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Bundesfinanzhof
Urt. v. 02.06.2005, Az.: III R 86/03
Kindergeld: Auch nach Wehrdienst mit 27 kein Anspruch mehr
Für behinderte Kinder steht den Eltern Kindergeld grds. nur dann zu, wenn die Behinderung vor dem 27.
Geburtstag eingetreten ist. Diese Altersgrenze verlängert sich nicht um die vom Kind abgeleistete Zeit des
Grundwehrdienstes, da solche Fälle nicht vergleichbar sind mit denen, in denen ein Ausbildungsverhältnis
sich durch Wehr- oder Zivildienst verzögert.
Quelle: Wolfgang Büser
Anspruch auf Kindergeld für ein behindertes, über 27 Jahre altes Kind; Voraussetzungen für die
analoge Anwendung einer Rechtsnorm
Gericht: BFH
Datum: 02.06.2005
Aktenzeichen: III R 86/03
Entscheidungsform: Urteil
Referenz: JurionRS 2005, 20260
Verfahrensgang:
vorgehend:
FG Niedersachsen - 01.07.2003 - AZ: 15 K 254/02
Rechtsgrundlagen:
§ 32 Abs. 4 S. 1 Nr. 3 EStG
§ 32 Abs. 5 S. 1 EStG
Fundstellen:
BB 2005, 2061 (amtl. Leitsatz)
BFH/NV 2005, 1927-1928 (Volltext mit amtl. LS)
br 2005, 187 (amtl. Leitsatz)
BStBl II 2005, 756-758 (Volltext mit amtl. LS)
DB 2005, VI Heft 37 (amtl. Leitsatz)
DB 2005, 2060 (amtl. Leitsatz)
DStR 2005, VIII Heft 37 (amtl. Leitsatz)
DStRE 2005, 1200-1201 (Volltext mit amtl. LS)
DStZ 2005, 654 (Kurzinformation)
EStB 2005, 363 (Volltext mit amtl. LS u. Anm.)
FamRB 2005, 348 (Kurzinformation)
FamRZ 2005, 1832 (amtl. Leitsatz)
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FR 2005, 1254-1256
HFR 2005, 1092-1093 (Volltext mit amtl. LS)
INF 2005, 764
KFR 2005, 455
KÖSDI 2005, 14811 (Kurzinformation)
NJW 2005, 3456 (amtl. Leitsatz)
NWB 2006, 1042
NWB 2005, 3106 (Kurzinformation)
NWB direkt 2005, 4-5
RdW 2005, XI Heft 21 (amtl. Leitsatz)
SJ 2005, 4-5
stak 2005
StB 2005, 361
StBW 2005, 3
SteuerBriefe 2005, 1313-1314
StuB 2005, 854-855
ZAP 2005, 1178-1179 (Kurzinformation)
ZAP EN-Nr. 786/2005
BFH, 02.06.2005 - III R 86/03
Amtlicher Leitsatz:
Für ein behindertes, über 27 Jahre altes Kind besteht nach § 32 Abs. 4 Satz 1 Nr. 3 EStG kein Anspruch auf
Kindergeld, wenn die Behinderung nach Ablauf des 27. Lebensjahres eingetreten ist. Diese Altersgrenze,
innerhalb derer die Behinderung eingetreten sein muss, ist nicht aufgrund entsprechender Anwendung des §
32 Abs. 5 Satz 1 EStG oder aufgrund verfassungskonformer Auslegung um den Zeitraum des vom Kind in
früheren Jahren geleisteten einjährigen Grundwehrdienstes auf 28 Jahre zu verlängern.
Gründe
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I.
Der am 9. Mai 1969 geborene Sohn des Klägers und Revisionsklägers (Kläger) leistete in der Zeit
vom 1. April 1991 bis zum 31. März 1992 seinen Wehrdienst. Seit einem Verkehrsunfall am 9. April
1997 ist er schwerbehindert.
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Im März 2002 beantragte der Kläger für seinen Sohn Kindergeld. Der Beklagte und
Revisionsbeklagte (Familienkasse) lehnte den Antrag mit der Begründung ab, der Kläger habe
keinen Anspruch auf Kindergeld, weil die Behinderung des Sohnes nicht vor Vollendung des 27.
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Lebensjahres eingetreten sei.
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Einspruch und Klage, mit denen der Kläger geltend machte, die Altersgrenze von 27 Jahren sei
wegen des von seinem Sohn geleisteten Wehrdienstes um die Dauer dieses Wehrdienstes
hinausgeschoben, blieben erfolglos.
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Das Finanzgericht (FG) war der Auffassung, nach dem eindeutigen Wortlaut des § 32 Abs. 4 Satz 1
Nr. 3 des Einkommensteuergesetzes (EStG) bestehe kein Anspruch auf Kindergeld, wenn die
Behinderung nach Vollendung des 27. Lebensjahres eingetreten sei. Die vom Kläger begehrte
entsprechende Anwendung des § 32 Abs. 5 Satz 1 EStG , nach dem für in Ausbildung befindliche
Kinder, die den gesetzlichen Grundwehrdienst oder einen entsprechenden Dienst geleistet hätten,
Anspruch auf Kindergeld über das 27. Lebensjahr hinaus bestehe, komme nicht in Betracht. Das
Urteil des FG ist in Entscheidungen der Finanzgerichte (EFG) 2004, 275 veröffentlicht.
