dass die Deutschen sich gezwungen sahen,
Verträge mit ihm abzuschließen. In ihnen wurde Aribib als Häuptling aller
westlichen Buschleute anerkannt. Nach Aribis Tod im Jahre 1905 zerbrach die
Allianz der Hai-//íom. Nun wurden sie sowohl von den Herero als auch von
den Deutschen gejagt und an die Ränder des Etosha-Wildparks gedrängt. Erbfolgestreitigkeiten verhinderten, dass sich die Hai-//íom wieder unter einem
Führer zusammenschlossen. Die meisten Hai-//íom leben heute im nördlichen Farmdistrikt um die Städte Grootfontein, Tsumeb und Outjo, einige
auch im Gebiet der Ovambo im Norden.
Die KxoÈ siedeln am Okavango, im Caprivi-Zipfel und in Südostangola.
Sie haben teils schon lange in Gemeinschaft mit bantusprachigen Ackerbauern, vor allem den Mbukushu, gelebt und neben der Jagd und dem Sammeln
auch Gartenbau betrieben. Die Gruppen in den Sumpfgebieten des Okavango-Deltas, wie die //Anikhoe, hatten sich auf den Fischfang spezialisiert.
Die Khoisan-Völker kannten entgegen sich hartnäckig haltender Vorurteile
eine große Bandbreite an Überlebensstrategien und hatten durchaus auch
einige große Clanchefs in ihren Reihen.
Ilse Schatz und der Medizinmann /Garugu //Khumob
Leider war es mir in den sechs Wochen meines Afrika-Aufenthaltes nicht
möglich, mich mit allen in Namibia ansässigen Khoisan-Völkern zu beschäftigen. Wegen der Kürze der Zeit beschränkte ich mich auf die um den EtoshaNationalpark lebenden Hai-//íom und die östlichen !Kung (Ju/íhoan). Bei meinen Nachforschungen über Land und Leute erkannte ich schnell: Wer in
Namibia etwas über die Hai-//íom wissen will, kommt an Ilse Schatz nicht
vorbei. Ilse Schatz lebte einst als Farmersfrau unter Buschleuten. Heute leitet sie das Museum von Tsumeb. Dort haben wir uns für den 28. September
1998 verabredet.
Geboren wurde Ilse Schatz 1929 in Grootfontein. Sie erzählt: „In meiner
Jugend lebte ich mit meiner Familie im Grootfonteiner Distrikt. 1953 heiratete ich Wolfgang Schatz und zog mit ihm auf die Farm Otjiguinas meines
Schwiegervaters, Gustav Schatz.“ Otjiguinas wurde ihre neue Heimat - ein
Stück Land, das an den Otjikotosee bei Tsumeb grenzt. Dort lernte sie die Hai//íom kennen, die auf der Farm ihres Schwiegervaters arbeiteten. „Ich verstand
ihre schwierige Sprache nicht, habe sie in all den Jahren trotz mancher Mühe
auch nie gelernt. In die muss man wohl, wie meine Kinder, hineingeboren
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Barbara Hoynacki
Deutschland
werden“, meint die 69jährige. Dafür beherrschte sie Otjiherero. Eine Sprache,
die auch viele der Buschleute sprechen konnten, auch der dort lebende Medizinmann /Garugu, mit dem sie im Laufe der Jahre eine tiefe Freundschaft verbinden sollte. Doch zunächst verhielt sich gerade /Garugu dem neuen Farmmitglied gegenüber sehr distanziert. Von den anderen Hai-//íom dagegen wurde
Ilse Schatz schnell akzeptiert: „Ich hatte einen engen Kontakt zu unseren Mitarbeitern und deren Familien“, sagt sie rückblickend. „Waren sie krank, kamen
sie zu mir. Wurde ein Baby geboren, musste ich dabei sein.“ Je länger sie auf
der Farm lebte, desto mehr begann sie sich für die Sitten und Gebräuche der Hai//íom zu interessieren. In den 60er Jahren, „als Otjiguinas durch schlechte
Regen kaum noch Weide hatte“, zog ihr Mann vorübergehend mit einem Teil des
Viehs auf eine andere Farm. Sie blieb mit den Kindern allein zurück: „Abends
hörte ich die Buschleute tanzen und singen. Im Dunkeln schlich ich mich in ihre
Nähe.“ Aber da dem geschulten Gehör und Auge eines Buschmannes so schnell
nichts entgeht, hörten Tanz und Gesang sofort auf, als die Farmersfrau sich
näherte. „Manchmal setzte ich mich auch einfach zu ihnen, in der Hoffnung,
dass sie weitermachen, es war aber immer vergebens.“ Einmal fragte sie den
Medizinmann, warum sie ihre Tänze unterbrechen, wenn sie dazu kam. Er antwortete ihr: „Du bist weiß, du verstehst mich und meine Dinge doch nicht.“
Erst als ihr im Haushalt ein junger Hai-//íom Namens //horugu !Kariseb
half, gelang es ihr, mehr über die Welt der Buschleute zu erfahren. //horugu
war auf Ojiguinas geboren, hatte einige Jahre in Tsumeb die Schule besucht.
„Er sprach perfekt Afrikaans und wir zwei verstanden uns gut“, erinnert sich
Ilse Schatz. Mit ihm eröffnete sie auf Otjiguinas eine kleine Buschmannschule, deren Lehrer //horugu wurde. „Ihn konnte ich endlich nach den Sitten und Gebräuchen der Buschleute fragen - er verriet mir auch immer, welche Zeremonien der Medizinmann gerade durchführte.“ Eines Tages erzählte
er ihr: „Heute abend heilen drei Medizinmänner Kranke.“ Wieder trieb Ilse
Schatz abends die Neugierde zu den Hai-//íom. Und nach 20 Jahren bot ihr
/Garugu erstmals kommentarlos einen Baumstumpf als Sitzgelegenheit an und fuhr mit seinen Zeremonien fort. „Von dem Tag an lud er mich immer zu
seinen Heilungszeremonien oder anderen Handlungen ein.“
Für Ilse Schatz eröffnete sich seither eine der überaus seltenen Möglichkeiten, weitergehende Einblicke in die Traditions- und Glaubenswelt der
Hai-//íom zu bekommen. Anfangs dachte sie, dass das, was sie in der Buschmann-Siedlung sah und hörte, die allgemeinen Sitten und Gebräuche der Hai//íom seien. „Schon bald aber kam ich dahinter, dass von allgemein gar keine
Rede sein konnte.“ Und sie erfuhr auch, woran das lag: „Die Buschleute waren
nie ein gemeinsames Volk mit einem Oberhaupt, sondern sie lebten in Sippen
mit Sippenältesten und diese bestimmten stets auch die Sitten und Gebräuche
ihrer Sippe.“ Die Hai-//íom, die auf ihrer Farm lebten, stammten von Namutoni, Otjikoto, Tsumeb, Guinas und Bobos. Als sie einmal einen Buschmann
von Otjikoto fragte, wie seine Sippe ihre Toten beerdigt, antwortete er: „Sitzend, verschnürt in einem runden Loch, aber so, dass er mit dem Gesicht zur
aufgehenden Sonne schaut!“ Dagegen sagte ihr ein Hai-//íom von Namutoni:
„Ein Toter wird sitzend verschnürt, meist in ein verlassenes Erdferkelloch
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Barbara Hoynacki
Deutschland
gesteckt, welches man gut mit Steinen verschließt. Aber sein Gesicht muss dabei
gen Westen schauen, denn so wie die Sonne im Westen schlafen geht, so soll der
Tote nun auch schlafen!“ Widersprüche dieser Art hörte sie viele Male und
erlebte so selbst, wie tückisch es sein kann, vorschnell zu verallgemeinern.
Hai-//íom bedeutet „Baumschläfer“. Denn die Buschleute, die in der Etoshapfanne lebten, schliefen in der Regenzeit wegen der Moskitos - und nicht
wegen des Raubwildes, wie so häufig behauptet - in den Bäumen. „In ihrem
Gebiet gibt es viele Pfannen, die sich in der Regenzeit mit Wasser füllen und
zu stehenden Gewässern werden - die idealen Brutplätze für Moskitos“,
erzählt Ilse Schatz. Doch die Buschleute wussten sich zu helfen. Ilse Schatz:
„Sie bauten sich in Astgabeln aus Zweigen eine Schlafstätte. Unter dem
Baum stellten sie einen Rauchfang auf, welchen sie aus Holz oder Bast herstellten. In diesem Rauchfang, der nur eine Öffnung nach oben hatte, damit
der Rauch nach oben abzog, machten sie Feuer aus Tambuttiholz, das auch
nass noch brennt, da es sehr teerhaltig ist. Außerdem riecht es stark und den
Geruch mögen die Moskitos nicht. So zog also der Rauch nach oben und vertrieb die Plagegeister.“
Die meisten Einzelheiten über die Hai-//íom erfuhr Ilse Schatz von /Garugu.
So manchen Abend lauschte sie am „heiligen Feuer“ seinen Berichten.
/Garugu, so erfuhr sie, war im Hererokrieg in Audib im Tsumeb Distrikt geboren worden. Sein Vater hieß Karisoab und seine Mutter //Kumos mit Nachnamen. „Bei den Frauen endet der Familienname immer mit einem s und bei
den Männern mit einem b“, erläutert sie. /Garugu war der Erstgeborene. Ein
Medizinmann könne das Kind seiner Schwester, egal ob Junge oder Mädchen,
als Nachfolger heranbilden. Dies täten sie aber nur im Notfall. Sie bevorzugten Kinder, die in jungen Jahren furchtbar krank waren, oder eine Person,
die vom Blitz getroffen wurde und überlebte. „Bei /Garugu waren alle Bedingungen, ein Medizinmann zu werden, vorhanden“, so Ilse Schatz. Der Bruder seiner Mutter sei ein großer Medizinmann gewesen und er selbst war als
Kind sehr krank. „Er hatte in den Knien furchtbare Schmerzen und wurde oft
ohnmächtig.“ Für seinen Onkel der ideale Nachfolger. Er ging mit ihm in den
Busch, zeigte ihm die Heilkräuter und unterrichtete ihn, wie man sie in
Krankheitsfällen anwendet.
„Bei den Hai-//íom gibt meist die Tante mütterlicherseits dem Neugeborenen einen Namen. Man nennt sie Megis“, erläutert Ilse Schatz. Diese Megis
spiele im Leben des Kindes eine fast größere Rolle als die eigene Mutter. So
ging /Garugu als Kind auch immer mit seiner Megis in den Busch um Beeren, Knollen und Honig zu sammeln. Sie zeigte ihm die essbaren Pflanzen und
lehrte ihn die Gefahren, die im Busch lauern, zu meiden.
Der Ahnenbaum und die Menschen, die anders aussehen
Ilse Schatz zeichnete die Entstehungsgeschichte der Hai-//íom auf, die ihr
/Garugu erzählte: „Anfangs gab es nur Männer auf der Welt, die alleine
durch die Gegend zogen, und es wäre langweilig auf Erden gewesen. Eines
278
Barbara Hoynacki
Deutschland
Tages ging ein junger Hai-//íom-Jäger in aller Frühe auf die Jagd, dabei sei er
auf einen großen Ahnenbaum gestoßen (die Buschleute erkoren oft einen der
jahrtausendealten Affenbrotbäume oder Baobabs zum Ahnenbaum ihrer
jeweiligen Sippe. Im Gebiet der Hai-//íom gibt es ebenfalls eines dieser
urzeitlichen Gewächse). Um den Ahnenbaum tanzten wunderschöne junge
Menschen. Diese hätten von hinten ausgesehen wie die Männer, von vorne sah
ihr Körper aber anders aus. Eine alte Ahnenfrau bewachte sie, und als die
Sonne aufging und etwas höher stieg, klatschte sie in die Hände, wonach diese
Menschen samt Ahnenfrau im Baum verschwanden. Daraufhin rannte der
Jäger nach Hause und erzählte den Männern, dass es Menschen gebe, die
vorne anders aussahen. Nun waren sie alle ganz aufgeregt und berieten, dass
jeder Mann ein schönes Schamfell und eine Puderdose aus Schildkrötengehäuse, welche sie mit Straußeneierplättchen verzieren wollten, herstellen
sollte. Als jeder dies hatte, legten sie sich lange vor Sonnenaufgang auf die
Lauer und erlebten tatsächlich den schönen Tanz, doch als die Sonne aufging
und höher stieg, schlug die Ahnenfrau in die Hände und alles war vorbei.
Dies wiederholte sich nun jeden Tag, aber sie gaben die Hoffnung nicht auf
und tatsächlich: Eines Morgens war die Ahnenfrau eingenickt und nun kam
ihre Chance. Sie machten sich bemerkbar, winkten die Frauen zu sich herüber und hielten ihnen schwingend das Schamfell und die Puderdose entgegen.
Zu jedem Mann kam eine Frau und gemeinsam machten sie sich auf leisen
Sohlen davon. Nun waren die Hai-//íom-Männer überglücklich, zogen aber
wie bisher umher ohne zu wissen, was man mit diesen Frauen alles unternehmen konnte. Eines Tages aber waren sie wieder auf Wanderschaft gen
Westen und begegneten dort Männern, die auch Frauen hatten wie sie. Doch
zu ihrem großen Erstaunen sahen sie beide Menschenarten in jeder Größe,
sogar ganz winzig kleine. Als die Hai-//íom sie fragten, woher sie denn diese
hätten, wurden sie ausgelacht und sie zeigten ihnen ihre Spiele. Freudig darüber zogen sie heim und seither haben die Hai-//íom auch Kinder.“
Jäger und Gejagte
Einer der Farmarbeiter nutzte jedes Jahr seinen Urlaub, um in der EtoshaPfanne ein Zebra zu erlegen. „Eines Tages kam er vom Urlaub nicht zurück.
Während ich im Magistratsgebäude die Autolizenzen bezahlen musste“,
erinnert sich Ilse Schatz, „wollte es der Zufall, dass ich sah, wie unser Hai//íom in Polizeibegleitung und Zebrakopf in der Hand in den Gerichtssaal marschierte.“ Für das Wildern in der Etosha-Pfanne habe er eine Haftstrafe kassiert. Hinterher erzählte er Ilse Schatz, dass er das schon lange jedes Jahr
mache, denn einmal im Jahr müsse er Zebrafleisch essen, sonst müsse er sterben. Bei den Hai-//íom gibt es viele Tabus, die von Sippe zu Sippe variieren.
Es gibt Essensregeln und Verhaltensregeln, die mal für Frauen, mal für Kinder, mal nur für den Medizinmann, für eine bestimmte Familie oder gleich für
die ganze Sippe gelten. Wie sie entstanden sind, welchen Sinn sie haben, ist
heute oft nicht mehr nachzuvollziehen. Dennoch wird nach wie vor von vie279
Barbara Hoynacki
Deutschland
len Buschleuten an den Relikten des alten Glaubens festgehalten.
1907 hatten die Deutschen das Etosha-Wildreservat eingerichtet. Der 1898
mit Aribib geschlossene Vertrag wurde ignoriert, die Buschleute im Park
zusammengetrieben und als Arbeiter auf die Farmen gebracht. Bis heute
sind viele Farmer auf die Buschleute als Arbeitskräfte angewiesen. 1975
waren fast 88 % aller San in Namibia in von Weißen geführten Landwirtschaftsbetrieben beschäftigt.
Noch waren ihnen der Zutritt in den Park und die Jagd erlaubt. Nach dem
Zweiten Weltkrieg wurde das Department of Nature Conservation eingerichtet. Buschleute durften sich wieder im Park ansiedeln. Sie sammelten Feuerholz, halfen beim Camp-Aufbau, hielten die Wasserlöcher offen und nahmen im Park Gelegenheitsjobs an. Viele züchteten Vieh. Ausgerechnet eine
1949 von der südafrikanischen Protektoratsregierung gegründete Kommission
zum „Schutz der Buschleute“ forderte dann die Vertreibung der etwa 500 Hai//íom, die noch im Etosha-Park lebten. Sie war beauftragt worden festzustellen, ob und welche Reservate für die Buschleute eingerichtet werden sollten.
Im Falle der Hai-//íom kam die Kommission zu einem negativen Ergebnis. Sie
urteilte: Die Hai-//íom seien als Farmarbeiter geeignet, weil sie westliche Kleidung trugen und sich an westliche Lebensmittel wie Tee, Kaffee und Zucker
gewöhnt hätten. Also wurden die 500 Buschleute vor die Wahl gestellt: Sie
sollten entweder ins Ovamboland gehen oder auf den Farmen der Weißen
arbeiten. Am 1. Mai 1954 wurden sie per Regierungsbeschluss zwangsumgesiedelt.
Hilfe zur Selbsthilfe
Anfang 1996 wurde die Working Group of Indigenous Minorities in Southern Africa (WIMSA) gegründet. Anlass war die regionale San-Konferenz
1992 in Windhoek, bei der die Buschleute des südlichen Afrika erstmals die
Möglichkeit hatten, sich untereinander auszutauschen und in einen direkten
Dialog mit Regierungsvertretern und Vertretern von nichtstaatlichen Organisationen und Geldgebern zu treten. WIMSA setzt sich für die Rechte der
Buschleute auf lokaler, regionaler und nationaler Ebene ein. Die Working
Group informiert über Rechte, unterstützt Schul- und Bildungsbemühungen
und berät wirtschaftliche Unternehmungen. Ins Leben gerufen wurde WIMSA
in Botswana. Koordinator des dortigen Büros ist der San-Geologiestudent
Mathambo Ngakaeaja. Regionale Büros gibt es außerdem noch in Südafrika
und Namibia. Im Vorstand der Working Group sitzen ausschließlich Buschleute: jeweils drei aus jedem Land. Das unterscheidet diese Hilfsorganisation
eklatant von anderen, wie etwa der Nyae Nyae Development Foundation of
Namibia (ehemals: Bushman Development Foundation, in den 50er Jahren
von dem amerikanischen Dokumentarfilmer John Marshall gegründet). In den
meisten anderen Organisationen sitzen ausschließlich Ausländer in den Chefetagen. Buschleute werden höchstens als Mitarbeiter akzeptiert. Selbst wohlgesonnene Helfer tun sich bis heute offensichtlich schwer damit, die Busch280
Barbara Hoynacki
Deutschland
leute selbst ihre Situation einschätzen und ihre Zukunft bestimmen zu lassen.
Wie gesagt, WIMSA ist eine der seltenen Ausnahmen. Finanziert wird die
Arbeit der Gruppe teils von der EZE (Evangelische Zentralstelle für Entwicklung in Bonn) und teils von der norwegischen Regierung.
Ich treffe mich mit Axel Thoma, dem Leiter des namibischen Büros in
Windhoek, um von ihm mehr über die aktuelle Lage der Buschleute in Namibia zu erfahren. „Wir schätzen, dass mehr als 60 % der San hier Analphabeten sind. Auf weiterführenden Schulen sind so gut wie gar keine zu finden“,
berichtet Axel Thoma. Die Wehrlosigkeit der Buschleute rühre daher, dass sie
nicht um ihre Rechte wüssten und keine traditionelle politische Organisation
kennen, durch die sie Einfluss nehmen könnten. Nicht ein einziger San sei in
der namibischen Regierung vertreten. Auch dort würden ihre Interessen von
anderen Volksgruppen mehr schlecht als recht wahrgenommen.
Die Regierung Namibias verfolgt eine Politik nach dem Motto: „One
Namibia - one Nation“. Stammesgegensätze sollen möglichst aufgehoben
werden, damit keine Aggressionen wie etwa in Ruanda entstehen. Diese zu
stark forcierte Politik in Richtung einer „one nation“ aber erwartet von kleinen ethnischen Gruppen so große Anpassungsprozesse, dass sie ihre Identität
verlieren. Die SWAPO wird zum größten Teil von den Ovambo und Kavango
gewählt. Folglich vertritt sie in erster Linie die Mehrheitsbringer. Die Interessen der Minderheiten werden erst nachgeordnet beachtet.
Axel Thoma: „Aufgrund des Kulturwandelprozesses können die San ihre
Fähigkeiten und ihr Wissen in der heutigen Zeit kaum anwenden. Sie geraten
in wirtschaftliche Abhängigkeit von anderen.“ Ein Grund mehr für WIMSA,
die traditionellen Führer der Buschleute mit ihren Rechten und Pflichten
vertraut zu machen. Die SWAPO fördert das Häuptlingssystem als Bindeglied
zwischen Regierung und den einzelnen Gemeinschaften. Die Häuptlinge
werden als Vertreter ihrer Stämme anerkannt. In der Tradition der Ovambo
entscheidet allein der Häuptling über die Zuteilung des dem Stamm gehörenden Landes. Oder anders ausgedrückt: Wer keinen Häuptling vorweisen
kann, hat bei der Regierung schlechte Aussichten, Landansprüche überhaupt
geltend machen zu können.
Die Sanvölker bestanden traditionell aus Jagdscharen unter Vorleuten.
Diese Gruppen aber haben keine genau festgelegten Führungsorgane und
geben der egalitären Gemeinschaft den Vorzug. Mit dem Führungsamt in einer
Jagdschar waren keine besonderen Vorrechte verbunden. Ja, die Menschen
zögerten überhaupt, in der sozialen Rangordnung aufzusteigen, weil sie den
Neid der übrigen fürchteten. Der Führer hatte gegenüber seinen Anhängern
keine festgelegte Rechtsmacht und konnte ihnen seine Autorität deshalb
nicht aufzwingen. Alle Probleme wurden und werden noch heute von der
gesamten Gruppe besprochen. Frauen gelten als gleichberechtigt. Im Alleingang getroffene Entscheidungen bei der Lösung eines Problems werden
zugunsten der allgemeinen Übereinkunft vermieden. Keine der Sangruppen
hat außerdem irgendeine Form zentralisierter Macht über die einzelnen Jagdscharen hinaus entwickelt, um der Gruppensolidarität in größerem Umfang
Ausdruck zu geben. Damit wären wir bei einem der Hauptprobleme, das bis281
Barbara Hoynacki
Deutschland
her verhinderte, dass die Buschleute ihre berechtigten Ansprüche geltend
machen konnten. Genau an diesem Punkt aber setzt WIMSA an. Die Working
Group reichte gleich sechs Anträge bei der Regierung ein, in denen sie fordert,
dass die Vorleute der in Namibia lebenden San als Häuptlinge anerkannt
werden. Für die !Kung im Nyae Nyae Gebiet wäre es Tsamkxoa, für die des
West-Buschmannlandes John Arnold und für die Hai-//íom Willem Aib. Die
Anerkennung dieser Häuptlingsschaften würde bedeuten, dass die San „die
Entwicklung in ihrem Bereich selbst managen und davon direkt profitieren
könnten“, erläutert Axel Thoma.
Und das ist dringend notwendig. Denn immer wieder registrierte WIMSA
Bestrebungen anderer Volksgruppen, wie etwa der Herero, sich selbst in
dem offiziell anerkannten „Buschmannland“ im Nordosten Namibias niederzulassen. Denn in der Tradition der Herero, aber auch der Ovambo und
Kavango, „gehört“ ein Stück Land nur dann einem bestimmten Stamm, wenn
dieser es auch bewirtschaftet. Bleibt es dagegen länger als ein Jahr unbearbeitet liegen, wird es enteignet und an jemand anderen vergeben. In der Vorstellung dieser Volksgruppen bezieht sich „bewirtschaften“ ausschließlich auf
Ackerbau und Viehzucht, nicht aber auf Jagen und Feldkost sammeln.
Gespanntes Verhältnis
Das Verhältnis von Regierung und Buschleuten ist auch heute noch
gespannt, wie ein von sämtlichen Medien des Landes heftig diskutierter Vorfall im Oktober 1998 zeigt: Zwanzig Familien der KxoÈ-San vom WestCaprivi im Raum Omega 3 und Chetto sind in der Nacht vom 21. auf den 22.
Oktober von Soldaten der namibischen Armee (NDF) aus ihren Wohnsitzen
vertrieben worden. Was war geschehen? Die Klage gegen die NDF lautet, dass
die Soldaten KxoÈ-Camps betreten und die Buschleute unter der Androhung zu schießen aufgefordert hätten, die Camps zu verlassen. Die betroffenen KxoÈ haben nach Angaben des KxoÈ-Chefs Kipi George „aus Angst alles
stehen- und liegenlassen“ und seien zum Teil bis nach Botswana geflohen. Ein
Vorfall, der auch von Mishake Muyongo, Chef der namibischen Oppositionspartei United Democratic Party (UDP), bestätigt wird. Mindestens eine
Woche lang seien Panzerwagen und Hubschrauber im Caprivi-Zipfel unterwegs gewesen um die Buschleute zu verhören, ob sie sich an einer „geheimen
militärischen Ausbildung“ für eine „Geheimarmee Muyongos“ beteiligten.
Muyongo wies eine solche Unterstellung als „weithergeholt“ zurück. Die
regierende Partei und ihre Streitkräfte suchten nur einen Vorwand, die Leute
einzuschüchtern. Denn im Caprivi treffe die Partei auf viele Menschen, die
ihre politische Linie nicht unterstützten. Ein Großteil der KxoÈ-San verfüge
trotz mehrfacher Bitten immer noch über keine namibischen Identitätskarten
oder sonstige Ausweise. Wenn die meist oshivambosprechenden NDF-Soldaten KxoÈ-Siedlungen aufsuchen, gebe es nicht nur Verständigungsschwierigkeiten, sondern die meisten Einheimischen könnten nicht einmal den
Nachweis erbringen, dass sie überhaupt Namibier seien. NDF-Sprecher Vin282
Barbara Hoynacki
Deutschland
cent Mwange dagegen bestreitet eine Verjagung der KxoÈ. Es habe lediglich
Befragungen gegeben, die im Zusammenhang mit einer Razzia im Caprivi
stünden. Dort suchten Polizei und Militär nach illegalen Einwanderern und
Grenzgängern aus Angola.
Das Misstrauen der regierenden Partei gegen die Buschleute sitzt tief.
Denn die meisten San standen bis 1990 auf der Seite der südafrikanischen
Armee (SADF). Das Caprivi-Gebiet spielt dabei eine Schlüsselrolle. 1961
erhoben sich die schwarzen Angolaner gegen die portugiesische Kolonialherrschaft. Buschleute wurden vom portugiesischen Geheimdienst als Kriegsspione angeworben und ausgebildet. Als 1975 in Angola die erste Regierung
mit schwarzer Mehrheit eingesetzt wurde, gab es Racheakte an den Buschleuten. Viele flohen nach Namibia. In dem Militärlager Omega im WestCaprivi wurden sie von der südafrikanischen Armee aufgenommen. Als landeskundige Fährtenleser wurden sie bei der Operation Savannah eingesetzt Südafrikas verdecktem Versuch, die neue Regierung Angolas zu stürzen.
Die SADF gestand lange Zeit später, den San mit der Deportation nach
Angola gedroht zu haben, falls sie sich weigerten, an der Aktion teilzunehmen.
Nach 1980 dienten Buschleute in ähnlicher Funktion bei der Verfolgung der
von Angola aus operierenden namibischen Befreiungsarmee SWAPO.
„Ombili“ heißt Frieden
Am 19. März 1990 wurde Namibia unabhängig. Die meist in den SpurenBatallionen dienenden Buschleute konnten wählen, ob sie in Namibia bleiben
oder nach Südafrika gehen wollten. Etwa 4.000 entschlossen sich zur Umsiedlung. Die anderen blieben sich selbst überlassen. Klaus-Jochen Mais-Rische,
der ein solches Batallion geleitet hatte, und seine Freunde Reinhard Friederich und Okker Brits fühlten sich für diese Menschen verantwortlich. Im März
1989 - nach dem Ende des Befreiungskrieges - gründeten sie die Ombili-Stiftung, gaben zunächst 220 land- und besitzlosen Hei-//íom und !Kung auf der
Mais-Rische-Farm Hedwigslust (bei Tsumeb) ein neues Zuhause. Heute
leben dort rund 350 Buschleute.
Seit dem Tod Klaus-Jochen Mais-Risches 1994 wird das Projekt von seiner
Frau Beate geleitet. Ich nehme telefonisch Kontakt zu ihr auf, weil ich mir vor
Ort ein Bild von der Stiftung verschaffen möchte. „Nein, nein“, wehrt sie
zunächst ab. Sie habe keine Zeit. Und überhaupt, über ihr Projekt sei doch
schon alles gesagt und geschrieben worden. Doch so leicht wird sie mich nicht
los. Ich rede und rede - bis sie doch einwilligt. Wir vereinbaren ein Treffen für
den 30. September. Nach kilometerlanger Schotterpiste tauchen weißgetünchte Häuser mit Wellblechdächern hinter den Bäumen auf. Auf einem steht
in rostroter Schrift: „Du lernst für das Leben.“ Ich bin da. Beate Mais-Rische
aber noch nicht. Ein Blick auf die Uhr stellt klar, ich bin zu früh. Kurz vor 11
Uhr ziehen Staubwolken über die Piste, sie kommt. Sie steigt aus dem Wagen,
einen Picknick-Korb unter dem Arm, und rennt an mir vorbei. „Ich habe nicht
viel Zeit“, wirft sie mir zu. Am Wochenende sei „Tag der offenen Tür“.
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Barbara Hoynacki
Deutschland
„Höchstens eine Stunde“, brummt sie noch, dann verschwindet sie in einem
der Gebäude. Mit großen Kaffeetassen in der Hand kommt sie wieder heraus,
reicht mir eine.
Dann beginnt sie zu erzählen. „Unser Ziel ist es, wenigstens einer kleinen
Gruppe von Buschleuten zu ihrem Überlebensrecht zu verhelfen.“ Weil sie,
wie eine UNO-Studie aus dem Jahre 1996 belege, in Namibia an letzter Entwicklungsstufe stünden. „Die Rückkehr der Buschleute zu ihrer traditionellen Lebensweise, dem Jagen und Sammeln von Veldfrüchten, ist nicht mehr
möglich, da praktisch ganz Namibia entweder in Farmen oder Naturschutzgebiete eingeteilt ist“, meint Beate Mais-Rische. Ombili wolle die San befähigen sich selbst zu ernähren und ihr Leben von der Abhängigkeit Dritter zu
lösen. Und das ist nicht einfach, sagt die Chefin von Ombili und erklärt
auch gleich warum: „Das Leben und Handeln der Buschleute war stets auf die
Gegenwart und den augenblicklichen Erfolg ausgerichtet.“ Wurde ein Stück
Wild erlegt, so schlug man sich damit restlos den Magen voll. Konnten
Früchte geerntet werden, genoss man sie unmittelbar. Gegrabenes Wasser
musste sofort getrunken werden und konnte nur zum Teil in Straußeneiern aufbewahrt werden. Beate Mais-Rische: „Ihr Lebensmotto war ,Der Tag kommt
- der Tag gibt’.“ Der Ombili-Stiftung sei klar, dass es unmöglich ist, diese
Leute, die stets im Gruppendenken und gemeinsamen Tun verwurzelt waren,
über Nacht an ein anderes Leben zu gewöhnen.
Drei Dorfgemeinschaften leben auf der Farm. Auch das ist eine Neuerung
für die San, die traditionell in Sippen von 20 bis 30 Menschen durch den
Busch zogen. Die Auflösung des Familienverbandes, der durch den Sippenältesten zusammengehalten wurde, sorgt immer wieder für Zündstoff. „Der
sich aber einigermaßen in Grenzen hält, seitdem sich die Verbände räumlich
voneinander getrennt haben“, sagt Beate Mais-Rische.
Zwischen 1990 und 1997 wurde ein Gemeinschaftszentrum erbaut, eine
Schule, eine kleine Werkstatt und Wohnungen für Lehrer und Mitarbeiter. Die
Buschleute haben sich auf dem rund 30 ha großen Gelände Grashütten
gebaut, das der Farmbesitzer der Stiftung schenkte. Insgesamt stehen den San
rund 10.000 ha zur Verfügung zum Sammeln von Naturmaterialien und von
Veldfrüchten wie Beeren, Termitenpilzen, wildem Spinat, Knollen und Wurzeln. Weil nur noch wenig Wild vorhanden ist und um Streit mit Farmnachbarn zu vermeiden, ist die Jagd verboten. „Wer essen will, muss dafür arbeiten“, lautet eine der Ombili-Regeln. Fünf Stunden täglich arbeiten die
erwachsenen San unter Anleitung in der Landwirtschaft, bauen Bohnen und
Mahango (Hirse) an. Sie helfen bei der Versorgung der 100 stiftungseigenen
Rinder und versorgen die mittlerweile rund 10 Strauße. Die San sollen sich so
an einen geregelten Tagesablauf gewöhnen und lernen für ihren Lebensunterhalt selbst zu sorgen. „Sie müssen säen, ernten und vorsorgen - nicht wie
vorher nur ernten“, so Beate Mais-Rische.
Für die Kinder besteht Schulpflicht. Bis zur siebten Klasse wird in der stiftungseigenen Schule unterrichtet. Fünf Lehrer bemühen sich den Kindern
Wissen zu vermitteln. Die Gehälter für drei Pädagogen werden durch das
namibische Unterrichtsministerium gestellt. Zwei Vorschul-Pädagogen trägt
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Barbara Hoynacki
Deutschland
die Stiftung selbst. Die Vorschule hat sich deshalb als wichtig erwiesen, weil
Schulkinder in Namibia zumindest in den ersten Jahren Anspruch auf Unterricht in ihrer Muttersprache haben. Doch da es kaum Lehrer gibt, die eine der
Buschmannsprachen beherrschen, lernen die Schüler in Englisch und Afrikaans lesen, schreiben und rechnen. „Um das Schulpensum dennoch zu
schaffen, bekommen sie in der Vorschule vermehrte Hilfe“, erläutert Beate
Mais-Rische. Ein weiterer erschwerender Faktor: Von den Eltern der San-Kinder sind mehr als 60 % Analphabeten. Zwar bietet Ombili den Erwachsenen
Abendkurse in Englisch und Afrikaans an, doch die sind nur schlecht besucht.
Probleme gibt es, weil Jungen und Mädchen zu früh miteinander schlafen,
Verhütungsmethoden nur schwer akzeptieren. Alkohol ist streng verboten. Traditionelles Handwerk wird gefördert. Die Stiftung kauft kunstgewerbliche
Gegenstände der Buschleute, wie Ketten aus Straußeneiern, Pfeile und Bögen,
auf, um sie in dem Shop auf der Farm oder in Geschäften in Deutschland
weiterzuverkaufen. Den Gewinn erhalten die Buschleute. Die finanzielle
Unterstützung des Projekts erfolgt zu 95 % aus Deutschland, etwa durch die
Deutsch-Namibische Entwicklungsgesellschaft in Bonn (DNEG) oder den
Lions-Club in Mosbach/Neckar.
Die Mitbestimmung der Buschleute ist der Stiftung wichtig. „Ein von
allen San gewähltes Buschmannkomitee (derzeit vier Männer und eine Frau)
soll neben der ehrenamtlichen Direktion künftig die Geschicke der Stiftung
lenken“, erläutert Beate Mais-Rische. Noch kann Ombili ohne Fördergelder
nicht existieren. Doch langfristig soll das Projekt einmal selbständig von
Buschleuten geleitet werden und auch finanziell auf eigenen Füßen stehen.
Schulreform
Zwar bemüht sich die SWAPO seit Regierungsantritt um eine Versöhnungspolitik und so bleiben die San weitgehend von Repressalien verschont.
Längerfristig geplante Regierungsinitiativen, die den San aus ihrer gesellschaftlichen Randstellung heraushelfen könnten, gab es bisher allerdings
nicht. Lediglich vereinzelte, halbherzig durchgeführte Projekte, die schnell im
Sand verliefen. Kurz nach der Unabhängigkeit etwa hatte das Ministry of
Land Resettlement and Rehabilitation den ärmsten Buschleute-Gruppen in
Drimiopsis, Skoonheid, Aminus Corridor, Post 17 und Tsintsabis Farmen
zugewiesen. Obwohl die Buschleute selbst nur wenig Vieh besaßen, waren die
Farmen nach wenigen Jahren überweidet, weil andere ihre Herden auf das
Land getrieben hatten. Und in der „Tsumkwe Secondary School“, die vor Jahren speziell für die San gebaut wurde, sind heute mehr und mehr Kinder aus
anderen Bevölkerungsgruppen zu finden. Diese kommen sogar aus weitentfernten Orten wie Grootfontein und verdrängen die ansässigen Kinder aus der
Schule. Das soll sich ändern: Das Ministerium für Grundbildung und Kultur
(MGK) möchte bei der Schulausbildung der San-Kinder einen neuen Weg einschlagen. Denn keine andere Bevölkerungsgruppe Namibias weist prozentual
mehr Analphabeten und Schulfrühabgänger auf als die Buschleute. San-Kin285
Barbara Hoynacki
Deutschland
der und Lehrer aus dem ganzen Land wurden im August 1998 zu einer Konferenz nach Windhoek eingeladen, um ihre Vorstellungen eines adäquaten
Schulunterrichts zu erläutern. Ihre Anregungen sollen helfen den Schulunterricht künftig attraktiver zu gestalten. Johannes Tjitjo vom MGK: „Es
kann nicht sein, dass in Namibia sieben Jahre nach der Unabhängigkeit die
Mehrheit der San-Kinder immer noch keine Schule besucht oder nach wenigen Monaten die Schullaufbahn wieder abbricht.“ Trotz aller guten Vorsätze
bleibt Tjitjo skeptisch bezüglich der Frage, ob diese Probleme tatsächlich
gelöst werden könnten. Jeder Lösungsansatz müsse auf der einen Seite einen
für die San-Kinder interessanten Lehrplan beinhalten. Auf der anderen Seite
müssten in der Schule aber auch Themen behandelt werden, die in Zukunft bei
potentiellen Arbeitgebern gefragt seien. Hier müssten Kompromisse gefunden werden. Premierminister Hage Geingob beurteilt die Situation ähnlich:
„Wir leben in einem dynamischen Zeitalter, in dem Wissen ein Gut ist, welches wichtiger ist als irgendein anderes. Um in der heutigen Welt zu leben und
nach vorne zu streben brauchen wir Fertigkeiten, die nicht zu vermitteln
sind, wenn sie auf traditionellen Grundlagen basieren.“ Die Regierung sei nun
verpflichtet, sich dem Schicksal der San zu stellen und ihre Stellung in der
Gemeinschaft Namibias durch eine neue Bildungspolitik zu erhöhen.
Buschmannland
Die im Sinne der Apartheidpolitik Südafrikas tätige Odendaal Kommission
empfahl 1963, mehrere Reservate der Herero zu einem Homeland zusammenzufassen und bis zur Grenze von Botswana zu erweitern. Gleichzeitig
erweiterte die Regierung auch die Grenzen des Kavangolandes nach Süden.
Das Land dazwischen wurde „Buschmannland“. Diese Maßnahmen bedeuteten den größten zusammenhängenden Landverlust für die San in der
Geschichte Namibias. 1959 nahm der erste Kommissar für BuschmannAngelegenheiten seine Arbeit in der Bezirkshauptstadt Tsumkwe auf. Ziel seiner Politik: die Buschleute sesshaft zu machen und zu Ackerbauern und
Viehzüchtern umzuerziehen. In Tsumkwe wurden für die San Häuser gebaut,
Äcker angelegt und Lebensmittelverteilungen für Alte und Kranke eingerichtet. 1978 wurde nach dem Vorbild von Omega eine zweite SADF-Basis in
Tsumkwe aufgebaut. Die Bevölkerung stieg drastisch an. Ehemals lebten dort
25 Menschen. Heute sind es gut 300. Soziale Spannungen führten zu einer
Zunahme tätlicher Auseinandersetzungen. Prügeleien, Messerstechereien meist unter Alkoholeinfluss - sind nicht selten. Die um Tsumkwe und in der
Nyae Nyae Region des Buschmannlandes lebenden Ju/íhoan sind die einzigen Buschleute in Namibia, die zumindest teilweise noch traditionell leben
und jagen.
Ich beschließe mir diese Gegend näher anzusehen. An Grootfontein vorbei
geht es auf der B 8 Richtung Rundu. Nach knapp 30 Kilometern entdecke ich
auf der rechten Straßenseite das Hinweisschild „Tsumkwe“. Zwei Ersatzreifen habe ich verstaut. Der Tank ist bis obenhin voll. Zehn Liter Trinkwasser
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Barbara Hoynacki
Deutschland
blubbern hinter dem Fahrersitz. Ich atme tief durch, dann biege ich in die
Schotterpiste ein. Eine von zwei oder drei „Straßen“ im Buschmannland. Die
C 44 führt in gerader Linie bis zur 200 Kilometer entfernten Regionalhauptstadt. Benzin, so hat man mich gewarnt, ist im ganzen Buschmannland
Mangelware und wohl auch in Tsumkwe nicht aufzutreiben. Die Telefonmasten enden mit dem letzten Farmzaun. Von nun an ist links und rechts der
Piste nichts als Strauchwerk zu entdecken. Vier Stunden Fahrt ohne ein einziges entgegenkommendes Fahrzeug. Gelegentlich mache ich vereinzelte
Strohdächer hinter dornigen Akazien und dürren Gräsern aus. Pappschilder
weisen sie malerisch als Ortschaften mit wohlklingenden Namen wie Mangetti Dune oder Karakuwisa aus. Trampelpfade von irgendwo nach nirgendwo kreuzen den Schotterweg. 6.500 San sollen im Buschmannland
leben. Ich bekomme jedenfalls keinen davon zu Gesicht. Endlich - ein Hinweisschild taucht vor mir auf: Willkommen in Tjum!kui (Tsumkwe). Ein
ländlicher Slum, der an der Kreuzung zweier Straßen aus dem Busch gekrochen ist: Kirche, Schule, Polizeiwache, Krankenstation, Verwaltungsgebäude und eine rostige Zapfsäule - an der es tatsächlich kein Benzin gibt. Und
knapp 40 shebeens, illegale Kneipen. Man kann sich darunter Bretterbuden
vorstellen, an denen fast rund um die Uhr gezecht wird. Betrieben werden sie
von Kavango und Damara, die den Buschleuten den letzten Cent aus der
Tasche ziehen. Gut 100 Menschen dieser Bevölkerungsgruppen hat es in das
Grenzland zu Botswana verschlagen. Zwar ist es ihnen verboten, sich im
Buschmannland niederzulassen. Doch das gilt nicht für die Bezirkshauptstadt. Hier darf leben, wer will. Allzu offensichtlich wird ihr Treiben von der
örtlichen Polizei toleriert.
Ich frage mich zur Tsumkwe Lodge durch. Betrieben wird sie von dem
Namibier Arno Oosthuysen (38), einem ehemaligen SADF-Angehörigen,
der blieb, als die Armee abzog. Jetzt zeigt er Touristen, die sich bis an die
Grenze Botswanas verirren, die Schönheit des ursprünglichen Landes. Seit
zwei Jahren bringt er sie auch in die Dörfer der Ju/íhoan. Sein alter Militärkollege John habe ihn darum gebeten, erzählt Arno Oosthuysen. John ist selbst
Ju/íhoan. Zwölf Jahre war er als Fährtenleser bei der SADF. Jetzt ist er
arbeitslos und auf der Suche nach einer Einkommensquelle.
Wir machen uns auf den Weg nach Djokwe, einem kleinem Dorf rund eine
Stunde von Tsumkwe entfernt. 30 Menschen leben dort. Ein kleiner Sippenverband aus neun Familien. Auch die 2.500 Ju/íhoan sind längst sesshaft
geworden. Manche, wie die Menschen in Djokwe, leben heute vom Ackerbau
und der Viehzucht. Auf die Jagd gehen sie nur noch sehr selten. Einen kleinen Nebenerwerb verschaffen sie sich durch den Verkauf von Kunsthandwerk.
Die Männer fertigen Bögen aus den Zweigen des Rosinenbusches an, die
Frauen Ketten aus Mangettinüssen und Glasperlen oder aus Tambuttiholz. Als
sie uns entdecken, kommen sie mit der bereits fertigen Ware auf uns zugelaufen. „Thirty Dollar, twenty Dollar“, rufen sie und zeigen mir eine Auswahl
ihrer Schmuckstücke. Bokxao, der Älteste des Dorfes, hat andere Sorgen. Er
zieht uns zur mechanischen Wasserpumpe, die die kleine Siedlung mit Trinkwasser versorgt. „Die Elefanten haben sie auf der Suche nach Wasser verbo287
Barbara Hoynacki
Deutschland
gen“, klagt der alte Mann. Es ist Trockenzeit. Die anhaltende Dürre hat die
letzten natürlichen Quellen versiegen lassen. Der Geruch des lebensnotwendigen Nasses lockt die Wildtiere in die Dörfer der Buschleute. „Nachts trampeln sie an unseren Hütten vorbei“, schimpfen die Bewohner von Djokwe. Die
Elefanten seien überhaupt zu einer Plage geworden. Über 500 streiften derzeit durch den Kaudom-Wildpark und das Buschmannland. Arno Oosthuysen
repariert die Pumpe notdürftig, damit Mensch und Tier an diesem Tag nicht
ohne Wasser bleiben. Wir fahren weiter. An Baobabs und versiegenden Tümpeln vorbei. An einer Wasserstelle zähle ich 130 Elefanten. In gebührendem
Abstand warten drei Fleckenhyänen und zwei Schakale.
Zwei Stunden später kommen wir in De/íua an. In den sechs kuppelförmigen Grashütten dagegen leben sechs Familien, die noch traditionell jagen und
Veldkost sammeln, darunter auch Johns Familie. Arno Oosthuysens Freund
begrüßt uns. Ob wir Lust hätten, an einem Jagdausflug teilzunehmen, fragt er.
Vier Jäger würden sich heute auf die Suche nach Springhasen machen. Und ob
Lust wir haben! Gemeinsam mit Nqeisji (60), Kxao (55), K˙i (50) und Nqeni
(38) ziehen wir los. Jeder der Männer führt einen vier Meter langen Stock mit
sich, der am Ende mit einem Widerhaken versehen ist. Busch, Busch, nichts als
Busch. Dürres Strauchwerk, meterhohe Termitenhügel, trockenes Gras. Nur
sengende Hitze. Keine Feldflasche mit Wasser. Kein Proviantkorb. Kein Schatten. Kein Lebenszeichen. Nur Fliegen, Fliegen, Fliegen. Nach einstündigem
Fußmarsch rasten wir. Nqeni verschwindet hinter dem nächsten Strauch und
kehrt mit den Blättern einer akazienartigen Pflanze zurück. K˙i zieht sie mit
einem angespitzten Stock faserig. Die einzelnen Fasern, die sich lösen, gibt er
an Kxao weiter. Der rollt sie über seine Oberschenkel, bis sie die Dicke und
Länge einer Schnur annehmen. Nqeisji, der beste Jäger der Schar, fertigt mit
der Schnur eine Schlingfalle für Perlhühner an. Für die vier Männer ist der
Busch wie ein Selbstbedienungsladen. Während mir lediglich die Dornen
auffallen, die sich widerspenstig in meiner Hose verfangen haben, entdecke
die Ju/íhoan auf Schritt und Tritt Brauchbares. Kxao sammelt an einem Baum
Harz ein, das er sich gleich genüßlich in den Mund schiebt. Er reicht mir einen
Klumpen. Neugierig mache ich es ihm nach und stelle erstaunt fest - das
schmeckt fast wie Kaugummi und ist außerdem schön saftig. An einem drei
Zentimeter dürren Stiel erkennt Nqeisji, dass sich in der Erde eine Tsamas, eine
Melonenart, versteckt hat. Wir graben sie gemeinsam aus und teilen uns die
Frucht. Die Ju/íoan kennen mehr als 80 essbare Pflanzenarten, Früchte, Beeren, Nüsse, Zwiebeln und Knollen. Die wichtigste auf ihrer Speisekarte ist die
Mangettinuss, aus der sie einen sehr nährstoffreichen Brei anfertigen. Viele
dieser Pflanzen sind sehr wasserhaltig und helfen den Buschleuten während
ihrer Jagdstreifzüge, den Feuchtigkeitsverlust auszugleichen. Deshalb also
keine Feldflaschen, denke ich. Kxao erzählt, dass er als junger Mann einmal
auf der Farm eines Deutschstämmigen gearbeitet habe. Damals habe er auch
ein paar Worte Deutsch sprechen können. Doch heute „haben seine Ohren die
Worte wieder verloren“. Die Buschleute drücken viele Dinge sehr bildlich aus,
stelle ich fest. Als K˙i etwa von einem Traum erzählt, den er in der letzten
Nacht geträumt hatte, sagt er „die Nacht hat mir erzählt“.
288
Barbara Hoynacki
Deutschland
Nqeisji ist plötzlich ganz aufgeregt, er hat eine der Höhlen entdeckt, in
denen die Springhasen hausen. Alle vier verteilen sich. Schieben ihre Hakensonden in die unterirdischen Gänge und versuchen, das Tier mit dem Widerhaken festzuhalten. Nqeisji hat es geschafft. An der Stelle, an der sich der
Springhase wohl befindet, beginnen die anderen wie wild mit bloßen Händen
zu graben. Doch plötzlich schnaubt Nqeisji ärgerlich, das Tier konnte sich losreißen. Wieder und wieder versuchen sie es. Doch alle Mühe ist vergeblich.
Widerwillig beschließen sie, in ihr Dorf zurückzukehren. „Unsere Frauen werden uns auslachen“, erklärt Nqeni mir ihre bedrückten Gesichter. Ich verkneife
mir ein Schmunzeln. Die Wurzeln, Knollen, Beeren und Zwiebeln, die die
Frauen bei ihren fast täglichen Streifzügen auflesen, decken 60 bis 80 % des
Nahrungsmittelbedarfs.
Nqeni übersetzt meine Fragen. Der 38jährige spricht ausgezeichnet Englisch. Er arbeitete sieben Jahre lang als Polizist. Nach der Unabhängigkeit verlor er seine Stelle. Nun lebt er wieder bei seiner Familie. Ich will wissen,
warum es im Buschmannland, abgesehen von den Elefanten, so wenig Wild
gibt. Nqeni erklärt, dass die einzelnen Juíhoan Gruppen das meiste Wild innerhalb kurzer Zeit erlegt hätten. Sie seien nicht, wie erlaubt, auf traditionelle
Weise nur mit Pfeil und Bogen jagen gegangen, sondern mit Pferden und
Hunden. Wer dabei erwischt werde, kassiere zwar auch im Buschmannland
empfindliche Gefängnisstrafen, doch da es nur sechs Polizisten gebe …
K˙i schlägt vor, noch einen kleinen Umweg in Kauf zu nehmen. Dann könnten sie sich gleich wieder mit ihrem Pfeilgift eindecken. Nur sechs Stellen im
Buschmannland gibt es, an dem der Diamphidia-Käfer seine Larven ablegt,
aus denen die Ju/íoan das Nervengift gewinnen. 30 bis 40 Zentimeter tief
haben sich die Larven in den Erdboden eingegraben. Aber vor den kundigen
Augen der Buschleute gibt es kein Entrinnen. Eine nach der anderen wird ausgebuddelt und zwischen den Fingern vorsichtig zerdrückt. Mit der klebrigen
Masse bestreichen die Ju/íoan ihre Pfeilschäfte. Drei bis vier Monate behält
das Gift seine Wirksamkeit. Ein einziger Pfeil reicht aus einen Elefanten zu
töten, auch wenn das Tier vielleicht erst nach drei oder vier Tagen verendet.
Die Jäger warten ab, bis das Gift wirkt, dann nehmen sie die Spur des Tieres
auf. Ein Gegenmittel gibt es bis heute nicht.
Ich frage sie, ob sie mit ihrer Lebensweise zufrieden sind. Nqeni antwortet: „Nein, das Leben hier draußen ist hart und entbehrungsreich. Wir wünschen uns ein besseres Auskommen für unsere Familien und für uns und
unsere Kinder gute Arbeitsstellen.“ Viele Menschen im Buschmannland
hätten Alkoholprobleme, weil sie für sich keine Perspektiven sähen. „Die
alten Leute sind mit dem Leben, das sie führten und noch führen, zufrieden“,
sagt Nqeni. Aber die Jungen locke das westliche Leben. Mal ein Motorrad
haben, vielleicht, und ein Radio. Sich schicke Kleidung kaufen können,
westliche versteht sich, und ausreichend Lebensmittel. Die Ju/íoan setzen auf
den Tourismus. Sie hoffen, dass mehr Menschen ihr Gebiet besuchen. Vielleicht ihre Halsketten kaufen oder dafür zahlen, dass sie ihnen Einblick in ihr
traditionelles Leben gewähren.
289
Barbara Hoynacki
Deutschland
Das Geld verdienen die anderen
Das Leben aus und in der Natur macht die Buschleute in den Augen von
Romantikern zu besonderen Menschen, zu Vertretern des ursprünglichen
und wahren Menschseins. Werden sie doch meist als ökologisch verantwortungsbewusst, in Harmonie miteinander und ihrer Umwelt lebend, dargestellt. Diese Vision wird von professionellen Gästefarmern ausgebeutet. So
wirbt Intu Afrika in seinem Prospekt etwa: „Intu Afrika - am Rande der
Kalahari - wo die letzten Buschleute noch wie vor Jahrtausenden jagen und
sammeln und in Frieden und Harmonie mit der Umwelt leben.“ Und Okonjima lockt mit dem Wissen eines seiner Besitzer - Wayne Hanssen -, der
angeblich mit Buschleuten aufgewachsen sei. Ein Bushman-Trail wird dort
angeboten, der Touristen Einzelheiten aus dem Leben der San vermitteln soll.
Geführt wird der gut einstündige Rundgang aber nicht etwa von einem
Buschmann selbst, sondern von einer weißen Angestellten und einem
Kavango. Für viel Geld werden den Touristen dann „Weisheiten“ wie „Die
Buschleute nahmen der Natur stets nur das, was sie benötigten“ aufgetischt.
Dann wird gezeigt, wie die San mit trockenem Gras und Feuerholz eine Glut
entfachten. Eine Grashütte kann man sich ansehen und ein Schamfell aus
Springbock-Haut befingern. Das war’s.
Aber es gibt auch positive Beispiele. Wie etwa das von Reinhard Friederich,
der neben Deutsch, Englisch und Afrikaans fließend Hei-//íom spricht. Er sitzt
im Vorstand der Ombili-Stiftung und sein Interesse, Touristen die Welt der San
näher zu bringen, ist echt. Dreizehn Buschmannfamilien leben auf seiner
Farm. Auch er bietet Bushman-Trails an. Doch die dauern gut zwei Tage und
beginnen zunächst in einem Klassenraum. Die San sind negroiden Ursprungs,
erfährt man dort. Bereits vor über 15.000 Jahren nahmen sie ihr Leben als
Jäger und Sammler auf. An die Naturverhältnisse passten sie sich vollkommen
an. Nach der Regenzeit fielen ihnen Veldfrüchte in Hülle und Fülle zu. Während der Dürre lernten sie mit dem auszukommen, was sie vorfanden. Ein hartes Leben, macht Reinhard Friederich klar, das ihnen so manche menschliche
Härte abverlangte. Wer in der Trockenzeit - aus Altersgründen oder wegen
einer Krankheit - nicht in der Lage war mitzuziehen, wurde zurückgelassen.
Bekam eine Frau Zwillinge, brachte sie das schwächere Kind um, weil die
Milch nur für eines reichte. Die San glaubten, dass der Tod nur der Übergang
in ein neues Leben ist und Gott dem gestorbenen Kind den Weg in ein besseres
Leben weist. Reinhard Friederich: „In einer ihrer Fabeln heißt es, die San seien
einst die einzigen Menschen gewesen, und auch in den Tieren haus-ten die
Seelen verstorbener San, die in dieser Gestalt wieder zur Erde gekommen
sind.“ Sie glaubten an einen allmächtigen Gott, der nur Gutes tut, und an
einen, der sowohl zu Gutem als auch zu Bösem fähig ist. Heute sind die meisten San christianisiert. Häufig wird Reinhard Friederich mit der Frage konfrontiert: „Warum wollt ihr den Lebensstil dieser Menschen ändern?“ Seine
Antwort lautet: „Sobald ihr ihnen mit dieser Shorts, diesem Hemd und diesen
Schuhen gegenübertretet, weckt ihr in ihnen den Wunsch, diese Shorts, dieses Hemd, diese Schuhe ebenfalls zu besitzen.“ Die Zeit sei nicht mehr
290
Barbara Hoynacki
Deutschland
zurückzudrehen. Nun bleibe nur noch den San zu helfen, so gut wie möglich
damit zurechtzukommen.
Nyae Nyae Development Foundation
Die Ju/íoan von Nyae Nyae sind die einzigen Buschleute in Namibia, die
ein kommunales Landrecht auf ihrem angestammten Land besitzen. Sie sind
heute im Besitz der Nyae Nyae Conservancy, einer Art Treuhandschaft, über
ihr eigenes Gebiet. Diese sichert ihnen die alleinigen Nutzungsrechte der vorhandenen Ressourcen. Anders als in einem Wildpark darf in einer Conservancy auch Ackerbau und Viehzucht betrieben werden. Das bedeutet, die
Buschleute bestimmen selbst, was in ihrem Gebiet getan wird und wer davon
profitiert. Ein langer Weg, der mit dem Engagement der Familie Marshall
begann. „1978 riefen der amerikanische Filmemacher John Marshall und
die Entwicklungsanthropologin Claire Ritchie mit privaten Mitteln für die
Ju/íoan einen Viehfond ins Leben, mit dessen Hilfe Vieh gekauft und Gärten
angelegt wurden“, erzählt Wendy Viall von der Nyae Nyae Development
Foundation. Viele Einwohner von Tsumkwe entschieden sich dafür, sich wieder in ihren Heimatgebieten niederzulassen. Künstliche Wasserstellen wurden
angelegt. 1982 wurde die Bushman Development Foundation und heutige
Nyae Nyae Development Foundation gegründet. Der Stiftung gelang es,
internationale Organisationen als Sponsoren zu gewinnen. Den Ju/íoan wurden Gelder, Geräte und technische Beratung zur Verfügung gestellt. Heute
betreiben sie in Nyae Nyae eine gemischte Wirtschaftsform aus Jagen und
Sammeln, Rinderhaltung, Gartenbau und Souvenirproduktion - ergänzt durch
Lebensmittelrationen von Regierung und internationalen Organisationen.
Die Schüler werden mit Mahlzeiten in der Schule versorgt.
Perspektiven
Dem Tourismus wird eine immer größere Bedeutung zukommen. Für 1997
zählte das Ministry of Environment and Tourism bereits über 500.000 Touristen. „Mögliche Einnahmequellen für die Buschleute könnten die Einrichtung
von Übernachtungsmöglichkeiten, geführte Touren, Reitangebote, Vogelund Wildbeobachtungen, Sammeln von Veldkost sowie Verkaufen von Feuerholz sein“, meint Axel Thoma von WIMSA. Erste Schritte in diese Richtung
sind bereits getan. So richteten die Buschleute des westlichen Buschmannlandes bereits ein in Eigenregie geführtes Rastlager ein, das Omatako Valley
Rest Camp. Nach einigen Anfangsschwierigkeiten wirft das Unternehmen
jetzt zum Stolz der Betreiber erste bescheidene Gewinne ab. Das Bewusstsein
der Buschleute hat sich verändert. Immer mehr von ihnen betrachten ihr
Kunsthandwerk, ihre Musik- und Tanztraditionen wie ihre genaue Kenntnis
der Umwelt als Güter, von deren Vermarktung sie profitieren wollen.
291
Claudia Heissenberg
Der alte Mann im Urwald
- und andere Geschichten aus Bolivien
Boloivien vom 15.09. - 14.12.1998,
betreut von der Konrad-Adenauer-Stiftung
293
Inhalt
! Mi Bolivia, mi Bolivia, mi Bolivia!
296
Wahlsonntag bei „Reineke Fuchs“
299
En Bolivia todo es posible, pero nada es seguro
300
Coca - Cocaina: heilige Pflanze - Teufelszeug
303
Boliviens wilder Osten - Ein El Dorado für Spekulanten
307
Der alte Mann im Urwald:
Hans Ertl - Abenteuerer, Bergsteiger, Kameramann
312
Encuentros bolivianos - Bolivianische Begegnungen
318
295
Claudia Heissenberg
Bolivien
Claudia Heissenberg, Jahrgang 1964, aufgewachsen in Werther, Ostwestfalen. Nach dem
Abitur zunächst ein sechsmonatiger Aufenthalt
in Brüssel, dann sechs Monate Den Haag. Studium der Romanistik, Französisch und Spanisch und niederländischer Philologie in Köln.
Während des Studiums freie Mitarbeit beim
„Kölner Stadt-Anzeiger“, später auch bei den
Hörfunkprogrammen des Westdeutschen Rundfunk. Seit dem Magisterexamen 1990 als freie
Autorin beim WDR, HR, SWR und Deutschlandradio Berlin tätig, unterbrochen von diversen längeren (Arbeits-) Reisen nach Nepal und
Lateinamerika.
„Mi Bolivia, mi Bolivia, mi Bolivia“
„Der weiße Mann hat diesem Land bisher weder Glück noch Wohlfahrt
gebracht. Er hat es ausgebeutet und liegenlassen. Er hat die Kultur und die
Ordnung zerstört, die hier gewachsen waren, und hat wenig dafür gegeben.”
Das schrieb Peter Haertlin 1956 unter dem Titel “Bolivien oder des weißen
Mannes Pleite - im Land der ungenutzten Möglichkeiten” in der Frankfurter
Allgemeinen Zeitung. Mehr als vierzig Jahre später hat sich daran nur wenig
geändert. Noch immer zählt der Andenstaat, der mit einer Fläche von gut einer
Million Quadratkilometer dreimal so groß wie Deutschland ist, zu den ärmsten Ländern Lateinamerikas. Die Schätze Boliviens- das Silber, Zinn, Kautschuk, Erdöl, Edelhölzer und Mineralien - haben immer nur wenige und fast
immer nur die Weißen reich gemacht. Siebzig Prozent der acht Millionen
Bolivianer gelten als arm, leben von weniger als 100 Mark im Monat, was
auch in Bolivien nicht gerade viel ist. Jeder fünfte Bolivianer wird mit Entwicklungshilfegeldern durchgefüttert, jedes zehnte Kind stirbt innerhalb des
ersten Jahres nach seiner Geburt, auf dem Lande sind über die Hälfte der Menschen Analphabeten.
Der Flughafen von La Paz, der höchste der Welt, liegt 4000 Meter über dem
Meeresspiegel. Ich fühle mich schwindelig und recht wackelig auf den Beinen, als ich die Druckkabine des Flugzeugs verlasse. Wie alle Neuankömmlinge schnappe ich atemlos nach der dünnen, trockenen Luft, bin froh, schnell
die Passkontrolle passieren und die Koffer vom ratternden Gepäckband hieven zu können. „Ich bin Adolfo, es ist mir eine Ehre, dich kennenzulernen”,
begrüßt mich der Fahrer der Konrad-Adenauer-Stiftung und verbeugt sich höflich. „Leider werden wir wohl etwas länger brauchen bis zum Hotel, denn die
Koka-Bauern sind seit ein paar Tagen in der Stadt und blockieren die Straßen.”
Alles wie immer, denke ich müde. Schon bei meinen zwei früheren Besuchen
in La Paz gab es ständig Demonstrationen, Protestmärsche und Straßenschlachten. Einmal, vor fünf Jahren, wurde sogar für einige Wochen der Aus296
Claudia Heissenberg
Bolivien
nahmezustand ausgerufen, man durfte sich nicht mehr in größeren Gruppen
oder nach sieben Uhr abends auf der Straße aufhalten, nur mit Sondergenehmigung feiern oder reisen. In Deutschland hatten damals nur die taz und die
Frankfurter Rundschau mit einer kleinen Meldung über den Ausnahmezustand
in Bolivien berichtet.
Im Schritttempo geht es durch das triste und schmuddelige El Alto, jenen
rasant wachsenden Armutsgürtel auf dem Altiplano, der vor einigen Jahren
nur aus ein paar Hütten bestand und heute mehr als eine halbe Million Einwohner hat. Der nächtliche Regen hat die staubigen Wege in Schlammpisten
verwandelt, in den Pfützen schwimmt bunter Plastikmüll. Daneben hocken
dicke Marktfrauen mit langen, schwarzen Zöpfen hinter ihren Ständen und
preisen lautstark ihre Waren an: „Compra mis frutas, mamita - Kauf meine
Früchte, Mamilein” oder: „Hay galletas, galletitas ricas en dos sabores - Es
gibt Kekse, köstliche Plätzchen in zwei Geschmacksrichtungen”, rufen sie in
monotonem Singsang, während die Passanten eilig an ihnen vorbeilaufen. Es
ist 6 Uhr morgens und ganz El Alto scheint auf den Beinen zu sein. Busse,
Minibusse und Sammeltaxen verstopfen die zweispurige Asphaltstraße nach
La Paz. Obwohl es seit einiger Zeit eine Kampagne gebe, die offiziellen
Haltestellen zu nutzen, hielten die Busse, wo immer ein Fahrgast die Hand
ausstrecke oder aussteigen wolle, stöhnt Adolfo. Ein zwar chaotisches, aber
immerhin doch sehr kundenfreundliches System.
Gemächlich schweben wir die kurvige Autopista in die Stadt herunter.
Die Morgensonne taucht La Paz in warmes, goldgelbes Licht. Unverputzte
Backsteinhäuser kleben wie Bienenwaben an den steilen Hängen. Eine gewaltige Flutwelle hat den fast 900 Meter tiefen Talkessel am Ende der letzten Eiszeit in die Hochebene gedrückt. In den tiefer gelegenen Stadtvierteln, wo es
wärmer ist und die Luft auch nicht mehr so dünn, leben die „gente bien”, die
feinen Leute, Nachfahren der spanischen Eroberer und weißer Einwanderer,
die bis heute die Macht im Land unter sich aufteilen. In gepflegten Gärten stehen protzige Villen, es gibt einen Golfplatz und diverse Tennisclubs, wo
allein die Aufnahmegebühr 6000 Dollar beträgt - mehr als ein campesino in
seinem halben Leben verdient. Weiter oben und im kalten, windigen El Alto
wohnen die „gente humilde”, die Armen und Geringen, die die Mehrheit der
bolivianischen Bevölkerung stellen. Aymara-Indianer, die das karge, unwirtliche Hochland verlassen haben in der Hoffnung auf ein besseres Auskommen
in der Stadt, und die Mestizen, die in Bolivien „Cholos” heißen, Produkte der
Vermischung von Spaniern und Indianerinnen.
La Paz ist eine Stadt der Gegensätze, eine zweigeteilte Stadt: Indianer,
Mestizen und Weiße leben nebeneinander nach unterschiedlichen Vorstellungen und Wertmaßstäben. „Die cholita und ich - das sind zwei Welten. Wir
haben nichts miteinander gemein”, sagt die Spanischlehrerin Erica. „Wir
sehen anders aus, wir denken anders, wir reden anders und wir leben anders.”
Während sich die weißen Bolivianer eher mit Europa verbunden fühlen,
westliche Musik hören, mit Vorliebe in italienischen französischen oder deutschen Restaurants verkehren und mit Handy und Business-Gehabe nach
Kräften den “american way of life” imitieren, halten die Mestizen an ihren
297
Claudia Heissenberg
Bolivien
Traditionen fest. Bis heute tragen die cholas ihre polleras, einen ausladenden,
knielangen Faltenrock aus diversen Schichten und glänzenden Seidenstoffen.
Mit kurzen, schnellen Trippelschritten huschen sie auf den zapatillas durch die
Straßen, Ballerinaschühchen, die noch aus der Zeit der Herzogin von Alba
stammen genauso wie die Mantilla, das wollene Schultertuch, das mit einer
großen Sicherheitsnadel vor der Brust gehalten wird. Auf dem Kopf sitzt,
leicht schief, der Bowlerhut, der, als er in Europa aus der Mode kam, von der
Hutfabrik Borsalino schiffeweise nach Südamerika verschickt und zur typischen Kopfbedeckung der Mestizinnen wurde.
Die cholitas sind die Herrinnnen des riesigen Marktes von La Paz, der tagtäglich vom Morgengrauen bis in die späten Abendstunden im Straßengewirr
oberhalb der Plaza San Francisco stattfindet. Der mercado, das ist der Bauch
und die Seele von La Paz - ein Labyrinth aus engen Gassen, Hallen und Innenhöfen, wo die Marktfrauen gleichmütig hinter ihren kunstvoll aufgebauten
Warenpyramiden sitzen und alles, aber wirklich alles, was man zum Leben
braucht oder brauchen könnte, verkaufen: Krawatten, Kühlschränke und
Computer, Kochtöpfe, Steckdosen und Büstenhalter, Heilkräuter, Potenzmittel und getrocknete Lamaföten, die als Glücksbringer in die Häuser eingemauert werden. Es gibt den mercado negro, den Schwarzmarkt mit
Schmuggelwaren aus den Nachbarländern, die mit ein wenig Schmiergeld für
die Zollbeamten ohne Probleme die Grenze passieren. Daneben liegt Miamicito, Klein-Miami, wo die neuesten High-Tech-Errungenschaften frisch aus
Hongkong zu haben sind, und der gigantische Lebensmittelmarkt, auf dem
unter anderem alle 200 Kartoffelsorten des Landes angeboten werden, einschließlich der schrumpeligen, da dehydrierten tuntas und chuños, die zwar
ziemlich muffig schmecken, dafür aber Ewigkeiten halten.
„Die bolivianische Ökonomie besteht vor allem aus der Schattenwirtschaft. Trauen Sie hier bloß keiner Statistik”, warnt mich die Direktorin der
Konrad-Adenauer-Stiftung, Hildegard Krüger. „Die Zahlen über die Armut in
Bolivien haben überhaupt keinen Wert, denn der gesamte informelle Sektor
wird gar nicht erfasst. Ich kenne zum Beispiel eine chola, die jeden Tag an
ihrem Kosmetikstand in der Zona Sur hockt, obwohl sie Besitzerin von zwei
Hochhäusern ist.” Der informelle Sektor - das sind die Marktfrauen und fliegenden Händler, die Autowäscher, Schuhputzer, Kaugummiverkäufer, Plastikfolieneinschweißer und sonstigen Dienstleister, die zu Tausenden die
Straßen von La Paz bevölkern und in keiner offiziellen Statistik auftauchen:
Die alte Frau, die ihre Personenwaage für 30 Centavos an Passanten zur
Gewichtskontrolle vermietet, der junge Mann mit seiner Sockenkollektion,
das Mädchen, das Papiertaschentücher verkauft. Hochhausbesitzer werden
allerdings die wenigsten dieser Kleinstunternehmer; die meisten schlagen sich
mehr schlecht als recht durch. Wie Juana Mamani, die mit ihrem Süßigkeitenstand am Prado mal gerade 200 Bolivianos im Monat verdient, weniger als
70 Mark. Dafür verlässt die 34jährige morgens um 6 Uhr das Haus und sitzt
15 Stunden lang in stinkenden Autoabgasen, zusammen mit ihrem jüngsten
Sohn, dem dreijährigen Jose, der die meiste Zeit schlafend in einem Pappkarton verbringt. „Früher, als hier die Bushaltestelle war, habe ich besser ver298
Claudia Heissenberg
Bolivien
kauft, aber jetzt läuft fast nichts mehr und das bisschen Geld, das ich einnehme, langt hinten und vorne nicht.”
Nur unwesentlich mehr verdienen die cholos, die als Hausangestellte,
Köchin, Kindermädchen oder Gärtner bei den reichen Leuten arbeiten und oft
mit im Haus leben. Für einige cholitas bedeutet das auch heute noch „servicio completo”; ganz selbstverständlich müssen sie dem Hausherren oder seinen heranwachsenden Söhnen auch sexuell zu Diensten sein. “WIIIILSON”,
ruft meine Zimmerwirtin bestimmt ein Dutzend Mal am Tag mit schriller,
durchdringender Stimme nach ihrem empleado, einem verschüchterten 15jährigen Jungen, der es kaum wagt den Blick zu heben. WIIIILSON - in diesem
langgezogenen, markerschütternden Ruf, der mich jedes Mal zusammenzucken lässt, schwingt die ganze jahrhundertealte Arroganz der weißen Oberschicht mit.
Wahlsonntag im “Reineke Fuchs”
Der “Reineke Fuchs” ist eine deutsche Dorfgaststätte mitten in La Paz Treffpunkt der deutschen Gemeinde in Bolivien mit Skatrunde, Stammtisch,
deutschem Bier und deutschen Spezialitäten wie Käsespätzle oder Eisbein
mit Sauerkraut. Und die einzige Lokalität in der Stadt, die am 27. September ab 12 Uhr zum Wahlbrunch mit Liveberichterstattung über Satellit einlädt. In Deutschland ist es Punkt 18 Uhr und die Wahlmoderatoren der
Deutschen Welle wiederholen noch einmal die Prognosen. Die Kneipe ist
gut gefüllt: Die Deutsche Botschaft samt Familienanhang ist fast vollständig vertreten, genauso wie die GTZ und die deutsch-bolivianische Handelskammer. Dazwischen ein paar jugendliche Freaks Anfang 20 in AlpakaPullovern und dreckigen Jeans - Freiwillige, Praktikanten oder
Zivildienstleistende bei diversen kirchlichen, Entwicklungshilfe- oder sonstigen Institutionen.
Die ersten Hochrechnungen. In meiner Wohngemeinschaft hatte ich mit
zwei BWL’ern aus Schwaben am Vorabend noch das Wahlergebnis getippt:
Zweimal Rot-Grün und einmal große Koalition, allerdings mit minimalem
Abstand zwischen SPD und CDU/CSU. Um so größer ist jetzt die Überraschung. Ein Raunen geht durch den Raum, als auf den zwei Fernsehbildschirmen die Prozentbalken erscheinen: SPD 41,7 - CDU/CSU 35,1 - Bündnis 90/Die Grünen 6,8 - FDP 6,0 - PDS 5,0. Die Kameramänner der
Deutschen Welle haben im Wahlgewühl schwer zu kämpfen. Meistens filmen sie aus der hintersten Ecke mit mindestens zwei fremden Mikros im
Bild; manchmal ist der Redner überhaupt nicht zu sehen, verdeckt von
irgendwelchen Köpfen oder Schultern. Schröder sagt: „Nach 16 Jahren ist
die Ära Kohl zu Ende gegangen.” Dann spricht der Bundeskanzler: „...ein
Abend, der ja ein schwieriger Abend ist auch für mich, aber der Wähler hat
entschieden.” Ein paar Gäste kichern, der Wirt - ein gewisser Herr Reineke,
sein Kompagnon heißt Fuchs - serviert zur Feier des Tages Sekt. Für die
Sozialdienstleistenden gibt’s nur ein Sherrygläschen voll. Vermutlich weil
299
Claudia Heissenberg
Bolivien
sie auf das 40 Bolivianos teure Buffet verzichtet haben, denn für 13 Mark
bekommt man in Bolivien sonst drei bis vier mehrgängige Mittagmenüs.
Am nächsten Morgen bringt “La Presencia” auf der ersten Seite das Bild
einer bayrischen Familie in Trachtenkleidung mit der Unterschrift: „Diszipliniert schritten die Deutschen gestern zu den Wahlurnen.” Über den neuen
Bundeskanzler, Gerhard Schröder, der den Radio- und Fernsehjournalisten
noch recht holprig von den Lippen kommt, wird getitelt: „Jünger als Kohl und
mit weniger Komplexen.” Der Sohn eines Arbeiters und einer Hausangestellten, die die sechs Kinder nach dem Tod ihres Mannes alleine durchbrachte,
habe den Krieg nicht miterlebt und werde daher nicht „mit Blei in den Füßen”
seine Ziele verfolgen. Im Gegensatz zu Kohl strahle er Optimismus und
Männlichkeit aus, sei fotogen und verstehe es, die Medien zu unterhalten.
Inzwischen, so lese ich mit der üblichen zweiwöchigen Verspätung in den
deutschen Zeitungen im Goethe-Institut, ist die anfängliche Euphorie nach
dem Wechsel der Ernüchterung gewichen. Und Joschka Fischer soll nur noch
dreiteilige Armani-Anzüge tragen. Wird bestimmt komisch sein, vier Monate
nach der Wahl zurück in Deutschland in den Nachrichten zum ersten Mal
Außenminister Fischer oder Bundeskanzler Schröder zu sehen.
En Bolivia todo es posible, pero nada es seguro
„In Bolivien ist alles möglich, aber nichts ist sicher”, meint die spanische
Journalistin Carmen achselzuckend, als unser Jeep in Concepcion mit einem
Motorschaden den Geist aufgibt. Damit fällt die Reise in den Monteverde, einer
unzugänglichen, kaum besiedelten Urwaldregion im äußersten Osten des Landes, im wahrsten Sinne des Wortes ins Wasser. Denn in wenigen Tagen beginnt
die Regenzeit und macht die ohnehin schon abenteuerlichen Schlaglochpisten
für die nächsten vier Monate unpassierbar. Alltag in einem Land, das verkehrstechnisch zu den am wenigsten erschlossenen des amerikanischen Kontinents zählt. Das bolivianische Straßennetz umfasst nicht mehr als 30.000 Kilometer, von denen nur etwa ein Fünftel asphaltiert sind. Und auch die sind nicht
gerade in einwandfreiem Zustand, da tropische Regengüsse immer wieder
ganze Abschnitte unterspülen und wegbrechen lassen. Durch Schlampereien
beim Bau ist die Asphaltdecke oft nur fünf statt fünfzehn Zentimeter dick, weil
gewiefte Bauunternehmer oder Funktionäre einen Teil des für den Straßenbau
bestimmten Geldes beiseite geschafft haben. „In diesem Land wandert ein
Großteil des Geldes in dunkle Kanäle”, schimpfen die Bolivianer. „Jeder ist hier
käuflich und jeder hält die Hand auf.”
Ob beim Zoll, beim Finanzamt, der Baubehörde oder sonst einem Amt - ein
wenig Schmiergeld beschleunigt den Vorgang ganz erheblich. Die Bolivianer
stöhnen über „los tramites”, die Formalitäten, von denen es in Bolivien Unmengen zu erledigen gibt. Vor allem die niedrigen Gehälter im öffentlichen Dienst
machen Bestechungsgelder zu wichtigen Nebeneinkünften für die Beamten.
„Die Leute brauchen einfach Geld, und wenn sie es illegal verdienen müssen,
dann tun sie es eben”, sagt Daysi Bolivar Borda, Wirtschaftsjournalistin bei
300
Claudia Heissenberg
Bolivien
Radio Television Popular. Das fängt an beim Polizisten mit einem Monatsverdienst von 100 Mark, der für ein paar Bolivianos bei Verkehrsübertretungen
gerne beide Augen zudrückt, und hört auf beim Missbrauch von staatlichen Geldern im großen Stil. Korruption ist in Bolivien allgegenwärtig.
Drei große Korruptionsskandale füllten allein im September und Oktober
die Schlagzeilen: Bei der Fluggesellschaft Lloyd Aero Boliviano hatten sich
Funktionäre ebenso großzügig wie unrechtmäßig aus der Sozialkasse bedient;
der Generaldirektor der Zollbehörde wurde beschuldigt, gegen entsprechendes Entgeld die illegale Einfuhr von Gebrauchtwagen geduldet zu haben, und
musste seinen Hut nehmen, genauso wie Gesundheitsminister Marinkovic, der
Impfmittel zu überhöhten Preisen eingekauft haben soll. In jedem dieser
Fälle ging es um mehrere Millionen Dollar - alles andere als „Peanuts” also.
„In Bolivien ist derjenige, der seine Macht nicht dazu missbraucht, in die
eigene Tasche zu wirtschaften, ein Dummkopf ”, sagt Eduardo Godoy von
Canal 4, dem Fernsehsender des 1997 verstorbenen „Compadre” Carlos
Palenque, der mit seiner Partei „Conciencia de Patria” das “Gewissen des
Vaterlandes” sein wollte. „Um richtig abzusahnen, wird man zunächst Mitglied einer Partei, investiert ein bisschen Geld in den Wahlkampf, und wenn
man dann an der Macht ist, sucht man sich die lukrativsten Posten aus, zum
Beispiel beim Zoll, den Finanzbehörden oder im Entwicklungshilfeministerium. Der Rest ist reine Formsache, fingierte Projekte, gefälschte Rechnungen, das geht ganz einfach.”
Aber nicht nur Politiker und Beamte, auch private Unternehmer beherrschen die Spielregeln der Korruption. „Der Zusammenbruch überdimensionierter Projekte ist in Bolivien eine ebenso häufige Erscheinung wie der
betrügerische Bankrott, der für den „Unternehmer” einen schönen Gewinn
bedeutet, wenn er nur die Hälfte des Kredites investiert hat, während die
andere Hälfte auf einem sicherem Bankkonto in den USA oder der Schweiz
untergebracht ist”, schreiben Thomas Pampuch und Augustin Echalar in
ihrem Bolivien-Buch. Bei der „Weltmeisterschaft der Korruption” landete
Bolivien in diesem Jahr zusammen mit der Ukraine auf dem 13. letzten Platz
und war damit immerhin weniger korrupt als Ecuador, Venezuela, Kolumbien
und Paraguay. „Das ist doch schon mal was”, freuen sich die Bolivianer und
auch Regierungssprecher Mauro Betero zeigt sich zuversichtlich, dass die
Korruption überwunden werden kann.
„Plan Nacional de Integridad” heißt der Anti-Korruptionsplan des jugendlichen Vizepräsidenten Jorge „Tuto” Quiroga, der mit 180 Millionen Dollar
von der Weltbank unterstützt wird. Unter anderem will der 37jährige Politiker Formulare und Behördengänge erheblich reduzieren. Preislisten in den
Amtstuben sollen vor Schmiergeldzahlungen schützen, angezeigte Korruptionsfälle konsequent verfolgt und aufgedeckt werden. Eduardo Godoy: „Auf
dem Papier hören sich die Pläne der Regierung überzeugend an. In Wahrheit
aber sind sie meist das Papier nicht wert, auf dem sie geschrieben sind, und
dienen nur dazu, Entwicklungshilfegelder zu kassieren. Denn wenn wirklich
mal ein Korruptionsfall ans Licht kommt, was selten genug passiert, wird er
von der Regierung in der Regel geleugnet.”
301
Claudia Heissenberg
Bolivien
Die Diskrepanz zwischen Anspruch und Wirklichkeit zieht sich wie ein
roter Faden durch die bolivianische Geschichte. Reformen, Reformen und
kein Ende in Sicht - die neoliberale bolivianische Politik der letzten Jahre
versucht im Hauruck-Verfahren zu ändern, was jahrhundertelang schief
gelaufen ist. Vor allem Banzers Vorgänger, Gonzales Sanchez de Lozada,
machte Bolivien mit seiner entschlossenen Privatisierungs- und Reformpolitik zum „Musterknaben Lateinamerikas.” Die Inflation sank auf weniger als acht Prozent; das Wirtschaftswachstum liegt seit zehn Jahren konsequent bei etwa vier Prozent. Staatsbetriebe wie die Telefongesellschaft
ENTEL, die Energieunternehmen oder die Fluggesellschaft LAB wurden an
ausländische Investoren verkauft; das Erziehungs-, Renten- und Justizsystem reformiert. Seit 1995 werden 20 Prozent der Steuer- und Zolleinnahmen entsprechend der Einwohnerzahl an die Gemeinden verteilt, die seitdem eigenständig bestimmen können, wofür sie die Gelder verwenden.
Der plötzliche Reichtum überfordert jedoch viele Bürgermeister auf dem
Lande, die oft weder lesen noch rechnen können. Nicht selten landet ein
Großteil der Gemeindekasse bei windigen Beratern.
Der Neoliberale Sanchez de Lozada, kurz Goni genannt, der lange Jahre
in den USA gelebt hatte und als Minenbesitzer in Bolivien ein Vermögen
machte, musste seinen Reformeifer schließlich büßen. Sein ehrgeiziges
Modernisierungsprojekt, vom Ausland bejubelt, aber von den eigenen
Landsleuten nur wenig geschätzt, kostete ihn Laufe seiner Amtszeit immer
mehr Popularität. „Eine der Schwächen der Goni-Regierung war, die durchaus guten Reformen am Volk vorbei geplant und durchgeführt zu haben. Es
fehlte an Information und an Akzeptanz”, kritisiert Roland Steurer, Direktor der GTZ in La Paz. Demonstrationen und Protestmärsche waren an der
Tagesordung: Die Lehrer wehrten sich gegen die Erziehungsreform, die Pensionäre gegen die Rentenreform, die Anwälte gegen die Justizreform und
alle gegen die Privatisierungen. Die Opposition warf Sanchez de Lozada
autoritäres Gehabe vor, die Leute spotteten über seinen amerikanischen
Akzent. Mit der Privatisierung der Staatsbetriebe habe er den Reichtum des
Landes an ausländische Kapitalisten verschachert und die Souveränität
Boliviens untergraben, hieß es. Besonders schmerzlich für die Bolivianer
war der Verkauf der Eisenbahngesellschaft an den Erzfeind Chile. „Die einfachen Leute auf der Straße sehen nicht die Vorteile der Reformen, sie
sehen nur, dass die Preise steigen und es ihnen immer noch nicht besser
geht. Die freie Marktwirtschaft und die Privatisierungen haben die Situation
für die Armen und auch für die Mittelschicht noch verschlimmert”, sagt
Eduardo Godoy.
Am 1. Oktober läuft in La Paz so gut wie gar nichts - abgesehen von den
Fußgängern, die über den Prado flanieren. Die Gewerkschaften hatten zum
Generalstreik gegen die steigenden Steuern und Energiepreise aufgerufen
und vor allem die Cholos blockieren mit Sonnenschirmen, Steinen und
Bretterbarrikaden die Innenstadt. Böllerschüsse hallen durch die Straßenschluchten; eine Gruppe Cholitas stürzt sich mit lautem Gezeter auf einen
menschenüberladenen Minibus, der die Sperre durchbrechen will, aber
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Bolivien
schließlich aufgibt. „Sie haben uns die Preise für Wasser und Licht erhöht,
fast auf das Doppelte, die Gebühren für die Müllabfuhr sind gestiegen und
die Wasserpreise auch”, schreit eine alte Frau aufgebracht. „Wir sitzen von
morgens früh bis spät in der Nacht auf der Straße und verdienen fast nichts.
Wie sollen wir denn unsere Kinder durchbringen?”
Die Zeitungen berichten, auch in den nächsten Jahren müssten die Bolivianer den Gürtel enger schnallen. Die Asienkrise - Japan ist einer der wichtigsten Handelspartner Boliviens - hinterlässt ihre Spuren. Nach Aussage der
Weltbank wird Lateinamerika 1999 die schlimmste Rezession seit den 80er
Jahren erleben. „Die Unzufriedenheit der Leute wächst, vor allem weil sie
merken, dass sich auf parlamentarischem Weg nichts ändert”, sagt der Fernsehjournalist. „Bolivien ist ein Pulverfass, das eines Tages explodieren
kann.”
Coca - Cocaina: heilige Pflanze - Teufelszeug
In der Zentrale des Dachgewerkschaftsverbandes Central Obera Boliviana
herrscht Hochbetrieb. Dutzende von Journalisten bevölkern das enge Treppenhaus und die Büros. „Huelga de hambre en defensa de la vida”, verkündet ein Plakat an der Wand. „Hungerstreik für das Leben.” Vier Wochen
waren rund 300 Cocabauern aus dem Chapare unterwegs, bevor ihr Protestmarsch vor 14 Tagen den Regierungssitz La Paz erreichte. Seitdem legen sie
fast täglich mit Sitzblockaden für mehrere Stunden den Verkehr in der Innenstadt lahm. Knapp 30 von ihnen sind im Hungerstreik, darunter auch ihr
Anführer Evo Morales, der bei den letzten Wahlen im Sommer 1997 mit der
höchsten Stimmenzahl landesweit ein Direktmandat im Parlament ergatterte. In dem zum Schlafsaal umfunktionierten Raum riecht es säuerlich nach
tagealtem Schweiß, die Luft ist zum Schneiden. Die Cocaleros, Männer
und Frauen, hocken oder liegen auf speckigen Matratzen; die meisten kauen
dickbackig auf einem Kokaballen.
Die lorbeerartigen Blätter des Kokastrauches wurden in Bolivien von den
Aymara-und Quechua-Indianern schon lange vor der Ankunft der spanischen Eroberer genutzt. Der Chronist Cieza de Leon notierte verwundert,
„dass sie kaum Hunger fühlen, aber großen Mut und Kraft haben.” Traditionell gilt Koka in Bolivien als heilige Pflanze der Inkas - ein Stärkungsmittel, das Hunger und Müdigkeit vertreibt und die Nerven beruhigt. Noch
heute wird Neuankömmlingen im 3600 Meter hoch gelegenen La Paz Kokatee als Mittel gegen Höhenkrankheit serviert. Gemeinsames Koka-Kauen
erfüllt bei den Indianern eine ähnliche soziale Funktion wie in Deutschland
der Stammtisch, mit dem Unterschied, dass Koka nicht berauscht. Helfen soll
die Pflanze auch bei Zahn- und Kopfschmerzen, Magen- und Darmerkrankungen und Erkältungen. Bei wichtigen Entscheidungen oder Problemen in
der Familie konsultieren die Indianer einen Wahrsager, der im Koka-Orakel
nach Lösungen sucht. Dafür wirft der yatiri eine Handvoll Koka-Blätter auf
ein Tuch und deutet sie nach ihrer Form, Farbe und Anordnung.
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Bolivien
„Coca o muerte - Koka oder Tod”, rufen die Cocaleros. „Abajo con el imperialismo de los yankees - Nieder mit dem Imperialismus der Yankees.” Um
Evo Morales bildet sich eine Traube von Journalisten, die ihm ihre Mikros
vor’s Gesicht halten. Der 38jährige Bauernsohn versteht es geschickt, mit
polemischen Parolen seine Anhänger hinter sich zu scharen: „Müssen die Farmer in den USA ihren Tabak vernichten, weil Menschen süchtig nach Zigaretten sind und an Lungenkrebs sterben?” Nein, antworten die Cocaleros im
Chor. „Müssen die europäischen Bauern ihre Rebstöcke oder den Weizen verbrennen, nur weil daraus Wein und Schnaps gemacht wird, der Menschen zu
Alkoholikern macht?” Nein, rufen die Cocaleros und Morales fährt fort:
„Unsere Geduld ist zu Ende. Wir werden solange weiterkämpfen, bis die
Regierung unsere Forderungen erfüllt. Die Entmilitarisierung des Chapare und
Unterstützung für ein menschenwürdiges Leben.”
Seit 1988 unterscheidet in Bolivien das „Gesetz 1008” zwischen legaler und
illegaler Koka. Das alkaloidarme Yungas-Koka, das sich gut zum Kauen, aber
schlecht zur Kokainherstellung eignet, ist legal und die 12000 Hektar Anbaufläche decken fast den gesamten Inlandbedarf. Das Chapare-Koka aus der
Region um Cochabamba, zum Kauen zu bitter, aber dafür reich am Alkaloid
Kokain, ist illegal und hatte zu 95 Prozent von Anfang an nur einen Abnehmer:
Die internationale Drogenmafia. Neben Kolumbien und Peru ist Bolivien
heute der drittgrößte Kokain-Produzent. Viele der Koka-Bauern im Chapare
sind ehemalige Minenarbeiter, die sich auf der Flucht vor der Armut im Hochland in der tropischen, regenreichen Region am Rande der Anden ansiedelten.
Mit dem Zinncrash an der Londoner Börse Mitte der 80er Jahre wurden auf
einen Schlag 23.000 Bergarbeiter auf die Straße gesetzt und standen vor dem
Nichts. Der Koka-Anbau im Chapare, damals von der Regierung akzeptiert,
bot ihnen wenigstens eine Chance zum Überleben. Das große Geld haben sie
mit dem Koka nicht gemacht. Dafür macht es sie heute zu Geächteten, denn auf
Druck der USA stellt die bolivianische Regierung ihnen nach.
Das amerikanische Druckmittel heißt „decertificacion” und bedeutet das
Einfrieren sämtlicher Wirtschafthilfen und internationaler Kredite. Jedes
Jahr entscheidet der US-Kongress, welche Länder das Versetzungszeugnis
erhalten und welche nicht. Bolivien wurde wie üblich noch einmal gnädig verschont, obwohl die Auflage, 7000 Hektar Koka-Pflanzungen zu vernichten,
im letzten Jahr wieder nicht erfüllt wurde. Zwar hatte die bolivianische Drogenpolizei UMOPAR weisungsgemäß 7500 Hektar Koka gerodet, dafür seien
an anderen Stellen, tiefer im Urwald, 7200 Hektar mit neuen Sträuchern
bepflanzt worden. Das behaupten zumindest die Experten der DEA (Drugs
Enforcement Administration), die seit den 80er Jahren weltweit die Drogenproduktion überwachen. Eine Geheimpolizei, noch undurchsichtiger als der
CIA, die nach eigenen Gesetzen in ganz Lateinamerika kommt und geht.
DEA-Fahnder planen die Feldzüge gegen die Koka-Bauern und schulen die
bolivianische Elitetruppe UMOPAR, die die Kokafelder und Kokainküchen
im Urwald zerstören. Alle Vierteljahre wird die aufgespürte Kokainpaste
und das beschlagnahmte Kokain medienwirksam im Hauptquartier der Polizei verbrannt und Millionen von Dollar lösen sich in Rauch und Gestank auf.
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Bolivien
Das gesamte Gebiet des Chapare, immerhin so groß wie Hessen, ist schon
seit Jahren Sperrzone und an den Ausfallstraßen gesichert wie früher die
Grenze zur DDR. UMOPAR-Soldaten, Leoparden genannt, durchsuchen
jedes Fahrzeug und stechen mit langen Nadeln in Gepäckstücke auf der
Suche nach dem weißen Pulver oder der braunen Kokapasta. 120 Millionen
Dollar haben die USA in den letzten acht Jahren an den bolivianischen Staat
gezahlt, für den Bau von Straßen, Schulen, Gesundheitsposten und zur Förderung alternativer Landwirtschaftsprodukte wie Ananas, Mango oder Zitrusfrüchte. Doch die Böden im Chapare sind schlecht, der Anbau ist mühselig
und der Verkauf alles andere als einträglich. Es gibt keinen Markt für alternative Produkte und keine Vertriebswege, um sie in die Nachbarländer zu
exportieren. 80 Millionen Dollar - 2500 pro freiwillig vernichtetem Hektar flossen direkt an die cocaleros, sofern sie nicht in den Taschen der Funktionäre hängenblieben. Aber viele Bauern kassierten die Prämien und fingen
dschungeleinwärts neu an. Denn keine andere Pflanze ist so genügsam und
rentabel wie Koka, das bis zu viermal im Jahr geerntet werden kann.
Zwischen 50.000 und 70.000 Bauern und ihre Familien leben im Chapare
vom Geschäft mit den Kokablättern, die in 10.000 mobilen Dschungellabors
zu Kokapaste verarbeitet werden. Für 500 Kilo Kokablätter bekommt ein
Bauer rund 1000 Dollar. Das ergibt 2,5 Kilo Kokapaste, die zu einem Kilo reinem Kokain-Pulver raffiniert und in Santa Cruz für mehr als 10.000 Dollar
verkauft wird. In die USA oder nach Europa geschmuggelt, wird das Kokain
mit Milchpulver oder Traubenzucker gestreckt und im Straßenverkauf für eine
halbe Million Dollar an den Endverbraucher gebracht. Ein lukratives Geschäft
mit enormen Gewinnspannen, in dem auch nicht wenige bolivianische Politiker und Unternehmer ihre Finger haben. Allerdings nicht mehr so offensichtlich wie zu den Zeiten des Diktators Luis Garcia Meza Anfang der 80er
Jahre, als Kokain wie Mehl und Zucker auf dem Markt angeboten wurde.
Damals waren auch die USA noch nicht so kleinlich wie heute. Die CIA zum
Beispiel nutzte das „weiße Gold” aus Bolivien, hergestellt in eigenen Drogenlabors, zur Finanzierung geheimer Operationen, wie die der Contras in
Nicaragua.
Bis heute ist das Kokain neben internationaler Wirtschaftshilfe die wichtigste Devisenquelle Boliviens. In einem Land, in dem ein Polizist nicht
mehr als 100 Mark im Monat verdient, ist es nicht allzu schwer, sich Komplizen zu kaufen. „Wer da nicht mitspielt, ist dumm und wird auch wie ein
Dummkopf behandelt”, sagt der Journalist Eduardo Godoy und erzählt die
Geschichte eines befreundeten Polizisten, der in den Chapare versetzt wurde.
Noch am selben Abend bekam er die Schlüssel für einen teuren Wagen überreicht mit der Aufforderung, sich bei Polizeiaktionen zurückzuhalten. „Mein
Freund lehnte ab und beschlagnahmte kurz darauf ein Flugzeug mit 20 Kilo
Kokain und 20.000 Dollar. Der Drogenhändler schlug ihm seelenruhig vor,
das Geld zu nehmen und ihn dafür mit den Drogen laufen zu lassen.” Doch der
rechtschaffene Polizist verhaftete den Mann, der ihm schon am nächsten Tag
fröhlich auf der Plaza zuwinkte. Der Polizeichef hatte der Verlockung des Geldes nicht widerstehen können und den Handel akzeptiert. „Mein Freund
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wurde nach dieser Geschichte von sämtlichen Kollegen geschnitten und
arbeitet heute bei der Feuerwehr.”
Nun aber soll dem narcotrafico ein für alle Male der Garaus gemacht werden. Oder besser gesagt zum vierten Mal, denn schon 1971, 1985 und 1988
hatte die Regierung den Bauern angedroht, den Koka-Anbau zu verbieten.
Hugo Banzer jedenfalls, Ex-Diktator des Landes und seit August 1997 demokratisch gewählter Präsident, gab bei seinem Amtsantritt die Losung aus:
„Null Koka - Null Kokain!” Bis zum Jahr 2002, so versprach er den USA, sei
der gesamte illegale Kokaanbau in Bolivien beseitigt. Eduardo Godoy hält das
für leeres Gerede, das einzig und allein dazu dient, weiterhin Entwicklungshilfegelder zu kassieren. Bisher habe jede Regierung immer nur einen Teil der
Drogenhändler verfolgt und gleichzeitig andere weiterhin unbehelligt ihre illegalen Geschäfte betreiben lassen. „Es ist schließlich ein offenes Geheimnis,
dass die Narcos einen grossen Teil des Wahlkampfes finanzieren, und die richtig großen Fische werden eh nie erwischt. Die Sündenböcke im Kampf gegen
das Kokain sind die Bauern und kleinen Transporteure.”
„Plan Dignidad” - „Plan der Würde” nennt sich das neue Programm der
Regierung, das unter anderem vorsieht, die Entschädigungszahlung von 2500
Dollar nicht mehr an die Bauern direkt, sondern an die Kommunen zu zahlen.
Seit April 1998 ist allerdings kaum ein Dollar bei den Gemeinden angekommen. Dafür kamen die Soldaten. 3000 Mann sind zusätzlich zu den 450
UMOPAR-Leoparden im Urwald aufmarschiert zur erradiccacion forzosa, der
Zwangsrodung der Kokapflanzen. „Sie vernichten aber nicht nur unsere
Koka, sondern auch alle anderen Pflanzen, Bananen, Yucca, einfach alles”,
klagt Leonilda Zurita Vargas. „Wir leben im Chapare in einem ständigen Ausnahmezustand, wie in einer Diktatur, unsere Kinder sind traumatisiert von den
ständigen Konfrontationen mit der Polizei und den Soldaten.” Polizeigewalt
ist im Chapare an der Tagesordnung. Manchmals dringen die Soldaten in die
Häuser ein, vergewaltigen Frauen und Mädchen und zerstören das gesamte
Hab und Gut. Mitte April kam es in Villa Porvenir, der „Stadt der Zukunft”,
und anderen Dörfern zu gewaltsamen Auseinandersetzungen zwischen Kokabauern und Militärs. Die Cocaleros blockierten die Straßen und stellten sich
den bewaffneten Soldaten mit Knüppeln und Macheten entgegen.
„Wir standen uns direkt gegenüber und ein paar Männer wollten mit den
Soldaten diskutieren. Lasst uns reden und eine Lösung finden, compañeros,
sagten sie, wir sind doch alle Bolivianer. Aber die Soldaten legten ihre
Gewehre an und schossen. Zwei Kugeln, eine in der Brust und eine in der
Schulter, trafen meinen Mann. Er war sofort tot”, berichtet Epifania Mamani,
Witwe von Alberto Coca, den Journalisten unter Tränen und zeigt Fotos von
ihrem blutüberströmten, toten Mann. Zusammen mit zehn weiteren Witwen
und den cocaleros ist sie nach La Paz marschiert um von der Regierung eine
Entschädigung zu verlangen.Doch die Justizministerin Ana Maria Cortes
weist jegliche Ansprüche weit von sich, schließlich hätten die Kokabauern die
Zwangsrodung behindert. „Die Soldaten hatten strikten Befehl keine Gewalttaten zu begehen, aber sie trafen auf eine aufgehetzte Menge, die sie angriff.
Zwei der Polizisten wurden brutal mit Macheten zerhackt, es war wie ein
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Krieg.” Von den dreizehn Cocaleros, die durch die Kugeln der Soldaten starben oder Rauchvergiftungen erlitten, spricht die Justizministerin nur ungern.
Die Angelegenheit sei der Distriktverwaltung von Cochabamba übergeben
worden, die den Fall überprüfen und die Verantwortlichen zur Rechenschaft
ziehen soll. „Den bolivianischen Staat trifft keine Schuld, und deshalb werden
wir auch keine Entschädigung zahlen”, sagt Ana Maria Cortes, während sie
nervös mit ihrer goldenen Halskette spielt.
Es war nicht der erste blutige Bauernkrieg im Chapare und es wird vermutlich auch nicht der letzte gewesen sein. Nach drei Wochen beenden die
Cocaleros ihren Hungerstreik und die Sitzblockaden in La Paz, ohne dass ihre
Forderungen erfüllt worden wären. Das einzige, was sie erreicht haben, ist die
Zahlung von 800 Dollar für jeden freiwillig gerodeten Hektar innerhalb der
nächsten zwei Monate. Der Aufstand der Cocaleros ist ein Ritual, das sich Jahr
für Jahr wiederholt. Ein abgekartetes Spiel, bei dem letztendlich jeder
gewinne, meint ein deutscher Experte, der nicht namentlich genannt werden
will. Die USA gewinnt, weil es für sie immer noch billiger ist, ihr heimisches
Drogenproblem in den Produzentenländern zu bekämpfen, Bolivien, weil es
für den Kampf gegen das Koka satte Unterstützung erhält, und auch die
Bauern profitieren, denn der Chapare zählt zu den am besten geförderten
Regionen des Landes. „Bolivien muss den USA versprechen, den Drogenhandel zu unterbinden, damit ihnen der Geldhahn nicht zugedreht wird, und
die USA müssen das verlangen, weil so die politische Linie im Land ist. Im
Prinzip könnte man sich das Ganze auch sparen und das Kokain in die freie
Marktwirtschaft integrieren, aber das will eben keiner.”
So werden die Bauern weiter Koka pflanzen und ernten, denn für sie gibt
es wenig Alternativen. Ananas, Orangen und Bananen bedeuten Hunger Koka bedeutet zumindest ein Auskommen. So will es der Weltmarkt. Und
solange Menschen in den USA und Europa sich das weiße Pulver durch die
Nase ziehen, solange werden die Kokainküchen den Stoff produzieren. Egal,
ob im Chapare oder anderswo.
Boliviens wilder Osten - ein El Dorado für Spekulanten
Bolivien - das ist für Europäer gemeinhin das Land des Altiplano, jener kargen, von schneebedeckten Bergen gesäumten Hochebene in den Anden, wo
„Indios“ mit bunten Wollmützen und Ponchos Lamas hüten und auf der Panflöte „El condor pasa“ spielen. Dabei liegt der weitaus größere Teil des
Andenstaates im schwül-heißen Amazonastiefland. Die Departements Cochabamba, Santa Cruz, Beni und Pando bilden den ‘Oriente’, bis vor wenigen
Jahrzehnten eine vergessene Region, für die sich kaum jemand im fernen La
Paz interessierte. Eine unwirtliche Gegend aus immergrünem, undurchdringbarem tropischen Regenwald, durchzogen vom braunen Wasser zahlloser Urwaldflüsse und den trockenen Dornenbuschsavannen des Chaco, wo
sich 1932, im Krieg gegen Paraguay, tausende bolivianischer Soldaten verirrten und elend verdursteten. In den Wäldern und Steppen leben noch immer
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Bolivien
Affen, Ameisenbären, Gürteltiere und Schlangen, Tukane, Tapire und ein
paar vereinzelte Jaguare. Doch seit dem Bau der Straße La Paz-Cochabamba-Santa Cruz 1954, einer der wenigen asphaltierten Verkehrsachsen des
Landes, ist es mit der Ruhe im Oriente vorbei.
Die Boomtown Santa Cruz de la Sierra hat sich in weniger als fünfzig Jahren zur modernsten Stadt Boliviens und der am schnellsten wachsenden
Lateimamerikas entwickelt. Die Zahl der Cruceños ist von rund 50.000 vor
etwa 40 Jahren auf eine Million angewachsen und ein Ende des Wachstums
ist nicht in Sicht. Die Geschäfte haben das einst verschlafene Nest zu einer
kleinen Metropole gemacht, die La Paz langsam aber sicher den Rang
abläuft. Für den rasanten Aufschwung im Osten sorgten Viehzucht, Soja,
Erdgas, Tropenhölzer und nicht zuletzt das Kokain. Jetzt soll Santa Cruz, auf
halben Weg zwischen Atlantik und Pazifik gelegen, zum Hauptumschlagsplatz Südamerikas werden, zum Knotenpunkt zwischen dem alten Bolivien
und der neuen globalen Wirtschaftswelt, zur Drehscheibe zwischen dem
Andenpakt (Bolivien, Peru, Kolumbien,Venezuela) und Mercosur (Brasilien,
Argentinien, Paraguay, Uruguay). Glaspaläste, Einkaufszentren und FastFood-Restaurants schießen aus dem Boden, breite Ausfallstraßen zerschneiden die flache Landschaft, der internationale Flughafen, einst weit vor
der Stadt gebaut, rückt immer näher. Die Stadt ist wohlhabend und stellt
ihren Reichtum zur Schau. Im Zentrum locken die Schaufenster der Juweliere, Modeboutiquen und Sonnenbrillenläden mit Markennamen und
Luxusartikeln.
Verschiedene Einwanderungswellen haben das Bild der Stadt und Umgebung verändert: Hochlandindianer, Mennoniten aus Paraguay, Brasilianer,
Japaner und Europäer - sie alle kamen und suchten Glück und Reichtum im
wilden Osten Boliviens, wo das Land noch bis vor ein paar Jahren umsonst
war. Wer Grund und Boden erwerben wollte, musste lediglich die Formalitäten und einen Landvermesser bezahlen und konnte dann soviel Land abstecken, wie er wollte. Ob zwanzig-, dreißig- oder fünfzigtausend Hektar,
spielte keine Rolle. Hauptsache, der neue Besitzer versah sein Grundstück mit
einem umlaufenden Pfad und Begrenzungspfählen.
„Bolivien ist so arm, weil es so reich ist“, behauptet Bernhard Fischermann,
ein Bonner Völkerkundler, der seit vielen Jahren in Santa Cruz lebt und den
Ausverkauf des Landes kritisch verfolgt. „Bolivien ist reich an Bodenschätzen
und Landflächen, die skrupellose Geschäftemacher ausbeuten ohne einen Pfennig zu investieren.“ Zum Beispiel die Edelhölzer: Trotz Verbots schlagen Holzunternehmen, zum Teil mit gefälschten Konzessionen, seit Jahren die wertvollen Tropenbäume, transportieren sie stämmeweise zur nahen brasilianischen
Grenze, von wo aus sie nach Japan exportiert werden. Offizielle Kontrollen werden mit Schmiergeldern umgangen. „Alles läuft hier auf illegalem Wege in illegale Kanäle. Profitieren tun einige wenige“, sagt Fischermann.