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Mit der Revision rügt der Kläger die Verletzung materiellen Rechts. Er führt im Wesentlichen aus:
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Der Ausschluss des Kindergelds für behinderte Kinder, deren Behinderung nach Vollendung des 27.
Lebensjahres eingetreten sei, verstoße gegen das Diskriminierungsverbot von Behinderten in Art. 3
Abs. 3 Satz 2 des Grundgesetzes (GG) i.V.m. Art. 12a GG (Wehr- und Dienstpflicht). § 32 Abs. 4
Satz 1 Nr. 3 EStG sei daher verfassungskonform auszulegen. Bei dem für den Eintritt der
Behinderung maßgeblichen Alter sei die Wehrdienstzeit seines Sohnes hinzuzurechnen. Er müsse
deshalb so behandelt werden, als ob die Behinderung vor Vollendung des 27. Lebensjahres
eingetreten sei. Komme eine "verfassungskonforme Auslegung des Verweises in § 32 Abs. 5 Satz 1
auf § 32 Abs. 4 Satz 1 Nr. 3 EStG " nicht in Betracht, sei das Verfahren auszusetzen und eine
Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts einzuholen.
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Der Kläger beantragt,
unter Aufhebung der Vorentscheidungen die Familienkasse zu verpflichten, für den Sohn ab März
2002 Kindergeld zu gewähren.
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Die Familienkasse beantragt,
die Revision zurückzuweisen.
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II.
Die Revision des Klägers ist unbegründet. Das FG hat rechtsfehlerfrei einen Anspruch des Klägers
auf Kindergeld für seinen behinderten Sohn verneint.
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1.
Nach §§ 62 Abs. 1, 63 Abs. 1 Satz 1 und 2 i.V.m. § 32 Abs. 4 Satz 1 Nr. 3 EStG wird Kindergeld für
ein Kind, das das 18. Lebensjahr vollendet hat, gewährt, wenn das Kind wegen körperlicher,
geistiger oder seelischer Behinderung außerstande ist, sich selbst zu unterhalten. Seit der Änderung
durch das Gesetz zur Familienförderung vom 22. Dezember 1999 (BGBl I 1999, 2552, 2553) mit
Wirkung ab 1. Januar 2000 wird außerdem ausdrücklich verlangt, dass die Behinderung vor
Vollendung des 27. Lebensjahres eingetreten ist.
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Diese Voraussetzung ist im Streitfall nicht erfüllt, weil die Behinderung des Sohnes des Klägers
durch den Unfall am 9. April 1997 und damit nach Vollendung des 27. Lebensjahres eingetreten ist.
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2.
Entgegen der Auffassung des Klägers besteht keine Veranlassung, durch eine entsprechende
Anwendung des § 32 Abs. 5 Satz 1 EStG die Höchstaltersgrenze, innerhalb derer die Behinderung
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eingetreten sein muss, um den Zeitraum des geleisteten Wehrdienstes zu verlängern.
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a)
Die analoge Anwendung einer Rechtsnorm setzt eine Gesetzeslücke im Sinne einer planwidrigen
Unvollständigkeit voraus. Eine Gesetzeslücke liegt vor, wenn eine Regelung gemessen an ihrem
Zweck unvollständig, d.h. ergänzungsbedürftig ist und wenn ihre Ergänzung nicht einer vom
Gesetzgeber beabsichtigten Beschränkung auf bestimmte Tatbestände widerspricht. Davon zu
unterscheiden ist ein sog. rechtspolitischer Fehler, der vorliegt, wenn sich eine gesetzliche Regelung
zwar als rechtspolitisch verbesserungsbedürftig, aber --gemessen an dem mit ihr verfolgten Zweck-nicht als planwidrig unvollständig und ergänzungsbedürftig erweist. Eine Auslegung gegen den
Wortlaut kommt zudem nur unter sehr engen Voraussetzungen in Betracht, wenn nämlich die auf
den Wortlaut abgestellte Auslegung zu einem sinnwidrigen Ergebnis führen würde (vgl. Urteil des
Bundesfinanzhofs --BFH-- vom 12. Dezember 2002 III R 33/01 , BFHE 201, 379, BStBl II 2003, 322,
m.w.N.).
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b)
Da der Gesetzeswortlaut eindeutig ist, die Rechtsfolgen vom Gesetzgeber beabsichtigt waren und
auch zu keinem sinnwidrigen Ergebnis führen, kommt eine erweiternde Auslegung des § 32 Abs. 4
Satz 1 Nr. 3 EStG nicht in Betracht.