Bis heute ist der dünnbesiedelte Oriente eine Art recht- und gesetzlose Zone
- ein Paradies für Abenteurer, Glückssucher und Spekulanten. Außer Reichweite von Justiz und Verwaltung haben sie ein leichtes Spiel. Wer Geld und
Macht hat, den interessieren die Gesetze wenig. Die Leidtragenden sind die
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Bolivien
Indianer. Wie die Ayoreo, die erst vor 50 Jahren von „der Zivilisation entdeckt“ wurden und heute meist als Bettler, Prostituierte, Schuhputzer oder
Tagelöhner ein tristes Dasein in Santa Cruz fristen. Für den bolivianischen
Staat ist das Amazonas-Tiefland vor allem aus wirtschaftlichen Gründen
interessant, die Indianer gelten als Hindernis beim Fortschritt, an dem sie
höchstens als billige Arbeitskräfte teilhaben.
Gegenwärtig leben noch etwa 32 verschiedene indianische Völker im
Osten Boliviens, rund 200.000 Menschen, deren Geschichte geprägt ist von
Ausrottung, Ausbeutung und Unterdrückung. Zuerst kamen ab Mitte des 16.
Jahrhunderts die spanischen Konquistadoren auf der Suche nach der sagenhaften Goldstadt El Dorado. Die Indianer, die sich ihnen mit Pfeil und Bogen
widersetzten, wurden gnadenlos niedergemetzelt, andere starben durch eingeschleppte Krankheiten wie Masern oder Grippe. Den Soldaten folgten die
Siedler, die als Belohnung für die Kolonisierung des Landes das Recht erhielten, die dort lebenden Indianer zur Arbeit zu verpflichten. Dieses als „encomienda“ bezeichnete System, in dem die Indianer den Status freier Personen
genießen sollten, bedeutete in Wirklichkeit für die meisten lebenslange Sklavenarbeit auf den Estanzien oder in den Silberminen von Potosí.
Die Jesuiten, die ab 1689 Missionsdörfer im Beni und der Chiquitania, dem
Hinterland von Santa Cruz, gründeten, boten den Indianern immerhin einen
gewissen Schutz vor Verfolgung und Zwangsarbeit. Die Missionare aus der
Schweiz und Deutschland erlernten sogar ihre Sprachen, allerdings nur um
„die nackten Wilden“ nach ihren Regeln, Normen und Werten zu erziehen und
zum rechten, also katholischen, Glauben zu bekehren. Aus Jägern und Sammlern machten sie sesshafte Ackerbauern, die gemeinschaftliche, solidarische
und demokratische Lebensweise der Indianer wurde durch hierarchische
Strukturen ersetzt. „Die Kolonisten und Missionare haben uns unserer Identität und Autorität beraubt. Sie haben uns unsere Traditionen, unser Wissen
und unsere Religion genommen und jetzt nehmen sie uns auch noch unser
Land“, schimpft Vicente Pessoa, der als Abgeordneter mit Direktmandat im
Stadtrat von Santa Cruz auf einsamen Posten für die Rechte der Indianer
kämpft. „Später haben wir zwar dabei geholfen, die Spanier aus dem Land zu
vertreiben, aber für uns änderte sich nichts.“
Auch nach der Unabhänigkeit Boliviens, 1825, bildeten die kostenlosen
Arbeitsdienste der Indianer weiterhin die wichtigste Einnahmequelle von
Staat und Privatunternehmern. Bis heute waren und sind die Tieflandvölker
immer wieder Opfer wirtschaftlicher Booms, ein Volk von Vassallen und die
Verlierer in einem Land, in dem der Stärkere gewinnt. Als „tiempo de la esclavitud“ - „die Zeit der Sklaverei“ - bezeichnen die Indianer die Kautschukzeit,
die um 1860 beginnt. Ganze Dörfer werden in den folgenden Jahrzehnten ausgerottet, Zehntausende von Indianern zwangsrekrutiert und zur Gummigewinnung in die nördlichen Tieflandregionen verschleppt. „Wie Vieh wurden
sie in das Kautschukgebiet getrieben, ob sie nun wollten oder nicht“, sagt Pessoa, dessen Großeltern die Kautschukzeit noch am eigenen Leibe erfahren
haben. „Wenn sie nicht genug Gummi aus den Bäumen zapften, wurden sie
als Faulpelze vor versammelter Mannschaft ausgepeitscht. Wer versuchte zu
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fliehen und wieder eingefangen wurde, was meistens der Fall war, dem
ritzte der Aufseher mit einem Messer die Fußsohlen auf und streute Salz in
die Wunden.“ Für die Indianer, klagt der Abgeordnete, habe es noch nie
Gerechtigkeit gegeben, sie mussten die Erniederungen und Folterungen
aushalten, denn wer es wagte, seine Stimme zu erheben, wurde bestraft
oder getötet.
Mit der Revolution von 1952 wurde zwar allen bolivianischen Staatsbürgern formal die Gleichberechtigung zuerkannt und die abwertende Bezeichnung „indio“ durch „campesino“, also „Bauer“ ersetzt, aber bis heute sind
viele Tieflandindianer der Obhut ihres „patrón“ ausgeliefert. „Auf dem
Land existiert und funktioniert zum Beispiel immer noch die Schuldsklaverei. Bei der Anwerbung hält der Patrón dem Indianer als Vorschuss ein Bündel Geld unter die Nase, das der natürlich sofort verprasst. Der Patrón ist
dann gerne bereit weiter anzuschreiben, immer soviel, dass der Indianer
seine Schulden nie begleichen kann“, erklärt Bernhard Fischermann das
System. An den Machtverhältnissen im Oriente hat sich nichts geändert. Wie
eh und je bestimmt in den abgelegenen Dörfern eine kleine Oberschicht aus
Weißen und Mestizen über das Schicksal der indianischen Mehrheit.
Die meisten Indianer leben außerhalb der Dörfer in kleinen Comunidades,
oft nicht mehr als zwei, drei Hütten ohne Strom und fließend Wasser auf
einem gerodeten Stück Urwald. Das Leben ist einfach und wird bestimmt
von Aussaat und Ernte auf den weit versprengten Feldern. Denn die Böden
der tropischen Wälder sind weit weniger fruchtbar, als es den Anschein hat.
Das komplexe Öko-System aus Pilzen, Parasiten und Kleinpflanzen, das den
Urwald üppig wuchern lässt, wird durch die Brandrodung zerstört. Bereits
nach wenigen Ernten ist die Erde ausgelaugt und braucht 15 Jahre um sich
zu erholen. Das Tempo der Versteppung und Erosion steigert sich. In atemberaubender Geschwindigkeit fressen sich die Monokulturen der Großgrundbesitzer in den Dschungel und schränken den Lebensraum der Ureinwohner immer weiter ein. „Für uns war und ist der Wald unser Supermarkt.
Dort finden wir Nahrung und Wasser, aber durch die Gier der Großgrundbesitzer wird der Supermarkt immer kleiner und es wird immer schwerer,
Wild, Früchte oder gutes Trinkwasser zu finden“, sagt Vicente Pessoa. „Die
Weißen haben sich das beste Land genommen und uns bleibt nur das schlechteste. Heute müssen wir alles mühsam anbauen und kultivieren. Wenn wir
Fleisch essen wollen, müssen wir Vieh züchten, wenn wir Früchte essen wollen, müssen wir sie anpflanzen.“
„Für Land und Würde“ lautete das Motto, unter dem im Spätsommer
1990 mehr als 1000 Tieflandindianer von Trinidad aus ins 650 Kilometer entfernte La Paz marschierten. Sie protestierten damit gegen die Holzfirmen,
Viehzüchter und Privatunternehmer, die in ihre Siedlungsgebiete eindringen,
Wälder und Böden zerstören und die Flüsse verseuchen. Sie forderten von
der Regierung die Anerkennung ihrer Territorien und die Kontrolle über
Waldbestände und Bodenschätze. Damit stießen sie jedoch auf erhebliche
Widerstände bei den politischen und wirtschaftlichen Machthabern im Land,
die den Indianerorganisationen vorwarfen, der Entwicklung Boliviens im
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Wege zu stehen. Vicente Pessoa: „Wir sind nicht gegen den Fortschritt oder
moderne Technologien, im Gegenteil: Wir möchten gerne daran teilhaben und
davon profitieren. Aber wenn Fortschritt bedeutet, dass unsere Flüsse vergiftet, unsere Bodenschätze geraubt und unser Land verwüstet wird, dann ist
es keine gute Entwicklung.“
Erst die reformfreudige Regierung unter Gonzales Sánchez de Lozada
versuchte mit dem INRA-Gesetz, das 1996 verabschiedet wurde, die Landfrage im Oriente zu klären. Bereits 1994 wurde die Agrarbehörde geschlossen und das gesamte Gebiet immobilisiert, das heißt, es durfte kein Land mehr
gekauft oder verkauft werden. Um Spekukationen zu verhindern sollten
Besitztitel erworben und Steuern auf Landbesitz erhoben werden. Außerdem
sollten Großgrundbesitzer, die ihre Ländereien über Jahre hinweg brach liegen lassen, enteigenet werden. Erstmals bezog eine bolivianische Regierung
auch die Indianerorganisationen mit ein, die einige ihrer Forderungen in die
Gesetzgebung einbringen konnten. So sollten 16 Gebiete als „Tierra comunitaria de origen“ (ursprüngliches Gemeinschaftsland) den verschiedenen
indianischen Völkern zugesprochen werden. „Die Reformer der letzten Regierung haben noch versucht, rechtzeitig vor den Wahlen, die indianischen
Gemeinden festzuschreiben, scheiterten aber am Widerstand der Großgrundbesitzer in der eigenen Partei“, erinnert sich Bernhard Fischermann.
So lässt die Verwirklichung der Zusagen bis heute auf sich warten, und wie
„effektiv“ das INRA-Gesetz in Wirklichkeit ist, zeigt sich am Beispiel Monteverde, ein bis vor kurzem nahezu unbesiedeltes Gebiet von etwas mehr als
einer Million Hektar, das die Chiquitano-Indianer beanspruchen. „Das
erscheint einigen Entscheidungsträgern zuviel. Aber wir sind immerhin fast
70.000 Chiquitanos, das wären also keine 50 Hektar pro Familie“, ärgert sich
Vicente Pessoa und fügt sarkastisch hinzu: „Viel wäre das, was uns früher
gehörte, nämlich alles.“ Mittlerweile gibt es eine Menge neuer Grundbesitzer im Monteverde, die sich mit Bestechungsgeldern und gefälschten Papieren Land angeeignet haben, darunter auch der jetzige Präsident Boliviens,
Hugo Banzer, und der ehemalige Präfekt von Santa Cruz. Andere schlagen,
ebenfalls illegal, die Edelhölzer im Monteverde, und wenn die Indianer sich
ihnen in den Weg stellen, schicken sie ihre „matones“, Auftragskiller, die
schon für 50 Dollar Menschen töten. „Die Weißen und Mestizen können oder
wollen einfach nicht verstehen, wie die Regierung das Land den Indianern
geben kann“, sagt Bernhard Fischermann. „Deshalb reißen sie sich soviel wie
möglich unter den Nagel, bevor es eines Tages zu spät ist.“
Das kann allerdings noch dauern, denn die derzeitige Regierung scheint
kein besonders großes Interesse daran zu haben, die Besitzverhältnisse im wilden Osten zu klären. Es scheint ein Kampf gegen Windmühlen, der Kampf der
Indianer gegen jahrhundertlange Unterdrückung und Ausbeutung. Bislang
beschreiten sie noch den legalen Weg und hoffen auf die Einsicht der Politiker. Vicente Pessoa: „Alles, was wir verlangen, ist unser gutes Recht. Wir wollen kein Geld und auch keinen Gefallen, schließlich sind wir schon immer hier
und haben ein Recht auf das Land und ein menschenwürdiges Leben.“
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Bolivien
Der alte Mann im Urwald: Hans Ertl
- Abenteurer, Bergsteiger, Kameramann
„Hans Ertl ist ein böser Mann mit eiskalten Augen“, erzählen die Leute in
Concepción. Ein aufbrausender, unberechenbarer Greis sei er, ein komischer
Kauz, der sich mit allen, die es gut mit ihm meinten, zerstritten habe. Nun
hause er einsam und verwahrlost auf seiner Farm Dolorida, wo scharfe Wachhunde angeblich jeden ungebetenen Gast in Stücke reißen. Schöne Aussichten für einen Besuch bei dem inzwischen 90jährigen Bayern, der in den 30er
und 40er Jahren zu den bekanntesten Kameramännern in Deutschland zählte.
Dem Mann mit der „entfesselten Kamera“ war kein Weg zu beschwerlich und
kein Abenteuer zu gefährlich um an spektakuläre Bilder zu kommen. Nach
dem Krieg hielt sich Ertl immer häufiger im Ausland auf, bevor er Mitte der
50er Jahre mit Frau Relly und seinen drei Töchtern nach Bolivien ging und in
Deutschland in Vergessenheit geriet.
Hans Ertls Farm „Dolorida“ liegt mitten im tropischen Tiefland Boliviens,
35 Kilometer von Concepcion entfernt, nahe der brasilianischen Grenze.
Eine heiße, feuchte, moskitoverseuchte Gegend, in der nur wenige Menschen leben. Undurchdringbarer Urwald und riesige Estanzien von zigtausend
Hektar prägen das Landschaftsbild. Der Bus, der dreimal täglich von Concepcion in die knapp 300 Kilometer entfernte Großstadt Santa Cruz fährt,
braucht für die Strecke bis zur Dolorida eine Stunde. Von der Straße aus führt
ein schmaler Pfad durch dichten Dschungel. Grillen und Sittiche machen
ohrenbetäubenden Lärm, hungrige Mücken schwirren zu Hunderten um das
Objekt ihrer Begierde und stechen selbst durch Hemd oder Bluse, die am verschwitzten Körper kleben. Ein handtellergroßer, blauer Schmetterling schwebt
mit langsamen Flügelschlägen vorbei und lässt sich auf einem Haufen Pferdeäpfel nieder. Endlich lichtet sich der Wald und gibt die Sicht frei auf hügeliges Weideland, wo Rinder und Pferde grasen. An einer Lagune suhlt sich eine
Horde Wasserscheine im Schlamm. Zwei Papageien flattern kreischend von
einer Palme; von den bissigen Hunden bislang keine keine Spur.
Auf einer Anhöhe, mitten in dieser paradiesischen Idylle, steht Ertls Haus.
Davor wartet der Verwalter Don Pablo und mustert mich misstrauisch von
oben bis unten, während Hans Ertl mit geladenem Gewehr hinter dem Fliegengitter steht, wie er später verrät. Aus Angst vor der jüdischen Geheimpolizei, die ihn angeblich liquidieren will. Als er auf einen Stock gestützt aus der
Tür schlurft, wirkt er wie ein Gespenst. Der grüne Armeeparker mit Deutschlandfahne und die Militärhose schlottern viel zu weit um seinen hageren,
gebeugten Körper; der weiße Vollbart ist zerzaust, die wenigen Haare wehen
wie Spinnweben im Wind. Der knochige Schädel ist mit Altersflecken, Äderchen und schorfigen Wunden übersät. Die wässrigen, blauen Augen haben
Schwierigkeiten, mich zu erkennen, die fleischigen Ohren hören schlecht.
Aber er freut sich über den unerwarteten Besuch und beginnt zu erzählen - ein
einstündiger Monolog, kreuz und quer durch sein 90jähriges Leben, eine
Reise in die Vergangenheit und in die deutsche Geschichte:
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Claudia Heissenberg
Bolivien
„Mein Vater wollte unbedingt, dass ich Diplom-Kaufmann werde, um später sein Geschäft zu übernehmen, aber ich hatte da überhaupt kein Interesse
dran.“ Statt sich um sein Studium an der technischen Hochschule in München zu kümmern, zog es den jugendlichen Abenteurer mit seiner LeicaKamera, die er vom Vater zum Geburtstag geschenkt bekommen hatte, in die
Berge. 1931 bezwang er als erster die Nordwände des Ortlers und der
Königsspitze und veröffentlichte darüber eine Fotoreportage in der „Hamburger Illustrierten“. „Da ruft bei mir zu Hause der berühmte Regisseur
Doktor Fanck an und fragt: ‘Haben Sie Lust, mit mir nach Grönland zu
gehen?’ Ich wollte zwar eigentlich lieber in den Himalaya, aber Grönland
klang ja auch nicht schlecht.“ Ertl ließ die Uni sausen und den Vater toben
und setzte sich in den Zug nach Hamburg. Für ihn war es der Beginn einer
steilen Karriere, die ihn in die entlegensten Ecken der Welt führen sollte.
Unter Arnold Fanck, dem Erfinder des Genres „Bergfilm“, erlernte er den
Umgang mit der Kamera und agierte bei gefährlichen Szenen als Schauspieler. Beim Grönlandfilm „SOS Eisberg“ ließ er sich als Double von
Leni Riefenstahl mit Perücke und Frauenkleidung von einem hundert Meter
hohen Eisberg abseilen, was ihn beinahe das Leben kostete. Die Eiswand
brach ab und Ertl stürzte ins Wasser. „Das ging endlos in die Tiefe und ich
konnte nicht anständig schwimmen mit der Kleidung und den schweren
Stiefeln.“ Hinter ihm war ein großes Stück Eis nachgebrochen und sauste
Zentimeter entfernt an ihm vorbei , bevor es zum Stillstand kam und wieder nach oben trieb. „ Ich war am Ertrinken und habe mich an dem Eisblock
festgeklammert. Wie mit einem Lift wurde ich an die Wasseroberfläche
transportiert und bekam endlich Luft.“ Hans Ertl schnauft atemlos, als
würde er das Geschehen in diesem Moment nochmal erleben.
Kaum aus Grönland zurück, war er als Bergsteiger und Kameramann bei
einer internationalen Himalaya-Expedition dabei und bestieg vier Gipfel
über 7000 Meter.
„Ich habe auf der Höhe sogar noch gebumst. Natürlich keine Sexualakrobatik, sondern ganz stillen, sanften Sex.“ Ertl lehnt sich im Stuhl zurück
und sinkt zusammen. „So viele Erinnerungen“, stöhnt er matt. „Du musst
entschuldigen, aber mein Kopf ist so voll und alles kommt durcheinander.“
Es kostet ihm sichtlich Mühe, seine Gedanken zu ordnen, und in der Erinnerung vermischen sich Wunschtraum und Wirklichkeit. Alles klingt wie ein
Roman und er ist der Held: der Frauenheld, der Held der Berge und der Held
der Kamera. „Machen wir Schluss für heute, ich bin ausgepowert“, sagt der
alte Mann und läßt ein Pferd satteln, das mich zurück zur Straße bringt.
Gut gelaunt erwartet er mich am nächsten Tag auf der Terrasse vor seinem
Haus. An den Wänden hängen Jagdtrophäen, zentimeterdick mit Spinnweben überzogen: Ein halbes Dutzend Ziegenböcke, eine vier Meter lange
Schlangenhaut und ein verblasster Alligator. „Der hat an der Lagune einen
meiner Hunde angefallen, da musste ich ihn erschießen. Dann hab ich ihn
in der Sonne getrocknet und jetzt hängt er hier.“ Hans Ertl grinst und bietet mir einen „Nonnenfurz“ an. Der klebrig-süße Baiser, der vermutlich
schon seit Ewigkeiten in der rostigen Blechdose mit der Aufschrift „Fest ver313
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Bolivien
schließen“ liegt, zerbröselt muffig im Mund. „Ich hab auch noch etwas
Mate für Dich, sehr gesund“, sagt Ertl, schlurft ins Haus und kommt mit
einem dreckverkrusteten Plastikbecher zurück. In der gelben Flüssigkeit,
die abgestanden und unangenehm säuerlich riecht, schwimmen drei undefinierbare tote Insekten.
Mit ausholenden Gesten beginnt der 90jährige zu erzählen, von seinem
Durchbruch als Kameramann bei der Olympiade 1936. „Ich bin ja eigens
die Olympiaschanze in Garmisch-Patenkirchen runtergesprungen mit der
Kamera vor der Brust um dem Publikum zu zeigen, was ein Skispringer in
der Luft erlebt, während er da runtersegelt. Das war eine Sensation damals,
als bekannt gegeben wurde, der Ertl springt mit der Kamera.“ In den Ohrkappen einer Mütze hatte Ertl für Panoramabilder eine kleine RobotKamera eingebaut, die er in der Manteltasche auslösen konnte. Mit seinen
außergewöhnlichen Aufnahmen war „der Mann mit der entfesselten
Kamera“ fortan der Star der „Wochenschau“ und wurde für den Olympiafilm der Sommerspiele unter der Regie von Leni Riefenstahl als Chefkameramann verpflichtet. Damit er die Turmspringer beim Eintauchen ins
Schwimmbecken filmen konnten, konstruierte er einen Spezialsessel und
die erste Unterwasserkamara, die später von den Amerikanern kopiert
wurde, wie er stolz bemerkt. „Ich habe ja auch den sogenannten Drehschwenk erfunden. Mit der Kamera in der Hand filmte ich Absprung und
Flug der Turmspringer und bin dann mit ihnen ins Wasser eingetaucht. Das
waren faszinierende Aufnahmen, wenn die vor mir so hochgurgelten.“
Das Publikum teilnehmen zu lassen und ganz nah an das Geschehen heranzuführen, darin sah Hans Ertl seine Aufgabe als Kameramann. Und
genau das schätzten auch die Nationalsozialisten an ihm. 1939, kurz vor
Ausbruch des Krieges - Ertl, inwischen 31 Jahre alt, bereitete gerade seine
zweite Chile-Expedition vor - lief er in Hamburg dem SS-Standartenführer
Eberhard Fangauf in die Arme. „ Der Fangauf war der Generalbeauftragte
für alle Filmvorhaben, ein widerlicher Kerl. Hätte ich das Hotel eine
Minute später verlassen, mein Leben wäre vielleicht ganz anders verlaufen.“ So aber geriet Hans Ertl in den Dienst der Nationalsozialisten. „Schau
an, Sie wollen also nach Chile?“, schnauzte der SS-Mann ihn an, „ Ihnen
würde das Ehrenkleid des deutschen Soldaten aber auch gut stehen.“ In der
Nacht wurden Ertl und sein Assistent Robert Dahlmeier von der SS abgeholt und zur infantristischen Grundausbildung nach Potsdam geschickt,
bevor sie wieder mit der Kamera arbeiten durften und Ertl als Sonderberichterstatter an nahezu allen Fronten dabei war. Mit seiner eigenen
„Bell&Howel“ - einer amerikanischen Kamera - denn das Material der
Wehrmacht sei reinster Mist und zu nichts zu gebrauchen gewesen.
Er drehte Propagandafilme mit Titeln wie „Glaube und Schönheit“,
„Der Sinn des Lebens“ oder „Sieg im Westen“, dokumentierte Rommels
Feldzüge in Afrika und Hitlers Besuch bei Mussolini in Italien. „Da kommt
der Mussolini raus aus der Säulenhalle, direkt auf die Kamera zu, wird
immer größer und größer und macht dann den Faschistengruß. Ich habe die
Kamera mitgeschwenkt, unter seinem Arm durch, runter auf das Manö314
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verfeld, wo die Soldaten aufmarschierten. Diese Aufnahmen waren damals
in der Wochenschau der Knüller.“ Schwierigkeiten mit dem Propagandaministerium seien allerdings an der Tagesordnung gewesen, wenn die
abgelieferten Auftragsarbeiten dem „obersten Filmgewaltigen“ Göbbels
nicht gefielen. Gefordert war vor allem „arisches Menschenmaterial“:
blonde BDM-Mädels bei Leibesübungen oder in der Küche, germanische
Soldaten, die mit ihren durchtrainierten Körpern in eiskalte Fluten springen oder fröhliche Lieder singen. „Mahatma Propagandi haben wir Göbbels unter uns genannt“, erinnert sich Hans Ertl, der im Laufe des Krieges
mit fast allen Nazi-Größen persönlich zu tun bekam. So war bei der Vorführung seines Films „Sieg im Westen“ über den Frankreichfeldzug auch
Adolf Hitler anwesend. „Da hatte ich eine Szene gedreht, in der ein Soldat
eine Kuh molk, während ein anderer den Schwanz der Kuh wie eine Wasserpumpe auf- und niederdrückte. Der Hitler hat gewiehert vor Lachen, der
ist richtig mitgegangen.“ Für Hans Ertl war Hitler „ein sympathischer und
kluger Mann“. Auch Erwin Rommel sei „ein Pfundskerl“ gewesen, Frühaufsteher wie er, mit einem weisen Lebensmotto: „Nie aufgeben, Ertl, hat
er zu mir gesagt, höchtens ausweichen. Das ist bis heute mein Evangelium.“
Die unkritische Art, mit der der 90jährige Anekdoten und Geschichten
aus dem Führerhauptquartier zum besten gibt, ist verwirrend. Hitler, Göbbels und Rommel, die die Nachkriegsgeneration nur aus Geschichtsbüchern
kennt, erscheinen in seinen Erzählungen als ganz „normale Menschen“ mit
Stärken und Schwächen. Obwohl Ertl zugibt, dass im Dritten Reich wie in
allen totalitären Systemen „der Wurm drin gewesen“ und viel Unrecht
geschehen sei, ist sein Bild vom Nationalsozialismus verzerrt. Andererseits
wird dadurch zumindest ein wenig verständlich, wie sich ein ganzes Volk
von einem Führer hat blenden lassen können. „Ich war vor allem von seiner Schlagfertigkeit fasziniert, die Reden vom Hitler sind wirklich doll
gewesen.“
Hans Ertl räuspert sich und bittet mich ins Haus - „mein Allerheiligstes,
das bekommen nur ganz wenige zu Gesicht.“ In der düsteren Wohnung
herrscht ein heilloses Durcheinander. Auf dem Lehmboden liegen Hunderte
leerer Konservendosen und Pappkartons; Gasherd und Töpfe starren vor
alten, angebackenen Essenresten. Im Schlafzimmer ein ungemachtes Feldbett mit zerschlissenen Wolldecken, zahllose Kisten mit Papieren und ein
mit Büchern vollgestopftes Regal, auf denen Horden von Insekten ihre Spuren hinterlassen haben. An der Wand, unter einem Jaguarschädel, stehen
zwei Gewehre. Vor ein paar Jahren, erzählt man in Concepción, habe die
bolivianische Polizei ein riesiges Waffenlager bei ihm beschlagnahmt.
„Alles Quatsch“, sagt der Alte. „Ich bin ein friedfertiger Mensch, der nur
seine Ruhe haben will.“
Am nächsten Morgen ist Hans Ertl wie ausgewechselt. Feindselig starrt
er mich an, knurrt mürrisch, gar nichts werde er mehr erzählen, ich wolle
ihn ja doch nur betrügen. Er hätte geglaubt, hinter mir stünde eine finanzkräftige Redaktion, die ihm ein ordentliches Honorar zahlen würde, damit
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er sich endlich wieder ein Auto kaufen könnte. „Aber du bist ja gar keine richtige Journalistin“, schimpft er böse und dreht sich um. Von diesem Stimmungswechsel völlig überrumpelt versuche ich ihn zu beruhigen. Schließlich
lässt er sich erweichen und ich darf das Mikro einschalten: „Nach dem Krieg
bekam ich einen Posten als Chef der Dokumentar- und Farbfilmabteilung bei
der Bavaria angeboten. Doch obwohl ich nie in der Partei war, hatte ich beim
politischen Screening Schwierigkeiten mit der Besatzern. Man warf mir vor,
ich hätte die beste Propaganda für Hitler gemacht und damit den Krieg verlängert.“ Der alte Mann schüttelt verständislos den Kopf und stampft seinen
Gehstock trotzig auf den Boden. Bis heute fühlt er sich zu Unrecht verurteilt,
um seinen Ruhm als Filmemacher betrogen. „Ich habe nie jemanden getötet,
habe das Grauen im Krieg nur dokumentiert und es blieb mir doch damals
nichts anderes übrig, als zu gehorchen.“
Der Job bei der Bavaria platzte und Hans Ertl zog wieder in die Fremde.
1950 bis 52 leitete er die deutsche Anden-Amazonas-Expedition, 1953
drehte er einen Film über die Erstbesteigung des Nanga Parbat im Himalaya durch Hermann Buhl unter der Leitung von Dr. Herrlighofer. Aber die
großen Erfolge von früher blieben aus und mit Herrlighofer geriet er in
einen Streit, der juristisch vor dem Münchener Landgericht mit einem
Vergleich endete. Trotzdem fühlte Ertl sich um Geld und Ehrungen betrogen. Sein Groll hat sich auch im Alter noch nicht gelegt. „Das ist eine solche bodenlose Gemeinheit, wie man mich in Deutschland behandelt hat.
Ich hab an die Bundesregierung geschrieben, aber diese feigen Schweine
unternehmen nichts, damit ich zu meinem Recht komme“, schreit Ertl
mit sich überschlagender Stimme. „Darum scheiß ich auch auf dieses
Vaterland, weil es mich nicht in Schutz nimmt. Ich bin nur mit Dreck
besudelt worden.“
Verbittert und enttäuscht nahm Ertl das Angebot der bolivianischen
Regierung an, die Gebirgstruppen des südamerikanischen Landes auszubilden. 1955 ging er mit seinen beiden Töchtern Heidi und Monika im
Urwald auf die Suche nach der sagenhaften Inka-Stadt Paititi. Nach größten Strapazen, bedroht von Giftschlangen und Feuerameisen, fand der
„Spähtrupp in die Vergangenheit“ tatsächlich vom Urwald überwucherte
Ruinen und Gebrauchsgegenstände aus der Inkazeit. Am Rio Cocharcas
stieß die Expedition auf den bis dahin unbekannten Indianerstamm der Sirinos. „ Da fahr ich um eine Kurve rum und auf einmal springt ein Mädchen
aus dem Wasser, splitternackt, grinst mich an und verschwindet wieder.“
Die Expedition schlug in der Nähe ein Lager auf und Hans Ertl verewigte
die „nackten Wilden“, wie er sie nennt, in seinem Film „Hito Hito“. Wenige
Jahre später waren die Sirinos ausgerottet. „ Die wurden einfach abgeknallt,
niedergemäht mit Maschinenpistolen, bis keiner mehr übrig war.“
Für seine Arbeit bekam Ertl von der bolivianischen Regierung den Verdienstorden 1. Klasse und das Dauerasylrecht dort. Aber wirklich glücklich
sollte der Bayer am anderen Ende der Welt nicht werden. 1958 verstarb seine
„geliebte erste Frau Relly“ in La Paz an Lungenkrebs, ein Jahr später hatte er
einen schweren Autounfall, bei dem sein gesamtes Filmmaterial vernichtet
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wurde. Ertl stand, nahezu mittellos, vor dem Nichts. Er hängte die Filmerei an den Nagel, verkaufte seine gesamte Ausrüstung und zog sich mit seiner zweiten Frau Burgl ins bolivianische Tiefland zurück. Vom Franziskanerkonvent in Concepción bekam er ein Gelände im Urwald geschenkt,
wo er mit eigenen Händen ein Stück Deutschland schuf. Abgeschieden lebten Ertl und seine Frau von ihrer Rinderzucht; der Kontakt mit der Außenwelt blieb auf wenige Besuche in Concepción beschränkt. Vier Stunden war
Ertl damals mit dem Jeep oder Unimog unterwegs und der Weg war auch
nur in der Trockenzeit passierbar. Seine Frau Burgl litt mit den Jahren
immer stärker unter der Einsamkeit. Sie zog sich völlig zurück, hatte
Angst vor Menschen, scheute jeden Kontakt. Vor 12 Jahren ging sie krank
und gebrochen nach Deutschland zurück. Seitdem lebt Hans Ertl allein.
„Aber der schwerste Schicksalsschlag war für mich, als die Monika
umgebracht wurde.“ Der alte Mann ist kaum zu verstehen und seine
Stimme klingt traurig und gebrochen, als er von seiner ältesten Tochter
erzählt. Seine Lieblingstochter, die eigentlich ein Junge werden sollte und
reiten und schießen konnte wie ein Mann. Ihr habe in ihrer Ehe die Liebe
gefehlt, ist Ertl überzeugt, deshalb habe sie sich einer militanten Befreiungsorganisation angeschlossen. Für die bolivianische Regierung war
Monika Ertl die Hauptverdächtige beim Attentat auf den Generalkonsul
und früheren Geheimdienstchef Quintanilla 1972 in Hamburg. Im Mai
1973 wurde sie von der bolivianischen Polizei erschossen. „Die Monika
war eben sehr fanatisch und kompromisslos. Ach Mocklchen, vorbei, vorbei,... in der Ewigkeit treffen wir uns wieder.“ Hans Ertl wedelt mit der
Hand, als wolle er den Gedanken an seine tote Tochter verscheuchen, und
versinkt in Schweigen.
Der Tag geht zur Neige, die Abendsonne taucht die Dolorida in warmes,
goldgelbes Licht. Der Verwalter, Don Pablo, und sein 16jähriger Gehilfe
Maximo treiben die Kühe auf die Koppel. Hans Ertl lächelt müde: „Das ist
immer herrlich, abends, wenn die Rinder nach Hause traben mit ihren
hocherhobenen Schwänzen, und da drüben an der Lagune die weißen
Vögel, vollgefressen mit Rinderzecken, und dort die Wasserschweine, die
sich noch in der letzten Sonne wärmen. Das ist mein Leben hier.“
Den 90jährigen heute politisch einzuschätzen, ist unmöglich, dafür ist
sein Geist zu verwirrt, sind seine Standpunkte zu konträr. Er wirkt allerdings nicht wie ein verbohrter Nazi, einer jener Unverbesserlichen, die
auch heute noch nach einem „Führer“ rufen. Obwohl er sagt, dass er zur
Zeit mit der DVU sympathisiert, weil die „mit den Bonzen aufräumen will“
und ihm wöchentlich ein Exempar der „Deutschen Volkzeitung “ schickt.
Keinen Atemzug später erklärt er jedoch den „Spiegel“ zur wichtigsten
deutschen Zeitschrift - für ihn ein Zeichen, dass die Demokratie funktioniert, „weil dort tüchtige Reporter arbeiten, die den Politikern auf den Zahn
fühlen.“
Hans Ertl ist ein widersprüchlicher, ein schwieriger Mensch; einer, der nicht
so leicht aufgibt und keine Kompromisse macht. Ein Exzentriker und ein alter
Grantler, der kaum noch Freunde hat und sich die Solidarität seiner Lohnar317
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beiter mit Bier erkauft. Launenhaft wie eine alte Diva zehrt er vom Ruhm vergangener Zeiten, verbittert, dass man ihn und sein Werk vergessen hat. Einsam, alt und gebrechlich lebt er in seiner Welt - eine Welt, die er sich so
geschaffen hat. „Manchmal betrinkt er sich abends alleine in seinem Haus“,
sagt Maximo. „Dann singt er laut und tanzt mit seinem Gehstock durch das
Zimmer.“ Ab und zu, wenn neugierige Touristen auf der Dolorida vorbeischauen, blüht er für kurze Zeit auf, zeigt seine Bücher, erzählt die immergleichen Geschichten und verrät das Geheimnis seines Alters - „Ginseng und
Magnesiummilch sind meine Lebenselixiere.“
Das Jahr 2000 möchte er mindestens noch erleben und „französischen
Schaumwein“ aus dem Silberpokal trinken, den er in Como für seine Filmarbeit überreicht bekam. Seine letzte Ruhestätte hat er trotzdem schon vor Jahren geschaufelt und ausgemauert. Regelmäßig befreit er Schlangen und Kröten aus dem Grab, das auf einem Hügel mit Blick über sein Anwesen liegt.
Davor stehen zwei Araukarien, weil die ihn an deutsche Tannen erinnern. „Es
ist für mich beruhrigend zu wissen, wo ich eines Tages einmal für immer ausruhen werde, das gibt mir eine innere Sicherheit. Hier hab ich auf eigenem
Boden mein Grab und da ist Heimaterde drin, ich kann da schlummern bis
in die Ewigkeit. Amen.“ Zwei Mücken landen auf seiner faltigen Stirn und
zapfen ihm seelenruhig Blut ab, ohne dass er es bemerkt. Hans Ertl rezitiert
ein letztes Gedicht, eines von Dutzenden, die er in den letzten Jahren verfasst
hat:
„Mein Grab im Urwald ist gegraben, meine Tage sind vom Schicksal
gezählt.
Ich habe keine Fragen mehr an diese verrückte Welt.
Das Tröstliche ist zu wissen, dass auch Ganoven krepieren müssen,
wenn der Tod sein Urteil fällt.
Verrecken soll jedes dreckige Schwein zusammen mit seiner Brut,
Wer Greise schikaniert, infam und gemein, hat nur noch Jauche im Körper statt Wärme und Blut.“
Encuentros bolivianos - Bolivianische Begegnungen
Klaus aus Münster, der mich auf der Plaza von Santa Cruz um eine Zigarette anhaut, ist ein ziemlich durchgekiffter Typ. Ein Freak, Ende 30, mit nervösem Kopfzucken und flatternden Händen. Vor fast 20 Jahren hat Klaus dem
Münsterland den Rücken gekehrt und reist seitdem durch die Welt, war
lange Zeit in Kathmandu, hat eine Tochter in Brasilien und schlägt sich mit
Gelegenheitsjobs durch’s Leben. Viel braucht er nicht; Hauptsache es gibt
genügend gutes Gras und einen Platz zum Schlafen. „Drüben in der Pizzeria
sitzt der Heini Lutz, das ist auch ein Deutscher, den solltest du unbedingt kennenlernen“, sagt Klaus. „Über den hat letztens sogar der Spiegel berichtet.“
In der Pizzeria begrüßt uns ein untersetzter, kahlköpfiger Mann um die 50
mit fleischigem Gesicht. „Heinrich Lutz, Nationaldemokrat und Arbeiter der
Stirn und Faust“, stellt er sich mit dröhnender Stimme vor. „Jetzt habt ihr ja
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Bolivien
die Macht in Deutschland, ihr Sozis und ihr Grünen, und müsst zeigen, dass
ihr es besser könnt“, blafft er mich an. Mein Versuch, direkt auf den Punkt,
also den Bericht im „Spiegel“, zu kommen, scheitert kläglich. Heinrich Lutz
- „nenn mich Heiner“ - lässt sich nicht darauf ein und wettert stattdessen mit
rollendem R gegen die „christlich-jüdische Kapitalgesellschaft“, die seiner
Meinung nach den deutschen Karren gründlich in den Dreck gefahren habe.
Um das Gesagte noch zu unterstreichen, sticht er mit seinem Zeigefinger ständig schmerzhaft in meinen Oberarm. Klaus aus Münster grinst nur dämlich,
wenn er nicht gerade sagt: „Gisela, du bist echt die Schärfste“ oder „Der Heini
ist ein Guter, der ist voll in Ordnung.“
Heinrich Lutz, Ex-Mitglied der NPD, stammt aus Bayern und lebt seit acht
Jahren als Bauunternehmer in Santa Cruz, weil ihm das „Klima“ in Deutschland nicht mehr behagte. Eigentlich hatte er vor, nach Paraguay auszuwandern,
aber seit der Strössner nicht mehr an der Macht sei, habe sich dort vieles geändert. „Jau“, nickt Klaus, „unter Strössner, das war’n geile Zeiten.“ Irgendwann
im Laufe der nächsten zwei Stunden - eine Diskussion über 1918 konnte
gerade noch abgewendet werden - erzählt Heinrich Lutz endlich, was es mit der
Spiegelgeschichte auf sich hat. „Du kannst drei Tage umsonst in einem meiner Appartements wohnen, topmodern, mit Swimmingpool, und die Unterlagen durchsehen. Ich habe kistenweise Beweise.“ Beweise über das illegale Treiben eines deutschen V-Mannes des BKA, der in Peru und Bolivien unschuldige
Menschen als mutmaßliche Terroristen ins Gefängnis gebracht hat und in
Drogengeschäfte verwickelt war. „Ein widerlicher Typ“, dem Lutz unbedingt
mit Hilfe der Presse das Handwerk legen will. Zwar haben der Spiegel und die
Süddeutsche Zeitung bereits über den Fall berichtet, aber ohne Lutz, den ExNPD’ler, als Informanten zu nennen. Auch der Bundesregierung habe er eine
Zusammenarbeit angeboten, bislang ohne Reaktion, und jetzt schlägt er mir
vor, darüber ein Buch zu schreiben. „Du kannst das Geld auch behalten, ich
will nur, dass Gerechtigkeit herrscht.“ Ich verspreche es mir zu überlegen und
verlasse ziemlich durcheinander das Lokal.
Sven ist 20 und stammt aus einem kleinen Dorf in der Eifel. Ein schüchterner, noch etwas unfertiger Junge mit weichen Gesichtszügen, der sich
nach „Liebe und Vertrauen“ sehnt. Die letzten 15 Monate hat er als Zivildienstleistender bei irgendeiner deutschen kirchlichen Organisation in Sucre
gearbeitet und viele Illusionen verloren. „Einmal war eine Delegation aus
Deutschland zu Besuch, die hatten überhaupt keinen Plan. Die haben ein paar
Häkelpüppchen in die Hand gedrückt bekommen und waren zufrieden.“
Uneffektiv und dilettantisch sei das Projekt gewesen, schimpft Sven, der
sich gerne mit wohlklingenden Fremdwörtern ausdrückt und dabei manches
Mal danebenlangt. Misslungen ist auch sein Versuch „zusammen mit den Indianern auf dem Campo zu leben“, quasi selbst zum Indianer zu werden. „Das
ist einfach ‘ne ganz andere Kultur, da steht man außen vor und kommt nicht
rein. Die Leute sind total verschlossen.“
Zusammen mit seinem Freund Carsten, einem 25jährigen Sauerländer, der
mit 17 in die Hafenstraße abgehauen ist und sich jetzt bei fast allen Filmhochschulen der Welt bewirbt, hat Sven in Sucre das Koksen angefangen.
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„Hätte ich vor zwei Jahren auch nicht gedacht, dass ich das mal machen
würde“, grinst der Junge, während er auf dem Küchentisch mit einer Spielkarte das weiße Pulver zerkleinert, spürbar aufgeregt und hektisch atmend.
„Das Zeug macht mich ganz hibbelig, der pure Wahnsinn, wie das glitzert.
Aber in Deutschland hör ich damit auf, ist viel zu teuer.“ Zurück in Deutschland will Sven studieren, irgendwas mit Kommunikation, am liebsten Werbung. Als ich ihm erzähle, dass, wie man so höre, gerade in der Werbebranche viel gekokst werde, schaut er mich entsetzt an und wischt sich die
Kokainreste von der Nase.
Früher einmal war José Calderón Pilot und flog mit kleinen Cessnas von
Cochabamba nach Santa Cruz über den weiten bolivianischen Urwald. Bis
ihm sein Beruf zum Verhängnis wurde. „Eines Tages hat mir jemand gesagt,
du bekommst für einen Transport soundsoviel Geld, und es war eine Menge
Kohle. Ich habe jedenfalls nur das Geld gesehen und nicht an die Folgen
gedacht oder dass ich etwas Illegales tue.“ Mit 500 Kilo Kokain an Bord
wurde der Pilot vor zehn Jahren von der Polizei erwischt und sitzt seitdem im
Gefängnis San Pedro. Der rund 100 Jahre alte Bau, umgeben von einer
hohen Adobemauer, steht mitten in La Paz und nimmt einen ganzen Straßenblock im Quadrat ein. Am Eingang kontrollieren drei Polizisten Taschen
und Personalien der Besucher. Hinter dem Eisengitter drängeln sich Dutzende Männer und bieten ihre Dienste an. Für einen Boliviano machen sich
die „Taxis“ auf die Suche nach Gefangenen.
Von innen ist San Pedro ein Labyrinth - eine Stadt in der Stadt mit Kiosken,
Fußballplatz, Marktfrauen, Coca-Cola-Werbung an den rissigen Wänden
und Dutzenden kleiner Garküchen und Restaurants, in denen das Mittagessen eine Mark und der Mate 25 Pfennig kostet. Schmale Durchgänge, muffige Tunnel und steile Treppen trennen die fünf verschiedenen barrios Knastviertel, in denen 1400 Männer leben. Konstruiert ist der Bau für 400.
Kindergeschrei hallt aus den Innenhöfen, in einem schmutzigen Wasserbecken planschen vier Jungen. Rund 60 Kinder wohnen mit ihren Vätern in
San Pedro, weil sich ihre Mütter aus dem Staub gemacht haben oder nicht für
den Nachwuchs sorgen können.
Ein Drittel der Häftlinge sitzt wegen Drogen, der Rest wegen Betrug,
Diebstahl, Raub, Vergewaltigung oder Mord. Viele warten über Jahre auf
ihren Prozess, manchmal länger, als ihre Haftstrafe dauert, oder sie bleiben
hinter Gittern, weil sie die Anwaltshonorare nicht bezahlen können. Zwei
der Häftlinge führen für 30 Bolivianos auf englisch und spanisch Touristen
durch den Knast, um sich damit die nötigen 10.000 Dollar für einen korrupten Richter zu verdienen. Die Zellen sind winzig und müssen von reicheren Gefangenen gemietet oder vom Vorgänger gekauft werden. Der
Kaufpreis liegt zwischen 200 und 5000 Dollar, je nach Ausstattung und
Lage. „In Los Postres, wo die richtig dicken Fische sitzen, haben die Zellen
sogar ein eigenes Bad und Zimmerservice“, erzählt José Calderón, während
wir bei Mauro, dem Goldschmied, auf dem Bett hocken. Über wackelige
Hühnerleitern gelangt man in das Kämmerchen im 3. Stock, das zum Stehen viel zu niedrig ist. Mauro bastelt aus alten Blechdosen Spielzeug-Last320
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wagen und fertigt auf Anfrage Silberringe mit winzigen andinen Motiven,
kleinen Lamas oder Balsabooten, für 5 Mark das Stück. Ein bisschen Geld
erleichtert das Leben hinter den Mauern erheblich. „Wer Knete hat, kann sich
sogar den Pizzaservice oder Prostituierte ans Eingangsgitter bestellen“,
meint der ehemalige Pilot. „Außerdem ist es von Nutzen, falls man einen
Beamten bestechen muss.“
Wärter oder Schließer gibt es in dem Gefängnis nicht; die Häftlinge
sichern ihre Zellen selbst mit schweren Vorhängeschlössern. Nach neun
Uhr abends, wenn die Polizisten am Eingang Feierabend haben, bleiben die
Männer von San Pedro sich selbst überlassen. Viel Gewalt gebe es trotzdem
nicht, sagt Calderón, die Atmosphäre im Knast sei „tranquilo no más“ - ganz
entspannt. Im Januar wird der 42jährige wegen guter Führung vorzeitig auf
Bewährung entlassen. Draußen will er ein Restaurant eröffnen und ein neues
Leben beginnen. „Man muss sich ändern, ein anderer Mensch werden, als
man vorher war. Ich war damals ein Luftikus, nichts war mir wichtig, aber
hier drinnen lernt man die Dinge zu schätzen, Freundschaften, die Familie
und auch sich selbst, und das ist viel wert.“
„Hey, Valderrama“, begrüßen die Schuhputzerjungen vor dem Postgebäude Susanne Gesell aus Aachen. Die 19jährige mit blonden Dreadlocks
wie der kolumbianische Fussballstar arbeitet seit drei Monaten als Freiwillige für die Fundación Arcoiris. Die „Stiftung Regenbogen“, 1994 von dem
deutschen Pfarrer José Neuenhofer gegründet, betreut rund 1000 Straßenkinder in La Paz. „Am Anfang war ich überrascht, wie leicht ich mit den
Jungs und Mädchen in Kontakt kam, aber je länger ich da bin, desto klarer
wird mir, wie wenig ich letztendlich ausrichten kann in dem einem Jahr“, sagt
Susanne, die jeden Tag von neun bis sieben durch die Innenstadt läuft. Sie
redet mit den Kindern, begleitet sie zum Arzt, macht Familienbesuche. Vor
allem aber sammelt sie Geld ein für die „Kindersparkasse“, eine Initiative in
Zusammenarbeit mit einer bolivianischen Bank, die Konten für die Straßenkinder eingerichtet hat, damit sie ihr Geld zinsbringend anlegen können
und so den Wert des Geldes schätzen lernen. Oft sind es nur drei oder fünf
Bolivianos, weniger als 2 Mark, die in Susannes rosa Plastiksparschwein
wandern und von ihr einmal wöchentlich in einer mehrstündigen Banktransaktion auf über hundert Konten eingezahlt werden.
Rolando Mamani will mit dem Geld, das er in den letzten Monaten
zusammengespart hat, Studiengebühren und Lehrbücher bezahlen. Seit zehn
Jahren arbeitet der 21jährige vormittags als Schuhputzer vor der San Francisco Kirche, nachmittags ging er zur Schule und baute vor einem Jahr das
Abitur. Rund 13 Mark verdient Rolando Mamani am Tag, mehr als ein bolivianischer Lehrer. „Wer gut putzt, wird auch gut bezahlt“, murmelt er lakonisch. Sein Gesicht ist, wie bei den meisten Schuhputzern, dick mit Schal und
Mütze vermummt. „Der Job ist nicht besonders gut angesehen, deswegen
möchte ich nicht erkannt werden“, sagt Ronaldo, der Psychologie studieren
und später einmal richtig Karriere machen will.
Schätzungweise 30.000 Kinder arbeiten in La Paz als Schuhputzer, Busausrufer, Süßigkeitenverkäufer oder Autowäscher, weil sie einen Beitrag zum
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Claudia Heissenberg
Bolivien
Familieneinkommen leisten müssen. Weitere 6000 Kinder leben auf der
Straße, verwaist und völlig auf sich gestellt. Die meisten haben keinen
Namen, keine Identität, nur ein geschätztes Alter. Nachts schlafen sie dicht
aneinandergedrängt in Hauseingängen oder unter Brücken. „Viele schnüffeln
Kleber oder ziehen sich mit einem Gemisch aus reinem Industriealkohol
und Fruchtsaft die Birne zu“, erzählt Susanne. „Oft prügeln sie sich auch oder
rauben sich gegenseitig aus, aber irgendwie schlagen sie sich immer durch.“
Es sei nicht leicht die Kinder von der Straße zu holen, sagt Susannes Kollege Markus Gewald, der älteren Straßenkindern Arbeit oder Ausbildungsplätze besorgt. „Eine Sisyphusarbeit“, stöhnt der 30jährige Student aus Reutlingen, der sein zweites Praxissemester Sozialarbeit bei der Fundación
Arcoiris ableistet. „Die Kids sind total unselbstständig und unzuverlässig. In
der Regel sind sie zwei Wochen begeistert von dem neuen Job und geben dann
wieder auf.“ Denn so trostlos, wie das Leben auf der Straße erscheint, sei es
für die Kinder und Jugendlichen keineswegs. Die Straße bedeutet Freiheit und
Abenteuer, es ist viel los, sie können ihre Arbeitszeiten selbst bestimmen und
machen, was sie wollen. „In irgendeiner Werkstatt müssen sie von 8 bis 18 Uhr
ranklotzen, haben vielleicht noch einen furchtbaren Chef oder miese Arbeitsbedingungen und verdienen auch noch weniger als auf der Straße. Da ist es
verständlich, dass viele nach kurzer Zeit kneifen.“
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Corina Lass
Heimliches Leiden
- Frauenschicksale in Äthiopien
Äthiopien vom 18.09. - 30.10.1998,
betreut von der Friedrich-Ebert-Stiftung
323
Inhalt
Äthiopien kann seine Armut nicht verbergen
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Tigray - eine infrastrukturelle Musterregion
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Aufklärung an der „German Church School“
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Traditionelle Heiler und überlieferte Praktiken
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AIDS- und HIV-Verbreitung
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Fistulas - Das heimliche Leiden der äthiopischen Frauen
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Verbotene und verpfuschte Abtreibungen
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Frauen und Mädchen tragen schwer
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Lebensalltag in der Stadt und auf dem Land
342
Fazit
346
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Corina Lass
Äthiopien
Corina Lass, geboren 1963 in Münster, Westfalen. Studium der Rechtswissenschaften in
Münster und Köln. Volontariat bei der Neuen
Westfälischen in Bielefeld. Ab 1996 Lokalredakteurin der Neuen Westfälischen, zunächst in
Warburg, seit Anfang 1999 in Lübbecke.
Äthiopien kann seine Armut nicht verbergen
Wer nach Äthiopien reist und auf dem Flugplatz von Addis Abeba landet,
sieht von der vielgepriesenen Schönheit des Landes und seiner Menschen
zunächst wenig: Äthiopien gehört zu den fünf ärmsten Ländern der Welt - und
das kann es nicht verbergen. Abseits der großen Boulevards mit ihren überdimensionalen Betonbögen aus der sozialistischen Zeit fallen die in Lumpen
gekleideten ausgemergelten Körper auf, die auf ungepflasterten Bürgersteigen um Almosen betteln. Einige haben einen schmutzigen Lappen vor sich im
Staub ausgebreitet, auf dem sie die Münzen sammeln, die ihnen zugeworfen
werden. Die meisten der Frauen haben Babys bei sich. Manche scheinen zu
schwach, um den Arm zu heben und das Geld entgegenzunehmen, das ihnen
gereicht wird. Andere sehen einen Ausländer und hoffen auf ein gutes
Geschäft: „Ferendge, Birr! - Weißer, Geld“. Vor allem Kinder versuchen, mit
dem Verkauf von Kaugummis und Papiertaschentüchern einen kleinen
Gewinn zu machen.
Zweimal täglich, morgens und abends, sind die Straßen und Bürgersteige
der Hauptstadt voll mit Menschen, auf dem Weg von oder zur Arbeit. Menschen in traditionellen, langen Gewändern, Menschen in moderner europäischer Kleidung, Kinder und Jugendliche in bunten Schuluniformen. Frauen
mit schweren Lasten, mit Körben voll Obst, mit Säcken voll Getreide, mit
Kalebassen voll Öl, mit Krügen voll Wasser, mit einem riesigen Bündel Feuerholz … Wer genau hinsieht, entdeckt bei einigen von ihnen die Auswirkungen von Unterernährung, die Folgen gebrochener Knochen, die Anzeichen
eines ersten Aidsausbruchs, eine Desorientierung, wie sie nur von Syphillis
im fortgeschrittenen Stadium herrühren kann, offene Wunden von Unfällen.
Die Armut hinterläßt Spuren, von denen Ausländer, die länger in der Stadt
sind, behaupten, dass sie sie nicht mehr sehen: „Mit der Zeit bekommt man
einen Tunnelblick, man guckt nicht mehr nach rechts oder nach links.“
Doch wer ab und zu nach rechts und nach links blickt, und das vielleicht
auch mal ganz genau, der sieht nicht nur die Auswirkungen der Armut, son326
Corina Lass
Äthiopien
dern auch das Sterben. In meiner Erinnerungen an Äthiopien werden immer
auch die Menschen sein, die ihr nächtliches Quartier unter einer Plastikplane am Straßenrand nicht mehr verlassen haben, die irgendwo vor sich hin
vegetierten, bis sie starben oder sich ihrer jemand erbarmte.
Krankenwagen von Karlheinz Böhms Organisation „Menschen für Menschen“ fahren täglich durch Addis Abeba, um diejenigen aufzuladen, die auf
der Straße nicht länger überleben würden. Zwei- bis dreimal steuern sie
dabei an jedem Tag auch das Gelände der Barmherzigen Schwestern, der Missionaries of Charity, nahe Sedist Kilo an, um dort all diejenigen abzuliefern,
die am Eingang zum Krankenhaus abgewiesen wurden. Keiner von ihnen
hätte das Krankenhaus bezahlen können. Fast alle haben Aids.
Als ich im Februar 1998 zum ersten Mal in Äthiopien und auf dem Gelände
der Schwestern bin, liegt unter den Kranken eine blinde Frau mit Malaria. Sie
hat eine kleine Tochter, ein etwa einjähriges Mädchen, um das sie sich trotz
ihrer Krankheit liebevoll kümmert. Und die Kleine trotzt selbstbewusst und
mit aller Kraft ihrer Mutter, wenn sie nicht bekommt, was sie will. Genau verfolgt sie, was in dem Raum mit den etwa 30 Betten und etwa doppelt so vielen kranken Frauen um sie herum passiert, während sie sich zugleich mit einer
neuen Forderung an ihre Mutter wendet. Die Kleine ist der Liebling aller. Sie
wird dieser rauhen äthiopischen Gesellschaft schon die Stirn bieten, denke ich:
Die wird sich nicht unterkriegen lassen. Eines Tages bekommt das Mädchen
einen nicht enden wollenden Durchfall. Die Schwestern geben ihm Medikamente, die aber nicht anschlagen. In ihrer Verzweiflung öffnet die Mutter die
kleinen in Plastik gehüllten Kugeln mit getrockneten Kräutern, die sie ihrer
Tochter kurz nach der Geburt um den Hals gehängt hat, um sie vor bösen Geistern zu schützen. Doch auch ihr Glaube ändert nichts daran, dass ihre Tochter immer teilnahmsloser wird. Schließlich scheint eine Infusion die letzte
Möglichkeit zu sein. Zwei Stunden lang versucht eine Ärztin, eine der winzigen Venen mit der Nadel zu treffen. Vergeblich. Nach zwei weiteren Stunden ist das Mädchen tot. Was war passiert? Kurz bevor sein Durchfall begann,
war das Kind von Verwandten abgeholt und zu einem traditionellen Heiler
gebracht worden, der ihm das Rachenzäpfchen abschnitt. Seine Mutter wollte
es so. Vermutlich hatte der Mann - oder die Frau - mit einem unsauberem
Messer gearbeitet.
Tigray - eine infrastrukturelle Musterregion
Im Sommer 1998 gibt es in Äthiopien ein zentrales Thema: den militärischen Konflikt mit Eritrea. Während sich vor allem die Ausländer in der
Hauptstadt sorgen, scheint die Auseinandersetzung im Norden des Landes die
Äthiopier fast unberührt zu lassen. Wie alles in Äthiopien sind auch diese
Streitigkeiten mit Eritrea für Außenstehende schwer zu verstehen. Was treibt
zwei der ärmsten Länder der Welt dazu, miteinander Krieg zu führen?
Der Krieg brach im Norden Äthiopiens, in der Provinz Tigray, aus. Der
kleine Grenzverkehr mit dem benachbarten Eritrea schien dort lange gut zu
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Corina Lass
Äthiopien
funktionieren. Äthiopien erhielt bis zum Kriegsausbruch Salz aus dem
benachbarten Küstenstaat und profitierte von den beiden Meereszugängen:
Die kürzeste Verbindung von Nordäthiopien zum Roten Meer bot die eritreische Hafenstadt Massawa, die von Tigray aus über eine gut ausgebaute ‹berlandstraße zu erreichen war, die durch den Grenzort Zalambessa in die eritreische Hauptstadt führte. Im Süden Eritreas, nahe Dschibuti, liegt außerdem der
Hafen von Assab, der ebenfalls von Äthiopien genutzt wurde. Im Gegenzug
war Äthiopien für die Eritreer ein wichtiger Absatzmarkt: äthiopische Händler wurden verpflichtet, eritreische Waren abzunehmen.
Die Nordprovinz kann als beispielhaft gelten für die Politik der äthiopischen
Regierung: Aus einer Steinwüste wollte sie eine infrastrukturelle Musterregion machen. In der tigreischen Provinzhauptstadt Mekele herrschte noch
Mitte 1997 Bauboom; die Wirtschaft schien zu florieren. Diese Entwicklun
ging allerdings auf Kosten der restlichen äthiopischen Bevölkerung: Während
ein Großteil der Entwicklungshilfe in den Norden floß, wurden Kapazitäten
im Süden des Landes so gut wie gar nicht entwickelt. Im Gegenteil: ausländischen Presseveröffentlichungen zufolge wirkten sich die Aktivitäten im
Norden sogar kontraproduktiv auf die Industrie im Süden aus. Während eine
Textilindustrie im Norden boomte, blieb eine andere im Süden ohne Aufträge.
Während im Norden ein Betonwerk gebaut wurde, war ein bereits bestehendes im Süden nicht ausgelastet.
Dahinter steht die stark ethnisch orientierten Politik der Regierung. Regierungspartei ist die EPRDF, die Revolutionäre Demokratische Front der Äthiopischen Völker, die sich 1988 aus verschiedenen Guerillagruppen gründete
und den Sturz der sozialistischen Regierung in Addis Abeba zum Ziel hatte.
Die bis heute dominante Gruppe innerhalb der EPRDF ist die Tigreische
Befreiungsfront (TPLF), die von Meles Zenawi angeführt wurde. Nach dem
Sturz des sozialistischen Regimes 1991 wurde Zenawi zunächst ‹bergangspräsident. Er versprach für Äthiopien die Demokratie und wurde 1995 zum
Ministerpräsidenten des Landes gewählt. Die Wahl war allerdings umstritten,
seine Gegner warfen ihm Wahlmanipulation vor.
In der Zwischenzeit hatte sich die Bevölkerung der nördlichsten Provinz,
zu der auch der Küstenstreifen im Osten gehört, für die Unabhänigigkeit von
Äthiopien ausgesprochen. Im April 1993 wurde der unabhängige Staat Eritrea
ausgerufen, den nur wenig später auch die Regierung in Addis Abeba anerkannte. Nach der friedlichen Sezession Eritreas wurde Meles Zenawis Waffenbruder, der Anführer der Eritreischen Volksbefreiungsfront (EPLF), Isaias
Afeworki, Staatspräsident des neuen Küstenstaates.
Nationalistische Kreise hatten Meles Zenawi schon kurze Zeit nach der
Unabhängigkeit Eritreas Druck gemacht, weil er ihrer Ansicht nach die
eritreischen Gebiete samt der beiden Häfen am Roten Meer vorschnell aufgegeben hatte. Die Kritik kommt besonders heftig aus Teilen der amharischen
Presse. Dies hat seinen Grund darin, dass die Amharen das von den Tigreern
entmachtete traditionelle äthiopiopische Herrschaftsvolk sind. Schon während
der Kaiserzeit dominierte es politisch und kulturell. Seit der Vertreibung
Mengistu Haile Mariams 1991 und der Machtergreifung der Tigray-Guerilla
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Corina Lass
Äthiopien
unter Meles Zenawi stehen die Amharen in der Opposition. Und glaubt man
den Amharen, dann sorgt die tigreische Regierung dafür, dass das auch so
bleibt: Inzwischen seien alle Schlüsselpositionen in der Hauptstadt mit
Tigreern besetzt, heißt es. Die Amharen hätten entweder in die zweite Reihe
zurücktreten müssen oder Positionen mit vorwiegend repräsentativen Aufgaben erhalten.
Zur Zeit der friedlichen Abspaltung Eritreas hatte Meles Zenawi wohl
noch geglaubt, wegen der gemeinsamen Währung, dem Birr, weiterhin genügend Einfluss auf das Nachbarland zu haben. Ende 1997 führte Eritrea jedoch
unter heftigen Protesten Äthiopiens seine eigene Währung, den Nakfa, ein und
verlieh damit seiner Autarkie auch finanzpolitisch Ausdruck. Von dem Zeitpunkt an wurden wirtschaftliche Transaktionen zwischen beiden Länder einschließlich der Nutzung der beiden Häfen in US-Dollar abgewickelt. Doch
Dollars waren und sind in Eritrea wie Äthiopien rar. Die Selbstverständlichkeiten des Grenzverkehrs verschwanden. Damit wurden plötzlich auch ungelöste Grenzfragen zum Thema, die bislang nie von Interesse gewesen waren.
Noch beim Gipfel von Entebbe Ende März 1998 verpflichteten die USA
eine Reihe ostafrikanischer Staats- und Regierungschefs, unter ihnen auch den
äthiopischen Ministerpräsidenten Meles Zenawi, auf die Schaffung stabiler
demokratischer Verhältnisse und die Vertiefung des innerafrikanischen Dialogs. Die Amerikaner, die in die ostafrikanische Allianz auch Ruanda und
Uganda einbezogen, sorgen sich vor allem um die Verhältnisse im Sudan: Von
der sudanesesichen Hauptstadt Karthum aus versucht die Nationale Islamische
Front einen moslemischen Gottesstaat zu etablieren. Gewaltsamen Widerstand
leisten ihr die Christen und Anhänger von Naturreligionen im Süden des
Sudans. Ein Gegner der sudanesischen Regierung, die sudanesische Volksbefreiungsarmee, fand in Äthiopien Zuflucht. Ein anderer Gegner, die Nationale Demokratische Allianz des früheren sudanesischen Ministerpäsidenten
Sadik el Machdi, hat in Eritrea ihren Sitz.
Mit einem Krieg zwischen Eritrea und Athiopien zerbricht die von den
Amerikanern angestrebte ostafrikanische Allianz. Die Auseinandersetzung
muss ihnen daher ungelegen gekommen sein.
Die ersten Kämpfe in der Grenzregion zwischen der Provinz Tigray und
Eritrea gibt es am 6. Mai 1998: Streitobjekt ist ein rund 400 Quadratkilometer großes Gebiet etwa 180 Kilometer östlich von Zalambessa. Eritrea beruft
sich auf die Grenze, die von der ehemaligen Kolonialmacht Italien 1885
gezogen und auf einer alten Karte eingezeichnet worden war; Äthiopien hat
hingegen angeblich eine neue Karte mit veränderter Grenze herausgegeben.
In ausländischen Presseveröffentlichungen wird immer wieder angedeutet,
dass in der Region Gold vorkomme. Während meiner Zeit in Äthiopien ist das
jedoch kein Thema.
Gekämpft wird im Juni nicht nur in dem umstrittenen Gebiet, sondern vor
allem an drei Orten: an zwei Grenzpunkten im Norden, nämlich in Badme und
in der Region um die Grenzstadt Zalambessa, sowie an der 70 Kilometer vom
eritreischen Hafen Assab entfernt liegenden Grenze. Die eritreische Bombenangriffe zwischen dem 4. und 11. Juni 1998 konzentrieren sich jedoch
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Corina Lass
Äthiopien
ebenfalls nicht auf das umstrittene Gebiet, sondern auf zivile Einrichtungen
in den Städten der näheren und weiteren Umgebung: In der äthiopischen Stadt
Mekele ist eine Schule betroffen, im nahe der Grenze liegenden Adigrat sind
es zwei Kornspeicher, eine Kirche und eine neue Arzneimittelfabrik und in
Axum der fast fertiggestellte Flugplatz. Im Gegenzug bombardiert Äthiopien
die eritreische Hauptstadt Asmara und dort insbesondere den Flughafen. Das
legt die Vermutung nahe, dass es gar nicht um ein Stück felsiges Gebirgsland,
sondern um die Zeichen fortschreitender Entwicklung in den beiden unterentwickelten Staaten geht.
Die Bewohner von Addis Abeba haben dem Grenzkonflikt in den ersten
Monaten keine besondere Bedeutung geschenkt. „Die Menschen haben hier
keine Angst. Der Krieg ist doch weit weg, oben im Norden“, erklärte mir ein
Student. Insbesondere die Amharen in der Opposition nehmen anfangs mit
einer gewissen Genugtuung an, dass es sich um einen Konflikt der Tigreer
handelt, den auch die Tigreer würden ausbaden müssen. Die Herausforderung,
die das kleine Eritrea an seinen großen Nachbarn richtet, gilt als eine Beleidigung - und es geschieht den Tigreern ganz recht, dass ihnen dies widerfährt.
Erst nach und nach dämmert den Amharen, dass sich Äthiopien in einem
Krieg befindet, der sich nachteilig auf das gesamte Land auszuwirken scheint.
Mit der Erkenntnis, dass die Beleidigung alle betriefft, ändert sich die Stimmung im Land. Bei den einfachen Leuten mischt sich alter Ärger über die
Unabhängigkeit Eritreas mit einer neuen Solidarität mit der tigreischen Regierung: „Was sind 15 000 oder 20 000 Menschenleben gegen einen Hafen?“
fragt mich ein Im- und Exporteur aus Addis Abeba.
Zur Grundlage für die Verhandlungen zwischen Äthiopien und Eritrea
macht die Organisation für Afrikanische Einheit unmittelbar nach Kriegsbeginn
eine von Ruanda und den USA vorgelegte Friedensinitiative. Diese sieht den
Rückzug der eritreischen Streitkräfte und eine Entmilitarisierung der umstrittenen Gebiete vor sowie den sofortigen Stop von Luftangriffen. Danach wollen internationale Experten gemeinsam mit den beiden Regierungen den
Grenzverlauf einvernehmlich festlegen. Mitte Juni lehnen die Eritreer diesen
Vorschlag ab: Sie wollen zuerst verhandeln und dann über einen Rückzug mit
sich reden lassen. Äthiopien ist jedoch nicht zu Verhandlungen bereit, solange
sich eritreische Truppen in dem umstrittenen Grenzland aufhalten.
Die Verhandlungen ziehen sich hin. Und die Ausländer in Addis Abeba
rechnen damit, dass die Bombardierungen im Norden des Landes erneut
beginnen, wenn die Regenzeit vorbei ist. Die Führungen ausländischer Organisationen in Addis Abeba machen ihre Mitarbeiter mit Evakuierungsplänen
für den Fall der Fälle vertraut. Vereinzelt heißt es, der Krieg werde letztlich in
der Hauptstadt entschieden. Die Regenzeit, die Mitte Juni begonnen hat und
eigentlich im September zu Ende sein soll, dauert jedoch an. Die sintflutartigen Schauer ergießen sich fast bis zum letzten Tag des Oktobers über das
Hochland, ohne dass es ein erneutes Aufflammen der militärischen Auseinandersetzung gibt.
Unterdessen rekrutiert die Regierung Soldaten. Wer zur Armee will, muss
bestimmte Kriterien erfüllen. Er soll zwischen 18 und 25 Jahre alt und über
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Corina Lass
Äthiopien
1,60 Meter groß sein. Außerdem muss er ein Gewicht von mehr als 60 Kilogramm auf die Waage bringen. Das grenzt den Personenkreis stark ein. Denn
alle, die auf der Straße leben, nie genug zu essen haben und sich vom Kriegsdienst regelmäßige Mahlzeiten und einen monatlichen Sold erhoffen, scheiden damit aus. Anfang Juni, als Freiwillige offenbar noch rar sind, rekrutieren die Militärs junge Soldaten von der Schule weg: „Die Mütter haben auf
den Straßen vor den Schulen in Addis gestanden und nach ihren Söhnen
geschrien“, erinnert sich eine Deutsche.
Mitte September sollen Gerüchten unter Ausländern zufolge im Norden des
Landes 200 000 Mann unter Waffen stehen. Zur Unterhaltung seien sieben
Millionen US-Dollar täglich nötig, heißt es. Noch während meiner Zeit in
Äthiopien werden weiter busseweise die Soldaten in die Kriegsregion gekarrt.
Die Stimmung unter ihnen ist offenbar gut: Die uniformierten jungen Männer lachen und winken aus den Fenstern heraus, wenn sie auf der Landstraße
von einem anderen Wagen überholt werden. Die Stadt Bahir Dar, etwa 500
Kilometer nördlich von Addis Abeba, durchqueren Mitte Oktober täglich
mehrere Busse mit Soldaten, die auf dem Weg ins Kriegsgebiet sind, und die
jungen Männer scheinen immer besser gelaunt; je näher sie ihrem Einsatzgebiet kommen.
Für den Transport der Soldaten quer durch das Land verwendet die Regierung die ‹berlandbusse, die normalerweise zwischen den verschiedenen Provinzen und der äthiopischen Hauptstadt hin- und herpendeln. Mitte Oktober
ist es so gut wie unmöglich, von Barhir Dar im Norden des Landes ein Tikket für eine Fahrt nach Addis Abeba zu bekommen. Und auf dem Flugplatz,
der etwas außerhalb liegt, sind vom Boden wie von der Luft aus gut sichtbar
mehrere Kampfflugzeuge stationiert.
Von der Kriegsbegeisterung lassen sich all diejenigen nicht anstecken, die
wirtschaftliche Aspekte vor Augen haben. „Der Krieg macht die Wirtschaft
unseres Landes kaputt“, sagt mir ein Mitarbeiter des Kulturministeriums, der
in Erwägung gezogen hat sich mit einem eigenen Reisebüro selbständig zu
machen. Und ein befreundeter Ingenieur aus Addis Abeba sagt: „Ich kann nur
ins Ausland liefern, wenn ich auch Termine einhalten kann. Unser Land
braucht Frieden, damit wir Vertrauen aufbauen können.“
Aufklärung an der „German Church School“
Die medizinische Versorgung in Äthiopien ist äußerst unzureichend. Es
fehlt an Krankenhäusern, an Geld für Ausstattung und Medikamente, an der
Möglichkeit für die ländliche Bevölkerung, ein Krankenhaus überhaupt zu
erreichen. Ersatzweise gibt es sogenannte Health Center. Darin arbeiten
Frauen, die „in einer 18monatigen rein praktischen Ausbildung gelernt haben,
den Leuten auf dem Land die Furunkel aufzuschneiden“, wie es eine deutsche
Ärztin in Addis Abeba ausdrückt.
Präventiv hat die Regierung 1994 begonnen, Gesundheitsvorsorge an allen
öffentlichen Schulen zu betreiben. Auch an der Schule der Evangelischen
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Corina Lass
Äthiopien
Gemeinde Deutscher Sprache in Addis Abeba wird viel für die Gesundheit der
Kinder und Jugendlichen getan. Im September 1998 besuchen 1033 Schülern
im Alter von acht bis 25 Jahren die Schule, 18 von ihnen absolvieren ein
Berufsbildungsprogramm für angehende Sekretärinnen und Sekretäre. Unter
den Schülern sind auch 24 blinde Kinder, die nach Angaben der Schule zu 90
Prozent zu den besten Schülern der Einrichtung gehören. Alle Kinder stammen aus der direkten, slumähnlichen Umgebung der Kirche und kommen aus
Familien mit geringem oder gar keinem Einkommen. In der „German Church
School“ bekommen sie eine kostenlose Schulbildung, freie medizinische
Versorgung, Schuluniformen und Schuhe, ein monatliches Taschengeld und
zweimal im Jahr Lebensmittel.
Für die Krankenstation, die kostenlose medizinische Grundversorgung
und den sogenannten Hygiene-Unterricht ist Schwester Fikerte zuständig. Die
Äthiopierin war ursprünglich OP-Schwester am Black Lion Hospital, bevor
sie 1993 an die „German Church School“ wechselte. Bei zehn bis zwölf
Schülern erneuert sie dort einmal täglich den Verband. Außerdem kümmert
sie sich um alle Arten von kleineren Erkrankungen, insbesondere um Magenund Darmparasiten, Hautprobleme, Erkältungen, Mandel- und Ohrentzündungen. Und schließlich unterrichtet sie in jeder Klasse eine Stunde pro
Woche Hygiene.
„Das fängt in der ersten Klasse mit einem Sauberkeitstraining an, das
heißt, ich erkläre den Kinder zum Beispiel, wie sie Wasser zubereiten müssen, um Krankheiten zu vermeiden, dass sie es abkochen, dass sie das
Geschirr sauber halten müssen“, erzählt Schwester Fikerte, und dass dies
schon deshalb schwierig umzusetzen sei, weil die sanitären Bedingungen in
den Hütten völlig unzureichend seien: Die Kinder leben in Hütten, in denen
es weder Toiletten noch fließendes Wasser gibt. In den folgenden Klassen
stünden Themen wie Ernährung, Methoden der Vorbeugung von ansteckenden Krankheiten wie Tuberkulose, Typhus, Pilze oder Parasiten und schließlich die Aufklärung über die körperliche Entwicklung und sexuell übertragbare Krankheiten wie HIV auf dem Stundenplan.
Die Mütter werden ab der ersten Klasse in den Unterricht mit einbezogen.
Sie seien oft sehr unwissend und bräuchten viel Anleitung. „Zuerst sind sie
sehr schüchtern und ihnen ist alles sehr, sehr peinlich. Aber das ändert sich,
wenn sie merken, dass wir ganz normal mit dem Thema umgehen“, sagt
Schwester Fikerte. Teilweise überläßt die Äthiopierin die Aufklärung auch
Experten aus Organisationen, die sich auf bestimmte Themen spezialisiert
haben. Mit Erfolg: Einige ihrer Schüler seien inzwischen so fit in Sachen Aufklärung und Vermeidung sexuell übertragbarer Krankheiten, dass sie es selbst
unterrichten könnten. Unter Anleitung hätten 15 von ihnen gerade ein Puppenspiel eingeübt, mit dem sie zeigen, wie HIV und Lepra vermieden werden
können. „Aufklärung ist ein wichtiges Thema an unserer Schule.“ Und das
Thema bleibt nicht dort: „Die Kinder und Jugendlichen tragen die Aufklärung
in die Familien. Sie bemerken ja, dass ihre Freunde sterben“, sagt Pfarrfrau
Angelika Vedeler. Die Erwachsenen würden das eher verdrängen.
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Corina Lass
Äthiopien
Traditionelle Heiler und überlieferte Praktiken
In Äthiopien gibt es eine Vielzahl von traditionellen Heilern, die Erkrankungen nach überlieferten Methoden zu heilen versuchen. Für die Erblindung
der 24 Schüler an ihrer Schule waren nach Ansicht von Schwester Fikerte in
fast allen Fällen die Praktiken solcher traditionellen Heiler verantwortlich. Das
sei aber ein persönlicher Eindruck, der medizinisch nicht belegt sei, räumt sie
ein. Dass die Heiler tatsächlich auch heilende Fähigkeiten haben könnten, mag
die Krankenschwester so aber nicht stehen lassen: „Ich habe es hier immer nur
mit der Kehrseite zu tun“, antwortet sie. „Diese Art Ärzte ist gefährlich.“
Traditionelle Praktiken sind in der äthiopischen Gesellschaft tief verwurzelt, und zwar nicht nur in den weit abgelegenen Regionen, in denen die Menschen keinen Zugang zur modernen Medizin haben und auf die verfügbaren
und erreichbaren Angebote zurückgreifen müssen. Die wenigen Organisationen, die gegen die überlieferten traditionellen Praktiken anarbeiten, brauchen einen langen Atem: Traditionen lassen sich nicht einfach vom Sockel
stürzen. Das National Committee on Traditional Practices of Ethiopia
(NCTPE) begegnet ihnen nach dem Motto „steter Tropfen höhlt den Stein“
mit fortwährenden Aufklärungskampagnen. Zu den Strategien dieser einzigen
rein äthiopische Organisation, die sich die Bekämpfung schädlicher traditioneller Praktiken auf die Fahnen geschrieben hat, gehören Seminare und
Workshops, in denen vor allem Multiplikatoren - beispielsweise Lehrer, Religionsführer, Repräsentanten staatlicher Organisationen, medizinisches Personal und Geburtshelfer - geschult werden.
Das NCTPE ist eine Nichtregierungsorganisation, zu deren 20 Gründungsmitgliedern 1993 jedoch auch sechs Ministerien gehörten, außerdem die
äthiopisch-orthodoxe Kirche, die Addis Abeba University, der landesweite
Zusammenschluss der äthiopischen Krankenschwestern und die UNICEF. Das
National Committee ist nicht auf Profit ausgerichtet und will nicht politisch
wirken. Letzteres muss man als Europäer jedoch relativieren: Natürlich arbeitet die Organisation auf gesellschaftliche Veränderungen hin. Doch die sollen
sich zuerst in den Köpfen abspielen.
1998 hat das National Committee die wahrscheinlich größte Feldforschung
gestartet, die jemals in Äthiopien durchgeführt wurde: Seine Mitarbeiter
gingen in alle zehn Regionen des Landes und sammelten dabei Infomationen
von mehr als 44 000 Menschen. Da sie nicht in den Ballungszentren blieben,
sondern ihre Untersuchung auf 57 Zonen, 112 Woredas und 22 Stadtzentren
erstreckten, konnten sie 65 der 83 ethnischen Gruppe erfassen, die in Äthiopien beheimatet sind. Diese 65 Ethnien machen fast 99 Prozent der Gesamtbevölkerung von Äthiopien aus, erklärt NCTPE-Direktorin Abebech Alemneh.
Für die Studie seien Fragebögen entwickelt worden, mit denen qualitativ
und quantitativ wichtige Daten erfasst werden konnten: Absicht des NCTPE
war es, sowohl die Art der traditionellen Praktiken zu ermitteln, die von
Region zu Region sehr unterschiedlich sein können, als auch ihre Verbreitung.
Ausgegangen war das National Committee dabei von 20 gesundheitsschäd333
Corina Lass
Äthiopien
lichen Praktiken, die es weiter zu hinterfragen galt. Bei der landesweiten
Untersuchung stießen die Mitarbeiter jedoch auf 140 gesundheitsschädliche
Varianten, die zum Teil allerdings nur in einzelnen Dörfern oder schmalen
Landstrichen verbreitet waren.
Die Macher der Studie, die im Dezember 1998 fertiggestellt wurde, kommen zu dem Schluss, dass das Leben in den ethnischen Gruppen wie bei fast
allen Gesellschaften im vorindustriellen Stadium von Mythen, Aberglauben
und den männlichen Vorstellungen von Körperlichkeit und Sexualität geprägt
ist. „Das führt landesweit in fast allen ethnischen Gruppen zu traditionellen
Praktiken, die die menschliche Gesundheit, das Streben nach Gleichheit, die
politischen und sozialen Rechte sowie den Prozeß wirtschaftlicher Entwikklung angreifen.“ Betroffen von traditionellen Praktiken seien in erster Linie
Frauen und Kinder.
Frauen sind der Untersuchung zufolge vor allem von acht gesundheitsschädlichen Praktiken betroffen: weibliche Genitalverstümmelung, Heirat
infolge vorhergehender Entführung, Unterleibsmassagen bei Schwangeren,
Schütteln der Frau nach der Niederkunft, verschiedene drastische Maßnahmen, mit denen nach der Geburt die Plazenta herausgetrieben werden soll,
Herbeiführen von Blutungen nach Abgang der Plazenta und die Benachteiligung bei der Versorgung mit Essen. An Kinder werden inbesondere sechs
Praktiken vorgenommen: Durchtrennen des Rachenzäpfchens, Ziehen von
Milchzähnen, Herausschneiden der Mandeln, Vorenthalten von Nahrung und
Flüssigkeit im Fall von Diarrhoe, Füttern mit Butter und Fernhalten von
Sonneneinwirkung.
Zwei der Praktiken, die nur Kinder betreffen sind besonders weit verbreitet: die Milchzahnextraktion und das Durchtrennen des Rachenzäpfchens.
Vom Ziehen der Milchzähnen sind etwa 89 Prozent aller Kinder betroffen. Bei
84 Prozent von ihnen wird außerdem das Rachenzäpfchen abgeschnitten.
„Beide Praktiken haben wir im gesamten Land vorgefunden“, erzählt Mrs.
Abebech.
Frauen sind am stärksten von Beschneidungen aller Art betroffen: „Wir
haben festgestellt, dass weibliche Genitalverstümmelung das größte Problem im Land ist“, erzählt Mrs. Abebech. Die Untersuchung habe ergeben,
dass 73 Prozent aller Frauen beschnitten würden. Nur in der Region Gambela
werde auf diese Praxis verzichtet. Im übrigen Äthiopien variieren die Formen:
Die Infibulation, die stärkste Variante der weiblichen Beschneidung, wird bei
den Afar, den Somalis, den Harrari sowie teilweise in der Benishangul/Gulmuz-Region und von den Oromos praktiziert. Bei dieser Art der Genitalverstümmelung werden die Klitoris, sowie die inneren und äußeren Schamlippen
entfernt. Sodann steckt die Beschneiderin die verbleibenden äußeren Häute
der beiden äußeren Schamlippen mit Dornen oder Nadeln zusammen, manchmal näht sie die Häute auch zusammen, bis nur noch eine kleine Öffnung
bleibt, durch die Urin und Menstruationsblut abfließen können. Danach werden die Beine des Mädchens von den Hüften bis zum Fußgelenk für mehrere
Tage bis Wochen zusammengebunden, damit die Wunde vernarben kann,
ohne dass sie wieder aufreißt. Die Operation wird auch heute noch meistens
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Corina Lass
Äthiopien
ohne Narkose mit einem Messer, einem Stück Glas oder einer Rasierklinge vorgenommen. Das National Committee on Traditional Practices of Ethiopia hat
über diese Form der Beschneidung einen anschaulichen und schonungslosen
Film gedreht, der jedoch - weil er alles zeigt - fürs Fernsehen nicht geeignet ist.
Neben der Infibulation, der grausamsten Form der weiblichen Genitalverstümmelung, gibt es verschiedene andere, abgeschwächtere Varianten: Bei der
Excision werden Klitoris und die inneren Schamlippen weggeschnitten, ohne
dass die Beschneiderin jedoch näht. Bei der Klitorisdectomie schneidet sie die
Klitoris heraus, bei der „Beschneidung“ (sunna) die Vorhaut der Klitoris. Das
Alter, in dem die weibliche Genitalverstümmelung vorgenommen wird, variiert.
Im ersten Lebensjahr beschneiden die Tigreer, die Afar und die Amharen ihre
Mädchen, die Somali beschneiden etwa im 7. oder 8. Lebensjahr, einige Volksgruppen der Southern Peoples Nation nehmen die Beschneidung erst zu einem
viel späteren Zeitpunkt vor.
Zum Zeitpunkt der Untersuchung hatte das National Committee bereits ein
Programm gestartet, das traditionelle Beschneiderinnen über die Gefahren von
weiblicher Genitalverstümmelung aufklärt und versucht, für sie eine andere
Betätigung zu finden. Das ist vor allem deshalb schwierig, weil die Frauen trotz
intensiver Aufklärung noch immer ein relativ hohes Ansehen genießen und gut
bezahlt werden. Allerdings verändert sich die Haltung gegenüber der Beschneidung: Frauen der aufgeklärteren Mittelschicht erzählen, dass sie ihre Mädchen
nicht beschneiden lassen würden, weil man - vor allem im Fernsehen - immer
wieder höre, dass das nicht gut für ihre Gesundheit sei. Ein Agrarökonom
bestätigt mir das. Der junge Mann erzählt, dass er die Beschneidung seiner
kleinen Schwester kurz nach der Geburt verhindert habe. Sie sei inzwischen
sieben Jahre alt und raufe viel mit den Nachbarkindern. Seine Eltern würden
ihm aus diesem Grund nun Vorwürfe machen. Sie würden sagen, das Kind habe
nur deshalb so viel Temperament, weil es nicht beschnitten sei. Der 24jährige
befürchtet, dass es Schwierigkeiten geben wird, wenn seine Schwester einmal
heiraten will und ihr möglicher Ehemann es ablehnt, eine unbeschnittene Frau
zu heiraten.
Auf die Frage, ob es für ihn einen Unterschied machen würde, mit einer
beschnittenen oder unbeschnittenen Frau verheiratet zu sein, sagt der Agrarökonom zunächst, dass das für ihn keinen Unterschied mache. Allerdings weiß
er nicht genau, wovon er spricht: Die Tatsache, dass mit der Klitoris auch die
Möglichkeit beschnitten wird, eine bestimmte Art von Gefühlen zu haben,
erstaunt ihn. Er habe gedacht, die weibliche Beschneidung entspreche der von
Männern, sagt er.
Neben der weiblichen Genitalverstümmelung gebe es außerdem zwei Praktiken, die besonders weit verbreitet seien und besonders das Leben von Frauen
und Mädchen berührten, sagt Abebech Alemneh: Entführung und frühe Eheschließungen. Die Entführung ist eine besonders in der südlichsten Region, der
Southern Peoples Region, und unter den Oromos verbreitete Methode von
Männern, sich ein Ehefrau anzueignen. Sie geht in der Regel mit Gewalt einher, oft auch mit Vergewaltigung. Es gibt allerdings auch Fälle, in denen ein Paar
verabredet, dass der Mann das Mädchen entführen soll, um so ein Verbot der
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Corina Lass
Äthiopien
Familien oder unbezahlbare Hochzeitsfeiern zu umgehen. Frühe Eheschließungen kommen vor allem in der Amhara-Region und in Tigray vor.
Aids- und HIV-Verbreitung
Aus dem Speiseraum dringt das Lachen der Kinder beim Essen. Obwohl
draußen die Sonne scheint, ist der angrenzende Schlafraum ein wenig abgedunkelt. In seinem Kinderbett liegt ein Junge, vermutlich noch kein Jahr alt,
und stirbt. Aus den Augen spricht Leid. Aids hat seinen Gesichtsausdruck so
kurz vor dem Tod zu dem eines alten Mannes gemacht. Die Missionaries of
Charity, der Orden, dem Mutter Teresa vorstand, betreiben in Makanissa,
einem Stadtteil von Addis Abeba, ein Kinder-Aidshaus. Auf dem Gelände, das
inmitten der slumähnlichen Umgebung wie eine Oase des Friedens wirkt, werden Kinder versorgt, die bereits mit Aids geboren wurden. In der Regel sterben sie noch vor ihrem zehnten Lebensjahr.
In der äthiopischen Zentrale des Ordens, nahe der Minibus-Haltestelle
Sedist Kilo, sind die älteren kranken Kinder zusammen mit den kranken und
sterbenden Erwachsenen untergebracht. Auch unter ihnen sind einige mit
Aids. Das verwundert bei elf-, zwölfjährigen oder nur wenig älteren Kindern:
Diese Jungen und Mädchen sind zu alt, um sich noch im Mutterleib angesteckt zu haben. Und sie sind zu jung, als dass sie sich - wie von vielen Mädchen schon mit elf oder zwölf Jahren verlangt - prostituiert und dabei angesteckt haben könnten. Schwester Fikerte von der deutschen Schule in Addis
Abeba geht davon aus, dass in diesen Fällen die traditionellen Heiler schuld
sind: „Sie arbeiten mit dreckigem Besteck, wenn sie die Zäpfchen im Hals
durchtrennen, Zähne ziehen oder die Mädchen beschneiden“, sagt sie verächtlich. Einen Beweis hat sie nicht: HIV-Tests sind teuer und die Behandlungen im Fall eines positiven Ergnisses sowieso nicht bezahlbar; darum
werden sie kaum vorgenommen. Die Indizien sprechen jedoch oft eine deutliche Sprache: feine Bläschen, die den Herpes-Bläschen ähnlich sind, statt am
Mund jedoch am Kopf auftauchen und sich dann den Nevenenden folgend
über eine Stirnseite zu einem Auge hin ausbreiten. Schwester Fikerte erinnerte
sich an einen 14jährigen Schüler mit diesen Symptomen und fragt sich: „Wie
kommt ein 14jähriger an Aids?“ Gleiches gelte für den Fall eines achtjährigen
Mädchen, das kerngesunde Eltern habe, aber mit den gleichen Symptomen
wie der Junge und einem Gewicht von nur etwa elf Kilogramm eingeschult
worden sei. „Woher soll sie Aids haben, wenn nicht von dem unsauberen
Arbeitsbesteck eines traditionellen Heilers?“ fragt sie wiederum und verweist
auf das durchtrennte Rachenzäpfchen, das sie bei der Untersuchung entdeckte.
Von HIV und AIDS waren Ende 1997 weltweit 30,6 Millionen Menschen
betroffen. Das geht aus Schätzungen in einem UN-Bericht von Juni 1998 hervor. In Ähtiopien lebten dem gleichen Bericht zufolge 2,6 Millionen der
HIV-Infizierten oder AIDS-Kranken. Das sind 8,5 Prozent der Infizierten und
Erkrankten weltweit. Nach Schätzungen des äthiopischen Gesundheitsmini336
Corina Lass
Äthiopien
steriums soll im Jahr 2000 die Zahl der Infizierten und Kranken auf 3,2 Millionen angestiegen sein. Die neuesten Zahlen der UNO gehen von weltweit
mehr als 33 Millionen Infizierten aus; 5,8 Millionen Neuinfektionen habe es
allein im vergangenen Jahr gegeben.
Schätzungen der UN-Organisation UNAIDS zufolge, die ebenfalls 1998
veröffentlicht wurden, sind 7,4 Prozent aller erwachsenen Äthiopier HIV-infiziert. Von den männlichen Einwohnern der Hauptstadt Addis Abeba im Alter
zwischen 20 und 25 Jahre sollen 17 Prozent infiziert sein, bei der entsprechenden weiblichen Altersgruppe liege die Zahl bei 12,6 Prozent. Im Jahr
2001 sollen 50 Prozent aller äthiopischen Krankenhaus-Betten mit AIDSPatienten belegt sein.
Von den schwangeren Frauen in Addis Abeba sind nach Schätzungen des
äthiopischen Gesundheitsministeriums, das seine Zahlen ebenfalls 1998 veröffentlichte, 18 Prozent infiziert. 90 Prozent aller Infizierten seien zwischen
20 und 49 Jahren alt. Dem Ministerium zufolge verstarben 1997 eine Million
Äthiopier aufgrund ihrer HIV-Infektion.
Das heimliche Leiden äthiopischer Frauen
In Addis Abeba, in der unmittelbarer Nähe zu den Botschaften der Schweiz
und Irlands, betreibt Cathrine Hamlin eine Klinik für Frauen, die nach einer
Geburt inkontinent wurden. Die britische Ärztin kam 1959 gemeinsam mit
ihrem inzwischen verstorbenen Ehemann Reginald nach Äthiopien, um in
einem staatlichen Krankenhaus zu arbeiten. Vorgesehen waren drei Jahre.
Doch dann hatte das Ehepaar Kontakt zu Patientinnen mit Blasen-ScheidenFisteln. Das Schicksal der Frauen rührte die beiden Ärzte so sehr, dass sie protegiert von Kaiser Haile Selassie - 1974 eine eigene Klinik in Äthiopien
aufbauten. Es ist die einzige ihrer Art in Äthiopien. Und aufgrund der ausgereiften Operationstechniken auf dem Gelände nah der Gimma-Road absolvieren Gynäkologen aus ganz Europa und Afrika Praktika in der Klinik.
Fisteln sind - simpel ausgedrückt - kanalförmige Öffnungen zwischen
einem Organ und dem Äußeren. Die Blasen-Scheiden-Fisteln entstehen,
wenn Frauen drei, vier, acht und mehr Tage lang Wehen ausgesetzt sind,
ohne ihr Kind gebären zu können, weil das Ungeborene entweder falsch
liegt oder das Becken der Frauen zu schmal ist. Die Wehen drücken den Kopf
des Fötus mit einer solchen Kraft gegen den Beckenboden, dass sich Öffnungen zur Blase - und in einem Drittel der Fistula-Fälle auch zum Darm - hin bilden. Das heißt, dass die Frauen auf Dauer inkontinent sind: Permanent treten
Urin und Exkremente aus, ohne dass sie dies verhindern könnten. Oft wird
durch den Druck des Fötus auch der Perineumsnerv verletzt, was dazu führt,
dass die Frauen fortan humpeln.
In Europa und Amerika würden die Frauen den Qualen einer mehrere Tage
dauernden Geburt gar nicht erst ausgesetzt; die Ärzte würden einen Kaiserschnitt vornehmen. Das Problem ist aber auch bei uns nicht unbekannt: Von
der „obstetischen Fistel“, der Fistel infolge einer Entbindung, waren noch im
337
Corina Lass
Äthiopien
vorigen Jahrhundert Frauen aller gesellschaftlicher Schichten betroffen. Man
hat Anzeichen der Erkrankung an einer ägyptischen Mumie gefunden. Und in
Amerika war das Leiden zu Beginn des 19. Jahrhunderts so verbreitet, dass
1840 in New York ein Krankenhaus speziell für die Behandlung der BlasenScheiden-Fisteln errichtet wurde. In den Entwicklungsländern wird das Problem heute unterschätzt: Weltweit sind etwa zwei Millionen Frauen betroffen,
schätzen Spezialisten, und zwar vor allem in Sierra Leone, Mauretanien,
Niger, Mali, Tansania, Somalia, Sudan und Äthiopien. Allein im Niger mit seinen rund 100 Millionen Einwohnern soll es 200 000 Fälle geben, in Äthiopien
müßten es entsprechend der Bevölkerung von fast 60 Millionen Einwohnern
etwa 120 000 Fälle sein.
In Äthiopien ist das Problem heute noch so verbreitet, weil es unüblich ist,
Kinder im Krankenhaus zur Welt zu bringen. Wenn die Frauen dann merken,
dass etwas nicht stimmt, ist es für eine Klinik zu spät: Das Innere des Landes
ist mit Straßen schlecht erschlossen, Krankenhäuser sind rar, und die wenigen
Busse, die für die Frauen und ihre Angehörigen erreichbar wären, oft unbezahlbar. So bleibt ihnen nichts, als die tagelang andauernden Schmerzen
auszuhalten. ‹berlebt die Frau, so stirbt zumindest das Kind. Ist es erstmal tot,
kann es wegen seiner weicher werdenden Knochen leichter geboren werden.
Von den etwa 15 Frauen, die ich zu ihren Blasen-Scheiden-Fisteln befragt
habe, hatte keine einzige ein lebendes Kind zur Welt gebracht. Für die allermeisten war es die erste Geburt.
In der Fistula-Klinik bestehen recht gute Chancen, durch eine Operation die
verletzte Harnröhrenwand wieder herzustellen: Seit Bestehen der Klinik sind
17 000 Patientinnen behandelt worden. Davon wurden 90 Prozent bei der
ersten Operation geheilt. Von den verbleibenden zehn Prozent konnten noch
einmal etwa acht Prozent bei in einer zweiten Operation geheilt werden.
Etwa ein bis zwei Prozent der Fistula-Fälle sind allerdings inoperabel, weil die
Blase zu sehr zerstört ist. Um bei diesen Frauen Kontinenz zu erreichen, ist
ein besonderer chirurgischer Eingriff nötig, bei dem das Urin außerhalb des
Körpers in einem Beutel gesammelt wird.
Die von dieser nicht zu operierenden Form der Fisteln betroffenen Frauen
machen Cathrine Hamlin zur Zeit die größten Sorgen. Denn sie können nicht
in ihre Dörfer zurück, weil sie regelmäßig nachbehandelt werden müssen.
„Auch wenn es nur ein oder zwei Frauen im Jahr sind, so kumuliert ihre Zahl
doch“, sagt die Engländerin. 1998 erhielt die Ärztin von der International
Rotary Foundation einen „beachtlichen“ Geldpreis, wie sie es ausdrückt.
„Meine Idee ist, ein kleines Dorf nicht zu weit weg von der Stadt auf dem
Land zu errichten, wo Frauen beispielsweise Gemüse und Obst anbauen und
sich gegenseitig unterstützen könnten.“ Dort sei die regelmäßige Nachsorge
gewährleistet und die Frauen hätten ein Auskommen.
Für Äthiopierinnen ist erst ein Leben mit Ehemann und Kindern lebenswert.
Ihre gesamte Ausbildung ist darauf ausgerichtet, aus ihnen gute Ehefrauen und
Mütter zu machen; entsprechend orientiert sich ihr Selbstbild an diesen Maßstäben. Mit einer inkontinenten Frau würde sich jedoch kein äthiopischer
Mann einlassen. Welche Bedeutung die Heilung von der Krankheit für sie hat,
338
Corina Lass
Äthiopien
erzählt eine 18jährige, die ihr erstes Kind nach sechs Tage andauernden
Wehen tot zur Welt gebracht hatte und dann wegen ihrer Inkontinenz von
ihrem Ehemann verlassen worden war. Gefragt, ob sie nicht sehr traurig
gewesen sei, dass ihr Mann sie allein gelassen habe, sagt sie: „Zu Anfang war
das so. Aber jetzt werde ich ja wieder gesund und kann einen anderen Mann
finden und mit ihm noch Kinder bekommen.“
Dass die Frauen wieder in das Leben zurückkehren können, das sie sich
selbst wünschen, ist auch das Bemühen von Cathrine Hamlin: „Wir stecken
sie in ein schönes neues Baumwollkleid, denn die Kleider, mit denen sie herkommen, sind meistens vom Urin zersetzt und völlig verrottet. Und wir
sagen: Du gehst jetzt zurück in dein neues Leben. Und wenn jetzt in deinem
Dorf kein Ehemann auf dich wartet, so wird dich doch jemand heiraten wollen, so gut wie du in deinem neuen Kleid aussiehst.“
Nach Ansicht von Cathrine Hamlin ist es keine böse Absicht, dass die jungen Frauen, meist im Alter zwischen 15 bis 19 Jahren, von ihren Männern im
Stich gelassen werden. Sie seien ebenfalls sehr jung, meist ungebildet und
darum unfähig, mit dieser tragischen Verletzung ihrer jungen Frauen umzugehen. „Deshalb kann es vorkommen, dass sie das Mädchen zurückweisen
und sagen: Geh du zurück zu deinen Eltern, ich suche mir eine andere Ehefrau.“ Aber das sei keine Grausamkeit, sondern Unwissenheit. „Ich erlebe
auch Männer, die herkommen und darum bitten, dass wir ihre Frauen heilen,
weil sie sie lieben und mit ihnen zusammenbleiben wollen. Oder Frauen, bei
denen die Komplikationen bei der vierten oder fünften Geburt entstehen, weil
das Kind die falsche Lage hat; solche Frauen werden nicht verstoßen, weil sie
in der Familie gebraucht werden.“ Im Normalfall sei es aber so, dass die
Blase-Scheiden-Fistel bei der ersten Schwangerschaft entsteht und die Frau
von ihrem Mann zurückgeschickt würde. So werde sie in ihrem sozialen
Umfeld zu einer Ausgestoßenen. „Sie kann nicht mit anderen zusammen
sein, weil das für die anderen ,widerlich’ wäre“, beschreibt Cathrine Hamlin
das Dilemma. „In der Zukunft kümmern sich ihre Eltern um sie. Und sie wird
von ihnen nicht grausam behandelt. Aber sie wird wegen ihrer körperlichen
Defizite geächtet.“
Cathrine Hamlin erzählt, dass viele der Frauen, mit denen sie gesprochen
habe, gesagt hätten, dass sie tagsüber nicht zum Fluss gehen könnten, um Wasser zu holen, oder auf den Markt, um Getreide zu kaufen, weil die anderen sie
wegen ihrer Krankheit meiden würden. Einmal habe sie eine Frau in der Klinik gehabt, die seit der Geburt ihres ersten totgeborenen Kindes im Alter von
etwa 20 Jahren eine Blasen-Scheiden-Fistel hatte, die recht leicht zu operieren gewesen sei. Inzwischen sei die Frau jedoch 60 Jahre alt gewesen. „Und
sie sagte zu mir: Ich war 40 Jahre lang allein. Nur eine Nacht trocken zu sein,
war die Operation wert.“
Sie habe es kaum mit Fistulas aufgrund von weiblicher Genitalverstümmelung und oder der Eheschließungen als Kind zu tun, sagt Cathrine Hamlin. Bei den Beschneidungen, die sie aus ihrer Klinik kenne, handele es sich
um mildere Formen, die nie den Geburtskanal beeinflussen würden. Die britische Ärztin erinnert sich allerdings an somalische und sudanesische Frauen,
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Corina Lass
Äthiopien
die ihr Kind nicht gebären konnten, weil die Vagina bis auf eine kleine Öffnung zugenäht war. Dass Kinder in Äthiopien heiraten, sei in einigen Regionen zwar durchaus üblich, doch würden die Mädchen nicht schwanger werden, bevor sie 14 oder 15 Jahre alt sind, weil sie so lange unter der Obhut ihrer
eigenen Eltern oder ihrer Schwiegermutter blieben. „Eine 14- oder 15jährige
Europäerin kann ohne Probleme ein Kind bekommen“, sagt Cathrine Hamlin. „Aber in Äthiopien ist der Körperbau möglicherweise aufgrund von
Unterernährung nicht entwickelt. In diesen Fälle ist die Eheschließung als
Kind ein Teil des Problems.“
Dr. Ambaye Wolde Michael, eine junge äthiopische Ärztin, die die Arbeit von
Cathrine Hamlin und ihrem Mann Reginald weiterführen wird, hat für die
Zukunft weitergehende Pläne für die Klinik: „Statt hier in Addis Abeba auf die
Patienten zu warten, werde ich versuchen, zu ihnen zu gehen. Viele von ihnen
wissen nicht, wie sie in die Hauptstadt kommen sollen oder wo in Addis die Klinik ist. Manche von ihnen sind wochenlang in der Stadt, bevor sie uns gefunden haben.“ Außerdem plane sie, die Ärzte auf dem Land zu unterrichten, wie
sie leichtere Fistula-Fälle behandeln könnten. „Es ist eher eine Art Wiederauffrischung, weil die meisten Gynäkologen irgendwann schon einmal in unserer Klinik gewesen sind. Sie wissen vom Grundsatz her, wie man Fistulas operiert.“ Zwar fehle es auf dem Land an allem, die Kliniken dort hätten nur wenige
Betten, Material und Medikamente, sagt Dr. Ambaye. Aber dann bringe sie
ihnen eben Material mit. Nadeln und Scheren, zum Beispiel. Denn die Operationen auf dem Land würden auf der einen Seite den ungeheuren Patientendruck von der Klinik in Addis Abeba nehmen. Auf der anderen Seite sei es gut
für die Frauen, dort operiert zu werden, wo sie heimisch seien, wo sie die
Umgebung kennen und die gleiche Sprache sprechen wie ihre Ärzte.
Verbotene und verpfuschte Abtreibungen
Im Black Lion Hospital in Addis Abeba sind die Flure voll mit Menschen.
Sie schlürfen über den PVC-Boden und unter den vereinzelt von oben herunterhängenden Latten hindurch, die eigentlich zur Decken-Verkleidung
gehören. Das Krankenhaus im Zentrum der Hauptstadt steht in dem Ruf,
dreckig zu sein und faules Personal zu beschäftigen. Zu Unrecht, meint Prof.
Dr. Reintraud Burmeister-Rother: „Die Schwestern haben auf den Stationen
nichts - kein Wasser, keine Putzmittel und oft auch keine Medikamente. Sie
sind einfach frustriert.“
Auf dem Krankenhaus-Gelände befindet sich Äthiopiens einzige Intensivstation mit sechs Betten. Sie wurde 1993 auf Bewirken von Reintraud Burmeister-Rother mit Geldern der Deutschen Botschaft, der Europäischen
Union und einiger anderer ausländischer Investoren eingerichtet. „Ein paar
Beatmungsgeräte zu haben, war mein Traum“, erinnert sich die Ärztin. „Ständig starben hier junge Menschen an Krankheiten, die mit Hilfe der Intensivmedizin leicht zu heilen gewesen wären, oder weil sie zum Beispiel nach
einem Unfall kurzfristig nicht selbständig atmen konnten.“
340
Corina Lass
Äthiopien
„Es passieren allerdings immer noch viele Fehler“, räumt Burmeister-Rother
ein. Ein fiktives Beispiel, aber durchaus keines, dass nicht so oder so ähnlich
jeden Tag passieren könnte: „Ein junges Mädchen soll operiert werden. 20 Jahre
alt. Blinddarm-Entzündung. Eigentlich keine große Sache. - Aber der Anästhesist vergisst, den Sauerstoff aufzudrehen . . .“ Kein Schuldbewusstsein.
Kein Interesse, etwas zu ändern. Im Tod verwirkliche sich der Wille Gottes.
„Eines der bittersten Kapitel auf der Station sind die Todesfälle aufgrund
von Abtreibungen“, sagt Dr. Burmeister-Rother. Weil Abtreibungen in Äthiopien verboten sind, würden viele junge Frauen zu traditionellen Heilern
gehen, die mit Holzinstrumenten versuchen würden, den Fötus auszuschaben.
Die Folge seien Bauchfellentzündungen, durchstoßene Därme und ähnliches. Oft hilft nur noch, die Gebärmutter zu entfernen. Doch in Äthiopien sind
Kinder die Altersversorgung ihrer Eltern, der Wert einer Frau bemisst sich
auch nach deren Gebärfähigkeit. Sollte die Uterus entfernt werden müssen, ist
das ein schwerer Makel. Und das wissen nicht nur die Frauen selbst, das wissen auch die äthiopischen Ärzte. „Wir machen hier die eigenartigsten Ausschnitte aus der Gebärmutter, nur um das Organ insgesamt zu erhalten“, so
Burmeister-Rother. Für den Fall, dass ein Entfernen der Uterus die einzige
Lösung sei, würden die meisten Ärzte, selbst jüngere, die im Ausland studiert
hätten und um die Risiken von Entzündungen wüßten, zu lange zögen. „Sie
vergessen dabei, dass das Mädchen stirbt.“
Auf der Intensivstation des Black Lion Hospitals sind 1997 insgesamt 350
Patienten registriert worden, so Dr. Burmeister-Rother. Es sei allerdings
davon auszugehen, dass ein Drittel der Intensiv-Patienten nicht registriert worden ist, weil das Registrieren eine ungeliebte Aufgabe ist und „die Assistenzärzte das nur machen, wenn sie kontrolliert werden“. Von den registrierten Patienten seien 63 (18 Prozent) „gynäkologische Patienten“ gewesen.
Für 1996 liegen ergänzende Zahlen vor: Demnach waren in dem Jahr 73
Patienten wegen gynäkologischer Defekte auf die Intensivstation aufgenommen worden. In 39 Fällen handelte es sich dabei um septische Abortionen
(entzündliche Schwangerschaftsunterbrechung). 34 Patienten starben, nur
fünf überlebten die Erkrankung. Es ist davon auszugehen, dass die Dunkelziffer derer, die aufgrund einer verpfuschten Abtreibung starben, noch sehr
viel höher ist.
Frauen und Mädchen tragen schwer
Frauen tragen schwer in Äthiopien, im übertragenen wie im wörtlichen
Sinn. Allein 15 000 Frauen und Mädchen verdienen sich ihren Lebensunterhalt, indem sie auf dem Entoto, dem Gebirgszug im Norden von Addis
Abeba, Feuerholz sammeln, das sie in der Hauptstadt verkaufen. Denn etwa
80 Prozent aller Haushalte in der Stadt kochen noch auf dem offenen Feuer,
vor allem Injera, das traditionelle äthiopische Fladenbrot. Von dem Holzbedarf decken die Feuerholzsammlerinnen etwa 30 Prozent. Doch ihre Arbeit ist
körperlich belastend und wenig einträglich. Oft wiegen die Frauen kaum
341
Corina Lass
Äthiopien
mehr als die bis zu 35 Kilogramm getrockneten Blätter, Zweige und Äste, die
sie gebündelt auf dem Rücken in die Stadt schleppen. Barfuß oder in Gummischlappen sind sie meist schon Stunden vor Sonnenaufgang aufgestanden
und auf den 15 Kilometer entfernten Entoto gestiegen, um das Holz zu sammeln.
In den Wäldern Äste und Zweige von den Bäumen zu brechen oder gar
einen kleinen Baum zu fällen, ist verboten. Denn die staatlichen EukalyptusPlantagen auf dem Entoto werden seit mehr als 100 Jahren von der Stadtverwaltung zur Deckung des Holzbedarfs in der Hauptstadt unterhalten. Darüber
hinaus bemüht sich die Regierung auf dem Entoto um Wiederaufforstung.
Denn in den vergangenen Jahrzehnten wurden in Äthiopien 90 Prozent aller
Waldgebiete abgeholzt. Bewaffnete Wildhüter achten nun darauf, dass die
Frauen und Mädchen allenfalls tote Äste vom Boden auflesen. Wenn sie von
einem der bewaffneten Wildhüter dabei erwischt werden, dass sie einen
Baum aus einer der städtischen Eukalytus-Plantagen fällen, müssen sie ihr
Bündel liegenlassen oder den Wächter bestechen, und das kostet meist mehr
als der Verkauf des Holzes einbringt.
Darüber hinaus sind auch schon Holzsammlerinnen von Waldarbeitern
vergewaltigt worden.
Für Frauen, die aussteigen wollen, gibt es seit einigen Jahren einen Ehemaligen-Verein, die Former Women’s Fuelwood Carriers Association. Dabei
handelt es sich um ein Projekt des äthiopischen Arbeits- und Sozialministeriums, das zum Teil mit deutscher Entwicklungshilfe finanziert wird und den
Frauen den Ausstieg aus der täglichen Tretmühle des Holzsammelns ermöglichen will. So können sie ein traditionelles Handwerk wie beispielsweise das
Weben erlernen. Zugleich bekommen sie kaufmännische Fähigkeiten vermittelt, die ihnen die spätere Gründung eines eigenen Geschäfts erleichtern.
Dafür werden ihnen wiederum Kleinkredite gewährt.
Das Projekt läuft allerdings eher mit mäßigem Erfolg: Von den 15 000 Holssammlerinnen sind lediglich 600 in dem Verein organisiert. Und für jede Frau,
die mit dem Holzsammeln aufhört, kommen zwei bis drei neue, die damit
beginnen. Der Verein geht darum dazu über, die Frauen ins Forstmanagement
zu integrieren: Eine Gruppe ist versuchsweise mit der Aufzucht von Baumsetzlingen betraut worden, eine andere kauft das geschlagene Holz aus dem
Stadtwald günstig auf und versucht mit dem Transport und Verkauf Profit zu
machen.
Lebensalltag in der Stadt und auf dem Land
Unbeschwert ist die Kindheit der Mädchen nur bis zum dritten Lebensjahr.
Danach werden sie von ihren Müttern oder anderen weiblichen Verwandten
in die Arbeit im Haushalt eingeführt: Hausfrau zu sein und Kinder zu gebären ist nach äthiopischen Vorstellungen die Bestimmung der Frauen. Auf
dem Land bedeutet das, einen möglichst hohen Selbstversorgungsgrad zu
erreichen. Und die Mädchen beginnen schon früh zu lernen, was ihre täglichen
342
Corina Lass
Äthiopien
Aufgaben sind. Für Schule fehlt dort oft die Zeit - und bei den Eltern auch das
Verständnis, wozu sie für ein Mädchen gut sein soll.
Einer Feldstudie zufolge, die Una Hombrecher und Thomas Knödle Anfang
1996 in Merhabete, etwa 180 Kilometer nördlich von Addis Abeba durchführten, lernen die Kinder in dieser Region etwa ab dem dritten Lebensjahr
an der Seite eines Erwachsenen Vieh zu hüten. Während die Jungen die Tiere
ab ihrem siebten Lebensjahr selbständig versorgen, gehen die Mädchen im
gleichen Alter ihrer Mutter im Haushalt zur Hand: Sie holen das Wasser
vom Fluss oder dem nächsten Brunnen, säubern und mahlen das Getreide,
bereiten den Teig vor, kochen, brauen das äthiopische „Talla“, eine Art Bier,
rösten und stampfen Kaffeebohnen, säubern das Haus, waschen, spinnen
und weben, hüten ebenfalls das Vieh und verarbeiten Kuhfladen zu einer Art
Brikett. Außerdem begleiten sie ihre Mütter auf den Markt, wo die Frauen
durch den Verkauf ihrer Produkte versuchen, etwas dazu zu verdienen. Vom
neunten Lebensjahr an bis zu ihrer Hochzeit sind die Mädchen für den Haushalt alleine zuständig. In dieser Zeit lernen sie außerdem, die nötigen Arbeiten auf dem Feld zu erledigen, wobei ihnen das Pflügen allerdings nicht
erlaubt ist.
Auf etwa 15 Arbeitsstunden täglich kommt eine äthiopische Frau auf dem
Land, wenn sie wohlhabend ist. Ist sie weniger begütert und hat zudem noch
kleine oder gar keine Kinder, nehmen die Aufgaben zu. Denn dann kann ihre
Familie keine Lohnarbeiter für die Landwirtschaft bezahlen. Dann muss sie
auch das Feuerholz für die Zubereitung von Injera sammeln, ihrem Mann auf
dem Feld helfen, Unkraut jäten, die Ernte einholen und den Boden für die
nächste Aussaat vorbereiten.
In der Hauptstadt ist der Selbstversorgungsgrad geringer, Lebensmittel
und Feuerholz müssen dazugekauft werden. Frauen, die eine Anstellung
bekommen, arbeiten beispielsweise für einen Minimallohn zwölf Stunden täglich und länger als Dienstmädchen in einem der vielen kleinen Privathotels.
Dafür bekommen sie oft nicht mehr als 60 oder 80 Birr im Monat. Der Staat
bezahlt für feste Arbeitsverhältnisse mindestens 100 Birr monatlich, was
etwa 25 Mark entspricht und auch für äthiopische Verhältnisse wenig ist. Eine
junge Frau, die in einem Cafe an der Raz Mekonnen Bridge die Ein- und Ausgaben überprüft, erzählt, dass sie 450 Birr im Monat verdient. Eine Polizistin
bekommt hingegen 600 Birr monatlich, also etwa 125 Mark, und damit
gleich viel wie ihre männliche Kollegen.
Doch die meisten Frauen stecken nicht in geregelten Arbeitsverhältnissen.
Viele machen sich beispielsweise mit einem kleinen Gewerbe selbständig. Die
Straßen sind voll mit Frauen, die hinter handgeflochtenen Körben sitzen und
Nüsse, Getreidekörner, Bonbons und Papiertaschentücher feilbieten. Meistens
haben sie dabei das kleinste Kind auf dem Arm und ein oder zwei weitere
neben sich. Andere Frauen übernehmen für Familien aus der Mittelschicht die
Hausarbeit. Dafür bekommen sie oft nicht mehr als das nötigste zum Leben
für sich und ihre Kinder - und manchmal nicht einmal das. Der 14jährige
Wendrafrash Haile, der mit seinem zwölfjährigen Bruder Seifu auf der Straße
lebt und schwer an Tuberkulose erkrankt ist, erzählt, dass seine Mutter für eine
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Corina Lass
Äthiopien
Familie in der Hauptstadt die Hausarbeit macht. Dafür bekomme sie etwas zu
essen für sich und die drei kleinen Geschwister. Wenn Wendrafrash und
Seifu ein wenig Glück haben und sich auf der Straße genügend Geld erbetteln
oder verdienen können, dann teilen sie es mit ihrer Mutter. „Sie kann uns
nichts geben. Denn sie verdient nichts“, sagt Wendrafrash.
Andere Frauen betteln, wie zum Beispiel die Mutter von Cije Nega. Der
Neunjährige, der wie die beiden Brüder auf der Straße lebt, kam mit seinen
Eltern und seinen vier Geschwistern, zwei Mädchen und zwei Jungen, aus der
Stadt Gondar im Norden des Landes nach Addis Abeba. Dann starb der
Vater; die Mutter blieb mit den Kindern auf der Straße zurück. Cije erinnert
sich, dass sie ihn schlug, wenn er beim Betteln zu wenig Geld verdiente.
„Manchmal sehe ich sie noch auf der Straße“, sagt er. Zu ihr zurück will er
aber nicht.
Ein Magazin von Frauen für Frauen
Im November 1998 erschien in Äthiopien die erste Zeitschrift von Frauen
für Frauen. „Women to women“ entstand aus einem Workshop, den das Britische Konsulat für Äthiopierinnen veranstaltete. Die Teilnehmerinnen, alle
berufstätig oder Studentinnen, hatten sich zusammengefunden, um Erzählungen für Kinder zu verfassen. Am Ende dieser fünf Tage sei die Gruppe so
voller Energie gewesen, dass sie weitermachen wollte, erinnert sich die amerikanische Journalistin Cristina Kessler, die den Workshop leitete und danach
das Entstehen der Zeitschrift begleitete. „Die Frauen fühlten sich wie Autorinnen und wollten dieses Gefühl nicht gleich wieder verlieren.“ Und Rahel
Mekuria, die im Britischen Konsulat in Addis Abeba zuständig ist für das
Referat Frauen und Entwicklung und damit für das Projekt „Women to
women“ meint: „Fünf Tage Workshop und nichts danach - das wäre wenig
aufregend gewesen.“
Die Idee zur Zeitschrift hatten die Frauen selbst. Sie wählten auch die
Themen für die erste Ausgabe aus. Es waren solche, die sie selbst interessierten und von denen sie dachten, dass sie wichtig seien: So berichten sie beispielsweise von der Fistula-Klinik und den Folgen einer zu jungen Heirat, sie
portraitieren eine Rechtsanwältin, die der Ethiopian Women Lawyer Assossiation (EWLA) angehört und sich gegen ihre männlichen Kollegen durchsetzen muss; und sie haben einer äthiopischen Dichterin eine Gastseite zur
Verfügung gestellt, auf der diese erklärt, warum sie schreibt und wie gut oder
schlecht sie davon leben kann.
Ziel der Zeitschrift ist es, vor allem jungen Frauen auf dem Land Information und Inspiration zukommen zu lassen für alles, was für sie auch immer von
Bedeutung sein kann. Zum Verständnis für eine größere Leserschaft ist das
Magazin sowohl in amharischer als auch in englischer Sprache verfasst. Die
Finanzierung der ersten vier Ausgaben, die im Abstand von jeweils vier
Monaten zu jeweils 2000 Exemplaren erscheinen werden, ist gesichert: Das
Britischen Konsulat und die Cambridge University Press haben das Geld
344
Corina Lass
Äthiopien
zugesagt. Die Zeitschrift wird in Bibliotheken und Universitäten als kostenloses Leseexemplar ausgelegt. Das sei sinnvoll, so Cristina Kessler, weil auf
dem Land kaum jemand zwei Birr (etwa 50 Pfennige) übrig habe, um das Blatt
zu bezahlen.
Bei den Inhalten rechnen die Frauen mit Widerspruch, insbesondere soweit
die Autorinnen die nachteiligen Folgen von traditionellen Praktiken wie einer
früher Heirat aufzeigen, die fest in der Kultur einiger Ethnien verankert ist. Für
die nächste Ausgabe ist ein Artikel zu den Rechten von Frauen im Fall einer
Scheidung geplant. Auch das ist ein brandaktuelles Thema in Äthiopien: Die
etwa 60 Rechtsanwältinnen der EWLA haben vorwiegend damit zu tun,
Frauen bei der Trennung von ihren Ehemännern Rechtsbeistand zu geben.
Gerade wegen des Titels, der schon im Vorfeld im Konsulat für kontroverse
Diskussionen gesorgt hat, hoffen die Autorinnen von „Women to women“,
dass ihr Blatt auch von Männern gelesen wird: Sie glauben, dass er die Neugier von Männern wecken könnte, zumal es in Äthiopien keine mit europäischen Ländern oder den USA vergleichbare Kultur von Frauenzeitschriften
gibt. „Es ist der erste Titel dieser Art in Äthiopien“, sagt Menna Woreda, die
Mitglied der Redaktion ist und ansonsten in der Bibliothek des Britischen
Konsulats arbeitet. Da würden die Männer wissen wollen, was dahinter
steckt. Und Rahel Mekuria ergänzt: „Wir haben diesen Titel auch gewählt, um
zu zeigen, dass Frauen Frauen helfen können: bei uns sind die Autoren
Frauen, die Herausgeber und jetzt haben wir auch noch eine Druckerei gefunden, die von einer Frau geleitet wird.“ Bei der Wahl des Titels seien sie
gefragt worden, ob er bedeuten soll, dass Männer dabei nicht einbezogen werden. „Wir haben gesagt, dass wir sie schon einbeziehen wollen. Aber wir wollen zeigen, dass Frauen sich gegenseitig helfen können.“ Außerdem gebe es
eine Seite mit Leserbriefen, und die Redaktion rechnet mit ganz viel Post, so
Rahel Mekuria.
Cristina Kessler betont aber, dass die Zeitschrift nicht zwangsläufig feministisch sein solle: „Der Feminismus wird leicht falsch verstanden. Und wir
wollen keinen Grund geben, deshalb gegen uns zu wettern“, sagt die amerikanische Journalistin. Und Rahel Mekuria sagt: „Wir sind nicht politisch im
äthiopischen Sinne: Wir sagen nicht diese Partei tut dies und jene das. Uns
geht es darum, dass sich die Meinung von Männern und Frauen über die Rolle
der Frauen ändert. Frauen müssen im Schnitt 17 Stunden täglich arbeiten, sie
haben keine Technologie, die ihnen die Arbeit erleichtert und in der Schule
sind die Mädchen unterrepräsentiert. Das wollen wir ändern, mindestens
dahingehend, dass die Eltern und die Lehrer es für wichtig halten, auch die
Mädchen zu unterrichten. Wir wollen gleiche Rechte von Männern und
Frauen im Beruf und werden zeigen, wie wenig Frauen in Führungspositionen sitzen. Für uns ist das nicht Politik, sondern ein sozialer Wandel, den wir
herbeiführen, oder vielleicht mehr Sensibilität, die wir schaffen wollen. Wir
wollen, dass Männer unsere Artikel lesen und sich fragen: Oh, ist es wirklich
so schlimm für die Frauen in unserem Land? Wir sollten sie unterstützen.“
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Corina Lass
Äthiopien
Fazit:
Äthiopier haben unzählige soziale Verpflichtungen: Wenn ich am verabredeten Treffpunkt erschien, war bestimmt gerade ein Verwandter, Nachbar oder
Freund meiner Gesprächspartnerin überraschend erkrankt oder gestorben. Es
gab Verabredungen, die ich mit einer Person drei- und viermal treffen musste,
bevor wir schließlich zusammenkamen. Das machte das journalistische Arbeiten nicht leicht.
Manche wollten ihr Wissen mit mir aber auch von vorneherein nicht teilen
und schoben - statt dies zu sagen - eine soziale Verpflichtung vor: Dabei
machte ich die Erfahrung, dass es in Äthiopien üblich zu sein scheint, sein
Wissen wie ein Geheimnis zu hüten. Wer etwas weiß, hat offenbar Angst, er
könnte ein Privileg verlieren, wenn er es mit jemandem teilt.
Vielleicht hatte er aber auch Angst vor Repressionen: Gelegentlich sahen
sich meine Gesprächspartner nach möglichen Mithörern um, bevor sie mir
eine Antwort auf meine Fragen gaben. Oder sie ließen durchblicken, dass die
mir anvertraute Information sie ins Gefängnis bringen könnte. Ob die Angst
begründet war oder nicht - mit Kritik geht man in Äthiopien vorsichtig um.
Denn traditionell gilt, was ein in der Hierarchie Höherstehender sagt. Das
Beharren auf einem anderen Standpunkt oder ein „Warum?“ gefährden diese
traditionelle Ordnung und werden deshalb als Bedrohung empfunden und
nicht als Bereicherung erlebt.
Wer die Situation von Frauen und Kindern in Äthiopien verbessern will, wer
gegen gesundheitsschädliche traditionelle Praktiken anarbeitet, der muss das
mit aller Vorsicht tun, um eben nicht selbst als Bedrohung empfunden zu werden. Die Frauen vom National Committee of Traditional Practices, die Frauen
der Zeitschrift „Women to women“ und die kleine, aber schlagkräftige Gruppe
der äthiopischen Rechtsanwältinnen, die in den vergangenen fünf, sechs Jahren viel Öffentlichkeitsarbeit für die Rechte der Frauen gemacht haben,
scheinen das zu wissen: Sie bemühen sich um eine Veränderung in den Köpfen. Tropfen für Tropfen höhlen sie den Stein - und das, wie mir scheint, mit
Erfolg.
346
Rosetta Reina
1
Mali - Ein Volk? Ein Ziel? Ein Glaube?
Der westafrikanische Binnenstaat
im Jahre acht der Demokratie.
Mali vom 22.09. - 22.12.1998,
betreut von GtZ-ORTM
und der Friedrich-Ebert-Stiftung
1
Die malische Flagge trägt folgende Aufschrift:
„Un peuple - un but - une foie“.
347
Inhalt
Pay TV auf malisch - Alltag im Sender
350
Kohl adieu, voilà Schröder !
352
Provinzfernsehen in den Sümpfen von Mopti
353
Der tapfere Radiobauer
353
Spektakel: Dem Diktator wird der Prozess gemacht
354
Buschbewohner auf Empfang oder: Radio hören, der neueste Hit
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Die Demokratie stärken - die Friedrich-Ebert-Stiftung in Mali
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Die Deutsch-Karriere eines Dogon
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Leer ausgegangen
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Manantali
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Viel Wasser, nichts zu trinken
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Korn für Korn: In der Reiskammer Malis
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30 Jahre Dienst für die Ärmsten in Mali
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Djenné: Versunkene Stadt Westafrikas
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Am Rand der Gesellschaft
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Der Gesundheitssektor auf dem Weg der Besserung
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Kampf dem Moskito
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AGETIPE - Abkürzung für Arbeit
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Sparen im Dogonland
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Mehr Spaß am Unterricht
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Zwiebelanbau stoppt Exodus
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Die Gegend von Timbuktu - Lieblingskind der Deutschen
372
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Rosetta Reina
Mali
Rosetta Anna Reina kam am 11. April 1970 als
Tochter italienischer Einwanderer in Krefeld
zur Welt. Die Schülerzeitung des Gymnasiums
druckte früh erste Artikel. Nach dem Abitur
1989 Studium zur Diplomdolmetscherin und übersetzerin der Sprachen Italienisch und Französisch an der Universität Mainz. Zeitgleich
freie Mitarbeiterin der Unizeitung und der
„Rheinpfalz“. Nach Studienabschluss 1995
Wechsel zum Sender SAT.1 nach Stuttgart,
1996 bis 1998 Volontärin bei einer Fernsehproduktion mit hauptsächlicher Berichterstattung
für die WDR Lokalsender und einige Privaten.
Seit 1999 freie Journalistin.
Pay-TV auf malisch - Alltag im Sender
Im Herzen der malischen Hauptstadt Bamako ragt eine riesige Antenne in
den Himmel, garniert mit zwei Schüsseln rechts und links. Daneben ein Hof.
Um ihn herum schmiegen sich sieben einstöckige Gebäude, einige Dutzend
verstaubter Autowracks sind entlang der Gebäudemauern oder mitten im Hof
„geparkt“. Eine lange Metallkette versperrt die Einfahrt auf den Hof, wollen
die Journalisten - ob zu Fuß oder motorisiert - hinein, senkt der Kettenhüter
manuell seine eiserne Sperre nach bestandener Gesichtskontrolle. Dann ist man
mittendrin im Alltag von ORTM, der einzigen Rundfunkstation Malis.
Im Hof spazieren die Journalisten, alle mit Papier und „bic“ (Kuli) bestückt,
zwischen den riesigen Wasserpfützen (Regenzeit!) hin und her. „Wo verdammt noch mal steckt Nouhoum?“ Wettert Chefredakteur Manga Dembélé
und rennt über den Hof. Heute bin ich Nouhoum „zugeteilt“, soll mit ihm im
Team arbeiten. Es ist kurz nach neun. In einem dicken Heft werden alle
anstehenden Reportagen handschriftlich eingetragen. Darin lese ich, dass
gerade eine Ausstellung der chinesischen Botschaft eröffnet wird und Nouhoum seit neun da sein sollte. Schließlich ist auch die malische Kultusministerin anwesend.
„Wie, ich bin eingeteilt?“ Wundert sich Tagesreporter Nouhoum, 29, um
Zwanzig nach neun. „Keine Widerrede, fahrt endlich“, scheucht uns Manga
aus dem einzigen Redaktionsraum für 20 Journalisten. „Wohin?“ Will der
Chauffeur von uns wissen. „Chinesische Botschaft.“ Bei 37° und 80% Luftfeuchtigkeit rinnt uns der Schweiß nach wenigen Minuten roter Buckelpiste
literweise am Leib herunter.
Bei der chinesischen Botschaft sind die Türen zu. Nouhoum stürmt zum
Portier. „Zurück, Kulturzentrum!“, keucht er, wieder im Auto. „Wir kommen
zu spät. Ich hab doch gar keine Infos, keinen Einsatzzettel bekommen!“
Wer welchen Beitrag macht, entscheidet sich morgens früh um acht. Von
oberster Stelle - dem Generaldirektor - erhält der Chefredakteur einen Packen
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Rosetta Reina
Mali
Zettel. Darin enthalten: alle Termine des Tages, die um 20.15 Uhr in „Le Journal“ zu erscheinen haben. Dann greift Manga Dembélé zum Stift und schreibt
in sein dickes Heft, wer was macht. Wenn ein Journalist leer ausgeht, hat er
nichts zu tun. So kann denn der Journalist ein wenig auf dem Hof herumstreunen oder Minztee kochen. Aber auf „stand by“ bleiben.
So manches Mal bleibt ein völlig ermüdeter Redakteur einfach einen Tag
zu Hause. Es existiert keine Überstundenregelung, Ruhetage sind nicht eingeplant, oft sind die Teams mehrere Tage am Stück über 15 Stunden im Einsatz. Alle bekommen pauschal 36 Mark für geleistete Überstunden. Durchschnittsgehalt: rund 150 Mark im Monat. Kameramann Abdrahmane Keita
berichtet: „ Man kann sich nie auf einen freien Tag einstellen. Besonders in
der Kameraabteilung sind wir knapp besetzt, da passiert es am Wochenende,
dass ein Teamwagen vor der Tür steht, ich aus dem Bett geholt werde und dann
15 Stunden täglich arbeiten muss. Um hier einmal der Arbeit zu entgehen, um
etwas Wichtiges zu erledigen, darf man sich nicht zu Hause aufhalten. Ich hab
dann so manches Mal bei jemand anderem übernachtet. Man muss förmlich
untertauchen.“
Das würde auch Nouhoum, seit einem halben Jahr beim Sender, liebend
gerne, als wir als letzte auf der Chinaausstellung erscheinen und wir uns für
das Zuspätkommen entschuldigen.
In einer ruhigen Minute erklärt mir Kollege Youssouf Touré ein wenig das
malische Pay-TV. „Der Sender ist staatlich, das heißt, wir Journalisten werden nur dafür bezahlt, dass wir über die Arbeit der Regierung berichten. Nur
das ist unsere Aufgabe. Damit füllen wir die Nachrichten um Viertel nach
Acht. Wenn jetzt jemand möchte, dass wir über ihn und seine Initiative
berichten, dann muss er uns bezahlen. Dann erst rücken wir aus und drehen
eine AMAPUB, also eine bezahlte Reportage mit Werbecharakter. Da berücksichtigen wir die Wünsche des Kunden, du verstehst?“
Ich begreife langsam das Gebilde ORTM. Der Generaldirektor, der im
übrigen dem Kommunikationsministerium untersteht, bestimmt und beschneidet die Themen. Die Journalisten ergehen sich abends regierungsgetreu in
ihren Berichten über die gelungene Politikerarbeit. Da haben Nouhoum und
ich doch Glück mit unserer Chinareportage, ein schönes, buntes Bildchenthema im grauen Politikernachrichtenbrei.
Bevor Nouhoum zum Essen in die Pressekantine geht, schneidet er aus seinem Material einen Radiobeitrag für die Nachrichten um 13 Uhr. Beim Texten tauschen wir unsere Gedanken aus. Ich: „Beende doch den Beitrag so: Bei
der Ausstellung kann sich der Besucher ein Bild über China machen, auch
wenn hier nur die positiven Seiten des Landes dargestellt werden.“ Nouhoum: „Das ist gut, nur ich kann nicht.“ „?“ „ Das „nur“, das geht nicht. Da
kriege ich einen Rüffel...“
Ob Nouhoum, Youssouf oder Manga: Sie alle sind jung und entstammen
meistens den Journalistenschulen aus Rabat, Marokko, oder Dakar, Senegal.
Sie sind gebildet und kritisch im Gespräch mit mir, blinde Lämmer bei der
Ausarbeitung ihrer Berichte. „Manchmal halte ich es wirklich nicht aus, was
wir hier machen“, sinniert Youssouf Touré, der seit drei Jahren dabei ist.
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Rosetta Reina
Mali
„Bis zum Sturz der Diktatur 1991 war hier gar nichts möglich, jetzt sind wir
wenigstens ein bisschen freier.“
Es ist kurz nach eins, in der Kantine gibt es wie immer Reis als Mittagessen. Wir haben Zeit, ist doch der Schnitt für die Reporter erst ab 16 Uhr frei.
„Das lange Warten macht mich tierisch mürbe“, kaut Nouhoum. „Anstatt dass
ich meine Arbeit früh beende und nach Hause gehen kann, bin ich oft bis 20
Uhr hier. Wer den Schnitt belegt, ist nicht geregelt. Wenn ich um kurz nach
vier komme, dann muss ich eben warten. Unser Schnitt besteht nur aus vier
Plätzen, die für alle und alles herhalten müssen.“
„Wo steckt der Cutter?“, ruft Nouhoum genervt aus. Es ist kurz nach vier,
wir sitzen im Schneideraum. Beta-Hard-Cut-Maschinen von Sony - hier
fühle ich mich heimisch. „Im Hof“, vermute ich. Die Cutterin Awa Traoré
kommt angelaufen. Sie ist nicht die einzige Frau in der Technik, beim Ton und
in der Radiotechnik arbeiten zwei weitere, eine Handvoll Journalistinnen
runden die weibliche Präsenz ab.
„Wie lange werden wir?“, frage ich und hoffe auf eine genaue Angabe der
Beitragslänge. Nouhoum schüttelt den Kopf. „Was ist das für eine Frage? Wie
wir wollen.“ „Aber die...“„Weiß ich alles, aber hier läuft das so: Je länger der
Beitrag eben geht, desto länger geht eben die Sendung.“
Geschmückt mit kantonesischer Musik, schneiden wir aus dem Material
zwei Minuten dreißig Sekunden. Schnittzeit: 45 Minuten. Textmäßig recycelt
Nouhoum den Radiobeitrag für seine Fernsehbilder. „Endlich, heute sind
wir vor 18 Uhr fertig“, freut sich Nouhoum, „ dann können wir ja gehen.“ Und
die Endkontrolle durch den CvD, Chef vom Dienst? „Gibt’s nicht. Wenn was
nicht in Ordnung war, dann erfahre ich das morgen in der Redaktionskonferenz um 11 Uhr. Wenn ich da bin!“ Im Dämmerlicht der Großstadt Bamako
kann man das Flimmern einiger Fernsehgeräte ausmachen, die auf der Straße
aufgestellt werden. Die Leute nehmen auf Plastikstühlen Platz.
Kritik an der spannungslosen, stets freundlichen und unkritischen Berichterstattung hört man nur massiv von privaten Radiokollegen, die meinen,
dass die Malier für dumm verkauft werden. Begüterte Einwohner in der
Hauptstadt sind alle bei TV5 und CFi abonniert. Die Einschaltquoten für
ORTM liegen trotzdem bei den geschätzten 20.000 Fernsehgerätbesitzern bei
rund 80%.
Kohl adieu, voilà Schröder!
Die Luft scheint zu brennen, so heiß ist der 27. September - Tag der
Bundestagswahl - in Bamako. Aus einem ältlichen Wellenempfänger krächzt
eine Stimme, die die vorläufigen Ergebnisse des Urnengangs verkündet.
Rund hundert deutsche Staatsbürger, d.h. so 40 Prozent aller Deutschen in
Mali, bilden eine Hörertraube um das Gerät. Der Botschafter der Bundesrepublik, Karl Prinz, hat in seine Residenz geladen. Am Gerät wird doppelt
geschwitzt: Anspannung und höchste Luftfeuchtigkeit lassen das Hemd am
Rücken festkleben. „Hier die vorläufigen Ergebnisse.“ Es ist 18 Uhr in
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Rosetta Reina
Mali
Deutschland, 16 Uhr in Bamako. „SPD: 41,7 %“ Gemurmel. „CDU: 35,1 %.“
Noch mehr Gemurmel. Die Reaktionen sind gedämpft, keiner möchte seine
politische Einstellung preisgeben. Nur Klaus Treydte, der Leiter der FriedrichEbert-Stiftung, ist von Anfang an „geoutet“. „Wieso gibt denn keiner zu, dass
er CDU gewählt hat?“, schmollt er ein wenig, „dann könnten wir mal über das
Ergebnis so richtig unterhalten!“ Es findet sich jedoch keiner, trotzdem
strahlt der SPD-Anhänger ungehemmt seine Freude über den klaren Sieg aus.
Auch die gerade 18jährige Fatima Bâ, jüngste Wählerin aus Mali, scheint
zufrieden. Sie gibt zu, dass sie mit Schröder auf das richtige Pferd gesetzt hat.
Provinzfernsehen in den Sümpfen von Mopti
Dezentralisierung lautet das aktuelle Schlagwort in den Reihen von ORTM.
Also nicht nur bamakolastig berichten, wo circa 1 Million Einwohner leben,
sondern auch von den Provinzlern, das sind rund 10 Millionen. Ismail Berthé
kümmert sich 600 Kilometer von Bamako entfernt darum, neueste Neuigkeiten aus dem riesigen Sumpf- und Überschwemmungsgebiet von Mopti
nach Bamako zu schaffen.
„Zwei bis drei Reportagen pro Wochen drehen wir hier und schicken sie
nach Bamako, wo sie ausgestrahlt werden“, erzählt der 33jährige Programmchef. In Mopti kann kein Fernsehen ausgestrahlt werden, hier steht nur
eine Radioantenne für den Lokalfunk.
„Wir besitzen hier nur eine Hi8-Kamera. Wir drehen z.B. die Übergabe von
Krankenhausmaterial und passen den nächsten Überlandbus nach Bamako ab.
Wir geben die beschrifteten Kassetten mit, wobei wir versuchen, die vorkommenden Personen auf Band zu beschreiben, damit der Kollege in Bamako
ihnen auch die richtigen Namen zuordnet. Wir rufen in Bamako an und
sagen, dass Kassetten unterwegs sind. Schneiden können wir hier nichts. Ich
wurde von Bamako hierher versetzt“, beschließt er. Schaut Isamil Berthé aus
dem Fenster, blickt er auf wogende Sumpfgrasfelder, zwar schön, aber für
einen Journalisten so richtig unspannend.
Der unerschrockene Radiobauer
Es war einmal die Gesellschaft für technische Zusammenarbeit. Diese
deutsche Institution, auch unter dem Kürzel GtZ bekannt, hielt es für angebracht, dem malischen Staatsrundfunk ORTM fünf hochmoderne Rundfunkstudios zu bauen. Denn in diesem höchst ländlichen westafrikanischen
Staat war und ist Radio hören sehr beliebt.
So kam der Ingenieur Dieter Reitmeyer nach Bamako. Ihm wurde die
Aufgabe übertragen, dieses Bauvorhaben zu einem erfolgreichen Projekt zu
machen. Doch es entwickelte sich schnell zu einem schwierigen Unterfangen.
Ein Frankfurter Ingenieurbüro nahm sich der technischen Umsetzung des
Bauvorhabens an und entwickelte einen fundierten Plan für ein hübsches Stu353
Rosetta Reina
Mali
diogebäude. Die deutsche Kreditanstalt für Wiederaufbau hatte ihr Portemonnaie geöffnet und elf Millionen Wert Mark zur Verfügung gestellt. Alles
wäre so schön gewesen, wenn es da nicht den Sumpf gegeben hätte. Das zugewiesene Baugelände direkt auf dem Gelände des schon bestehenden ORTMs
war weich und matschig und die Ingenieure befürchteten eine plötzliche
Schräglage des Studios. Also dachten sie nach und fanden eine Lösung. Der
Sumpf sollte durch eine ständige Drainage trockengelegt werden.
So konnte denn die Suche nach einer malischen Baufirma beginnen. Doch
- oh Graus - noch nie hatten die malischen Bauunternehmen einen deutschen Radiopräzisionsbau erstellt, was verbarg sich wohl hinter der Abkürzung DIN? Die Zeit strich ins Land, kein Unternehmen ward gefunden. Aber
gut Ding will Weile haben und der unerschrockene Radiobauer Dieter Reitmeyer hatte eine Idee. Das Bauunternehmen wird in ganz Westafrika gesucht.
Nur schleppend trudelten zwei, dann endlich die notwendige dritte Bewerbung
ein. Wieder verzögerte ein Bewerbungsfehler den Tag der Öffnung der
Umschläge, aber er kam unweigerlich. Doch oh weh! Zwei Unternehmen
haben eine liederliche Preisabsprache getroffen, beim anderen lag der Preis
zu hoch. Wieder stellte Dieter Reitmeyer seinen Ideenreichtum unter Beweis.
Wenn mit weniger Geld auszukommen ist, dann müssen Abstriche am Bau
durchgeführt werden. Die malischen Ingenieure mögen den fundierten Plan
doch daraufhin durchgucken. Doch die malischen Techniker schauten etwas
ratlos drein. So ein komplizierter, DINbehafteter Plan, wer sollte das verstehen? Sie baten darum, dass das deutsche Ingenieurbüro sie doch tatkräftig
unterstützen möge. Die Deutschen nickten und begannen die Durchsicht.
Nur eineinhalb Jahre nach der Ankunft von Dieter Reitmeyer war alles geregelt. Zwei Ingenieurskollegen reisten aus Deutschland an. 1999 entstehen die
Studios, und wenn bis zum Jahr 2000 die malischen Radiojournalisten nicht
ausgestorben sind, dann werden sie daraus senden.
Spektakel: Dem Diktator wird der Prozess gemacht
Dreiundzwanzig Jahre unterjochte der Diktator Moussa Traoré Mali. Im
März 1991, nach etlichen Studentendemonstrationen, kam es zu einer blutigen Schlacht zwischen diesen Studenten, der zivilen Bevölkerung und den
Soldaten. Die Tage von Moussa Traoré waren gezählt, die Diktatur war
gestürzt.
Dass Moussa Traoré und seine Frau Ann Marie heute noch am Leben sind,
verdanken sie dem demokratisch gewählten Präsidenten Alpha Oumar Konaré. 1993 ist das Ehepaar vom malischen Gericht wegen der begangenen
Blutsverbrechen zum Tode verurteilt worden, doch der aktuelle Präsident
zögert sehr, seine Hände mit Blut zu beflecken.
Sieben Jahre nach dem Sturz erneut ein Prozessauftakt. Die angekündigte
Gerichtsverhandlung, die das Diktatorenpaar der Veruntreuung von Staatsgeldern und Wirtschaftsverbrechen („Bau’ mein Haus kostenlos und du
bekommst den nächsten großen staatlichen Bauauftrag“) überführen soll,
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Rosetta Reina
Mali
schlägt Wogen. Schon von der ersten Minute an wird klar, dass der Prozess
anstatt der angekündigten drei bis vier Wochen eher drei bis vier Jahre
braucht. Die Verteidigung hat offensichtlich beschlossen, den Prozess mit
Nickeligkeiten aufzuhalten. Die Stimmung im Saal ist angespannt, am Mikrofon steht eine dicke Traube von 30 bis 40 Anwälten, die mit überschnappender Stimme und wild gestikulierend ins Mikro sprechen. Wenn sich das
Gericht zur Beratung zurückzieht, skandieren die 1500 Zuschauer, die sich
alle als Moussa-Fans entpuppen, den Namen des Diktators und drücken sich
an die Soldaten heran, die um die Angeklagten postiert sind, damit sie ja einen
Blick auf ihr Idol erhaschen können.
Am 12. Januar 1999 fällt das Gericht das Urteil über den Diktator samt Ehefrau. Es lautet auf Todesstrafe wegen Veruntreuung von über 20 Millionen F
CFA. Ein Gesetz, das Moussa Traoré selbst entwickelt hatte. Doch seit über
10 Jahren sind die Todesstrafen nicht ausgeführt worden. Und da der aktuelle
Präsident Konaré den Ex-Diktator bislang verschont hat, wird das Ehepaar
Traoré wohl weiterleben. „Es wäre angebracht“, spricht ORTM-Reporter
Touré den Maliern aus der Seele, „ wenn Moussa Traoré und seine Frau
nach dem Prozess vom luxuriösen Hausarrest in ein echtes Gefängnis überführt werden würde.“ Aber sicher ist er sich da nicht.
Buschbewohner auf Empfang oder: Radio hören, der neueste Hit
„Seit es mich gibt, kommen die Bauern nicht zum Schlafen“, grinst Ibrahim Berté in Manantali. Radio Bafing sendet seit knapp einem Jahr auf
101,8 MHz und in einem Umkreis von 82 Kilometer wird die Nacht zum Tag.
ORTM ist hier nicht zu empfangen, Ibrahim Berté ist ein Privatmann, der das
Geld für die Gerätschaften hatte und eine Frequenz erhielt. Manantali, unweit
der Grenze zu Senegal, ist ein noch sehr rückständiger Teil Malis. Zwar
besitzen sie bald am dortigen Stausee das modernste Wasserkraftwerk Westafrikas, aber der Lebensstil in den Dörfern ist völlig unberührt von modernen
Errungenschaften. So schlug denn Radio Bafing, d.h. schwarzer Fluss auf
Bambara, wie eine Bombe ein. Mit zwei Kassettenrecordern, einem Mischpult und dem unerlässlichen Verstärker samt Antenne hockt der 38jährige
zwölf Stunden in seinem kleinen Kabuff. Der Lebenskünstler hat wie viele
andere Kollegen schon viele Berufe hinter sich: Buchhalter, Elektriker, Taxifahrer, Lebensmittelhändler. „Ich spiele traditionelle Musik oder mal moderne
malische Sänger wie Salif Keita oder Oumar Sangaré.“ Während er die Sendungen abspielt und am Mikro sitzt, ist Moussa, 26, der rasende Reporter. „Er
hat ein Moped, der Glückliche. Da kann er mal die Dörfer anfahren, ich
muss zu Fuß zur Reportage.“
Radio machen - insbesondere im Busch - heißt Lebenshilfe spenden. Ein
Großteil des Programms besteht aus sogenannten „sensibilisations“. Der
rasende Reporter Moussa war bis vor kurzem an das einzige Projekt der
Gegend angekoppelt. Die deutsche Gesellschaft für technische Entwicklung
(GtZ) förderte die heimische Landwirtschaft, bis letztlich das Projekt
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Rosetta Reina
Mali
geschlossen wurde. Gegen eine finanzielle Leistung konnten die Mitarbeiter
Reportagen bei Moussa in Auftrag geben: Täglich bis zu einer halben Stunde
konnten landwirtschaftliche Tipps über den Äther gehen. „Das war eine Geldquelle“, schildert Berté seine finanzielle Lage. „Ein paar Francs kommen noch
durch das Verkünden von Todesanzeigen rein.“ Rund 50 Pfennig nimmt er dafür.
„Werbung macht hier keiner, es gibt ja auch nichts. Meine Lage ist sehr angespannt, ich kann nicht mal meine Geräte mehr reparieren.“
Radios schießen wie Pilze aus dem Boden, besonders die Gruppe Radio Jamana tut sich da hervor. So ist auch die Touristenattraktion Djenné mit der ältesten Lehmmoschee der Welt seit knapp einem Jahr mit einem Radio bestückt.
Moustaphe Maiga war früher in Ségou tätig, „und jetzt muss ich dieses schläfrige Djenné aufwecken.“ Einige seiner besten Sendekonzepte hat er sich aus
Ségou mitgebracht: Quizsendungen mit Sponsorbeteiligung, bei Jahrestagen
wird eine berühmte Person vorgestellt oder eine Kontaktbörse via Radio
gemacht. Hier ist Telefon schon häufiger, so dass er live mit seinen Hörern reden
kann. Für seine Initiativen und seinen journalistischen Biss wurde er zweimal
ausgezeichnet. UNICEF dankte ihm für eine erschütternde Reportage über
Kinderarbeit. In Djenné hat er auch schon erste glühende Zuhörer. Ein Fanclub
hat sich gebildet, die, wie sie schreiben, Moustaphe Maiga überall, wo sie nur
können, unterstützen möchten. Als Beweis ihres guten Willens haben sie sechs
Mark in den Brief gelegt. Doch ob in Ségou, Djenné oder bei Radio Bouctou
in Timbuktu: Alle klagen vehement über starke Geldnot und alle machen Radio
für die Bevölkerung im Busch.
In Manantali will Ibrahim Berté weiter durchhalten, er hofft, dass der Baumwollverband Manantali als neues Anbaugebiet erschließen möge. Denn mit
Hilfe des Radios wird den Bauern dann beigebracht, wie man Baumwolle
anpflanzt. „Die würde ich abends senden, wenn der Bauer vom Feld gekommen
ist“, erklärt er sein Programmschema. „Zur Entspannung gibt es noch Musik
und Fabeln.“ Gesundheitliche Aufklärung sowie leckere Rezepte spielt er morgens. „Da sind die Frauen am Hören“, erklärt er. Der Nachmittag gehört den
jungen Leuten. „Da gibt es peppige Musik und die jungen Leute können sich
was wünschen oder eine Widmung mitgeben.“ Da es kein Telefon gibt, sammelt
Kollege Moussa Zettel ein, wenn er in den Dörfern unterwegs ist.
In allen privaten Radiostationen, die ihr Programm in bis zu vier Sprachen
senden, sind die Journalisten eher durch Schicksal als durch Berufung zum Journalismus gekommen.
Meistens waren sie vorher Sekretäre, Buchhalter oder Volksschullehrer. Alle
verdienen sie nur wenig, 150 Mark ist da die Obergrenze. Alle gemeinsam wollen sie die Landbevölkerung aus dem Tiefschlaf wecken und grundlegendes
Wissen vermitteln.
Die Demokratie stärken - die Friedrich-Ebert-Stiftung in Mali
Rund 6370 Malier haben 1997 an den Veranstaltungen der Friedrich-EbertStiftung in Mali teilgenommen. Hauptanliegen der SPD-Stiftung: Das junge
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Rosetta Reina
Mali
Pflänzchen Demokratie in Mali weiter aufpäppeln. „Wir haben hier wirklich
die beste und stabilste aller afrikanischen Demokratien“, freut sich der Büroleiter Klaus-Peter Treydte in Bamako, „und wir sind bestimmt nicht hier um
SPD-Politik in Afrika zu treiben.“
Seit acht Jahren üben sich die Malier in Demokratie. Für sie absolutes Neuland. Denn bis 1960 unterlagen sie der französischen Kolonialherrschaft,
dann die Unabhängigkeit und Modibo Keita errichtete einen kommunistischen
Staat, den Moussa Traoré 1968 stürzte und eine Militärdiktatur errichtete.
1991 die Revolte im Land, 1992 die ersten demokratischen, freien Wahlen. Als
Sieger ging Alpha Oumar Konaré (ADEMA) hervor, der 1997 erneut im
Urnengang bestätigt wurde.
Was Demokratie für den Bürger bedeutet, das muss den Maliern erst erklärt
und beigebracht werden. Hier kommt dem Radio eine besondere Rolle zu. Da
kooperiert die Friedrich-Ebert-Stiftung unter anderem mit der Groupe Kledu
zusammen, dem malischen Bertelsmannkonzern. Radio Kledu ist in Bamako
der größte unabhängige Sender. Zusammen erarbeiten sie Radiosendungen,
die grundlegende Begriffe einer Demokratie erklären. Was ist eine Verfassung? Wie wählt man? Wie arbeitet eine Nationalversammlung? „Davon
wollen wir mehr“, wünscht Tiona Mathieu Koné, der Radioleiter bei Kledu.
„Das Radio hat in unserer oralen Tradition eine herausragende Stellung. Wir
sind es, die dem Volk beibringen, dass sie die Demokratie sind und nicht die
Politiker. Das Volk muss handeln.“ Radio in der Lokalsprache versteht jeder,
Zeitungen als Gegensatz dazu gibt es nur in der Hauptstadt, sind auf französisch und erreichen ein Prozent der Bevölkerung. „Wir nutzen auch Theaterstücke“, berichtet Klaus-Peter Treydte von einem weiteren Instrument der
Volksaufklärung. „Darin verbreiten wir politische Bildung.“ Im Vorfeld von
Wahlen, wie z.B. den Kommunalwahlen im April 1998, die wegen organisatorischem Chaos scheiterten und jetzt im Frühjahr 1999 nachgeholt werden,
tourt die Vereinigung zur Förderung der Wahlen in Mali durch das Land und
erklärt den Leuten, wozu Wählen gut sein soll. Das wird durch die FES-Stiftung finanziell unterstützt. „300.000 Mark haben wir zur Verfügung, 1999
wollen wir uns im journalistischen Sektor um die Radiojournalisten in der
Provinz kümmern.“ Es ist geplant Workshops durchzuführen, bei denen sich
die Journalisten mit der neu geschaffenen Kommunalverwaltung befassen und
zu Themen, die die Gemeinde betreffen, z.B. den Haushalt, Recherchen
durchführen und Beiträge dazu verfassen.
Die Deutsch-Karriere eines Dogon
„Einen Deutschen hatte ich schon mal gesehen, einen Russen nicht“, nickt
Saikana Dolo, 35, Deutschdozent an der Universität von Mali. „Das war der
Grund, weshalb ich mich auf dem Lyzeum für deutsch und nicht für arabisch
oder russisch entschied.“ Geboren ist Saikana Dolo im Dogonland. Sein
Dorf Sangha ist und war ein beliebtes Touristenziel im Osten des Landes. Die
Dogon leben noch recht ursprünglich, etwas, dass sich auch viele deutsche
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Rosetta Reina
Mali
Touristen nicht entgehen lassen wollen. „Ein paar Cents, ein Bonbon“, der
kleine Saikana rannte vergnügt ein paar weißen Besuchern hinterher. Schnell
konnte er ein, zwei Sätze Deutsch, ein paar Wörter, und schon floss dafür eine
kleine Belohnung. Nach den sechs Jahren Grundschule in Sangha kam Saikana Dolo auf das Lyzeum. Das hieß: wegziehen, hin in das rund 100 Kilometer
entfernte Sévaré.
Hier traf er dann die Entscheidung, Deutsch als Fremdsprache zu nehmen.
Ein beliebtes Fach dank der engen Beziehungen zwischen der DDR und
Mali. Und Saikana Dolo lernt gründlich. Er erweist sich als sehr talentiert und
strebsam, macht das beste Deutschabitur des Landes. Die nächste Etappe: das
Deutschstudium in Bamako. „Die Entscheidung fiel mir leicht. Meine beste
Note war Deutsch, also studierte ich Deutsch!“
Auch hier ist er nicht zu bremsen. Studiert in Windeseile und erarbeitet sich
das beste Deutschdiplom, das jemals in Mali vergeben wurde. Ein deutscher
Professor überredet ihn, in Deutschland ein Übersetzerstudium anzuschließen.
So zieht denn Saikana Dolo aus dem Dogonland 1990 in die Pfalz, an die Gutenberg Universität zu Mainz mit dem Übersetzerfachbereich in Germersheim. Er studiert sehr erfolgreich, sein Ziel bleibt, in Mali Deutsch zu lehren.
Zufrieden ist der Deutschfan mit seiner momentanen Situation aber nicht.
Alle zwei Jahre muss er an der Uni von Bamako um die Vertragsverlängerung
als Deutschdozent bangen. Das Gehalt fällt mit 160 Mark im Monat mager
aus. „Davon ernähre ich meine Frau mit den zwei Kindern. Ich gebe noch Privatunterricht, da verdiene ich mehr als mit meiner Dozentenstelle.“ Seit
1970 gibt es das Fach. Heute studieren rund 400 junge Leute Deutsch in
Bamako, die der Germersheimer Ex-Student zum Teil betreut. „Ich hoffe auf
eine feste Stelle.“, überlegt Saikana Dolo. Aber er weiß auch, dass das Bildungsministerium im Moment nur sehr selten einstellt.
Leer ausgegangen
Da die malische Regierung ihren Stromversorger privatisieren möchte und
in den nächsten eineinhalb Jahren dort in der Behörde etliche Umstrukturierungen stattfinden, wagt man sich nur mit Vorsicht an die momentane EDM.
Einer der Hauptgeldgeber, die Frankfurter Kreditanstalt für Wiederaufbau, hat
dieses Jahr die Finanzierung weiterer Projekte erstmal abgelehnt. In zwei Jahren bei den Verhandlungen zwischen den Regierungen über neue Enwicklungshilfegelder wird man weitersehen.
Die jahrelange finanzielle Unterstützung aus Frankfurt kann sich sehen lassen. Rund 22 Millionen Mark haben es ermöglicht, dass seit 1989 die zweitgrößte Stadt Ségou Strom bekam und viele Dörfer auf der Hauptstrecke
Bamako-Ségou dazu. Im Rest des Landes gibt es keine Leitungen, da konnten fünf Dieselgeneratoren angeschafft werden. In Timbuktu röhrt jeden
Abend gegen sechs der Generator, eine schwarze Wolke hebt sich aus einem
Schornstein in die Luft und Timbuktus Hauptstraßen sind nicht mehr dunkel.
Weitere 11,3 Millionen Mark gab es für Ersatzteile und für kleinere Arbeiten
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Rosetta Reina
Mali
an maroden Elektrizitätsnetzen. „Jetzt sind wir in der Stagnation“, so Traoré.
„Ohne Geld keine Projekte.“ Noch trägt sich die Stromversorgung nicht von
alleine. Nur in Bamako sind genügend Leute an das Netz angeschlossen, so dass
Gewinn abfällt. Im Rest des Landes nur wenige. Doch das vorhandene Netz will
in Stand gehalten werden, das kostet.
In Bamako ließe sich noch mehr Gewinn erzielen. Die Stadtgebiete wachsen
kontinuierlich, jedoch ohne baulichen Entwicklungsplan. Solange die Stadtverwaltung diese Bauabschnitte nicht legalisiert, riskiert EDM nichts und baut das
Netz dort nicht aus. In Bamako sind häufige Stromunterbrechungen noch die
Regel. „Wir müssen bestimmten Gebieten den Strom entziehen um andere Teile
beliefern zu können. Das geht soweit“, berichtet Energievizechef Traoré, „dass
einige Dörfer nur nachts Strom haben. Die Handwerker arbeiten nachts und
schlafen tagsüber. Anders geht es nicht.“.
Manantali
I. Wasserkraft
Rechter Hand: ein langgezogenes breites Tal, in der Mitte ein silbrig glänzender Flusslauf. An den Rändern des Tales Felshänge, die sich steil emporheben. Linker Hand: ein riesiger See, soweit wie das Auge reicht. Umrahmt wird
er von den gleichen Steilfelsen. Wo ich stehe: der Staudamm von Manantali. 1,6
Kilometer lang und neun Meter dick ist die künstliche Mauer. Sie genügte, um
den Bafing („schwarzer Fluß“) im Westen von Mali in einem langgezogenen
Hügeltal zu stauen und einen über 45 Kilometer langen See zu schaffen. Der
Topograph Sekou Sidibé war von Anfang an dabei. 1988 ging es los: Geldgeber
waren Deutschland und Saudi-Arabien. Der See überflutete dreißig Dörfer,
über 13.000 Menschen wurden umgesiedelt. Sie zogen vornehmlich in den
Norden des Stausees. Dann war es einige Jahre ruhig in Manantali. Die „Cité“,
eine Wohnanlage für die westlichen Bauarbeiter und Ingenieure, drohte zu verfallen. Jetzt jedoch wird sie fleißig renoviert. Die Ankunft von rund hundert westlichen Fachkräften steht jetzt an. Das Wasserkraftwerk, das seit langem angekündigt worden ist, wird jetzt gebaut. Mali, Mauretanien und Senegal haben
zusammengelegt und hoffen, 2002 ihre Stromknappheit endlich beseitigen zu
können. Elf Milliarden Kubikmeter Wasser warten darauf, die Turbinen des
Stromgenerators anzutreiben.
II. Fluch oder Segen?
Viele der alten Dörfer liegen heute 25 Meter unter Wasser. Ursprünglich wurden die überfluteten Dörfer in den Norden des Stausees gesiedelt, doch wie vielfach passiert, trennten sich nach einiger Zeit einige Familienzweige ab und
zogen in den Süden des Sees.
Sie finden dort, was in Manantali fehlt: Ackerland. Die Ansiedlung der dreißig Dörfer erfolgte in einem Gebiet, in dem rund zehn Dörfer bereits existierten.
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Rosetta Reina
Mali
Mit einem Mal musste dasselbe Land viel mehr Köpfe füttern, jeder Bauer
bekam nur einen kleinen, fast zu kleinen Acker. Dieser Eingriff in das sensible ökologische Gleichgewicht hat Folgen. Die malische Landwirtschaft
kennt keinen Kunstdünger, nach einigen Jahren, wenn die Felder immer
weniger abwerfen, werden sie gewöhnlich einige Jahre zur Erholung brach
gelassen. Doch wenn wie hier die Anzahl der hungrigen Mägen plötzlich stark
ansteigt, dann wird die Brache zu früh abgebrochen, der Ertrag des Bodens
ist nur mittelmäßig, um immer schlechter zu werden, bis er völlig ausgepowert ist. Vom Stausee oder dem entstehenden Wasserkraftwerk haben diese
Dörfer keinen Profit.
III. Manantali ade?
Manantalis Landbevölkerung unterstützen und die landwirtschaftlichen
Arbeitstechniken weiter ausbauen: Diesem Projekt gewährte die Gesellschaft
für technische Zusammenarbeit (GtZ) eine dreijährige Anfangsphase. Ein
rund zehnköpfiges Team unter der Leitung von Detlev Reepen (Deutschland)
und Siné Konaté (Mali) machte sich an die Arbeit. Es kristallisierten sich zwei
Arbeitsschwerpunkte heraus: Der Erhalt der natürlichen Ressourcen und die
Unterstützung bei der administrativen Neuordnung im Zuge der aktuellen
Dezentralisierung in Mali. Aber nach drei Jahren Präsenz vor Ort scheint
Schluss zu sein. Das Bundesministerium für Zusammenarbeit streicht die
schon bewilligten Gelder für die zweite Projektphase. Detlev Reepen und
seine Kollegin Heike Ostermann packten Ende Oktober 1998 die Koffer.
Es herrscht Ratlosigkeit in der Gruppe aufgrund dieser Entscheidung. Detlev Reepen kann nur Vermutungen äußern, wie es dazu gekommen ist. „Es
gibt da ein paar saudische Restgelder noch vom Staudammbau. Die möchte
die malische Regierung für ein Bewässerungsprojekt nutzen. Ich denke, dass
das deutsche Ministerium für Zusammenarbeit und Entwicklung da Kompetenzüberlappungen zwischen den zwei Projekten sieht und Landstreitigkeiten
aufgrund schon mal schlecht gemachter Erfahrungen befürchtet.“ Detlev
Reepen schüttelt ein wenig den Kopf. „ Unsere Gruppe ist überhaupt nicht der
Ansicht. Wir sehen unseren Schwerpunkt im Strukturaufbau während der
neuen Dezentralisierung. Wo soll es da zu Interessenskonflikten kommen?“
Auf einen Meinungsumschwung aus Bonn hofft auch der malische Projektleiter Siné Konaté und sein Mitarbeiter Simbo Keita. „Wir haben noch etwas
Geld aus der ersten GtZ-Phase“, erzählt er. „Wir können mit drei Leuten noch
rund 18 Monate weitermachen“, so der in Deutschland studierte Agronom.
„Ich habe meinen Landsleuten Versprechungen gemacht, wir würden für sie
da sein. Die Leute haben Vertrauen gewonnen. Ich verliere jetzt mein Gesicht,
wenn ich sie einfach im Stich lasse.“ Die Gegend von Manantali ist selbst für
malische Verhältnisse rückständig. Jahrelang gab es kaum Straßen dorthin,
jetzt sind zwei Pisten da, die in der regenlosen Zeit gut passierbar sind, eine
durch die Kreditanstalt für Wiederaufbau (KfW) möglich gewordene Sache,
die Manantali aus seiner Isolation befördert. Gerade jetzt, wo über hundert
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Mali
Bauarbeiter das moderne Wasserkraftwerk errichten, wird das einzige Projekt,
das die Landbevölkerung unterstützt, abgezogen. Während sich im Norden
Malis die Organisationen auf die Füße treten, interessiert sich keiner für den
Westen.
Viel Wasser, nichts zu trinken
80 Prozent aller Krankheiten in Mali werden durch schmutziges Wasser provoziert. „Wir haben große, mächtige Flüsse“, erklärt Mahamadou Sidibé der
malischen Wasserbehörde. „Sie sind verschmutzt, bringen Krankheiten, wie die
Choleraepidemie 1994.“ Neben dem Niger fließt im Westen der Senegal durch
das Land. Zwei große Stauseen gibt es noch zudem, Trinkwasser jedoch viel
zu wenig. Der Regen versickert ungenützt, die Umweltverschmutzung der
Flüsse wird durch die Nachbarstaaten mitverursacht. Mit massiver Unterstützung der Kreditanstalt für Wiederaufbau (KfW) wird seit Jahren versucht,
jedem Dorf eine saubere Wasserstelle zu geben. „50 % der Dörfer haben eine,
bis zum Jahr 2002 sollen es alle sein. „Die Zusammenarbeit mit den Deutschen
ist vorbildlich“, lobt Mahamadou Sidibé seine Partner. „Von der Vertragsunterzeichnung bis zum fertigen Brunnen dauert es kein Jahr.“
Besonders im Norden bei Timbuktu und Gao ist das Brunnenbohren problematisch. Paul Leubel von einem deutschen Ingenieurbüro berichtet: „Wir
stoßen immer öfter auf Salzwasser, bei Timbuktu hatten wir eine Erfolgsquote
von nur 30-40%.“ Und was auch ärgerlich ist, Banditen bei Gao haben ihm
schon mehrfach unter Waffeneinsatz seine Geländewagen geraubt.
Dass frisches Wasser lebensnotwendig ist, ist insbesondere der ungebildeten
Landbevölkerung nicht klar. Mit Geldern der KfW wird Radioaufklärung betrieben. In den Städten muss man eine Abgabe pro Eimer zahlen, mal 5, mal 10 F
CFA. „Das können sich die Leute leisten“, ist die Einschätzung des Generaldirektors. Die Finanzierung von seiten der KfW ist für die malische Wasserwirtschaft überlebenswichtig. Mit rund 45% Beteiligung an der Gesamtsumme liegen die Frankfurter weit vor den französischen oder arabischen Geldgebern.
Die stinkenden Wasserkanäle der anliegenden Nigerstädte, die eine ideale
Brutstätte für Moskitos sind, fließen ungereinigt in den Niger. „Wir wissen
wohl, was eine Kläranlage ist“, nickt Mahamadou Sidibé. „Doch zum Bauen
brauchen wir die nötigen Mittel. Meine Aufgabe ist es, die Regierung weiter
davon zu überzeugen, dass sauberes Wasser eine Priorität darstellt. Leider hat
der Staat viele davon. Aber das Wasser muss zuerst kommen. Wenn ich nichts
bewege, habe ich versagt.“ So Mahamadou Sidibé über sich und seine Arbeit.
„Einen sicheren Partner habe ich: die KfW in Frankfurt.“
Korn für Korn: In der Reiskammer Malis
Im Norden von Ségou, Richtung Grenze zu Mauretanien, erstreckt sich
Malis größtes Reisanbaugebiet. Hier hat das Office du Niger das Sagen. Die
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Mali
Kolonialherren Frankreich gründeten diese Institution, weil sie sich das weite
Land und den Fluss Niger zunutze machen wollten. Baumwolle sollte angepflanzt werden. Dank eines kleines natürlichen Gefälles kann nach dem Bau der
Niger-Staustufe von Markala 1947 ein alter Nigerarm geflutet werden. Fünf
große Bewässerungszonen werden so möglich. Man träumt davon, rund eine
Million Hektar Land zu bewirtschaften. Doch bis zum Jahr 1960, Jahr der
Unabhängigkeit, sind nur 54.000 Hektar bewässert, heute sind es 60.000. Die
ehrgeizigen Ziele sind gescheitert. Der Baumwollanbau hat sich in regenreicheren, südlicheren Zonen Malis als kostengünstiger erwiesen. Erst unter der
Diktatur von Traoré wird der Reisanbau gefördert, der bis heute fast nur auf den
Feldern zu finden ist.
Macina - so heißt das größte Bewässerungsgebiet vom Office du Niger. Rot
erstrahlen die sanierten Dämme, auf denen feuerroter Kiesel, Laterit genannt,
aufgeschüttet worden ist. Tiefblau der wasserführende Kanal, quietschgrün die
noch unreifen Reisfelder. Ein Farbenspektakel, das so ganz untypisch ist für die
Sahelzone. Reisbauer Diarra ist zufrieden, mit seiner Frau und sechs Kindern
hat er dieses Jahr eine gute Ernte eingefahren. Sie sind gerade dabei, den Reis
mit Flegeln zu dreschen und die ungeschälten Körner in große Säcke zu füllen.
Ein kleiner Fleck seines Feldes ist beige-braun. „Hier hat die Virose zugeschlagen“, erklärt Anbauberater Sekou Diawara. Seit einiger Zeit ängstigt diese
Krankheit, dort auch „Reis-Aids“ genannt, die Bauern. Noch ist kein Gegenmittel gefunden. „Unser Wunsch wäre es, wenn wir Forscher gewinnen würden,
die uns in der Wissenschaft unterstützen würden. Denn wir riskieren große Ernteverluste in der Zukunft.“ Angeblich, so der Anbauberater, würden in den Endkanälen, die das Reisfeld direkt bewässern, krankheitsübertragende Insekten
brüten.
In Niono, einem weiteren Gebiet, trauert man der UdSSR noch hinterher.
„Man hatte uns Gelder versprochen für einen neuen Kanal, dann hätten wir
200.000 Hektar neu bewässern können“, seufzt Kouriba Djeneba, zuständig für
die Förderung der Bauernzusammenschlüsse. „Die Frauen widmen sich in
dieser kalten Jahreszeit dem Gemüseanbau. Er gedeiht prächtig hier.“ Zwiebel,
Chalotten, Kohl, Knoblauch, Okra, Auberginen und scharfer Paprika sind ihre
Hauptanbauprodukte. Rund 44. 000 Frauen arbeiten auf den Feldern von insgesamt 126.000 registrierten Bauern. „Seit vier Jahren dürfen auch Frauen
offiziell eine Parzelle bekommen“, erläutert die Frauenbeauftragte Fatumata
Lamine Traoré. „Die Frauen ernten ihr Gemüse, wissen aber gar nicht, wo sie
es verkaufen sollen, soviel gibt es hier.“ Die Tomatenkonservenfabrik hat dicht
gemacht, keiner weiß so recht, wieso. „Eine schlimme Sache sind die vielen
Fehlgeburten. Die Frauen pflanzen stundenlang mit den Füßen im Wasser in
gebückter Haltung die Reispflanzen ein. Das bewirkt die Fehlgeburten. Wir
besitzen keine Pflanzmaschinen“.
Drei der fünf Anbaugebiete sind teilsaniert. Eines Gebietes hat sich die KfW
angenommen. Auch in N’Débougou sind einige Kanalweichen und die Schleusen wieder in Schuss, die Dämme ordentlich aufgeschüttet und der Erosion
somit Einhalt geboten. Aber es handelt sich erst um 2.000 von 11.000 Hektar.
Doch vor dem Jahr 2000 ist keine weitere Finanzierung aus Deutschland in
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Sicht. Das führt zu Spannungen zwischen den Bauern. Die im nicht sanierten
Gebiet können die Wassermenge nicht gut regulieren, was den Ertrag erheblich schmälern kann. Dämme gehen kaputt oder die Drainage funktioniert nur
schlecht. Da muss der Bauer mehr arbeiten für weniger Ertrag. Da beneidet
er seinen Kollegen vom sanierten Bereich. Der Ertrag hat sich auf 4,8 Tonnen
pro Hektar in den sanierten Gebieten eingependelt, doch mit Hilfe des richtigen Düngers sollen sich sechs Tonnen Reis erzielen lassen.
Die Gebiete Kouroumari und Molodo schauen ein wenig sauer drein. Um
sie hat sich noch keiner gekümmert. „Uns stirbt ein Teil des Reises weg, weil
es überflutet ist. Unser Bewässerungssystem ist marode, wir wirtschaften
unter schlechten Bedingungen. Und wenn die Vogelschwärme uns überfallen,
dann ist alles zu spät“, beschreibt der Agronom Zié Coulibaly in Molodo die
Lage. Man hört zweimotorige Maschinen über die Köpfe der Bauern fliegen,
die Gift versprühen. In den Jahren zuvor sind rund 250.000 Vögel in einem
Schwarm über das Gebiet hergefallen. In wenigen Stunden picken die faustgroßen Vögelchen die Felder leer. Die Bauer versuchten vergebens sie zu vertreiben.
Dreißig Jahre Dienst für Malis Ärmste
„Ist das Haus nicht hübsch?“, strahlt Schwester Bernardette. Seit gut zwei
Jahren bewohnt sie mit ihren drei Mitschwestern ein neues Missionshaus in
Kolongo, einem ärmlichen Dorf im Gebiet des Reiskammer Office du Niger.
Die vier Französinnen entstammen alle dem Orden „Soeurs servantes du
Sacre Cour de Jésus“ in Versailles. Ordensschwester Bernardette ist 30 Jahre
in Mali und das alte, baufällige Wohnhaus steht daneben und erinnert sie an
28 Jahre mühseliger Lebensumstände. „Wir kommen erst an zweiter Stelle“,
erklärt sie. „Diese ganzen internationalen Projekte geben gerne Gelder für die
einheimische Bevölkerung“, führt sie aus. „Aber wie wir Ordensschwestern
leben, das interessiert fast keinen.“ Aber auch nur fast. Auf Antrag des
Bischofs Sidibé aus der Diözese Ségou erklärte sich missio in Aachen bereit,
den Neubau zu finanzieren. Ein Prozent Christen leben im muslimischen
Mali. Das mit der Bekehrung sehen die Schwestern in Kolongo ganz nüchtern.
„Da wir Krankenschwestern sind, sind wir erst einmal hier um den Menschen
zu helfen. Wenn unser selbstloser Einsatz Fragen aufwirft, dann erzählen wir
von unserem christlichen Glauben.“ Einige Taufen führen sie im Jahr durch
und leiten eine Kathechismusgruppe. Die Schwestern treten verstärkt mit
Frauen ins Gespräch. Schwester Marie tourt auf dem Moped durch die Dörfer um Aufklärung gegen Aids zu treiben. Viermal im Jahr möchte sie jedes
der 35 Dörfer besuchen. Die findige Schwester Bernardette kümmert sich um
die Krankenstation und erteilt Tipps zur Säuglingspflege. „Noch ist die Kindersterblichkeit hier bei 25 %. Die Ernährung ist sehr sehr eintönig und
Unterernährung ist ein schlimmer Faktor.“ Außer Reis gibt es kaum etwas
anderes. Notwendige Vitamine fehlen. Sie führt auch eine Grundapotheke, in
der sich die Einwohner ohne Preisaufschlag versorgen können. „Manchmal
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zahlen wir auch einen Teil der Arztkosten. Die Menschen sind so arm, dass sie
oft nur in letzter Minute zu uns kommen und uns fragen. Und oft kann man
dann für den Kranken nichts mehr tun.“ Schwester Maggie kann gut mit Nadel
und Faden umgehen. Sie leitet Nähgruppen. „Na ja“, grinst sie, „dabei kommt
das Gespräch schon mal auf Gott und das Leben Jesu. Ich denke, sie hören mir
gerne zu.“
Djenné - Jenó, versunkene Stadt Malis
Djenné ist und Djenné-Jenó war. Djenné heute ist eine Touristenattraktion
dank einer der schönsten Lehmmoscheen der Welt, ein Weltkulturgut. DjennéJenó von einst liegt nicht dort, wo Djenné heute ist, sondern rund zwei Kilometer entfernt auf einer Insel im Nigerdelta und ist nicht zu sehen. Doktor
Boubacar Hama Diaby fährt mit dem Kanu zu der archäologischen Stätte, die
versunken unter der Erde liegt. Hier handelt es sich um Malis einzige Ausgrabungen, die mit Hilfe us-amerikanischer Gelder in Etappen getätigt werden. Ein Amerikaner, Rod McIntosh, stieß mit großen Photolandkarten auf die
Stätte.
Bei der ersten Ausgrabung 1980 war schnell klar: Das ist eine Sensation.
Eine sechs Meter hohe Schicht Erde verbirgt 13 Jahrhunderte Zivilisation.
Davon ist heute auf dem leeren Gelände nichts zu spüren. Nur eine Unmenge
kleinster Tonscherben auf dem Boden der kargen Landschaft deuten auf
etwas Besonderes hin. 33 Hektar groß ist die Fläche, die Archäologe Diaby
zu erforschen hat, ein Bruchteil von einigen Dutzend Metern hat er mit Rod
McIntosh und seiner Frau bislang umgegraben. „Im 10. Jahrhundert hatte
Djenné rund 25.000 Einwohner“, erzählt der Forscher. „Eine sechs Meter hohe
Schutzmauer umgab die Stadt. Eisen und Stein wurde gegen Reis und Hirse
importiert.“
Der Saharahandelsweg vom Norden in den Süden führte zur Gründung der
Siedlung. Die Häuser damals sahen so aus wie heute. In Djenné-Jenó, das AltDjenné bedeutet, waren Lehmbauten vorherrschend, Banko genannt. Eine
Völkervielfalt traf hier zusammen: Bozo, Marka, Mossi, Bobo und Fulbe.
Funde machten klar, dass schon diese Menschen die Eisenverarbeitung kannten und Handel trieben. Damit wurden Thesen zunichte gemacht, die besagten, dass in der Subsahara Eisen erst im 19. Jahrhundert bearbeitet werden
konnte oder der Handel erst mit den Arabern begann.
Im 11. Jahrhundert verbreitete sich der Islam und das zweite Djenné wurde
gegründet. Es gibt einige Hypothesen, weshalb Djenné-Jenó aufgegeben
wurde: 1. das Klima. Trockenheit zwang die Bewohner wie auch bei weiteren
sechzig Dörfern weiterzuziehen. 2. der Islam. In der neuen Stadt war der
Machthaber zum Islam übergetreten, wer für ihn war, zog auch zu ihm.
„Die älteste Stadt der Subsahara droht weggeschwemmt zu werden“, klagt
Boubacar Hama Diaby. 1993 wurde deshalb zum Schutz der Stätte die „Mission culturelle“ gegründet. Bei den Grabungen wurden einzigartige Terrakotten gefunden, die in Bamako ausgestellt sind. „Neben der Erosion, bei der
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wichtige Gräber langsam ans Tageslicht befördert und zerstört werden, gibt
es auch Plünderer, die hoffen, mit einer Statue das große Geld zu machen.“
Die Mission Culturelle plant, diesen Bereich mit Bäumen zu bepflanzen,
damit der Boden an Ort und Stelle bleibt. Tiere haben die archäologische
Stätte leergegessen und der Verwitterung preisgegeben.
Am Rand der Gesellschaft
Die Liebe teilt sich Aminata mit fünfzehn anderen Kleinstkindern in ihrer
Gruppe. Sie leben im einzigen Waisenhaus Bamakos. Mit 40 Kindern in drei
Sälen platzt das Waisenhaus aus allen Nähten. Betreut werden sie rund um
die Uhr von fünfzehn Helferinnen. Weitere 40 Kinder werden finanziell
unterstützt, leben aber weiter bei Verwandten. „Wir hoffen sehr, dass die Kinder in ihrer Familie bleiben können, auch ohne Mutter. Das kostet uns etwas
weniger“, erklärt die Buchhalterin. Trotzdem muss jeder Centime umgedreht
werden, das malische Gesundheitsministerium unterstützt das Kinderheim
nur dürftig. „Immer das gleiche Geld für mehr Kinder.“ Da erweist sich die
finanzielle Unterstützung vom Hamburger Kinderhilfswerk für die dritte Welt
als segensreich. Seit 1984 sind die Hamburger eine starke Stütze für das Waisenhaus. Sie zahlen den Lohn von fünf Kinderschwestern, geben rund eine
Million F CFA für Milchpulver (an die 3.000 Mark) und liefern Sachspenden wie Spielzeug oder Moskitonetze. Alle drei Monate kommt zudem noch
eine Finanzspritze von rund 700 Mark. „Bis wir an die staatlichen Gelder
kommen, muss ich Sisyphusarbeit leisten“, so die Buchhalterin. „Alle drei
Monate muss ich Berge an Papieren einreichen, in denen steht, welche Produkte ich bei welchem Lieferanten einkaufen möchte. Erst wenn der Lieferant von der Behörde sein Geld bekommt, liefert er z.B. Milchpulver an uns
aus. Es kann da zu unglaublichen Verzögerungen kommen. Oft müssen wir
mit dem Geld des Kinderhilfswerks Notrationen einkaufen. Ein Glück, dass
das Geld da ist.“
Bis zum Alter von drei Jahren bleiben die Kinder, die oft von mental kranken Mütter behördlich entfernt wurden, in diesem Heim. Dann gehen sie in
ein Kinderdorf.
„Wir müssen mehr zuverlässige Partner finden“, resümieren die Frauen im
Kinderheim ihre Lage, „so welche, wie das Kinderhilfswerk für die dritte Welt
in Hamburg.“
Der Gesundheitssektor auf dem Weg der Besserung
Zum Arzt gehen ist in einigen Regionen Malis sehr schwer. Unwägbares
Gelände wie im Dogonland, steiniges Hochplateau an der Grenze zu Burkina
Faso, ist ein Problem, über 20 Kilometer entfernte Krankenstationen ein weiteres. „Das will keiner mehr“, stellt Arzt und GtZ-Mitarbeiter Vincent Joret
deutlich fest. „Die malische Regierung ist dabei, ihren Gesundheitssektor
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umzukrempeln, wir sind seit 1995 als Berater hier in Sévaré tätig und unterstützen die Umstrukturierung in der fünften Region, das heißt auch verstärkt
im Dogonland.“
Cheick Omar Haidara ist die gute Seele der Gesundheitsstation von Bandiagara. Wie bei vielen weiteren „Centre de Santé“, steht das Hamburger Kinderhilfswerk für die dritte Welt am Anfang ihrer Geschichte. Wie in SégouCoura, Sévaré oder Sébenincoro, einem peripheren Stadtteil von Bamako,
kam das Geld für den Bau der Gebäude aus Deutschland. Das ist rund zehn
Jahre her. Das Gebäude in Sévaré ist arg ramponiert. „Es wird bald revitalisiert“, freut sich Arzt Youssouf Coulibaly. Dieses Gesundheitszentrum ist die
einzige Anlaufstelle für 22.000 Menschen, drei miserable Betten mit dürftigem Schaumstoffbelag stehen in einem trostlosen Saal, in den es hineinregnet. Eine Infusion hängt am Fensterknauf. „Revitalisation“ ist das Schlagwort
der Stunde. Alte, schon bestehende, staatliche Gesundheitszentren werden
langsam „privatisiert“, d.h. die Gemeinde oder der Zusammenschluss einiger
Dörfer übernehmen die Finanzierung und die Verwaltung des eigenen
Gesundheitszentrums. Das bedeutet konkret, dass die Bürger für ihre Gesundheit Geld spenden, damit das Zentrum saniert werden kann. 15% der Gesamtkosten müssen sie beisteuern, den Rest übernimmt die GtZ. Ein Verwaltungsrat wird eingesetzt, damit das Zentrum sich selber finanzieren lernt. In
Sébénincoro in Bamako funktioniert das mustergültig. Wie in den übrigen
Krankenstationen auch, besteht der Komplex aus einem Untersuchungssaal,
einem Sprechzimmer, einem Warteraum und einem Abstellraum. Ein zweites
Gebäude beherbergt die „Maternité“, das Geburtshaus. Dort erblicken täglich
drei bis vier Kinder die Welt. In Sébénincoro wohnt Arzt Mamadou Diop
gleich nebenan, etwas wovon sein Kollege in Ségou-Coura nur träumt. In
Sébénincoro boomt die Krankenstation auch nachdem sich das Kinderhilfswerk 1991 aus der Verwaltung herausgezogen hat, in Ségou-Coura dümpelt
sie vor sich hin. „Ich bin nicht immer anwesend“, weiß der dortige Arzt den
Grund. „Abends bin ich bei mir zu Hause, am Wochenende auch.“ In diesen
zwei Städten werden die Gesundheitszentren von der Bevölkerung getragen,
die dort Ansässigen können gegen einen Jahresbeitrag von 2.000 F CFA
(rund sechs Mark) Mitglied werden und für eine Mark begünstigte Untersuchungen in Anspruch nehmen. Wer nicht Mitglied ist, zahlt drei Mark. Weiteres Geld kommt durch den Verkauf der Medikamente und durch nötige
Spenden dazu.
In Sévaré und Bandiagara steht die „revitalisation“ kurz bevor. Die Bevölkerung hat lang genug gesammelt um die erforderlichen 15% der Gesamtsumme für die Sanierung dazuzutun. Vincent Joret weist darauf hin, dass nicht
nur alte Zentren erneuert werden, sondern dass auch ganz neue gebaut werden. „Und jetzt die absolute Neuerung. Jeder soll im Umkreis von rund zehn
Kilometern ein Gesundheitszentrum in der Nähe haben. Wir schauen uns bei
der Bestimmung des Ortes, wo das Gesundheitszentrum hin soll, die geographischen und kulturellen Gegebenheiten genau an. Danach richten wir uns.
Früher war das anders. Da wurde ein Gesundheitszentrum in die Kreisstadt
gesetzt, unabhängig davon, wie groß der Bezirk war, wieviele Menschen
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dort wohnten und ob die Kreisstadt für die Einwohner erreichbar war. Wir
kümmern uns ab sofort überhaupt nicht um die politischen Verwaltungsstrukturen, sondern darum, dass die Versorgung sinnvoll ausfällt.“ Für das
Dogonland, das medizinisch sehr rückständig ist, bedeutet dies, erst einmal die
geeigneten Orte ausfindig machen und dann die Bevölkerung fragen, wie sie
zum Bau und zur Finanzierung eines „Centre Communautaires“ stehen. Die
so entstehenden Zentren müssen auch die Kosten für den Arzt oder den Pfleger, der dem Zentrum vorsteht, sowie für Krankenschwester und Hebamme
übernehmen. In den schon existierenden Zentren kommt noch der Staat für
den Pfleger auf. In Dourou, einem Dorf im Dogonland, ist ein hübsches Zentrum entstanden. „Hier“, so der Pfleger, „müssen wir das Vertrauen der Leute
gewinnen in die moderne Medizin. Denn sie trauen oft mehr den traditionellen Heilern als uns. Der kostet ja nur 20 Francs, wir 400.“ So Boubacar
Fornba, der auch massiv beklagt, dass die Leute erst im letzten Augenblick,
wenn gar keine Besserung auftritt, bei ihm vorsprechen. Oft zu spät. Ein weiteres verheerendes Problem: Es gibt keine Krankenwagen. Die Pfleger und
Ärzte in den Krankenzentren wissen nicht, wie sie Schwerkranke in das
nächste Kreiskrankenhaus transportieren können. Youssouf Coulibaly aus
Sévaré: „Wir liegen an einer der zwei Teerstraßen, die Mali durchqueren. Das
Krankenhaus ist 15 Kilometer entfernt. Und doch sterben mir Frauen weg, die
nach einer Geburt zu starken Blutverlust haben, weil ich kein Taxi finden
kann.“ Der Frust ist ihm deutlich abzulesen.
Vincent Joret und seine malischen Kollegen haben ein Ziel: flächendeckend ein Grundpaket an medizinischer Versorgung sicherzustellen. Denn
noch sterben zu viele Menschen an Krankheiten wie Durchfall oder Malaria,
weil sie keinen Arzt konsultieren können. Die Kindersterblichkeit soll endlich
in den Griff bekommen werden, sie ist sogar von 249 Todesfällen pro Tausend
im Jahr 1987 auf 254 pro Tausend 1996 angestiegen, mindestens 50% aller
Frauen sollen während ihrer Schwangerschaft zur Vorsorge gehen können.
„Ebenso wichtig sind Aufklärungskampagnen, die den Frauen die Notwenigkeit von Impfungen klar machen“, fügt er hinzu. „Manchmal muss man sie
ein wenig davon überzeugen“, grinst er. „Wir hier in der fünften Region hatten festgestellt, dass zu einem Impftermin mehr Frauen kamen, wenn dem
Kind auch Vitamin A verabreicht wurde. Das Wort Vitamin war da der Anreiz
für die Frauen zu kommen, stärker als die Impfung selber. Diese Erfahrung ist
wichtig, dieses Jahr wurde das Konzept national angewandt mit einem Bombenerfolg. Und nächstes Jahr, so die Weltgesundheitsorganisation, soll es afrikaweit getestet werden.“
Kampf dem Moskito
Das riesige Binnendelta des Nigers ist ein Paradies für Malaria-Mücken. In
einer Nacht sind bis zu zwanzig infizierte Stiche möglich. Kinder, die nicht
behandelt werden, sterben meist nach 48 Stunden. Seit rund zehn Jahren ist
ein GtZ-Projekt in Sévaré für die Aufklärung zuständig. Im angrenzenden
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Dogonland wussten bis 1994 nur zwei Prozent, wie man Malaria bekommt.
Ziel, so Adama Sogola, ist, in jedem Dorf eine Person zu schulen, die von den
Einheimischen angesprochen wird und die, im Fall von Malaria, die Medikamente zur Verfügung hat. Ein weiterer Zweig des Projektes fordert die Leute
auf, ihre Moskitonetze vorbeizubringen, die werden in Permetrin eingetaucht,
das finden die Moskitos widerlich und fliegen sie gar nicht erst an. Der Arzt
Mahamadou Sissoko tourt durch das Land und überprüft in den Krankenstationen, ob die Labortests zur Malariabestimmung auch gut funktionieren
oder ob neues Material benötigt wird. An Malaria sterben pro Jahr rund drei
Millionen Menschen auf der Welt.
AGETIPE - Abkürzung für Arbeit
Ein neues Kulturzentrum, eine gepflasterte Straße, ein ordentlicher Abwasserkanal, 135 neue Schulgebäude für die Region Mopti und das Dogonland,
die Liste der neuen Bauten im Land ließe sich problemlos fortsetzen. Ausführende Institution: die AGETIPE. „Wir bauen mit so wenig Maschinen wie
möglich“, erklärt Lamine Ben Barka, der Generaldirektor der Institution.
„Wir haben festgestellt, dass die Arbeitslosen in den Städten immer mehr wurden und die Armut damit anstieg. Wir schaffen Arbeitsplätze, indem wir diesen Arbeitslosen und keinen Maschinen den Vorzug geben.“ Die AGETIPE ist
1992 nach der Revolution entstanden. Der malische Staat wünschte sich eine
Struktur, die schnell und zuverlässig öffentliche Aufträge umsetzen konnte.
Architekten, Ingenieure und Bauunternehmer gründeten nach senegalesischem Vorbild ein Privatunternehmen, das aber staatliche Aufträge unter
marktwirtschaftlichen Zielen ausschreibt. „Wenn wir nicht zügig und zuverlässig arbeiten würden, dann hätten wir keine Existenzberechtigung“, resümiert auch Tiécoura Coulibaly die Ziele der AGETIPE. Er leitet das Büro für
Mali-Nord.
Soviel Effizienz gefällt auch der Kreditanstalt für Wiederaufbau (KfW) in
Frankfurt. Rund zehn Prozent aller Gelder fließen aus Deutschland. Intensiv
haben die Deutschen sich in Nord-Mali engagiert. 1995 flossen rund sechs
Millionen nach Timbuktu und Umgebung, als die Tuareg ihre Rebellion
beilegten. Ein frisch renovierter Justizpalast und eine ansprechend gestaltete
Schatzkammer sollten das neue staatliche Interesse am Norden des Landes
dokumentieren. In Kidal und Gao sowie vier weiteren Städtchen wurde mit
dem deutschen Geld der Infrastruktur auf die Beine geholfen. Ein Plus für
AGETIPE: die schnelle Umsetzung der Aufträge. Wird ein neues Projekt
bewilligt, müssen innerhalb von zwei Monaten die Ausschreibungen ausgeführt sein, die Arbeiten vergeben und der erste Spatenstich getätigt sein. Mehr
als 8,1 Millionen Arbeitstage hat die AGETIPE in den ersten fünf Jahren ihrer
Existenz finanziert. Für die einfachen Bauarbeiter, die nur einen Vertrag für
eine Baustelle haben, heißt das, dass sie immer wieder von neuem auf Baustellen hoffen, die durch die AGETIPE eingerichtet werden. Denn ohne
diese Arbeit bliebe ihnen nur die Armut.
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Im Dogonland entstehen in Zusammenarbeit mit der KfW 135 neue Klassenräume, die Mitarbeiter arbeiten gerade am neuen Zwischenbericht. „Einige
Unternehmen wissen immer noch nicht, wie sie arbeiten sollen“, schildert Tiécoura Coulibaly ein Beispiel aus der Praxis. In Sangha im Dogonland wird die
Schule nur schleppend gebaut, die drei Monate verabredete Zeit bis zur Fertigstellung sind schon überschritten. Auch wenn die Gegend kaum Straßen hat
und die Materialbeschaffung in Mali immer noch über das weit entfernte
Bamako läuft, Tiécoura Coulibaly, der in Aachen Bauingenieurwesen studiert
hat, zeigt nur bedingt Verständnis. „Es werden eben nur die guten, fitten
Unternehmer überleben“, zieht er Bilanz. „An die werden wir in Zukunft noch
mehr Aufträge vergeben.“
Sparen im Dogonland
Fatumata ist berühmt für ihr Hirsebier. Es ist gerade Erntezeit und sie
würde sich gerne einen Schwung Hirse kaufen um Bier zu brauen. Aber sie
hat kein Geld. Deshalb hat sie einen Antrag an den Sparkassenrat gegeben, in
dem sie um einen Kredit in Höhe von sechs Mark bittet. „Ali, hast du Fatumatas Hirsebier probiert?“ Wenn der Sparkassenrat die Entscheidung über
den Kredit zu fällen hat, dann wird das Vorhaben erst mal auf Rentabilität
abgeklopft, schließlich will die Dorfkasse ihr Geld auch wiedersehen. „Ja,
lecker“, ist die Antwort. Fatumata darf ihr Geld haben.
Gelernt haben das die Bauern durch die Hilfe von Adama Kodio. Die Kreditanstalt für Wiederaufbau startete 1987 ein Projekt zur Bildung von dörflichen Gemeindekassen. Es ist zwar schon abgeschlossen, aber es kann sich
autonom weitertragen. Adama Kodio hat ein Büro gegründet, mit dem er das
Kassennetz leitet. „Früher wurde auch gespart, nur anders“, erzählt der
Finanzexperte des Dogonlandes. Vieh und Hirse waren die Sparanlagen der
Bauern. „Wir haben ihnen gute Gründe geliefert, weshalb sie ihr Geld
abgeben und ein Büchlein mit einer Zahl mit nach Hause nehmen sollten.“
Adama Kodio zählt sie auf: Das Vieh kann an einer Krankheit versterben
oder die Ernte eingehen. Wenn ein alter Weise des Dorfes das Geld aufbewahrt und stirbt, findet man es kaum wieder, so genial sind seine Verstecke. Wenn man in die Dorfkasse einzahlt, darf man auch einen Kredit
bekommen, etwas noch nie Dagewesenes. Jedes Dorf besitzt einen „Sparbeauftragten“, der das Geld in seiner Hütte aufbewahrt. Noch ist die Welt
hier in Ordnung, Angst vor Überfällen kennt man nicht. Die Durchschnittsspareinlage beträgt 150 Mark. Und wenn einem Dorf doch die
Kasse gestohlen würde, besitzt das Sparkassennetz einen eisernen Notgroschen: 500.000 F CFA, um alle Unwägbarkeiten abzudecken. Rund 25.000
Dogon haben sich so finanziell abgesichert, wovon 70 Prozent Frauen sind.
„Es hat sich eine neue Solidarität gebildet“, so Adama Kodio. „Man bringt
das Geld zur Kasse, damit der Nachbar investieren kann, das ist neu bei
uns.“
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Mehr Spaß am Unterricht
In Lougourougoumbou im Dogonland steht auf einen großen Felsplateau eine
Schule. Aus schönem Stein erbaut strahlt sie weit in die Gegend und ruft so die
Kinder zum Unterricht. Die erste bis zur vierten Klasse sind belegt, die Schule
funktioniert erst seit vier Jahren, als das Kölner Lessing-Gymnasium und das
Kinderhilfswerk aus Hamburg den Bau finanzierten. Dann schleppte das ganze
Dorf Steine, sie wollten den Bau, koste es, was es wolle. Zuvor mußten manche
Kinder bis zu 25 Kilometer in die nächste Schule. Viele gingen auch deshalb erst
gar nicht hin. Drei der vier Lehrer sind heute nicht da, sie nehmen in der Kreisstadt Bandiagara an einer Vertiefung der brandneuen Pädagogik teil, mit der sie
ihre Kinder unterrichten. Die Schüler nehmen aktiv am Unterricht teil, arbeiten in Gruppen, zeichnen und malen, behängen ihre Klassenräume mit großen
Bögen Papier, worauf der Lehrer wichtige Lerninhalte notiert hat. Auch wenn
die Lehrer heute nicht da sind, die Klasse aus rund 60 kleinen Schülern sitzt diszipliniert am Platz. Ein Junge hat den Unterricht übernommen. Er liest die
Wandposter vor, die anderen wiederholen eifrig. Hin und wieder zieht er einen
Mitschüler aus der Bank, er soll alleine wiederholen. In der vierten Klasse ist
der Lehrer da, er unterrichtet noch nach der klassischen Methode. Er schreibt
etwas auf, liest es vor, die Kinder wiederholen. Er stellt eine Frage, lässt einen
Schüler antworten. Dann wiederholen alle im Chor.
Das soll in einigen Jahren vorbei sein. Das malische Erziehungsministerium
hat einen Zehn-Jahres-Plan erarbeitet, der die komplette Schullandschaft reformieren soll. Seit diesem Schuljahr ist er in Kraft, jedoch bleiben viele der
Ziele erst mal nur Theorie.
Inge von der Ley kümmert sich im Dogonland gezielt darum, dass aus der
Theorie Praxis wird. Gemeinsam mit dem regionalen Erziehungsdirektor steuert sie auf eine qualitative Verbesserung des Unterrichts hin. „Bislang wurde nur
auf Französisch unterrichtet, mit französischen Büchern, die sich an Kinder richten, die in Städten leben. Zum Teil enthalten die Bücher Einheiten, die völlig
weltfremd sind für ein Kind im Dogonland hier.“ Da gibt es die Lektion „Wie
verhalte ich mich richtig im Pariser Flughafen“. „So etwas werden wir streichen
und mit Ereignissen aus dem alltäglichen Leben der Kinder füllen“, so die Fachfrau im pädagogischen Sektor, die das GtZ-Schulprojekt seit drei Jahren leitet.
„Nur Kinder, die in der Schule zum Beispiel lernen, dass sauberes Wasser
lebenswichtig ist, tragen dazu bei, Mali ein Stück voranzubringen.“ Eine weitere Neuerung neben der modernen interaktiven Pädagogik ist der Unterricht in
der Muttersprache. In den ersten zwei Jahren wird ab sofort im Dogonland auf
Dogon unterrichtet, in Timbuktu auf Tamaschek, in Bamako auf Bambara usw.
„Früher ging es direkt mit Französisch los, da waren manche Kinder wie vor den
Kopf gestoßen. Allgemein sind die Malier im Rechnen nicht gut, denn sie
waren stets auf Spracherwerb ausgerichtet. Jetzt können sich die Kinder in den
ersten Jahren leichter auf die Zahlen konzentrieren. Ab dem dritten Jahr erst
wird Französisch Fach, ein bis zwei Jahre später findet der Wechsel statt, Französisch wird Schulsprache, die Lokalsprache zum Fach. Wir stellen fest, dass
der Anfangsunterricht in der Muttersprache die Eltern eher dazu bewegt, ihre
370
Rosetta Reina
Mali
Kinder zur Schule zu schicken“, erklärt die deutsche Expertin. Auch versucht
der neue Erziehungsplan die Eltern in die Schule miteinzubeziehen. Elternbeiräte werden gegründet, damit sie direkt Einfluss auf den Unterricht nehmen
können. Noch kämpfen „Animatrices“, Frauen, die Aufklärungen in den Dörfern betreiben, darum, die Eltern von der Notwendigkeit zu überzeugen, dass
Schule ebenso wichtig sein kann wie frisches Wasser. Insbesondere Mädchen
werden zu Hause behalten, manchmal auch aus Angst, dass die Mädchen auf
dem langen, uneinsehbaren Weg zur Schule belästigt oder vergewaltigt werden.
Auch haben die Schulen oft keine zwei Toiletten, was den Schulbesuch während
der Menstruation schwierig gestaltet.
Die Anfangsphase der neuen Schulstrategie ist schwierig. Es gibt zu wenige
Lehrer, die in der Muttersprache, z.B. in Dogon, unterrichten könnten. Inge von
der Ley versucht in Zusammenarbeit mit den Dörfern, geeignete, des Schreiben
und Lesens kundige Menschen auszumachen, die nach einer Schulung den
Anfangsunterricht übernehmen könnten. Bislang wurde nur auf Französisch
unterrichtet, da war es unerheblich, welche Muttersprache der Lehrer mitbrachte. Jetzt werden in den Ferien Ausbildungen durchgeführt, damit die
neuen Lehrer vertraut gemacht werden mit der neuen Pädagogik in ihrer Muttersprache. Schon nach drei Monaten fangen die Lehrer mit dem Unterrichten
an, werden aber die folgenden zwei Jahre noch weitergeschult.
Noch herrscht Lehrermangel und selbst am pädagogischen Lehrerinstitut gibt
es keinen Dozenten, der die neue Pädagogik unterrichten könnte. Die Anzahl
der Schulungen, bis das System wirklich umgestellt ist, ist immens. Es wird
auch noch Zeit brauchen, bis erste Schulbücher in den Lokalsprachen verfügbar sein werden. Dann wird sich das Problem stellen, wer die Bücher für die
Kinder finanziert, denn den Eltern fehlt jetzt schon das Geld um Kuli und Heft
für die Kinder kaufen zu können.
Zwiebelanbau stoppt Exodus
Im steinigen Dogonland ist Ackerfläche kostbar. Genauso wie das Wasser,
dass in dieser trockenen Gegend nur selten vorkommt. Oder besser: vorkam.
Denn über 120 kleine Staudämme hindern das kostbare Nass, das in der Regenzeit auf den steinigen Boden prasselte, einfach so zu verschwinden. Der Deutsche Entwicklungsdienst (ded) ist hier aktiv. Grüne Felder wechseln mit Steinwüsten ab. Wo ein grünes Feld ist, muss ein Staudamm in der Nähe sein und ein
Dorf, das sich den Staudamm gewünscht, einen kleinen Prozentsatz der Bausumme (rund 40.000 Mark) zusammengespart und die Wartung des Dammes
auf lebenslang übernommen hat. Das Dorf Kokogjogou hat sogar drei davon.
Die Bauern sind glücklich über das Wasser, das es ihnen erlaubt, bis zum
Februar oder März ihre Felder zu bestellen. In der darauffolgenden heißen
Zeit versiegt auch das letzte Wasser. „Ich verdiene rund 100.000 F CFA (rund
300 Mark) pro Ernte“, gibt ein Dogon-Bauer zu. Der Projektmitarbeiter Abdou
Djibi Maiga lacht. „Er meint drei Mal mehr, unsere Dogonbauern untertreiben
gerne.“ Weiterer positiver Effekt der Kleindämme: Die jungen Leute wandern
371
Rosetta Reina
Mali
weniger weg, sie können jetzt hier Felder bestellen und ihren Lebensunterhalt
verdienen. Besonders beliebt sind die kleinen Dogon-Zwiebeln, Gemüse und
Reis. Die jungen Leute suchen sich eine steinige Fläche aus, tragen Erde darauf auf und umgeben ihr Feld mit Steinen, damit die Erde nicht weggeschwemmt wird. Mit großen Kalebassen laufen sie dann zum Stausee und
bewässern dann ihre Pflanzen. Im Jahr 1998 hat der ded 27 neue Staudämme
gebaut. Nach der Fertigstellung der Dämme wird jeder noch zweimal von Projektmitarbeitern besucht, die zusammen mit den Bauern die Lage besprechen.
Wenn der Damm nachgebessert werden muss, geschieht dies, wenn dann einmal die Endabnahme erfolgt ist, dann können die Bauern das Projekt nicht mehr
haftbar machen für Funktionsprobleme am Damm. „Für Notfälle haben wir die
Bauern dazu angeleitet, eine Dammkasse zu führen. Bei jeder Ernte zahlen sie
etwas ein, dann können sie sich die Wartung leisten.“ Auch 1999 ist das Projekt
Staudammbau gesichert. Die Kreditanstalt für Wiederaufbau hat weitere zwei
Millionen Mark bereitgestellt.
Die Gegend von Timbuktu: Lieblingskind der Deutschen
„Wenn ich die guten mit den schlechten Erfahrungen vergleiche, dann überwiegen die schlechten. Vom Menschlichen her bin ich eher enttäuscht. Aber ich
würde alles noch mal machen. Es war gut und es ist ein Teil Geschichte.“ So
blickt Henner Papendieck auf rund fünf Jahre Arbeit im Norden Malis zurück.
Das Einsatzgebiet für ihn und seine Frau: die sechste Region, die von Timbuktu.
Ihre gemeinsame Aufgabe: die Befriedung der Gegend, die unter der TuaregRebellion arg gelitten hatte.
Schon Anfang der 90er gärte es im Norden Malis, am Südrand der Sahara, wo
auch Timbuktu liegt. Die weißen Tuareg erhoben sich gegen den malischen
Staat. Die Tuareg waren durch die Dürren aus den 70ern und 80er Jahren arg
gebeutelt. Die Nomaden fanden kaum mehr Lebensgrundlage für ihr Vieh, der
malische Staat war zudem weit weg. Gegen 1994 verschärfte sich der Konflikt,
als eine schwarze Volksbewegung zu Vergeltungsschlägen gegen die weißen
Tuareg ausholte. Im Westen von Timbuktu bildete sich eine menschenleere
Zone, über 80.000 waren nach Mauretanien oder Burkina Faso geflüchtet,
andere hatten in anderen Regionen Malis Zuflucht gesucht.
Seit 1993 hatte das Bundesministerium für Zusammenarbeit 36 Millionen
Mark für die Befriedung der Gegend zugesagt. Damit sollte der Norden eine
bessere Infrastruktur erhalten. Hier setzt die Arbeit des Ehepaar Papendieck ein,
die als Consulting Firma für die GtZ an die Arbeit gingen. 1995 kam es zur Aussöhnung zwischen Schwarz und Weiß, doch die Gegend blieb weiter leer und
unbewohnt.
Papendiecks fuhren schon ab 1994, zum Teil unter Militäreskorte, in das
Gebiet westlich von Timbuktu. Sie näherten sich vorsichtig den Parteien und
führten Gespräche, bereiteten den Boden zur Rückführung der Flüchtlinge. In
Léré, einem Städtchen unweit der mauretanischen Grenze, war die Lage ruhig
geblieben. Hier fand der einzige Wochenmarkt der Gegend statt, zu dem viele
372
Rosetta Reina
Mali
versprenkelte Tuareg kamen, die von Papendiecks angesprochen werden konnten. „Wir versprachen, ihnen schnell zu helfen und sie bei der Rückkehr finanziell zu unterstützen.“ Das sprach sich herum, immer mehr Tuareg-Notablen fanden den Weg zum deutschen Ehepaar. Bald war ein Schreiber nötig, der
zwischen Clan und deutschem Projekt Verträge verfasste. Die Tuareg waren aufgefordert, ihre alten Siedlungen selber aufzubauen und mitanzupacken, dafür
war finanzielle Hilfe gewiss. Papendiecks bezahlten 1996 Karren, Esel, Benzin, Hacken oder auch Lebensmittel. Nach und nach zogen so die Sippen aus
den Flüchtlingslagern zurück nach Hause. 1996 und 1997 dienten dem Aufbau
der Infrastruktur, woran sich auch die Kreditanstalt für Wiederaufbau beteiligte.
Während der schlimmen Jahren haben Annie und Richard Marshall ihr Gartenanbauprojekt in Timbuktu vorsichtshalber verlassen. „Damals war es Mode,
die Projekte zu überfallen“, erinnert sich die Amerikanerin. Seit 1953 betreiben
die Amerikaner hier eine Baptistenmission, die das Ehepaar Ende der Achziger
übernommen hat. „Das Gartenprojekt kam mit uns dazu“, erinnert sie sich.
Doch das Projekt wurde nur zögerlich von den Tuareg, die lieber Vieh züchten
als sich dem Ackerbau widmen, angenommen. Die Tuareg befinden sich im
Umbruch. Vom Viehzüchter zum Bauern.
Ag Mohamed Ali Almounzer lebt rund 25 Kilometer vor den Toren Timbuktus in der Wüste. Man sieht einige Zelte und drei Brunnenbauten, zwei für
Trinkwasser - bezahlt von der KfW - einen für das Vieh. Ein Projekt vom Deutschen Entwicklungsdienst, den Bernd Meier zu Biesen vor Ort vertritt. Er ist
ganz enthusiastisch über die Entwicklung in Teriken. „Sie haben wohl wirklich
den festen Willen sich niederzulassen“, meint der deutsche Agrarwissenschaftler. Er weist darauf hin, dass sie gerade Ziegel trocknen, um feste Gebäude
zu errichten, Bäume gepflanzt und eine Schulhütte gegründet haben. „Das
sind wir unseren Kindern schuldig“, meint der Stammeschef der rund 500
Tuareg. „Der Viehbrunnen ist der beste der Gegend“, lobt Chef Amounzer. „Er
ist der einzige, der am Brunnenrand einen Zementboden hat, da können noch
so viele Tiere kommen, er geht nicht kaputt. Das ist deutsche Wertarbeit.“
Ungeachtet aller ethnischen Spannung, die es noch geben mag, setzt Bernd
Meier zu Biesen seine Projekte um. Mehrere Brunnen für Vieh- und Gartenanbaunutzung, eine Schule, einen Schlachtplatz, fünf Impfstationen für die
Tiere, das sind nur einige Projekte zu Gunsten der lokalen Bevölkerung.
Besonders am Herzen liegt ihm die Wiederaufforstung. Über 100.000 Bäumchen verlassen die Baumschule unweit von Timbuktu. Eukalyptus-Bäume
erweisen sich als schnellwüchsig. Am rund 25 Kilometer von Timbuktu entfernten Niger finden sie gute Lebensbedingungen und riesige EukalyptusHaine ziehen sich den Nigerbogen entlang. Bernd Meier zu Biesen möchte
gerne eine Schreinerei aufmachen und den Handwerkssektor stärken. Ob sich
die Eukalyptus-Pflanzen als resistent erweisen werden, weiß er nicht. „Es gibt
sie erst seit rund zehn Jahren, noch ist kein Schädlingsbefall zu registrieren
gewesen.“ Dass die Befriedung in der Gegend so gut geklappt hat, das macht
die Gegend um Timbuktu für das Bundesministerium für Zusammenarbeit zu
einem ganz besonderen Lieblingskind.
373
Thorsten Sellheim
„We allways have a policeman
in our head!“
Israel / Palästinensische Gebiete vom 27.09. - 28.12.1998,
Praktikum bei dem palästinensischen Radio / Fernsehsender PBC
Für meinen Vater
375
Inhalt
Voice of Palestine & Palestinien Broadcasting Cooperation
378
-Stimme des Volkes!
378
Zur Geschichte der Palestinian Broadcasting Corperation:
379
Der Dollarkurs reguliert auch das Leben in Palästina:
383
Das palästinensische Bildungssystem:
Schon im Kindergarten wird „auf Kommando” gespielt.
383
„The Youth Times”. Das erste palästinensische Jugendblatt
384
Goethe in Ramallah - deutsche Kulturarbeit in der Westbank
386
Vom Berg Allahs hinab zu dem ältesten, tiefstgelegen Ort der Welt:
1200 Höhenmeter in 30 min. nach Jericho
388
Auch ein alter Siedlungsplatz kann nicht nur von
seiner Geschichte leben.
389
Die touristischen Schwerpunkte und Projekte in Jericho.
391
Wasser: Kein verbindendes Element in Palästina.
392
Nablus, die größte Stadt der Westbank!
Ägyptische Vorfahren und jordanische Preferenzen.
393
Zur beruflichen Situation der palästinensischen Jugendlichen.
397
Wichtige Auszüge aus dem vereinbarten Text
des Wye Memorandum vom 25.Oktober 1998:
398
Fazit?
399
Anhang:
399
Der 11. Jahrestag der Intifada und mehreine teilweise persönlich erlebte Agenda der
Ereignisse in der Zeit von Oktober bis Dezember 1998.
399
377
Thorsten Sellheim
Israel
Thorsten Sellheim, geboren am 21.10.1963 in
Düsseldorf. Nach dem Abitur 1984 praktische
Erfahrungen im KFZ Handwerk mit Gesellenabschluss. Anschließend Studium der Geographie in Bonn. Interessenschwerpunkt wurde der
Kulturraum Vorderer Orient, dazu erfolgte eine
große Exkursion. Anfang 1990 begann die freie
Mitarbeit hauptsächlich beim WDR Köln.
Parallel dazu Mitglied in den Düsseldorfer
Bands ”Stetson Power” und ”The Beatlesons”.1995 Hospitation bei Radio Bremen 4.
Seitdem freier Autor, Moderator für L1VE,
Radio 5, sowie für Rockpalast Fernsehen.
Voice of Palestine & Palestinien Broadcasting Cooperation
-Stimme des Volkes!
„Wir haben hier einen Anruf aus dem Ausland! Mohammad ist am Telefon
- er ruft aus Ramallah an!“
So, hier habe ich auch noch mein drittes Fax von Ende August, ihr vorrangegangenes Antwortfax, meinen Presseausweis - die müssen mich einfach
erkennen! Mit diesen Gedanken ging ich nicht etwa aus meiner Düsseldorfer
Wohnung zur Stiftung - nein, ich befand mich bei strahlendem Sonnenschein
in einem dieser typischen orangenfarbenen Taxen in Richtung Palestinan
Broadcasting Cooparation in Ramallah!
Mir war nicht nach Sonnenschein, mir war mulmig, ehrlich gesagt sogar
sehr wackelig auf den Beinen!
Auch das im Grunde spannende Buch zur Überbrückung der zu erwartenden längeren Wartezeit hatte keinen nennenswert beruhigenden Einfluss.
Das fünfstöckige Gebäude des palästinensischen Fernsehens und Radios abgekürzt PBC - ist bald erreicht, es liegt im südlichen Stadtbereich von
Ramallah. Hier wird rundherum emsig gebaut, schöne, moderne, weniggeschossige Wohnhäuser auf dem steinigen, hangabfallenden Gelände. Von
hier aus schaut man bei klarer Sicht in Richtung Jerusalem. Die Nähe zur
Hauptstadt, der heiligen, ist gewiss nicht unbeabsichtigt.Ich stieg also in
Erwartung des Unberechenbaren hoch in den fünften Stock.
Genau 40 Minuten später war der Spuk vorbei. Alle im Taxi angehäuften
Bedenken durften dort bleiben und von mir aus bis ans Ende meiner Tage
darin spazieren fahren! PBC Intendant Radwan Abu Ayyash hatte mich Mann aus Alemania - sofort eingelassen, mich herzlich willkommen geheißen, blitzschnell einen Großteil der 65 Direktoren (von 95 Festangestellten!)
in sein Office zitiert und alle Faxe, Antwortfaxe und deren Kopien mit würdigem Blick gemustert. Sein größtes Interesse erregte eines: jenes mit dem
eigenen PBC Briefkopf.
378
Thorsten Sellheim
Israel
Das hatte er offensichtlich selber verfasst! Egal, ich war nun da, kam aus der
Gönnerland Germany und mit mir ein Nimbus, dessen Ruf von Fleiß, Fortschritt verbunden mit Traditionsbewusstsein schon immer wie Donnerhall die
arabische Welt bewegt hatte.
Nachdem wir die Vorzüge der jeweiligen Heimatländer gewürdigt hatten,
wurde ein Plan verfasst: die vierwöchige Praktikumszeit sollte eine Woche
Radio, eine Woche Fernsehen, eine Woche eigene Erfahrungen beinhalten.
Machte direkt Sinn, auch wenn eine Woche der ursprünglich ausgemachten
vier daran glauben musste.
Ich wurde an den Direktor des öffentlich-rechtlichen Radiosenders Voice of
Palestine verwiesen und danach an eine Dame aus Amerika, Frau Debbie
Kanafani, ehemalige Ehefrau des Pressesprechers Arafats.
In ebenso atemberaubender Direktheit vertagte sich die Gruppe auf
Samstag 11.oo. Dann sollte ein detailierter Ablaufplan erdacht werden.
Dazwischen lag der arabische Feiertag Al Jumah, der Freitag.
Wir trafen uns etwas später am Samstag, ich wurde dem Chef des News
Departement Achmed Rafik Awad vorgestellt und ab diesem Moment wurde
nie mehr in irgendeiner Weise von unserem abgemachten Schedule gesprochen.
Bis heute glaube ich auch nicht so recht an die Ankunft meiner derzeit an
die PBC addressierten Faxe oder vielleicht sind sie ja noch auf dem Weg - vom
fünften in den dritten Stock!
Dass ich dieses, in meinem Verständnis erstmal als Unzuverlässigkeit eingestufte Verhalten später noch anders beurteilen musste, war mir erstmal
nicht klar.
Öfters bin ich im Umgang mit den Leuten an die Grenzen meiner Geduld
gestoßen,was mein Gegenüber nicht immer mitbekommen haben muss.
Ließ ich sie das dann spüren, fühlten sich meine Gegenüber zu Unrecht verurteilt und waren gekränkt oder beleidigt - oder beides. Ein Deutscher kann
auch keinesfalls alles nach der deutschen Elle bemessen. Das musste ich bald
lernen.
Somit gestaltete sich die Zeit bei der PBC dann auch außerhalb der beruflichen Tätigkeit als sehr aufschlussreich. Viele Unterhaltungen, gegenseitiges
Interesse (wobei wirklich das Gegenseitige daran wichtig ist) und die Freundlichkeit und Gastfreundschaft der Palästinenser brachten die unterschiedlichen Mentalitäten einander näher.
Man braucht nur etwas Zeit und dann ticken die Uhren anders!
Zur Geschichte der Palestinian Broadcasting Corperation:
Die Palestinian Broadcasting Corperation hatte ihren Sitz zu Beginn 1994
in Jericho. Die meisten der Radio- und Fernsehleute haben den Aufbau von
Anfang an mitgemacht.
Jericho steht mit Jerusalem im Wettstreit um die älteste Stadt der Welt.
Auch wenn darüber noch gestritten wird, steht doch eins fest: In unmittel379
Thorsten Sellheim
Israel
barer Nähe zum Toten Meer ist Jericho die tiefstgelegene Stadt unserer Erde.
Daher wunderte ich mich um so mehr über die Übertragungsmöglichkeiten aus solch einem Sendeloch heraus. Ein sehr alter Transmitter aus der jordanischen Zeit, der noch heute an anderer Stelle Verwendung findet, auf den
Höhen des judäischen Berglandes, war des Rätsels Lösung.
Zunächst sendete ”Voice of palestine” vormittags von 6.3o-10.30.
Eine “Abendschiene” versorgte die Palästinenser in der Zeit von 17.0022.30 mit Info`s und Musik. Das alles natürlich unter der Schirmherrschaft
vom großen Chairman - Präsident Yasser Arafat. Eine Fernsehübertragung aus
Fernsehstudios gab es zu der Zeit noch nicht.
Mit der politischen Gewichtsverlagerung nach Ramallah zog auch der
Sender als Organ der palästinensischen Autorität im April 1996 in die 870 m
hoch gelegene Stadt Allahs. Ab dem 13. April 1996 gab`s dann News, Kommentare, Vermischtes und natürlich viel heimatbezogene Musik bis nachts um
1Uhr.
Dazu sendet VoP kurze, im Tagesprogramm platzierte fremdsprachige
Blöcke.
In Englisch, Französisch und auch Hebräisch!
In der ganzen arabischen Welt arbeiten zum Teil feste Korrespondenten
dem Sender in Ramallah zu. So z. B. Frau Hanadi El-Iman in Kairo. Der Verdienst reicht nicht zur kompletten Lebensführung aus, da sie jedoch verheiratet ist, kann sie es sich leisten, ausschließlich für die PBC zu berichten,
sagte sie mir.
Das palästinesische Fernsehen hatte, zumindestens als Feldversuch, tatsächlich auch seine Anfänge in Jericho. Am 2. Juli 1994 wurde mit Hilfe des
französischen Kanal 2 der Einzug von Yasser Arafat mitgeschnitten.
Die ersten paar Stunden Tagesprogramm wurden jedoch anfangs aus Gaza
gesendet.
Vor dem Einzug der VoP entstanden 1995 schon Studios im PBC Gebäude
in Ramallah. Jericho sendete anfangs versuchweise über Ramallah, seit
November 1996 teilt sich der Sender mit Gaza die Vormittags- und Abendberieselung.
Da mein Praktikum im Oktober begann, konnte ich an den Feierlichkeiten
zum 4ten Jahrestag am 05.10. teilnehmen. Gefeiert wurde im Casablanca
Hotel in Ramallah, welches sich ironischerweise derzeit noch im Bau befand
und dennoch schon über einen prächtigen Festsaal verfügte. Man begoss
neben dem Jahrestag auch den kommenden Anschluss via Satellit an die
Weltöffentlichkeit. Selbstverständlich schenkten die Gastgeber nur antialkoholische Getränken aus!
Was der Weltanschluss den Palästinensern, außer weitere hohe Kosten,
bringen wird, ist auf den zweiten Blick gesehen fraglich.
Ich habe mehrfach Beiträge gesehen, die beispielsweise das Verhältnis der
palästinensischen Gefängnisleitung zu inhaftierten Hamas Gefangenen geradezu verniedlichten.
Eine friedlich-freundschaftliche Tischtennispartie zwischen Häftling und
Leiter mag zwar im arabischen Sendebereich noch in Ordnung gehen, auf
380
Thorsten Sellheim
Israel
weltpolitischer Übertragungsbühne würde es aber vielen übel aufstoßen
und zu heftigen Misstönen führen. In einer kurz vor meiner Abreise stattgefundenen Sitzung zog jedenfalls ein leitender Fernsehregisseur gegen
den Satelliten zu Felde. In erster Linie aus Kostengründen.
Die Situation der PBC Fernsehen Ramallah stellt sich derzeit kurzgefasst
so dar:
Der Hauptsender sitzt in Gaza. Allein die Präferierung der Stadt als
Hauptsitz Yassir Arafats macht Gaza gegenüber der Stadt in der Westbank
wichtiger. Somit steuert die Sendeanstalt Gaza den Sendebetrieb inhaltlichprogrammatisch. Dazu gesellt sich ein tief sitzender Streit oder besser ein
Machtgebuhle zwischen den beiden Intendanten. Ramallah wird somit wie
ein Landesstudio im ungeliebten Hinterland behandelt. Einsätze, wenn es
dafür später überhaupt einen Sendeplatz gibt, geschehen selten. Die praktische Arbeit wird auf Nachrichten- und Infozulieferung zusammengestutzt.
Aus der Zeit beim palästinensischem Radio mag ein Beispiel die extremen
territorialen Disparitäten sogar innerhalb der Bevölkerung darstellen. Im
Vormittagsprogramm bringen die Sender in Gaza und Ramallah gleichermaßen das zweistündige hörerbezogene Programm „Guten Morgen Palästina”.
Zielgruppe sind Familien, die inhaftierte Angehörige beklagen.
Im Verlauf einer Hörerbeteiligung in Gaza meldete sich eine Frau in der
Sendung.
Der Moderator begrüßte diese mit den Worten:
„Wir haben hier einen Anruf aus dem Ausland. Marhaba Frau Husseini!
Sie rufen aus Ramallah an - was kann ich für Sie tun?“ Das war für mich
doch sehr überraschend zu hören, wie sehr sich die Menschen in Gaza von
den eigenen palästinensischen Mitmenschen abgrenzen wollen.
Wir Europäer nennen die Bewohner der Westbank und Gaza immer in
einem Atemzug als eine zusammengehörige Bevölkerungsgruppe. In Gaza
lebende Palästinenser sehen ihre Landsleute jenseits ihrer Grenze aber tatsächlich durch die Ereignisse der Jahre schon als Fremde!
Dieses Gefühl wird durch den fehlenden unmittelbaren Kontakt auch
noch gefördert. Anders ausgedrückt entzweit das Reiseverbot zwischen den
Gebieten die Menschen noch mehr.
In dem Zusammenhang darf man auch eine Tatsache nie vergessen: Wer
kein Durchreisepermit der Israelis besitzt, kann weder von Ramallah nach
Al Kuds fahren noch nach Gaza! Mitarbeiter der PBC müssen sich erst eine
Erlaubnis einholen, wollen sie beruflich dorthin reisen.
Der kleine Grenzverkehr zwischen Ramallah und dem ca.15 km entfernten Jerusalem ist für Palästinenser mit Wohnsitz Westbank im Prinzip nicht
möglich.
So nah die Städte auch sind, der israelische Status der ehemals geteilten
Stadt macht die heiligste aller Städte für sie praktisch unbesuchbar. Beten in
der Al Aksa Moschee lässt es sich nur mit einem speziellen Erlaubnisschein! Generell ist der Erwerb für Ältere einfacher. Ein Prozedere, ähnlich
dem, das wir Deutschen aus den Tagen der DDR noch in Erinnerung haben.
381
Thorsten Sellheim
Israel
Die Grenze zur Westbank verläuft nahezu mittig zwischen den Städten.
Wer südlich dieser Grenzstation mit Wachturm wohnt, hat Glück und darf mit
seinem Pass pendeln.
Nördlich davon Wohnenden macht die Linie buchstäblich einen Strich
durch die Rechnung.
Im Verlauf der Praktikumszeit bei PBC mussten wir zur Locationrecherche
öfter nach Jericho oder Bethlehem. Da weder der PBC Fahrer noch sein
Auto eine Genehmigung für den Checkpoint hatten, kamen wir immer nur
über Umwege zu den Städten.
Eine Strecke von Düsseldorf nach Mettmann oder Velbert nahm dann die
Ewigkeit von 1,5 -2 Stunden „übelster Gurkerei” in Anspruch!
Die Fahrten nach Bethlehem oder gar Hebron sind daher eine sehr lange
Schaukelei über die Berge. Die Checkpoints müssen umfahren werden, da die
Taxen die nötige Zulassung, erkennbar an den andersfarbigen, gelben Nummerschildern, nicht haben.
Die Fahrzeuge der Westbankpalästinenser sind mit grünen Nummernschildern versehen. Die Städte werden, ähnlich wie in Frankreich üblich, mit
Nummern gekennzeichnet. Die Nummer Fünf beispielsweise steht für Ramallah. Innerhalb der Territorien sind sie überall gültig.
Nur Jerusalem ist eine klippenumsäumte Insel, an der sie nicht anlegen können!
Der Weg nach Bethlehem führt östlich um Al Kudz herum durch das Vallee du Naar - das „Tal des Feuers” oder auch „Tal der Angst” genannt. Ob nach
Bethlehem oder Hebron, man fährt vorbei an Flüchtlingscamps, vielen Beduinenansiedlungen mit ihren großen Zelten und Viehbestand. Da die Beduinen
von dieser Umgehungsroute wissen, brauchen sie sich für eine Mitfahrt nur
an den Straßenrand zu stellen. Ähnlich wie in Griechenland oder der Türkei
hält in dieser für unser Auge oftmals unwirtlich anmutenden Umgebung
immer ein Wagen.
Die Geomorphologie dieses Teils des Judäischen Berglandes verdeutlicht
einmal mehr auch die Situation der Palästinenser. Eine sehr felsige, unwegsame und steile Bergregion, ein zeitaufwendiges, mühsames Unterfangen für
eine Reise.
Das ist die Reise um Jerusalem, denn es gibt nur bei unseren Kindern die
„Reise nach Jerusalem“!
Doch auch Permitgesegnete Mitglieder der Palästinien National Authority
oder Legislativ Council wählen von Zeit zu Zeit diese Strecke östlich um Jerusalem herum. Damit demonstrieren sie Solidarität mit ihren Landsleuten.
Gleichzeitig nutzen manche, wie Salah Tamarii, PNC Mitglied aus Bethlehem,
die Fahrt für einen genauen Überblick der aktuellen israelischen Bautätigkeiten der Siedlungen.
Interessanterweise werden entsprechende Instandsetzungen an dieser Straße
gerne geblockt. Und zwar diesmal nicht von israelischer Seite. Im Sinne der
dauerhaften, arabischen Anklage sollen die Straßen möglichst auch ihrem
eigenem, gesellschaftlichen Zustand gleichen: einem schlechten!
382
Thorsten Sellheim
Israel
Der Dollarkurs reguliert auch das Leben in Palästina:
Bassem Shade arbeitet für die englische Redaktion. Die besteht aus drei Personen, zwei Männern und einer Frau. Gesendet wird täglich von 18.oo bis
18.15. Inhaltlich gibt es News, kurze Reportagen oder Interviews. Den selben
zeitlichen Rahmen füllt die französischsprachige Redaktion, nur zu anderer
Stunde. Die Franzosen hatten schon zu Beginn die PBC unterstützt. Die
Nachrichten werden redaktionell von einem elegant gekleideten Mann betreut.
Er ist ausgestattet mit hervorragenden Kenntnissen der französischen Sprache.
Achmed Rafik Awad, Schriftsteller und zugleich Chef der Nachrichtenabteilung (RvD). Er moderiert auch die im Land sehr beliebte Nachrichtensendung
„Der achte Tag“. Das politische Magazin wird immer am späten Nachmittag
ausgestrahlt und bewegt sich auf hohem Niveau.
Die Sendung ist in arabisch gehalten, mit Hörerbeteiligung.
Drei Mitarbeiter, drei Sprachen, ein Problem: zuwenig Gehalt am Monatsende! Daher verbindet sie eine gemeinsame Ideen für eine Lösung: Aufwertung durch Zuarbeit.
Sehr viele Palästinenser, auch in höheren Positionen, müssen zusätzlich
einer zweiten, wenn nicht sogar dritten Tätigkeit nachgehen. Durch die Mitte
Oktober erfolgte Dollaraufwertung gegenüber dem Schekel hatte sich diese
Situation noch verschlechtert. Der israelische Schekel gilt auch in der Westbank als Zahlungsmittel. Nun mussten auch die Palästinenser für einen US
Dollar 4 Schekel anstatt 2.5 hinlegen. Im Hinblick auf feste Kosten, wie beispielsweise die Wohnungsmiete, ergibt sich eine fatale Zwangslage. Die
muss in den meisten Fällen in Dollar gezahlt werden.
Achmed Rafik Awad arbeitet daher bei dem palästinensischen Monatsmagazin Al Milad. Das Magazin ist ideologisch eng mit der palästinensischen
Führung verknüpft. Er ist als Journalist für das strukturelle Gesamtkonzept
und den Inhalt verantwortlich. Bassem geht nachmittags oder in Wechselschicht zu einem privatem Sender in Ramallah.
Ein Blick in andere Bereiche.
Einige Lehrer der Schulen müssen sogar manchmal neben dem Unterricht
oder Lehrerseminar über Mobiltelefon erreichbar sein. Günstige Kurse für
Elektronikartikel, wie Handy`s oder Drucker bieten Möglichkeiten für schnellen Nebenverdienst!
Diese Situation ist gar nicht so untypisch für die heutigen Lebensumstände
der Palästinenser.
Das palästinensische Bildungssystem: Schon im Kindergarten
wird „auf Kommando” gespielt.
Direkt an das Gebäude der PBC ist offenbar ein Kindergarten angepflanzt.
Verschiedene Indizien sprechen dafür: ein fast lebensgroßes, leuchtendbuntes Plastikkamel mit integrierter Rutschbahn und Sandfläche, ein kleiner,
umzäunter Außenhof und der Nachmittagsbus, in den wir Erwachsenen nicht
383
Thorsten Sellheim
Israel
einsteigen dürfen. Denn der ist nur für die Kinder gedacht. Von denen ist
eigentlich den ganzen Tag nicht viel „Kindliches” zu hören. Erst ein paar Tage
später bemerke ich die fast militärischen „Nachplappersalven”. Eine erwachsene, aber sehr forsche Stimme befiehlt etwas vor und der ganze Kinderchor
intoniert hinterher! Das wundert und erschüttert mich sehr. Ich frage mich, ob
und wie die Kinder denn spielen? Ein alarmierendes Pausenzeichen deutet
eine eventuelle Antwort auf meine Frage an. Und siehe da - Mädchen in blauweiß gestreiften Röckchen stürmen in den Hof und -tja - haben frei. Nach
einer Viertelstunde geht`s wieder in den Unterrichtsraum - „weiterspielen”.
Auf dem Weg von meinem Appartement zum Sender komme ich immer an
zwei weiteren solcher Einrichtungen vorbei. Eine liegt auf dem Gelände des
„Ministry for Education”. Dieses ist für die Ausbildung der palästinensischen Kinder und Jugendlichen bis zur Universität zuständig. Universitätsund andere Weiterbildung unterliegt dem „Ministry of higher Education”. Die
Kinder dort sind nach Geschlecht getrennt - ich sehe sie meist nur im weitläufigen Garten herumrennen.
Auf den strengen Ton in den Gebäuden angesprochen, sagt mir später
Achmed Rafik Awad aus dem News Departement:
„Die Kinder werden schon in frühen Jahren an Disziplin, Strenge und
auch Gehorsam herangeführt. Die meisten Kinder, wie du ja sehen kannst, laufen eh auf den Straßen rum und spielen da. Sie haben ja meistens viele
Geschwister, die sich mehr oder weniger um sie kümmern. Das System ist
schon auf militärische Art und Weise abgestimmt! Deshalb haben wir schon
von Kindsbeinen an einen Polizisten in unseren Köpfen!”
Wer sein Kind auf andere Weise unterbringen und spielen lassen möchte,
geht in der Westbank zu kirchlichen Einrichtungen. Lutherische, baptistische
und auch schon sehr lange die christliche, apostolische Kirche unter Leitung
der Schweizerin Schwester Freni bieten Kindergärten und auch weitere schulische Betreuung an.
Meistens haben die Kinder dann auch Ganztagsverpflegung und wohnen
dort.
So holt beispielsweise Abu Barakat seine beiden Söhne übers Wochenende
nach Hause. Unter der Woche sind sie in dem Ort Beit Jala bei Bethlehem in
einer christlichen Schule untergebracht.
„The Youth Times”. Das erste palästinensische Jugendblatt
„Die ist gar nicht so schlecht”, bedeutet mir Nader, ein mittlerweile guter,
junger Bekannter aus Ramallah. Ich wende die für mich etwas sonderbare Zeitung hin und her. Die Titelseite beginnt auf englisch, umgedreht gibt`s aber
auch eine Titelseite - und die liest sich in arabisch! „Die Youth Times ist unser
erstes, palästinensisches Jugendmagazin! Das lesen viele bei mir auf der
Universität in Jerusalem.” Nader deutet auf den Mittelteil, die Überschneidungsseiten: „Aber die arabische Übersetzung fällt manchmal etwas anders
aus! Das ist sehr lustig!”
384
Thorsten Sellheim
Israel
Das Redaktionshaus der Youth Times ist auch gleichzeitig das der renomierten „Jerusalem Times” auf der Nablus Street im Ostteil Jerusalems.
Im wahrsten Sinne ist die „Youth Times“ das Baby der englischsprachigen
Wochenzeitung im handlichen WZ-Format. Redaktionell betreut das zweisprachige Blatt Frau Hania Bitar. Sie hat in Amerika studiert und die Business
Managerin der Times:
„Es war schon lange Zeit mein Traum, etwas Spezielles für unsere Jugend
zu machen! Seitdem ich jung war, hat mich immer gestört, dass wir palästinensischen Jugendlichen kein Forum haben, auf dem wir uns ausdrücken können; auch keine Bühne für unsere spezielle soziale, politische und intelektuellen Situation! Nun, seit zwei Jahren bin ich dabei, dieses Blatt zu
produzieren. Vorrangig gab es finanzielle Probleme zu bewältigen. Das Budget für die Jerusalem Times reicht gerade, diese Zeitung laufen zu lassen. Es
war da nicht mehr für das Projekt zu holen...Nach einem umfangreichen
schriftlichen Vorschlag meinerseits konten wir die christliche dänische Organisation „Bilance” für eine 35% Unterstützung gewinnen.Weitere 5% fließen
von der Australischen Botschaft in Tel Aviv dazu. Das ist alles an finanzieller Unterstützung!”
Ursprünglich sollte die „Youth Times” monatlich herausgebracht werden.
Seit Frühjahr `98 liegen bis jetzt vier Ausgaben vor. Nicht immer steht der
finanzielle Rahmen zur pünktlichen Ausgabe. Aber es ist mehr als ein Ansatz
gemacht. Ab Januar 1999 soll die Zeitung monatlich erscheinen - inshaallah!
Inhaltlich bieten sich den Jugendlichen wirklich praktische Rubriken an,
wie der „Career Watch“ oder aufklärerische Stories über Drogen und Religion.
Im Islam ist ja bekanntlich der Gebrauch von Drogen verboten.
Dies unterstreicht auch der Mufti von Ramallah, Sheikh Fathallh Silwadi,
in einem Artikel noch mal ganz deutlich.
Auch wenn sich hierbei ein Erwachsener an die Jugendlichen richtet, ist
doch eine Vorgabe in allen Artikeln zu spüren: In der „Youth Times” schreiben Jugendliche für Jugendliche. Somit bemühen sich keine Erwachsenen bei
der Ansprache um eine flotte Teenagersprache und landen vielleicht daneben.
Der „Career Watch” wird von Studenten der bekannten Bir Zeit Universität
verfasst. Jeder Themenvorschlag der Redaktion wird dort auch ausgehängt wer Lust hat darüber zu schreiben, meldet sich einfach. Umgekehrt bringen
in regelmäßigen Treffen die jungen Leute ihre Themen und Probleme in die
Runde.
„Der Karriere - Überblick ist sehr wichtig und eine permanente Seite im
Blatt. Wir bekommen Beiträge der Leute über ihre zukünftigen, beruflichen
Vorstellungen. Gut, die meisten Palästinenser wollen Doktoren, Anwälte,
Ingenieure und Lehrer werden. Auf dieser Seite möchten wir ihnen natürlich
auch all die anderen Möglichkeiten zeigen.
Wir suchen uns den interessantesten Beitrag aus, schicken denjenigen
einen Tag dorthin (in der zweiten Ausgabe beispielsweise in ein Touristenführerbüro), worüber er berichten will, und interviewen ihn und den entsprechenden Gastgeber über ihre Erfahrungen. So haben die Leser einen Eindruck
davon und können besser entscheiden, ob das was für sie ist!”
385
Thorsten Sellheim
Israel
In einer anderen Rubrik hat Frau Bitar die palästinensische Autorität bei
ihren eigenen Hörnern gepackt: „A letter to....“ ist nicht etwa ein Schreiben
an einen guten Freund aus Übersee, sondern eine konkrete, selbst erlebte,
meist unangenehme Kritik an der palästinensischen Verwaltung. Demokratie
von Innen heraus: kaputte Wasserleitungen, fehlende Bürgersteige in Hebron
oder auch Verschmutzungen, verursacht durch kleine Fabriken! Der Bürger ist
jung, aber mündig und so will es Frau Bitar:
„Als ich den verantwortlichen Verwaltungen davon berichtete, waren sie
total aufgebracht von meiner Idee. Warum sollten sich die Amtsherren in
Bethlehem, Jericho oder Ramallah von den eigenen Leuten anmachen lassen?
Ich meinte aber, dass dies dazu gehört. Zu der Demokratie, die die Palästinenser selber propagieren. Somit müssen sie sich auch Kritik aus den eigenen
Reihen gefallen lassen!”
„Leider muss ich sagen“, so fährt die sympatische Leiterin der Jugendzeitung fort, „dass die meisten jungen Palästinenser nach einer baldigen Möglichkeit suchen, ihr Land zu verlassen! Ob es studieren, Weiterbildung oder
einfach nur Arbeiten ist - sie haben genug von dem Leben hier! Dies hier ist
für sie kein gesunder oder produktiver Weg zu leben. Für sie gibt es zu viele
Hindernisse und Druck, sie können es nicht mehr erdulden! Wie sehr sie daher
jeden Weg der Ausreise suchen, ist für mich deprimierend und höchst alarmierend zugleich!”
Frau Bitar und die Redakteure der „Jerusalem Times” werden weiter versuchen, durch Angebote und berufliche Anreize im eigenen Land, sowie den
wichtigen Dialog mit der palästinensischen Verwaltung, die Nestflüchter
umzustimmen.
Goethe in Ramallah - deutsche Kulturarbeit in der Westbank
Goethe in Ramallah - das wirkt angesichts der sinkenden Institutszahlen in
aller Welt im ersten Moment überraschend. Aber die spezielle Situation der
Palästinenser hat das Goethe-Institut dazu bewogen, in der Westbank eine
eigene Vertretung zu unterhalten. Damit soll auch von deutscher Seite aus ein
Zeichen gesetzt werden. Den Beschluss dazu hatte der damalige Außenminister Kinkel bei einem Besuch in Gaza vor über einem Jahr mit Präsident Arafat abgesprochen. Aber auch schon bis 1992 wurden bereits vom Institut aus
Amman Kontakte in die Westbank unterhalten.
Von 1951 bis zur Übernahme der PLO-Führung 1988 gehörte die Westbank
zu Jordanien. König Hussein von Jordanien legte jegliche Gebietsansprüche
an die Westbank nieder. Zunächst übernahmen auch die Institute in Tel Aviv
und Jerusalem die Arbeit. Das konnte aber im Hinblick auf die Eigenständigkeit und besondere Lage des Palästinensischen Volkes nicht ohne weiteren
Anspruch so bleiben. Trotz rückläufiger Zahlen und Schließungen in der
Welt wurde im Frühjahr 1998 das Institut Ramallah im Stadtteil Al Beireh
gegründet. Der Institutsleiter dort ist Dr. Manfred Wuest. Er ist seit letztem
Jahr zusammen mit seiner Frau in Ramallah.
386
Thorsten Sellheim
Israel
„Traditionell leben die Mitarbeiter deutscher Institutionen in Jerusalem.
Das hat verschiedene Gründe. Das fängt an beim angeblich höheren Lebensstandart, bis hin zu politischen Überlegungen”, sagt Manfred Wüst bei
unserem ersten Treffen
„Ich habe mir damals gesagt, wenn mein Schreibtisch in Ramallah ist,
wird auch meine Wohnung hier sein! Wir sind auch ganz wunderbar untergekommen und fühlen uns sehr wohl in dieser Stadt. Wir würden diese Entscheidung jederzeit wieder so treffen. Zu meiner Freude sehe ich, dass
andere Institutionen auch nachziehen. Also, es ist keineswegs etwas, was aus
der Welt ist”, betont Manfred Wüst.
Der obligatorische Sprachunterricht in Deutsch, der auf großes Interesse
auch für Leute beispielsweise aus Hebron trifft, die den schon erwähnten
weiten Weg nicht scheuen, ist eine Seite der Kulturarbeit. Daneben bietet das
Institut Filme („Nikolaikirche” am 28.10.`98), Theaterstücke wie “Nathan
der Weise” und auch Ausstellungen an. Doch mangelt es noch an geeignetem Raum, Bühnen oder einfach Platz. Derzeit gibt es in Ramallah kein fertiges, bespielbares Theater. Das Assiriah Theater im Stadtinneren eignet sich
nur für gelegentliche Proben.
„Das bedeutet z. B., dass wir größere Ausstellungen, die wir ohne weiteres ins Land bringen können, zwar in Tel Aviv und Jerusalem leicht zeigen
können, aber nicht in den besetzten Gebieten. Hier fehlen schlicht die nötigen Ausstellungsräume und die konservatorischen Bedingungen, wenn es
sich um Originalkunstwerke handelt. Dadurch bin ich ziemlich begrenzt in
meinen Möglichkeiten und insofern ist es auch ganz klar, dass das Institut
hier eigene Aufgaben hat und nicht einfach übernehmen kann, was das
Institut in Jerusalem oder Tel Aviv anbietet!”
Bei meinem Besuch des Films „Nikolaikirche” wurde mir klar, dass
diese angesprochene ungleiche Verteilung in der Region nicht nur organisatorisch/räumliche Hindernisse zu bewältigen hat. Gerade thematisch
müssen einfach ganz andere Interessengruppen angesprochen werden. Auch
wenn der Autor selber eingeladen wurde und dem Film zur Diskussion
beistand, ging die Rechnung in Ramallah nicht auf. In dem deutsch-deutschen Wiedervereingungsszenario fühlte sich keiner der eingeladenen Araber durch den ostdeutschen Befreiungswillen angesprochen oder gar angespornt. Schnell dämpfte die doch sehr unterschiedliche Ausgangssituation
und historisch gewachsene Lage der Region jegliche „Hurra-das machen wir
auch!” Reaktionen.
Bei musikalischen Events wie dem von einem Jazz Ensemble untermalte
Kultstreifen ”Metropolis” von Fritz Lang hingegen bricht die Kulturarbeit
Grenzen auf. Obschon eher für ein anspruchsvolleres Publikum mit westlicher Vorbildung gedacht, erwies sich dieses auch in Israel aufgeführte Programm als wahrer „Knaller”.
Viele interessierte Palästinenser bringen so auch musikalische Neugier
von Auslandsaufenthalten mit. Nicht jeder kann es sich leisten, aber bekanntermaßen haben gerade in den bewegten Jahren der palästinensischen
Geschichte viele eine Ausbildung im Ausland genossen.
387
Thorsten Sellheim
Israel
„Natürlich wenden wir uns eher an intellektuelle Träger der Kultur, der Verwaltung hier im Land, die also für das Schicksal des Landes und der kulturellen Einrichtungen Verantwortung tragen.
Anknüpfungspunkt sind zunächst einmal Palästinenser, die in Deutschland
gewesen sind - als Stipendiaten der DDR oder des deutschen akademischen
Austauschdienstes. Wir hatten im letzten Jahr einen Kinderbuchautor hier, der
aus seinen Büchern vortrug und in Dias dazu seine eigenen Illustrationen
zeigte. Die Kinder sahen das vom Autor gemalte Bild vor sich und hörten den
Autor auf Deutsch, der dann simultan auf arabisch übersetzt wurde.
Sie konnten den Geschichten somit ganz unmittelbar folgen!”
Das Goethe Institut in Ramallah sucht immer noch nach einer geeigneten
Herberge.
Da das Assyira Theather im Stadtinneren nicht wirklich bespielbar ist,
muss es schon ein größeres Haus sein. Die „Friends Boy School” oder das
neue, hübsche „Cultural Center” sind nicht nur für die Veranstaltungen der
Deutschen, sondern vor allem für das langsam anlaufende, kulturelle Interesse
keine dauerhafte Lösung.
Die Jugendlichen sind, meiner Einschätzung nach, mehrheitlich, außer für
arabische Musik in all seinen Tonarten, noch am aktuellen Soundtrack für das
Bootsunglück „Titanic”, Julio Iglesias und auch das deutsche Popduo Modern
Talking zu begeistern. Inwiefern der anspruchsvolle Ansatz der GoetheInstitute solch einen kuturellen Spagat zu leisten vermag, bleibt abzuwarten.
„Konzertprogramme richten sich mehr an Erwachsene“, erläutert Manfred
Wüst. „Sie setzen in der Regel eine Begegnung mit westlicher Musik voraus
und ein Interesse daran. Es ist klar, dass wir mit solchem Programm nur einen
begrenzten Kreis ansprechen können, aber wir sind der Meinung, dass es ganz
wichtig ist, diesen Beitrag zu leisten hier im Konzert- und Musikleben im
palästinensischen Bereich, weil dieser vor allem durch die Intifada stark
zusammengebrochen ist. Wir haben hier die Möglichkeit, Institutionen unter
den Palästinensern, die dabei sind, das wieder aufzubauen - ich denke da an
das palästinensische Musikkonservatorium - die zu unterstützen und neben der
Musikausbildung sowas wie ein Konzertleben wieder auf die Beine zu bringen!”
Zusätzlich zum Angebot des Goethe Instituts besteht auch das kleine, aber
beachtliche Ashtar Theater unter Leitung von Sameh Hijazi mit seinem Programm. Vor kurzem bot das Ensemble „Die Märtyrer kommen”an.
Vom Berg Allahs hinab zu dem ältesten, tiefstgelegen Ort der Welt:1200
Höhenmeter in 30 min. nach Jericho
Wir verlassen Ramallah mit dem Produktionswagen der PBC in Richtung
Jerusalem.
Nach ungefähr 7 km, noch vor dem Checkpoint, kommen wir an den
Abzweig runter ins Vallee du Naar. Ein Großteil der Fahrzeuge, insbesondere
die Taxen und LKW, biegen mit uns ab. Über Serpentinen geht es immerzu
388
Thorsten Sellheim
Israel
bergab, in Ramallah war es wolkig, auch die nehmen ab. An der Anknüpfung
zur Verbindungsstraße Jerusalem - Totes Meer ist es dann schon sehr warm.
Der Meeresspiegel ist in der Nähe.
Wenig später der Beweis: ein Kamel, ein Beduine und - ein Schild. Meeresspiegel, Normalnull. In drei Sprachen.
Wir halten nicht auf einen Tee mit dem Nomaden, wir tauchen ab!
Ab jetzt werden wir über alle weiteren 1oo Höhenmeter in Kenntnis gesetzt.
Vor dem Hinweis: -300 Meter gehts rechts ab und wir sind in der Jordansenke
angekommen. Links ragt eindrucksvoll die westliche Felswand des Grabenbruchs empor. Durch die Morgensonne schimmert der Sandstein leicht rötlich.
Auf unserer rechten Seite, etwas in der Ferne, können wir den östlichen Teil
des Bruchs erkennen. Damit ist auch schon das Königreich Jordanien in
Sicht.
Im Verlauf der Erdgeschichte ist das Jordantal und damit auch das Tote
Meer als kleinere Auswirkung einer Kontinentalverschiebung in vertikaler
Richtung entstanden.
Das hört sich erst kompliziert an, meint aber nur ein Auseinanderdriften der
Afrikanischen und der Asiatischen Platte. Die Felswände rechts und links von
uns gehörten einmal zusammen. Von Nord nach Süd betrachtet ist der JordanArava Graben Teil der syrisch-afrikanischen Senke. Diese setzt sich über den
Golf von Aquaba bis nach Ostafrika, an das Horn von Afrika, fort.
Diese Grabenbruchentstehung fand vor ungefähr 25 Millionen Jahren seinen Anfang. Bis heute ist immer noch Bewegung in der Region - die jährliche Auseinanderdrift von einem Zentimeter im Golf von Aquaba macht sich
auch hier am Toten Meer bemerkbar.
Wir lassen jedoch das Tote Meer mit seiner Geschichte hinter uns liegen und
nähern uns der ältesten aller Städte: Jericho.
Auch ein alter Siedlungsplatz kann nicht nur von seiner Geschichte
leben.
Ich hatte vorher schon viel von Jericho gehört, doch der wirkliche Anblick
dieser Oasenstadt beeindruckt mich nachhaltig. Hier, am tiefsten Punkt der
Erde, im Angesicht dieser Stadt überkommt mich ein seltsames Gefühl.
Man glaubt sich selber näher zu sein als jemals zuvor. Die Luft und die
bullige, nicht stechende Wärme lullen mich regelrecht ein. Der palästinensische Schriftsteller Rafik Awad hat es mal auf den Punkt am tiefsten
Punkt gebracht: „Hier spürst du alles intensiver; Inspirationen, Begierden
und Lüste. Als ich in Jericho gelebt habe, brauchte ich auch weniger
Schlaf.”
Physisch gesehen werden die Sonnenstrahlen durch die tiefe Lage noch vor
ihrem Auftreffen auf der Erde zusätzlich gefiltert. Die Strahlen legen einfach
einen längeren Weg zurück.
Verbrennt man sich auch bei Dunst in den Bergen schnell die Haut, so kann
der Urlauber sich in Jericho und am Toten Meer länger und gesünder son389
Thorsten Sellheim
Israel
nenbaden. Das wird auch in den Prospektbroschüren der hiesigen Hotels
immer wieder gerne betont.
Hintergrund der mittlerweile erst 40- minütigen Reise zum tiefsten Punkt
der Erde ist aber leider nicht schonendes, Schönheit bringendes Sonnenbaden.
Die PBC plant im Fernsehen eine Reihe über die Städte der Palästinenser.
Neben Hebron und Bethlehem gehört Jericho natürlich auch dazu. Anfangs
hatte man bei PBC auch alte, ehemalige arabische Städte außerhalb der Westbank anvisiert. Nur gab es für die Küstenstädte Jaffa und Haifa keine Drehgenehmigung seitens der israelischen Behörden. Somit ließ sich auch kein
Portrait von einer der ältesten Küstenstädte der Welt machen: dem heutigen
Akko, dessen Geschichte sich bis in die Zeit des mittleren Reiches der Ägypter zurückverfolgen lässt.
Irgendwie wundert mich ihr Aufhänger für die geplante Reihe. Kennen
denn nicht alle Palästinenser ihre Städte? Der Redakteur klärt mich später auf.
„Zum einen waren wegen der Reiseschwierigkeiten viele Leute schon länger nicht mehr beispielsweise in Bethlehem und kennen die baulichen Veränderungen um die Geburtskirche herum nicht. Außerdem möchten wir mit
diesen Beiträgen in Zukunft allen interessierten Palästinenser im Ausland über
Satellit ihre Heimat näherzubringen!“
In dem Zusammenhang fällt mir ein, dass allein in Jordanien 2 Mio Palästinenser wohnen, also ein Großteil schon gar nicht mehr in der ursprünglichen
Heimat sind.
Wir sind jetzt zum ersten Mal aus Recherchegründen hier und mit der örtlichen palästinensischen Authority verabredet. Von dort aus geht`s zur Ausgrabungsstätte Tell Es Sultan. Dieser alte, mehrschichtige, von Menschen
geschaffene Besiedlungserdhügel ist die archäologische Sensation in Jericho.
In dem Tell wurden die ältesten Siedlungsspuren und -plätze im Laufe der
Jahrhunderte regelrecht übereinandergeschichtet. Dem gegenüber hat sich ein
auch ein wahrer Tourismusversorgungstempel aufgeschichtet.
In dieses Konglomerat aus Restaurant, Souveniergroßhandel und Kamelpatt werden fast alle Touristen mehr oder weniger freiwillig eingeschleust.
Die Busse der Reiseunternehmen docken in Jericho beispielsweise im
Rahmen einer Reise um das Tote Meer nur hier an. Den Rest der Stadt oder
andere Stätten wie den Hishram Palast bekommen die meisten erst gar nicht
zu sehen.
Nur wenige Individualtouristen ziehen durch die Straßen und erfahren ein
anderes Jericho.
Dennoch ist diese, auf ein bis zwei Sehenswürdigkeiten beschränkte Situation, die im übrigen der in Bethlehem ähnlich ist, für die in der Corona des
Tell ansässigen Shops und Anbieter ein großes Problem. Für den Filmbericht
der PBC ist diese Gegenüberstellung sehr wichtig. Zum einen die Misslage in
der Darstellung der verschiedenen antiken Fundstätten. Und zum anderen die
Schaffung von Beschäftigungsplätzen außerhalb der Bereiche Tourismus und
Gastronomie.
390
Thorsten Sellheim
Israel
Die touristischen Schwerpunkte und Projekte in Jericho.
„Die Reisenden sollen nicht nur von dem antiken, irgendwie toten Jericho
erfahren.
Weiter hinten im Ort entstehen Restaurants im Stil eines Beduinenzeltes.
Daneben kann man Glasbläsern bei der Arbeit zusehen und anschließend die
Produkte erwerben. Nächsten Monat macht im Norden der Stadt ein großes
Hotel, ein Resort, auf. Es ist eine Anlage mit allem Komfort. Die Leitung hat
ein deutscher Manager, ansonsten ist es in palästinensischer Hand.” Jihan, Leiterin des Ministerium für Tourismus aus Ramallah, zieht entspannt an ihrer
Wasserpfeife. Neben der charmanten, charismatischen Dame sitzt der Manager der Restauration Tell Es Sultan. Während sie weiter ausholt, sehe ich dem
Geschäft mit dem Kamel zu: Für zwei US Dollar werden Touristen einen kurzen Trampelpfad einmal auf und ab „geritten”. Die Preise für ein Kamel sind
mittlerweile gestiegen, auf 2000 Shekel! Die sind schnell wieder eingefahren,
wie mir scheint, da das Kamel kaum stehen bleibt.
„Das neueste Projekt ist die Seilbahn von hier hoch zu der Stelle im Berg,
an der Jesus über eine Woche hauste und zweifelte. Die Touristen können dann
direkt vom Tell aus dorthin fahren.” Ein hoher Turm der Gondelbahn ragt
schon in den Himmel. Mich erinnert das eher an die Skilifte in den Alpen. Der
Turm wirkt etwas deplaziert. Das investitionsschwere Vorhaben soll noch im
Jahr 1999 fertiggestellt sein.
Wir schauen uns noch die vorläufige Endstation an der Felswand an und
fahren weiter zu einer wirklich neuen Fabrik am Rand der Wüstenoase.
Hier haben die Palästinenser mit Unterstützung eines großen französischen
Mineralwasserherstellers eine kleine Wasserfabrik aufgebaut. Wir treffen
den jungen Geschäftsführer und machen einen Rundgang.
Das Produkt trägt den Namen der Stadt, wird in halben und ganzen Litern
verkauft und steht auf dem Markt in Konkurrenz mit dem Wasser der israelischen Kibbuzime wie z. B. Ein Gedi Springs.
„Der Besiedlungsort Jericho beziehungsweise Tell Es Sultan hat durch
sein Wasservorkommen schon in der Antike die Ansiedlung von Menschen
begünstigt. Wie auch wir fanden die früheren Nomaden immer Quellen für
sich und ihr Vieh“, erläutert der junge Mann diese Bedeutung der Wüstenstadt.
In der brandneuen, sehr sauberen Fabrik sind derzeit ein Dutzend Arbeiter
beschäftigt. Die meisten sehen mir aber eher nach schwarzafrikanischen
Bewohnern aus. Das Wasser wird aus einer unterirdischen Quelle in der
Nähe gefördert und hier in Flaschen abgefüllt. Wie steht es mit der Qualität
und den Chancen auf dem europäischen Markt?
„Wir müssten ein Testgutachten erstellen lassen, das für Europa notwendig
ist. Das hat auch unser französischer Partner für sein Produkt machen lassen.
Es ist aber sehr teuer und für den hiesigen Verkauf nicht erforderlich. Daher
haben wir die Idee erstmal fallen gelassen. Wir möchten unsere Produktpalette
eher noch mit zusätzlichen Säften erweitern und hier anbieten.”
391
Thorsten Sellheim
Israel
Wasser: Kein verbindendes Element in Palästina.
Wir haben bereits Mitte November, es ist für mein Empfinden schön warm,
auch hier in 870 Meter Höhe. Seit meiner Ankunft Anfang Oktober hat es
nicht einen Tropfen geregnet.
Ich genieße die sonnigen, trockenen Tage, mache mir keine Schlechtwetterwolken, die gibts in Deutschland eh genug!
Doch damit bin ich hier in der Westbank ziemlich allein. Mit Sorge stellt der
Gemüsemann unten am Mughtarabin Square fest: „Das ist der wärmste
November seit vielen Jahren! Normalerweise ist es viel kühler und vor allem
müsste es schon längst regnen! Letztes Jahr um die Zeit hatte ich schon
einen Pullover an.Wir brauchen den Regen ganz nötig!“ Tatsächlich höre ich
dann auch im Radio von einem besonders außergewöhnlich langen Spätsommer. Eigentlich wäre hier bereits Winter.
Saleh Todah, mein Vermieter in Ramallah, geht mit mir in den Garten. Hier
rennen seine zehn Hühner, ein Hahn und die Katzen herum. Direkt neben dem
Busch deutet er auf einen schweren Deckel. Wir heben den Brocken an.
Unter dem Deckel erahnt man in ziemlicher Tiefe einen Wasserspiegel. Auf
der anderen Hausseite ist ein weiterer Zugang. Nahezu das ganze Haus ist von
einer Höhle untertunnelt. Sehr viele ältere Häuser in Ramallah haben solch ein
Reservoir. Diese lebenswichtigen Wasserreservoire sind in den felsigen
Untergrund der Stadt reingehauen.
„Die Wasserversorgung der palästinensischen Bevölkerung in der Westbank
erfolgt vor allem aus den oberflächennahen Grundwasserschichten über
Brunnen und Quellen, sowie eben durch die Regenwassersammlung“, sagt
Saleh. In Zahlen wären das 120 - 130 m3/a. Wenn man überlegt, dass schätzungsweise nur 38% der ländlichen Bevölkerung in der Westbank an ein Leitungssystem angeschlossen sind und die Palästinenser den vierfachen Preis
(ca. 1.5 US Dollar) für Wasser zahlen müssen, wirken die Bewässerungsaktivitäten der israelischen Siedler sowie ihr Verbrauch wie blanker Hohn. Im
Gegensatz zu den Palästinensern verbrauchen die Siedler in den besetzten
Gebieten nahezu das Zehnfache an Wasser! Dafür dürfen die Araber ab 16 Uhr
kein Wasser für Bewässerung gebrauchen.
Oftmals versiegen Brunnen einfach, da in der Nähe weitaus tiefere Brunnen der Israelis ihnen das Wasser einfach absaugen. Außerdem nimmt der
Salzgehalt bei über fünfzig Prozent der Brunnen durch Versalzung der Böden
dramatisch zu!
Beim Brauchwasser sieht die Lage ebenfalls sehr bedenklich aus.
Gerademal knapp über die Hälfte der 1992 geschätzten 1.2 Mio Palästinenser sind mit ihrem Haushalt an eine Kanalisation angeschlossen. Der
Rest leitet über die Wadis ab oder einfach irgendwohin! Fährt man über die
By Pass Route „Vallee Du Naar” nach Bethlehem, kann man gut die freie und
offene Entsorgung sehen: Es fließt einfach nur die Berge runter. Damit ist
auch der andere übliche Abfall gemeint.
Die Jerusalem Water Undertaking ist für die besetzten Gebiete die zuständige Wasserversorgung. Sie wurde 1965 gegründet. Die Gesellschaft für
392
Thorsten Sellheim
Israel
technische Zusammenarbeit (GTZ) unterstützt die Jerusalem Water Undertaking. Jedoch ist das Versorgungswesen auch von Geldknappheit gebeutelt
und manchmal gibt es nur 20 Minuten am Tag kühlendes Nass. Der Staat
Israel bertrachtet Wasser als Staatseigentum.
Daher stand dieser Problempunkt auch immer wieder im Vordergrund der
Nahost-Verhandlungen. 1991 wurde die Wasserfrage sogar zum erstenmal in
der Region direkt verhandelt. Auch 1993 in Oslo stand das Thema Wasser im
Zentrum des Interesses. Das Agreement on the Gaza Strip and Jericho Area
1994 in Kairo beinhaltete die Errichtung einer palästinensischen Wasserbehörde.
Nablus, die größte Stadt der Westbank! Ägyptische Vorfahren und jordanische Preferenzen.
„El Khalil, El Khalil!!”, ruft der Taxifahrer an meiner nächsten Straßenecke
unermüdlich. „Wached El Khalil!” Eine Person kann und muss er noch mitnehmen, dann verlässt das extralange Mercedes-Taxi die Stadt in Richtung
Hebron.
Ich muss aber heute nicht in den Süden der Westbank, sondern möchte nach
Nablus, der größten der palästinensischen Städte in der Westbank. Also suche
ich den entsprechenden Taxistand auf. Er liegt in der Nähe des Menara
Square, mitten in Ramallah, gegenüber der Droschken nach El Ericha - Jericho. Die Stadt Nablus wird im arabischen auch „Nablus” ausgesprochen. Das
ist für mich beruhigend zu wissen, stand ich doch den übrigen Taxifahrern oft
ratlos gegenüber. Auch dieses Sammeltaxi verlässt Ramallah nur proppevoll!
Manche möchten vielleicht in der Universitätsstadt Bir Zeit aussteigen,
doch viele pendeln zwischen Ramallah und Nablus. Auch Mojin, Mitarbeiter
der PBC, fährt mit.
Wir verlassen die Berghöhen in Richtung Norden und schaukeln schwungvoll über viele Serpentinen hinunter. Die Landschaft ist hügelig, immer noch
felsig, aber irgendwie lieblich durchsetzt von Olivenhainen und auch noch blühenden Pflanzen.
Je weiter wir bergab fahren, desto wärmer wird es auch. Das warme Klima
begünstigt diese Region der Westbank ungemein und beschreibt daher den Ruf
als Korn- und Blumenkammer Palästinas. Schon immer wurden hier Gemüse,
Obst und andere Ackerbaufrüchte angebaut.
Bei einem Jahresmittel der Niederschläge um 600 bis 800 mm trägt der
nördliche Teil der Westbank mit den landwirtschaftlichen Erzeugnissen zur
palästinensischen Wirtschaft bei. Gut 1/3 der von Israel in die EU exportierten Produkte sind landwirtschaftliche Erzeugnisse. Davon kommt ein schwer
zu beziffernder Teil aus den besetzten Gebieten.
Die palästinensischen Bauern geben jedoch ihr Obst und Gemüse sehr
günstig an Israelis ab. Manche sprechen auch von „abgeben müssen”! So günstig, dass die palästinensische Bevölkerung ihr eigenes Gemüse wieder
zurückkauft. Von den Israelis!
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Thorsten Sellheim
Israel
Bewegt man sich weiter westlich und verlässt das eher feuchte, warme
untergalliläische Bergland in Richtung Jordansenke, bekommt man Bananenplantagen zu sehen. Das heiße, trockene Klima im Sommer und ein frostfreier Winter begünstigen das Wachstum dieser Pflanzen. Die Bananen sind
klein, süß und schmecken sehr gut. In kaum einem anderen Gebiet im Vorderen Orient stößt man auf so extreme klimatische und auch tektonisch verursachte Unterschiede wie hier.
Inmitten dieser alten Kulturlandschaft deuten unübersehbare Zeugen auf die
heutige Wirklichkeit. Nahezu jede größere Erhebung ist von einer israelischen
Siedlung gekrönt. Getreu der preußischen Landnahme haben die Israelis auf
die strategisch günstigen Hügel kleine und größere Siedlungen gepflanzt.
Ein Großteil der insgesamt 180 Siedlungen finden sich im Norden der
Westbank. Hebräische Schriftzüge an Tankstellen und die dreisprachigen
Straßenschilder lassen keinen Zweifel daran, wer hier das Sagen hat.
Nach 45km und einer guten 3⁄4 Stunde ist Nablus erreicht.
Der Übergang vom B zum A Sektor ist leicht an einem Checkpoint erkennbar.
Vorher machen mir ganz andere Zeichen am Wegesrand eine Bedeutung
klar: Drei wirklich große Autoschrottplätze rechts und links der Route NablusRamallah-Jerusalem deuten auf einen typischen Gewerbezweig hin. „Nablus
war schon unter jordanischer Führung die wichtigste KFZ-Metropole. Die
meisten Reparaturwerkstätten und Händler sitzen hier in der Stadt. Das hat
Tradition!“
Der Taxifahrer muss es wissen, sein Verwandter hat selber eine KFZ-Werkstatt.
Was man sich darunter vorzustellen hat, sehen wir dann gleich.
Die ganze Einfahrtsstraße nach Nablus ist gesäumt von ölverschmierten
Buden.
Gemessen an meinem Vorstellungsvermögen hat das mit einer Werkstatt
nicht so viel gemeinsam.
Teilweise wird ganz vor der Tür gearbeitet, Autoteile, halbe oder gestrippte
Karosserien liegen in unmittelbarer Reichweite rum - zwischendrin wird
geschraubt, repariert oder auch lackiert - ganz nach Kundenwunsch. Das
Szenario ähnelt mehr einer Auslagerung der Schrottplätze in die Stadt hinein!
Das KFZ-Handwerk in all seinen Schattierungen ist hier in Nablus ein sehr
wichtiger Wirtschaftsfaktor, wie mir später Klaus Klaushenze, Mitarbeiter des
Landesinstitut für internationale Berufsbildung NRW und selber KFZ-Berufsschullehrer, erklärt.
Um so intensiver ist dieser Zweig an der Berufsschule Nablus gefördert
worden. Das Land NRW unterstützt seit knapp drei Jahren diese 1967 gegründete Einrichtung. Ich habe heute einen Termin mit dem Schulleiter Herrn
Quasrawi und den beiden deutschen Projektmitarbeitern Herrn Klaushenze
und Herrn Schneider. Nur finden muss ich diese Schule erstmal! Alle im Taxi
wissen, wohin sie möchten, nur mein Ziel kennt man nicht.
Die Schule muss irgendwo im Bereich des Fruchtgroßmarktes, also im
Osten der Stadt, sein. „Secondary Industrial School? East of Nablus?” Nun,
394
Thorsten Sellheim
Israel
für den Taxifahrer liegt das nicht auf dem Weg und somit werde ich einfach
vom Diensthöchsten des Checkpoints von Nablus per Jeep direkt vor die Tür
der Schule gefahren! So einfach ist das in Palästina!
Das Hauptgebäude ist langgezogen und beflaggt.
Auf dem Gelände der vormals Nablus Vocational School lassen sich einige
Ausbildungsbauten erkennen. In unmittelbarer Nähe steht auch der Rohbau
eines weiteren Fachbereiches. „Ermöglicht durch Förderungsgelder der Republik Irland”, erläutert ein passendes Schild.
Nach kurzer Wartezeit werde ich zu Herrn Quasrawi gebeten, der obligatorische Tee ist bereits serviert und wir kommen ins Gespräch.
„Die Schule wurde schon 1961 gegründet. Damals gab es sieben Werkstätten, nicht sehr viele Schüler, aber es war die einzige Einrichtung in der
Region”, beginnt Herr Quasrawi.
„Zu Beginn konnten die Schüler noch in der Schule wohnen. Viele kamen
ja von außerhalb. Das haben wir mittlerweile auch aus Kostengründen geändert. Die Schüler kommen morgens und verlassen die Werkstätten dann am
frühen Nachmittag.”
Mittlerweile sind die Ausbildungsbereiche auf über zwölf angewachsen.
Schwerpunkte sind das erwähnte KFZ-Handwerk, Holzbearbeitung, sanitäre Installation, Elektrik und vermehrt Elektronik, Klimatechnik und auch
Radio-und Fernsehwesen. Diese Vielfalt ist aber erst seit kurzer Zeit möglich
und teilweise praktikabel. Die Zeiten der Kriege und Besetzung haben auch
hier ihre Spuren hinterlassen:
„Nach 1967 und während der Besatzung brauchten Berufsschulen wie
diese Unterstützung. Nur waren die Israelis daran nicht interessiert. Renovierungen oder Modernisierung fielen damit weg. Mehr und mehr Maschinen
fielen aus und konnten nicht repariert werden.” Diese Situation ist nicht völlig bewältigt, aber es hat sich an der Berufsschule in Nablus doch einiges
geändert.
Neben den Iren, Norwegern und Japanern sind auch wir Deutschen mit Einrichtungsgegenständen, Lehrmaterial und auch Maschinen unterstützend
beteiligt.
Ganz besonders wichtig ist jedoch die seit nunmehr zweidreiviertel Jahren
laufende Projektarbeit in verschiedenen Bereichen des Lehrkörpertrainings
und der Fortbildung. Mittlerweile kann man von einem gelungenen Projekt
sprechen, das darüberhinaus auch wirtschaftlich arbeitet. Die Bereiche KFZ,
Holzbearbeitung und auch Elektrik beispielsweise bieten ihre Dienste auf dem
privaten Sektor in Nablus an. Mit Erfolg. Das betont Herr Quasrawi auch
zugleich.
Im Gegensatz zu Berufsschulen in Deutschland ist das in Palästina möglich.
Noch etwas ist anders. Es gibt, wie in anderen europäischen Ländern auch,
hier kein sogenanntes duales System. Die Schüler werden praktisch wie auch
theoretisch an der Schule ausgebildet. In zwei Semestern. Bei uns ist der
Berufsschulbesuch nur Teil der Lehrausbildung in den Betrieben.
Verbringen die Lehrlinge hierzulande nur einen Tag pro Woche in der
Berufsschule, so tun sie das in Palästina ausschließlich. Sie müssen nur in den
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Thorsten Sellheim
Israel
Sommersemesterferien 4 Wochen in einer Werkstatt außerhalb arbeiten, als
Praktikum.
„Mein Vater hat eine Autowerkstatt, daher möchte ich das auch richtig lernen”, sagt mir ein Schüler in der Pause. „Mein Bruder ist vor ein paar Jahren
auch schon hier gewesen. Der arbeitet mittlerweile in Jordanien.”
„Ich bin im zweiten Semester und muss noch ein paar Monate lernen,
dann kann ich meine Abschlussprüfung machen“, wirft ein anderer, etwa siebzehnjähriger Junge ein.
„Danach habe ich mein Tau Ghi, das ist so etwas wie ein Diplom hier.
Damit könnte ich studieren. Ich weiß es aber noch nicht, vielleicht arbeite ich
dann doch lieber als Fachelektroniker. Es ist ja gar nicht klar, ob ich nach dem
Studium auch eine entsprechende Stelle bekommen kann!”
Nach der Pause treffe ich Herrn Schneider. Er ist seit zwei Jahren in Nablus
und kommentiert die Aussage des Jungen:
„Die meisten wollen direkt danach an die Uni! Oder noch besser ins Ausland zum Studium. Es gibt da viele Visionen, aber selten genaue Vorstellungen. Wenn sie nicht im elterlichen Betrieb unterkommen oder diesen übernehmen, haben einige die Möglichkeit über die Qualifikation eine Stelle zu
bekommen. Auch wenn diese im Verhältnis mit anderen arabischen Ländern
überdurchschnittlich ist, haben doch die Jordanier oder Libanesen selber
genug Arbeitssuchende. Es gehen auch nicht mehr so viele nach Israel und
wenn, dann nicht immer fachbezogen. Seit dem Golfkrieg und auch den
Osloer Verträgen ist da der Bart ab.
Ebenso im einstigen Schlaraffenland Kuweit oder anderen Golfstaaten.
Die suchen sich verstärkt Arbeitskräfte aus Asien.”
Diese Ganztagsschule mit zweijähriger Ausbildung zählt zu fünf in Palästina bestehenden Berufsschulen. Zwei in Nablus, je eine in Ramallah, Hebron
und Bethlehem. Eine sechste wird derzeit in Gaza gebaut. Die Planung
betreut Herr Dr. Grimm, Leiter des Projektes Nablus.
Der erfahrene Mann hat vorher unter anderem viele Jahre in Saudi Arabien
gearbeitet.
Herr Grimm fasst seine derzeitigen Ziele zusammen:
„Wir versuchen, auch mit der neuen Schule in Gaza, das ganze Berufsschulsystem der Palästinenser nahezu umzukrempeln. Wir möchten in
Zusammenarbeit mit dem Ministerium für Erziehung das Tau Ghi abschaffen
und die Lehrbedingungen mehr an die Praxis und Bedürfnisse der ansässigen
Betriebe und Industrie anpassen.
Die jungen Studenten sollen ermutigt werden im Land zu bleiben. Ein
weiteres Problem stellt die Zahl der Lernwilligen dar. Auch wenn in Nablus
jährlich mehr Auszubildende aufgenommen werden können, sind doch nur ca.
5% an Weiterbildung Teilnehmende in der jungen Bevölkerung ein sehr
geringer Wert. Ziel ist es, in den kommenden fünf Jahren 15-20 % zu erreichen.”
396
Thorsten Sellheim
Israel
Zur beruflichen Situation der palästinensischen Jugendlichen.
“I wanna go to the States and make big money!”
Zufrieden über seine Absichten sinkt mein Gegenüber zurück in seinen großen Lehnstuhl. Er ist Besitzer des Telefonladens am Mughtaribin Square in
Ramallah. Ayman Remawi ist noch jung, der Laden läuft und er will hoch hinaus, am besten noch im kommenden Jahr. Er ist mit seinem Bruder vor ein
paar Jahren aus Ägypten hierher gekommen. Vielleicht läuft der Laden in letzter Zeit so gut, weil auch ich einer seiner Stammkunden geworden bin. Wir
unterhalten uns viel über die beruflichen Aussichten im Land.
„Viele meiner Freunde haben keine Ausbildung gemacht. Sie sind irgendwie so in Jobs reingerutscht. Manche als Taxifahrer, auf dem Bau oder in
Restaurants - damals noch viel in Israel. Andere arbeiten bei mir. In Ägypten
ist die Jobsuche noch schwieriger, aber das Leben ist schöner, nicht so eingeschränkt und unruhig wie in Palästina.” Dann kommt er nochmal auf seine
Träume zu sprechen: „Nächstes Jahr gehe ich nach Amerika und schau mich
da mal um. Da ist alles viel leichter, da kann man im großen Stil Geld
machen. Ich muss nur noch eine Ausreisegenehmigung bekommen.”
Mir fällt die Bemerkung von Frau Bitar, der Redakteurin der „Youth
Times”, ein. Immer mehr junge Palästinenser, die ich so treffe, wollen tatsächlich lieber das Land verlassen. Dabei sind sie oft von teilweise unrealistischen Visionen getrieben. Es ist eben schwierig, eine Reisegenehmigung
ohne triftige Gründe zu bekommen. Daneben gehen manche, wie ein junger
Mitarbeiter von Ayman, davon aus, dass wir beispielsweise in Deutschland alle
englisch sprechen! Natürlich gehören palästinensische Kommilitonen schon
länger zum Studentenbild an europäischen Universitäten dazu. Sie entstammen aber oft wohlhabenderen Familien, die meistens vor der Intifada ausgewandert sind. Ebenso in die USA. Der Bruder meines Vermieters und seine
Mutter leben schon seit den Achtzigern in Amerika. Der christliche Saleh hat
zwei Pässe. „Wenn es hier brenzlig wird, fahre ich zu meinem Bruder. Zudem
kann ich dort immer einen Job machen. Hier verwalte ich das elterliche Haus
und spiele in unserer Kirche.”
„In Zahlen ist das schwer nachzuhalten”, sagt Herr Grimm zögerlich. „Wie
viele junge Leute sich hier beruflich betätigen, mit oder ohne Ausbildung,
lässt sich nicht genau beziffern. Dasselbe betrifft die Weiterbildung allgemein.
Die berühmten Vergleichszahlen innerhalb der arabischen Welt bedeuten ein
trügerisches Bild. Denn viele verlassen schon nach kurzer Zeit die Universitäten. Daneben gibt es ja auch sogenannte offene Unis, beispielsweise die
Jerusalem Open University. Die zu erzielenden Abschlüsse sind daher nicht
vergleichbar, schon gar nicht international. Diese Jugendlichen gehen dann
irgendwelchen Jobs nach und fallen aus der statistischen Beobachtung. Unser
Anliegen und auch das der palästinensischen Behörden ist es, die Leute im
Land zu halten; hier auszubilden und zu beschäftigen.”
Ein junger Frisör in der Stadt betont ganz stolz auf meine Frage: „Ich habe
damals in Israel eine vollständige Ausbildung in meinem Beruf gemacht. Da
ich in Ramallah wohne, wollte ich auch hier meinen Laden aufmachen.”
397
Thorsten Sellheim
Israel
Nochmal ein Blick nach Nablus. Bei einer von mir schriftlich gemachten
Umfrage unter den Lehrlingen, die dort Studenten genannt werden, ergab sich
ein deckungsgleiches Bild. Viele erwähnten als Weiterbildung ein fachbezogenes Studium. Am besten im Ausland. Im Anschluss an die Umfrage richteten sich die meisten Fragen dann auch auf ihren Abschluss.
„Kann ich mit einem palästinensischen Abschluss, wie dem Tau Ghi, an einer
deutschen Universität studieren? Gibt es bei euch noch sogenannte Polytechnische Einrichtungen wie in Ostdeutschland?”
Erschwert durch die eher negativen Aufnahmemöglichkeiten in Jordanien,
Israel oder den Golfstaaten sehen unter den arbeitswilligen Jugendlichen die
meisten ihre Zukunftsmöglichkeiten im Land. Ob im elterlichen Betrieb oder
anderswo - wer im Anschluss an die Berufsschule arbeiten möchte, sucht in
Palästina.Vielleicht könnte diese Situation somit notgedrungen die Leute aber
für die heimische Wirtschaft weiterhin gewinnen.
Während meines Aufenthalts eröffnete die deutsche Firma Siemens in Ramallah ein erstes Büro. Siemens ist bereits in Israel vertreten. Solche Schritte aus
dem Ausland würden dem zukünftigen Land neben Geld etwas viel Wichtigeres bringen: Ausbildungsmöglichkeiten und anschließende Arbeitsplätze. „Dafür
muss das politische Klima aber stabiler sein, sonst können wir als Firma in solch
eine Region nicht wirtschaftlich investieren”, sagt ein Sprecher einer ausländischen Gruppe.
Wichtige Auszüge aus dem vereinbarten Text des Wye Memorandum vom
25. Oktober 1998:
Im Abschluss der israelisch-palästinensischen Verhandlungen unter Schirmherrschaft von US Präsident Bill Clinton wurden im amerikanischen Wye
River Plantation, Maryland, unter anderem folgende Punkte festgelegt:
- Die vereinbarten 13 Prozent Landrückgabe werden wie folgt aufgeteilt:
1% Raum wird vom B-Sektor (geteilte israelisch/palästinensische Kontrolle)
dem unter voller palästinensischer Autorität stehenden A-Sektor angegliedert.
Im Verlauf des Novembers wurden so 500 km2 mit 28 Ansiedlungen und Dörfern im Raum um Jenin im Norden der Westbank den Palästinensern zurükkgegeben.
- Die übrigen 12% Landanspruch bekommen die Palästinenser aus dem
unter voller israelischer Kontrolle stehenden C-Sektor zugesprochen. Damit sind
beispielsweise Bereiche nordöstlich von Nablus (Tubas) gemeint. Neben der
schleppenden tatsächlichen Verwirklichung hat dieser Vertragspunkt einen
Pferdefuß. Unter den 12% Land wurden den Palästinensern 3% sogenannte
„Green Areas”, also auch Wüstenstücke oder Naturreservat untergeschoben. Auf
einer aktualisierten Karte des Passia Verlages, Ost Jerusalem, konnte man
dann sehen, wo dieser Raum zu finden sein wird: in der kargen Wüstenregion
zwischen Hebron und dem Westufer des Toten Meeres im Süden der Westbank.
Dieses Land ist wegen seiner schützenswerten Bedeutung nicht besiedelbar. Nur
Beduinen dürfen hier wohnen.
398
Thorsten Sellheim
Israel
Über die Freilassung von insgesamt 200 palästinensischen Gefangenen
wurde lange debattiert. Dabei handelt es sich um aus Sicherheitsgründen
Inhaftierte. Es sind keine Hamas Häftlinge darunter. Die Israelis drücken in
der Endphase der Verhandlungen noch in Wye die Freigabe eines ihrer Topspione durch Präsident Clinton durch. Der in USA inhaftierte wurde ausgeliefert.
Fazit?
Es fällt mir schwer ein abschließendes Wort zu fassen, darauf liegt dann
immer so viel Gewicht. Aber bei den vielen Fragen, die mir im Verlauf der
Zeit durch den Kopf gingen, war doch eine am häufigsten: Wird es in dieser
Region irgendwann mal Frieden geben? Sicher kann das keiner beantworten.
Die gegebenen Umstände, auch im Hinblick auf die mögliche palästinensische Staatverkündung im Mai, stimmen einen alles andere als optimistisch.
Aber die vielen Gespräche mit Israelis und Palästinensern auf beiden Seiten
haben doch eins gemeinsam:
Hoffnung!
Anhang:
Der 11. Jahrestag der Intifada und mehr - eine teilweise persönlich erlebte
Agenda der Ereignisse in der Zeit von Oktober bis Dezember 1998.
Während meiner Stipendiumszeit haben sich einige, sicherlich auch herausragende Ereignisse in der Region abgespielt. Nicht immer ist damit Positives, wie die hoffnungbringende Eröffnung des Flughafen Gaza oder die
Wiederaufnahme von Gesprächen in Wye Plantation, gemeint. Mein Aufenthalt begann mit einer Autobombe nahe Ramallah und endete mit erneuten schweren Angriffen der USA auf Bagdad und anderen Ziele im Irak.
Diese Liste der Ereignise soll aber keinesfalls wie so eine effekthaschende
Hitliste der Anschläge der Zeit zu verstehen sein. Es dient lediglich des
objektiven Überblicks. Darüberhinaus sind auch persönliche Momente vermerkt:
30.09.- Yom Kippur, 25 Jahre Krieg Israel-Ägypten. Eine Autobombe mit
Ziel Jerusalem kostet am Tag zuvor einen Hamas Anhänger das Leben.
Daraufhin werden 14 Soldaten bei einem Granatenunglück in Hebron
schwer verletzt.
13.10. In der Nähe des Moshav Ora wird ein 24jähriger bei der religiösen
Waschung von Arabern erschossen.
399
Thorsten Sellheim
Israel
19.10. - Mit einer Handgranate zerstört ein pal. Terrorist eine Busstation in
Beersheva, verletzt 64 Soldaten und überschattet die ohnehin angespannten
Verhandlungen in Wye Plantation.
19. - 24.10. - Im Verlauf der Verhandlungen von Wye River werden weitere
mühsame Schritte im sowieso schon schleppend verlaufenden Friedensprozess von Clinton, Arafat und Netanjahu besiegelt. Rückgabe von Gebieten im
Norden der Westbank von B- zu A-Zone an die Palästinenser. Darüberhinaus
wichtiger Punkt: Gefangenenfreigabe, Hamas Mitglieder ausgenommen.
25.10. - Der junge Palästinenser Wassem El Tarifi wird im Verlauf einer
Demonstration, bei der nach Aufklärung einer Hintergehung vor dem Fatah
Büro in Ramallah gefordert wird, von eigenen Polizisten versehentlich hinterkopfs erschossen. Im Verlauf der Woche muss Arafat mehrmals die Stadt
besuchen, um die aufgebrachten Bürger zu beruhigen. Das Begräbnis am darauffolgenden Mittwoch wird zum Massenauflauf.
04.11. - Vierter Todestag der Ermordung Izhak Rabins. Hunderte, vor
allem junge Menschen versammeln sich am Ort der Tat in Tel Aviv.
06.11. - Zwei Palästinenser aus dem Hinterland schaffen es, mit einem
Fahrzeug auf den streng kontrollierten, sehr belebten Mahaneh Jehuda Markt
an der Jaffastrasse zu gelangen. Die märtyrerische Detonation zerstört Auto
und ihr Leben. Die Tat hinterlässt massive Kratzer am Sicherheitsgefühl der
Jerusalemer Juden.
24.11. - Der Flughafen in Gaza wird nach mehrmaliger Verzögerung endlich offiziell unter großer internationaler Beteiligung feierlich eröffnet. PBC
sendet den ganzen Tag jede Bemerkung und Bewegung der Festlichkeit.
Erstmals können jetzt Personen wie auch Güter ohne den Umweg über Ben
Gurion bei Tel Aviv nach Palästina einfliegen. Die Israelis behalten sich
jedoch die Sicherheitshoheit vor.
Ab dem 3.12.98
Rund um Ramallah, Nablus, Hebron, Jerusalem und auch Bethlehem
demonstrieren Palästinenser in der Nähe der Checkpoints und der Camps für
die tatsächliche Freilassung von Gefangenen, wie in Wye versprochen. Dabei
werden vier Jungendliche erschossen. Darunter der 21jährige Neffe von Arafats Chefunterhändler Saeb Erekat, Nasser Erekat. Die Tage um den 9.12.,
dem 11ten Jahrestag der Intifada, sind besonders schlimm. Alle Übergänge
und die Geschäfte sind die tagelang vorübergehend geschlossen.
Steine fliegen überall am Rand der Städte. Am darauffolgenden Wochenende landet Präsident Clinton unter anderem in Gaza.
Ein Ereignis, dessen Anblick den Israelis nicht sonderlich schmeckt!
Gaza und Bethlehem wogt in einem amerikanisch/palästinensischen
Flaggenmeer!
400
Thorsten Sellheim
Israel
„We have a dream, the same as yours!”, „Settlements kill peace!” ist zu
lesen. Auf Plakaten im israelischen Teil ist Bill Clinton mit der Kyffiah palestinine verunglimpft dargestellt.
In der Nacht vom 16.12. auf den 17.12. greifen amerikanische Raketen
Ziele im Irak an. Der bevorstehende Fastenmonat Ramadan symbolisiert die
prekäre Zuspitzung einer Auseinandersetzung zwischen Orient und Okzident.
401
Klaus Stratmann
Alle Zeichen stehen auf Sturm
- Simbabwe in tiefer wirtschaftlicher
und politischer Krise.
Simbabwe vom 05.10. - 15.11.1998,
betreut von der Friedrich-Ebert-Stiftung
403
Inhalt
1.
Einführung
406
2.
Die aktuelle wirtschaftliche und politische Lage in Simbabwe
406
Die Inflation macht der Bevölkerung zu schaffen
Die Börse reagiert empfindlich
Der Weltmarktpreis für Tabak sinkt
Der Staatshaushalt als Steinbruch
Es formiert sich Widerstand
Das Abenteuer Kongo
3.
Wer ist Robert Mugabe?
408
4.
Chronik
409
5.
Bevölkerungsstruktur
410
Die schwarze Landbevölkerung zieht es in die Städte
Die Lebensbedingungen in den Slums lassen sich verbessern
– Ein Beispiel
6.
Der Agrarsektor
411
Stütze der Wirtschaft
Warten auf die Landreform
7.
Hoffnungsträger Tourismus
413
8.
Die Rolle der Medien
413
Printmedien
Elektronische Medien
Das neue Mediengesetz
SABA-News – der Blick über den Tellerrand
9.
Die Menschen in Simbabwe – Zwei Beispiele
418
Der erfolgreiche Schwarze: Strive Masiyiwa
Der enttäuschte Weiße:
Ein Farmer aus dem Südosten des Landes
405
Klaus Stratmann
Simbabwe
Klaus Stratmann, Jahrgang 1964, Berufsausbildung zum Bankkaufmann, danach Jura-Studium; während der Berufsausbildung und während des Studiums freie Mitarbeit bei der
Westdeutschen Allgemeinen Zeitung (WAZ),
nach dem juristischen Staatsexamen Volontariat
bei der WAZ, danach zunächst Lokalredakteur,
seit 1996 Politikredakteur in der Zentralredaktion der WAZ in Essen.
1. Einführung
Vor Antritt meiner Reise nach Simbabwe hatte ich Vielversprechendes
gelesen: Das Land habe das Potential zu einer „afrikanischen Erfolgsstory“,
es befinde sich in wirtschaftlicher Hinsicht in einer „interessanten Take-OffPhase“. Was Afrika-Fachleute da zu Papier gebracht hatten, mag vor zwei, drei
oder vier Jahren zutreffend gewesen sein; heute ist es Makulatur. Das Land ist
in einer überaus schwierigen Lage.
Ich habe mit Politikern, Gewerkschaftern, Unternehmern, Farmern und Vertretern ausländischer Hilfsorganisationen über die Situation im Land gesprochen und mir anhand ihrer Aussage ein Bild von der politischen und wirtschaftlichen Lage gemacht. Bei Journalisten aus Simbabwe informierte ich
mich außerdem über die Rolle der Medien im Land.
2. Die aktuelle wirtschaftliche und politische Lage in Simbabwe
Die Inflation macht der Bevölkerung zu schaffen
Wichtige Wirtschaftsdaten sprechen eine deutliche Sprache: Die Inflation
galoppiert, sie hat 1998 die 40%-Marke überschritten. Allein die staatlich diktierten Benzinpreise wurden Anfang November 1998 von einem Tag auf den
anderen um 67% erhöht. Bald ist auch mit deutlichen Aufschlägen beim
Grundnahrungsmittel Mais zu rechnen.
Die jahrelangen Versuche der Regierung, die Preise zu kontrollieren, sie
künstlich niedrig zu halten, sind gescheitert. Jetzt ist das Volk mit der harten
Realität konfrontiert. Nach Berechnungen von Wirtschaftsfachleuten machten die Reallöhne schon 1996 weniger als 20% des Wertes von 1980 aus.
Diese Entwicklung hat sich in den vergangenen zwei Jahren noch beschleunigt.
406
Klaus Stratmann
Simbabwe
Die Börse reagiert empfindlich
Die Börse in Simbabwes Hauptstadt Harare reagiert auf die aktuellen Wirtschaftsdaten empfindlich: Im August 1997 hatte sie mit gut 12 000 Punkten
einen historischen Höchststand erreicht, verlor jedoch bis November 1998
über 70% ihres Wertes.
Finanzfachleute machen die Regierung für die katastrophale Börsenstimmung verantwortlich: Sie werfen den Machthabern eine unsolide Haushaltspolitik, Unberechenbarkeit und Sprunghaftigkeit vor, kritisieren die Vetternwirtschaft – alles in allem Faktoren, die Investoren abschrecken.
Die Misere könnte nach Ansicht der Banken in Kürze zu einer Welle von
Firmenpleiten führen. Für die Einschätzung, dass die aktuellen Probleme in
Simbabwe überwiegend hausgemacht sind - und nicht, wie von der Regierung gern behauptet, eine Folge der asiatischen Finanzkrise -, spricht der
Vergleich mit anderen Ländern der Region. Die Börsen von Mauritius,
Botswana oder Ghana haben die Asienkrise des Jahres 1998 unbeschadet
überstanden.
Der Weltmarktpreis für Tabak sinkt
Neben den hausgemachten Problemen gibt es freilich auch Faktoren, auf die
die Regierung keinen Einfluss hat. Das Land, nach Brasilien zweitgrößter
Tabakproduzent der Welt, bekommt den Verfall der Tabakpreise zu spüren:
Die Weltmarktpreis fiel 1998 um 30%.
Der Staatshaushalt als Steinbruch
Zurück zu den Problemen, für die die Regierung allein die Verantwortung
trägt: Der Staatshaushalt gleicht einem Steinbruch. Ministerien, die Geld
brauchen, bedienen sich. Es gibt keine verlässliche Finanzplanung, das Parlament hat nur schwache Kontrollmöglichkeiten. Internationale Organisationen kritisieren zudem, der Staatsapparat sei völlig aufgebläht und viel zu teuer.
Ein großzügiges politisches Zugeständnis von Staatschef Robert Mugabe
lastet wie ein Mühlstein auf dem Haushalt des Landes. Als im Sommer 1997
die Veteranen des Unabhängigkeitskrieges auf die Barrikaden gingen und
Renten forderten, reagierte Mugabe schnell: Er gewährte jedem der 55 000
Kriegsveteranen eine Abfindung von jeweils 50 000 Simbabwe-Dollar (etwa
2500 DM) und außerdem eine monatliche Rente von 2000 Simbabwe-Dollar.
Allein die monatliche Rentenzahlung übersteigt den gesetzlich vorgeschriebenen Mindestlohn deutlich. Im Haushalt 1997 waren die Ausgaben nicht vorgesehen. Mugabes Großzügigkeit den Veteranen gegenüber brachte die Staatsfinanzen endgültig ins Trudeln.
407
Klaus Stratmann
Simbabwe
Es formiert sich Widerstand
Den anfangs schleichenden Prozess der Verarmung hat das Volk zunächst
weitgehend klaglos hingenommen, nur vereinzelt gab es Proteste. Doch jetzt
gewinnt der Widerstand an Kontur. Mal gehen städtische Bedienstete auf die
Straße, denen die Verwaltung das Gehalt nicht mehr bezahlen kann. Dann gibt
es Proteste dagegen, dass die Verwaltung Harares in einigen Stadtteilen die
Wasserversorgung nicht mehr aufrechterhalten kann. Außerdem gibt es
Demonstrationen gegen Korruption und Vetternwirtschaft. Kurz nach der
Erhöhung der Benzinpreise schließlich kam es im November 1998 unter
Führung des Gewerkschaftsbundes einmal wöchentlich, jeweils mittwochs, zu
Massenprotesten. Mugabe musste die Notbremse ziehen: Er verbat sämtliche
Streiks. Wer diese Anordnung missachtet, kann für bis zu zehn Jahre ins
Gefängnis gesteckt werden.
Das Abenteuer Kongo
Der Staatspräsident äußert sich ansonsten nicht zu den drängenden Problemen. Mugabe agiert lieber auf internationalem Parkett. So engagiert er sich
etwa in der Demokratischen Republik Kongo. Dort greift er seinem Freund
Laurent Kabila militärisch unter die Arme.
Zuerst waren es noch wenige hundert Soldaten aus Simbabwe, die Mugabe
in den Kongo entsandt hatte. Jetzt sollen es 10 000 sein. Die Opposition kritisiert das Eingreifen im Kongo. Sie wirft Mugabe Abenteurertum vor. Er verfolge im Kongo allein private Interessen, nicht die Simbabwes.
Die Staatskasse Simbabwes wird durch den Militäreinsatz nach Angaben
von Kritikern täglich mit umgerechnet 1,5 Mio US-Dollar belastet. Viel Geld
für ein armes Land.
Von der Aufbruchsstimmung, die das Land nach Erlangung der Unabhängigkeit Anfang der 80er Jahre beflügelte, ist nichts mehr zu spüren. Schon gibt
es sogar Schwarze, die zumindest hinter vorgehaltener Hand den Zeiten
hinterhertrauern, als die Minderheit der Weißen das Land noch fest im Griff
hatte. Damals sei einfach alles besser gewesen. Das stimmt zwar nicht, es zeigt
aber, wie enttäuscht viele Menschen von der Regierung in Harare sind.
3. Wer ist Robert Mugabe?
Ein Motorrad mit Blaulicht und Sirene fährt mit Tempo 100 über die vierspurige Second Street in Richtung Harare-City. Dem Motorrad folgen zwei
weitere schwere Maschinen, mit hundert Metern Abstand ein Polizei-Mercedes, dann zwei dunkle Volvos, weitere schwere Limousinen, schließlich ein
Mercedes der S-Klasse mit abgedunkelten Scheiben und dem Kennzeichen
„ZIM 1“. „ZIM“ ist die Abkürzung für die englische Schreibweise Simbabwes, eben mit einem Z als erstem Buchstaben. In diesem Wagen sitzt Staats408
Klaus Stratmann
Simbabwe
präsident Robert Mugabe. Doch sein Fahrzeug bildet nicht das Schlusslicht
der Kolonne. Seiner Limousine folgen u. a. ein Krankenwagen sowie ein
Armee-Transporter, auf dessen offener Ladefläche Soldaten in Kampfanzügen mit Maschinengewehren ihren Platz haben.
Nein, der Präsident hat nicht gerade am Flughafen einen Staatsgast empfangen, den er jetzt in die Stadt geleitet. Vielmehr reist der Präsident immer
so. Wer sich so fortbewegt, fühlt sich in seiner Hauptstadt nicht sonderlich
sicher.
Die Nutzer der vielbefahrenen Straße kennen das Ritual längst. Sie haben
sich auf dem Bürgersteig in Sicherheit gebracht, Autos halten am Straßenrand,
Menschen sind von ihren Fahrrädern und Motorrädern abgestiegen.
Wer ist dieser Robert Mugabe? Lange Zeit zählte Robert Mugabe zu den
Lichtgestalten unter den Politikern Afrikas. Noch immer genießt er im Ausland einen exzellenten Ruf. Doch in Simbabwe selbst hat das Bild vom
besonnenen und auf Ausgleich zwischen Schwarz und Weiß bedachten Staatsmann Schaden genommen.
Rücksichtslos hat Mugabe die Macht im Lande auf seine Person konzentriert, die Entwicklung zu mehr Demokratie massiv behindert.
Mugabe, 1924 als Sohn eines Tischlers in einem Provinznest geboren, ist
während seiner Zeit an der Spitze des Landes ein schwerreicher Mann geworden. Ein amerikanisches Magazin setzte ihn kürzlich auf Platz sieben der
reichsten Staatsoberhäupter der Welt. Er rangiert demnach vor Queen Elizabeth. Es gibt kaum ein großes Geschäft im Lande, an dem nicht der Staatspräsident selbst oder zumindest einer seiner Günstlinge verdient.
An Mugabes Lebensleistung ist nicht zu rütteln: Er führte das Land in die
Unabhängigkeit, beseitigte die weiße Vorherrschaft. Er ist für seine Ideale eingetreten, saß über zehn Jahre lang im Gefängnis. Sein Einsatz gegen das auf
strikte Rassentrennung bedachte weiße Regime in Salisbury, dem heutigen
Harare, begann Ende der 50er Jahre. 1980 erreichte er sein Ziel. Seitdem ist
er der einflussreichste Mann im Land.
Mugabe, der Philosophie, Geschichte und Ökonomie u.a. in London studierte und insgesamt fünf Universitätsdiplome erworben hat, war einer der
Köpfe der Blockfreien-Bewegung. Trotz seiner sozialistischen Rhetorik
betrieb er lange Zeit eine pragmatische Politik, die dem Land in den 80er Jahren und Anfang der 90er Jahre beachtliche wirtschaftliche Erfolge bescherte.
Seit einigen Jahren verfällt er immer wieder in populistische Rhetorik und
wettert gegen die weiße Minderheit.
4. Chronik
Der Brite Cecil Rhodes (1853 bis 1902), Mitbegründer der heute noch den
Welt-Diamantenmarkt beherrschenden Firma De Beers, erwirbt 1888 im
Bereich des heutigen Simbabwe vom Ndbelekönig Lobengula Land. Die
British South Africa Company, die unter Rhodes’ Führung steht, beginnt
sofort Europäer anzusiedeln. Der Widerstand der Schwarzen wird gebro409
Klaus Stratmann
Simbabwe
chen, das Land wird 1891 britisches Protektorat und heißt ab 1894 - nach
Rhodes - Rhodesien.
In den 60er Jahren lehnen die Briten es ab, das Land in die Unabhängigkeit
zu entlassen, weil die weiße Minderheitsregierung die Schwarzen nicht an der
Macht beteiligt. Premier Ian Smith erklärt daraufhin 1965 einseitig die Unabhängigkeit, die jedoch international nicht anerkannt wird. Die internationale
Ächtung der Smith-Regierung bleibt zunächst ohne Wirkung. Die Bevölkerungsmehrheit der Schwarzen verstärkt ihren Kampf gegen die weißen Machthaber, der Bürgerkrieg fordert 27 000 Menschenleben. Smith hält sich lange,
er bleibt bis 1979 Premier. Erst 1980 setzen sich die Schwarzen durch. Das
Land wird in Simbabwe umbenannt.
5. Bevölkerungsstruktur
Knapp zwölf Millionen Menschen leben in Simbabwe. 80 000 Menschen
sind Weiße. Sie haben auch heute noch einen überproportionalen Einfluss auf
das Wirtschaftsleben. Die Weißen haben im Schnitt ein zehnmal höheres
Einkommen als die Schwarzen.
Die schwarze Landbevölkerung zieht es in die Städte
31% der Gesamtbevölkerung Simbabwes leben in den Einzugsgebieten der
Städte. 80% der städtischen Bevölkerung sind Afrikaner, 80% der Weißen
leben in der Stadt.
Die Lebensbedingungen haben sich auf dem Land in den vergangenen
Jahren besonders stark verschlechtert. Immer mehr Menschen zieht es in die
Städte. Für die von mehreren großen Dürren geplagte Landbevölkerung gelten die Städte als Oasen guter Versorgung – ein Trugschluss, wie die meisten
Menschen feststellen müssen, die vom Land in die Stadt kommen.
In der Zeit von 1969 bis 1982 haben die 19 größten Städte ihre Einwohnerzahl verdoppelt. Diese Entwicklung hat sich in den vergangenen Jahren
weiter fortgesetzt, ja sogar noch beschleunigt.
Die Folge: Am Rande der Städte entstehen riesige „High Density Suburbs“,
in denen sich Hunderttausende auf engstem Raum unter katastrophalen
Bedingungen drängen. Wir würden diese Stadtviertel wohl „Slums“ nennen
– und nicht „Vorstädte mit hoher Siedlungsdichte“.
Allein von den 1,2 Millionen Menschen, die in Harare leben, drängen sich
800 000 in den Slums.
Die Lebensbedingungen in den Slums lassen sich verbessern
– Ein Beispiel
Bemühungen der Regierung, die Wohnsituation der Menschen in den
Slums zu verbessern, waren in den vergangenen Jahren selten von Erfolg
gekrönt. Doch es gibt private Organisationen, denen es – mit Unterstützung
ausländischer Helfer – gelingt, die Lebensbedingungen zumindest für einzelne
410
Klaus Stratmann
Simbabwe
Familien zu verbessern. Eine dieser Organisationen heißt „Housing People of
Zimbabwe“.
Regis Mtutu arbeitet für die „Housing People of Zimbabwe“. Die Organisation baut schlichte Häuser in den Armenvierteln. Seit 1992 haben die
„Housing People“ - unterstützt von europäischen Einrichtungen - 4500 Familien zu einem Dach über dem Kopf verholfen.
Wer in die Slums gezogen ist und das Glück hat einen Job zu bekommen
und zudem noch ein wenig Geld zurücklegen kann, dem helfen Regis Mtutu
und seine Kollegen. Die Idee der „Housing People“: Sie fördern die Bildung
von Genossenschaften, die gemeinsam für ein Hausbauprojekt sparen. Derzeit sind 20 000 Familien in solchen Spargenossenschaften mit 14 bis an die
2000 Mitgliedern vereint. Die „Housing People“ besorgen das Land, entwerfen Pläne und begleiten die Bauphase.
Regis Mtutu: „Die Familien, die gemeinsam sparen, kennen sich untereinander, wohnen bereits in den Slums zusammen. Es ist wichtig, dass die Sozialstrukturen erhalten bleiben.“ Oftmals beteiligen sich die Sparer gemeinsam
an der Herstellung von Baumaterial, brennen etwa die Ziegel selbst.
Es steht kein Luxus am Ende der Bemühungen: Eine sechsköpfige Familie bezieht ein Haus mit zwei Räumen. Die Grundstücke sind so bemessen,
dass die Häuser erweitert werden können.
Das Konzept ist für die Slums rund um die Städte geeignet. Auf dem Land
bleibt es dabei: Die Menschen leben in den charakteristischen Rundhütten, an
ein Haus nach unseren Vorstellungen verschwendet dort niemand einen
Gedanken.
6. Der Agrarsektor
Stütze der Wirtschaft
Der Agrarsektor ist eine der Stützen der Wirtschaft. Die Landwirtschaft lässt
sich in einen überwiegend von weißen, exportorientierten Großfarmern
betriebenen Sektor und den von Schwarzen betriebenen Kleinbauernsektor
einteilen. Während die Großfarmer in erster Linie Tabak, Baumwolle sowie
Gemüse anbauen und Rinder züchten, tragen die Kleinbauern in erheblichem Maß zu Produktion des Grundnahrungsmittels Mais bei.
Die Landwirtschaft bietet 75% der Bevölkerung die Existenzgrundlage, im
Agrarbereich werden knapp 50% der Ausfuhrerlöse erzielt.
Simbabwe gehört zu den wenigen Ländern Afrikas, deren landwirtschaftliche Produktion nicht nur ausreicht, um den Ernährungsbedarf der eigenen
Bevölkerung zu decken; vielmehr werden auch Nahrungsmittel exportiert.
Simbabwe war jahrelang Weltmarktführer beim Tabakanbau, wurde jedoch
von Brasilien auf Platz zwei verdrängt.
411
Klaus Stratmann
Simbabwe
Warten auf die Landreform
Die Landfrage zählt zu den großen Problemen Simbabwes. Die Regierung
tut sich schwer mit brauchbaren Konzepten für eine Bodenreform.
Der mit Abstand größte Teil des landwirtschaftlich nutzbaren Bodens
befindet sich in der Hand von etwa 4800 ganz überwiegend weißen Farmern. Der Landhunger der schwarzen Bevölkerung ist groß, für sie ist es
jedoch schwer, Zugang zu gutem Land zu finden.
Niemand bestreitet, dass dieser Zustand untragbar ist. Selbst die Großfarmer zeigen sich gesprächsbereit. Und die Regierung steht bei den Schwarzen
im Wort. Sie hat mehrfach angekündigt das Problem in Angriff zu nehmen.
Doch die Pläne, die bis jetzt bekannt wurden, werden von internationalen
Beobachtern mit großer Skepsis betrachtet.
Das jüngste Konzept der Regierung sah zunächst die Enteignung von 1500
Großfarmern vor. Auf diesem Wege sollten fünf Mio Hektar Land für 90 000
schwarze Familien zusammenkommen. Und wenn die Geberländer nicht das
Geld für Entschädigungen zur Verfügung stellten, werde man die Großfarmer
eben entschädigungslos enteignen, kündigte die Regierung an. Das ging den
Industriestaaten zu weit.
Die Staaten, die Simbabwe finanziell unterstützen, haben allen Grund, das
Thema Landreform äußerst skeptisch zu begleiten. In den 80er Jahren hatte
es bereits eine Reform gegeben - die ging gründlich schief. Damals standen
3,7 Mio Hektar Land zur Verfügung. Sie sollten an die schwarze Bevölkerung
verteilt werden - reichlich Fläche für mehrere zehntausend Familien. Später
sickerte durch, dass große Teile der Fläche in die Hände der Machtelite des
Staates fielen. So soll etwa Vizepräsident Nkomo über Nacht zum Großgrundbesitzer geworden sein. Nach verlässlichen Angaben internationaler
Beobachter gehören ihm vier Prozent der Landesfläche. So etwas soll sich
nicht wiederholen. „Wie auch immer die Regierung eine Reform durchziehen
will - alles muss transparent sein“, sagt ein Beobachter.
Von der Maximalforderung der Enteignung von 1500 Farmern ist die
Regierung auf Druck der Geberländer wieder abgerückt. Jetzt sollen 900 Farmer enteignet werden.
Die Geberländer haben klargemacht, dass die Regierung das Geld für eine
angemessene Entschädigung selbst besorgen muss. Die Industrieländer wollen nur Geld für das Training künftiger Landbesitzer geben.
Experten schätzen, dass es nach der Übereignung des Landes noch 30
Jahre dauern wird, ehe eine Reform wirklich abgeschlossen ist. „Es ist nicht
damit getan, den Menschen Land zur Verfügung zu stellen. Sie müssen ausgebildet werden, sie brauchen zunächst Geld, um ihr Land bewirtschaften zu
können“, sagt ein Fachmann.
Hier liegt das Dilemma der Landfrage: Sollte es in absehbarer Zeit keine
greifbaren Ergebnisse einer Landreform geben, wird der Unmut breiter
Bevölkerungsschichten in eine offene Konfrontation mit der Regierung
umschlagen. Alle Fachleute sind sich daher einig: Es muss schnell etwas
geschehen. Wird die Landreform jedoch übereilt, könnte die Landwirtschaft,
412
Klaus Stratmann
Simbabwe
das Rückgrat der Ökonomie des Landes, erheblichen Schaden nehmen. Ob der
Regierung es gelingt, die gefährliche Gratwanderung zu bewältigen, ohne dass
das Land darunter leidet, bleibt abzuwarten.
7. Hoffnungsträger Tourismus
Der Tourismus gewinnt als Wirtschaftsfaktor zunehmend an Bedeutung.
Touristische Attraktionen des Landes sind die Victoria Fälle, die Eastern
Highlands und der Hwange Nationalpark mit riesigen Großwild-Beständen.
Im November 1998 jubilierte Tourismus-Minister Simon Moyo: Er erwartete für 1998 einen Besucherrekord: 2,6 Millionen Touristen würden bis
Ende des Jahres in Simbabwe Urlaub machen, sagte er voraus. 1997 waren es
nur 1,9 Millionen, 1980, als Simbabwe die Unabhängigkeit erlangte, ganze 79
000.
Simbabwe hat sich binnen kurzer Frist im afrikanischen Tourismus einen
Spitzenplatz gesichert. 1996 stand das Land - gemessen an den durch Tourismus erzielten Einnahmen – noch auf Platz neun in Afrika, 1998 war der
vierte Platz so gut wie sicher. Nach dem Agrar- und dem Bergbausektor
(neben Kohle wird vor allen Dingen Chrom, Nickel, Kupfer und Eisenerz
gewonnen) ist der Tourismus nun Einnahmequelle Nummer drei des Landes.
150 000 Menschen arbeiten direkt im Tourismus-Sektor, weitere 100 000 Jobs
sind indirekt vom Tourismus abhängig.
Freilich kann es mit dem Tourismus nur weiter bergauf gehen, wenn die
politische Lage stabil bleibt. Sollte die Lage in Simbabwe sich weiter verschlechtern, könnte das unabsehbare Folgen für den Hoffnungsträger Tourismus haben.
8. Die Rolle der Medien
Printmedien
Der staatliche Mass Media Trust hat große Teile der Presselandschaft fest
im Griff. Er nimmt wesentlichen Einfluss auf die Tages- und Sonntagszeitungen. Die großen Tageszeitungen „The Chronicle“ , „The Herald“ und
„The Mirror“ werden direkt oder indirekt vom Mass Media Trust kontrolliert.
Gleiches gilt für die Sonntagsblätter „Sunday Mail“ und die „Sunday News“.
Neben den Zeitungen unter staatlichem Einfluss gibt es im Moment zwei
unabhängige und regierungskritische Zeitungen: die „Financial Gazette“ und
den „Independent“. Beide erscheinen wöchentlich.
Ein Blick in den „Independent“ zeigt, dass hier keine Zeitung nach dem
Geschmack der Regierung gemacht wird. Auf den Titelseiten der Oktober- und
November-Ausgaben werden die herrschenden Kreise nicht gerade mit Samthandschuhen angefasst. Da geht es um explodierende Kosten beim Bau eines
Hauses für Harares Bürgermeister Tawengwa. Oder es wird dem Streikaufruf
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Klaus Stratmann
Simbabwe
des Gewerkschaftsbundes ZCTU viel Platz eingeräumt. Berichte über die
katastrophale Haushaltslage des Landes finden ebenfalls breiten Raum auf
Seite 1.
Die regierungskritische Berichterstattung setzt sich im Innenteil der Zeitung
fort. In Kommentaren werden Vetternwirtschaft, Korruption und Missmanagement sehr deutlich und kritisch aufs Korn genommen. Auch Staatspräsident Robert Mugabe wird direkt angegriffen. Leitartikler des „Independent“
sprechen das aus, was viele denken: Es wäre besser, wenn Mugabe endlich
ginge.
Die staatlich kontrollierten Zeitungen winden sich. Ihre Chefredakteure
haben natürlich erkannt, dass man Probleme, die von den beiden unabhängigen Zeitungen thematisiert werden, nicht mehr schlichtweg ignorieren kann,
wie das der Fall war, als es die unabhängige Konkurrenz noch nicht gab. Halbherzig und distanziert berichtet der „Herald“ im November über die Streiks
in Harare und Bulawayo, versucht, das Bild vom aufgebrachten Mob zu vermitteln. In den unabhängigen Zeitungen werden die Streiks als eindeutig
politisch motivierte und überwiegend gewaltlos verlaufende Proteste gegen
die Versäumnisse der Regierung geschildert.
So gewinnt also die unabhängige Presse in Simbabwe an Profil. Der Regierung gefällt das zwar nicht. Mugabes Leute haben jedoch erkannt, dass es
opportun ist, den Wünschen der Länder zu entsprechen, die Simbabwe in
erheblichem Maß mit Entwicklungshilfe-Geldern unterstützen. Die Presse
darf also nicht allzu offensichtlich behindert werden. Freilich lässt die Regierung unabhängige Zeitungen nicht völlig frei schalten und walten. Wenn ein
Journalist nach Auffassung der Regierung den Bogen überspannt, muss er mit
Repressionen rechnen.
Basildon Peta, Journalist beim „Independent“, hat das am eigenen Leibe zu
spüren bekommen. Es ist erst wenige Jahre her, da war er wegen eines kritischen Berichts eine Woche lang in Haft. So weit geht die Regierung heute
wohl nicht mehr. Allerdings wurden noch 1997 zwei Moderatoren des staatlichen Senders ZBC fristlos entlassen, weil sie sich im Hörfunk kritisch über
die Brutalität der Polizei beim Vorgehen gegen friedliche Demonstranten
geäußert hatten.
Eine neue Zeitung entsteht
Ich treffe Basildon Peta kurz vor meiner Abreise in der Redaktion des
„Independent“ am Rande der Innenstadt von Harare. Voller Enthusiasmus
berichtet er mir Mitte November von einem neuen Projekt, von einer täglich
erscheinenden unabhängigen Tageszeitung, die ab Februar 1999 verkauft
werden soll. Peta wird bereits ab Dezember bei der neuen Zeitung arbeiten.
Vier seiner Kollegen vom „Independent“ wechseln ebenfalls zu dem neuen
Blatt, haben ihre Arbeitsverträge bereits unterschrieben.
Hinter dem Projekt steht ein irischer Investor, der bereits mit Zeitungen in
Großbritannien und Südafrika erfolgreich ist. Eine Startauflage von 30 000 ist
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Klaus Stratmann
Simbabwe
für die erste unabhängige Tageszeitung vorgesehen; nach sechs Monaten
sollen es 100 000 Exemplare sein – ein ehrgeiziges Ziel, bedenkt man, dass
der „Herald“ mit einer Auflage von 80 000 Stück die bislang größte Tageszeitung des Landes ist.
Während die unabhängigen Wochenblätter „Independent“ und „Financial
Gazette“ sich an den überdurchschnittlich gebildeten Leser wenden, soll die
neue Zeitung ein Blatt für die breite Masse werden.
„Die Zeitung wird neue Bewegung in die Presselandschaft bringen“, erhofft
sich Peta. Etwa 80 Journalisten werden für das neue Blatt arbeiten.
Elektronische Medien
- Fernsehen
Die Friedrich-Ebert-Stiftung, die in ihrem Büro in Harare die Medienlandschaft in Simbabwe beobachtet, erkennt einen „Hauch von Pluralität“ im
Land. Als Beleg wird im Jahresbericht 1997 der Friedrich-Ebert-Stiftung
die Einführung von JOY-TV angeführt. Die Darstellung in diesem Abschnitt
stützt sich auf den Jahresbericht 1997 von Wolfgang Riehn (Friedrich-EbertStiftung) über die Rolle der Medien in Simbabwe.
Seit August 1997 ist der neue Fernsehkanal JOY-TV auf Sendung. Damit ist
das mehr als zehn Jahre währende „Monopol der Langeweile“ (Wolfgang
Riehn) gebrochen. Die neue kommerzielle Konkurrenz trägt dazu bei, dass
auch das Regierungsfernsehen der Zimbabwe Broadcasting Corporation
nicht mehr ganz so staatstragend und verstaubt wirkt, wie es nach Schilderung
von Beobachtern aussah, ehe JOY-TV den Sendebetrieb aufnahm.
Die Regierung hat nicht aus freien Stücken den zweiten TV-Kanal ermöglicht. Die Vermietung des Kanals bringt Geld, das dem überschuldeten Staatsrundfunk auf die Beine helfen soll.
Der zweite Kanal ist allerdings kein reiner JOY-TV-Kanal. JOY-TV teilt sich
die tägliche Sendezeit von s

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