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Mit der Neuregelung des Familienleistungsausgleichs ab 1996 sollten das sozialrechtliche
Kindergeldrecht und das steuerrechtliche Kinderfreibetragsrecht harmonisiert werden. Der
Gesetzgeber wollte an die frühere Rechtsprechung zum sozialrechtlichen Kindergeld anknüpfen,
nach der ein Anspruch auf Kindergeld für ein behindertes Kind nur bestand, wenn die Behinderung
vor Vollendung des 27. Lebensjahres eingetreten war (BFH-Urteile vom 26. Juli 2001 VI R 56/98 ,
BFHE 196, 161 [BFH 26.07.2001 - VI R 56/98] , BStBl II 2001, 832, und vom 16. April 2002 VIII R
62/99 , BFHE 198, 567, BStBl II 2002, 738, jew. m.w.N.).
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Mit der Verankerung der Höchstaltersgrenze von 27 Jahren in § 32 Abs. 4 Satz 1 Nr. 3 EStG durch
das Gesetz zur Familienförderung hat der Gesetzgeber ausdrücklich die Anknüpfung an die
Rechtsprechung des Bundessozialgerichts bestätigt (BTDrucks 14/1513, S. 14; BFH-Urteile in
BFHE 196, 161 [BFH 26.07.2001 - VI R 56/98] , BStBl II 2001, 832, und in BFHE 198, 567,
BStBl II 2002, 738).
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c)
Im Übrigen liegt der Regelung in § 32 Abs. 5 Satz 1 EStG auch kein vergleichbarer Sachverhalt oder
Rechtsgedanke zugrunde, der eine entsprechende Anwendung rechtfertigte.
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Nach § 32 Abs. 5 Satz 1 EStG werden arbeitslose Kinder unter 21 Jahren ( § 32 Abs. 4 Satz 1 Nr. 1
EStG ) oder in der Ausbildung befindliche Kinder unter 27 Jahren ( § 32 Abs. 4 Satz 1 Nr. 2 Buchst.
a und b EStG ), die den gesetzlichen Grundwehrdienst oder eine entsprechende Tätigkeit geleistet
haben, bei einer fortdauernden Berufsausbildung für einen der Dauer dieses Dienstes
entsprechenden Zeitraum über das 21. oder 27. Lebensjahr hinaus berücksichtigt.
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Mit dieser Regelung wollte der Gesetzgeber einen Ausgleich dafür schaffen, dass Kinder während
der Leistung ihres Wehr- oder Zivildienstes steuerlich nicht berücksichtigt werden (BTDrucks
13/1558, S. 155 f.). Der Gesetzgeber trägt damit dem Umstand Rechnung, dass sich die Ausbildung
verzögert, weil das Kind während der Dauer des Grundwehrdienstes oder eines entsprechenden
Dienstes einer Berufsausbildung nicht nachgehen konnte (BFH-Beschluss vom 14. Oktober 2002
VIII R 68/01 , BFH/NV 2003, 460, m.w.N.). Die entsprechende Verlängerung des
Berücksichtigungszeitraums soll diese Ausbildungsverzögerung ausgleichen (vgl. Dürr in Frotscher,
Einkommensteuergesetz, § 32 Rz. 101; Pust in Littmann/Bitz/Pust, Das Einkommensteuerrecht, §
32 EStG Rz. 722).
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Dagegen soll durch die Regelung in § 32 Abs. 4 Satz 1 Nr. 3 EStG ausgeschlossen werden, dass
Kinder, für die --z.B. wegen Abschluss der Ausbildung oder wegen Überschreitens der
Altersgrenze-- kein Anspruch auf Kindergeld mehr bestand, durch eine später eingetretene
Behinderung wieder als Kinder zu berücksichtigen sind (BTDrucks 14/1513, S. 14; Greite in Korn,
Einkommensteuergesetz, § 32 Rz. 54).
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Der Unfall vom 9. April 1997, der nach Ablauf des 27. Lebensjahres des Sohnes eingetreten ist, hat
keinen Bezug zu dem von April 1991 bis März 1992 geleisteten Wehrdienst. Auch fiel der Zeitpunkt
des Unfalls nicht in einen Zeitraum, in dem nach § 32 Abs. 5 Satz 1 EStG über das 27. Lebensjahr
hinaus Anspruch auf Kindergeld bestand. Denn der Zeitraum für die Gewährung verlängert sich nur
dann, wenn sich das Kind über das 27. Lebensjahr hinaus in Ausbildung befindet. Diese
Voraussetzung lag im Streitfall nicht vor, weil der Sohn des Klägers laut Einspruchsentscheidung
seine Ausbildung bereits vor Vollendung des 27. Lebensjahres abgeschlossen hatte. Es ist daher
nicht ersichtlich, inwiefern der --Jahre vor dem Unfall geleistete Wehrdienst-- es rechtfertigen sollte,
einen Kindergeldanspruch zu begründen.
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3.
Die vom Kläger geforderte verfassungskonforme Auslegung scheidet aus, weil die Regelung in § 32
Abs. 4 Satz 1 Nr. 3 EStG von Verfassungs wegen nicht zu beanstanden ist.
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Die vom Kläger gerügte Diskriminierung von Steuerpflichtigen, deren Kinder Wehrdienst geleistet
haben, ist nicht erkennbar. Eine Behinderung, die nach Vollendung des 27. Lebensjahres durch
einen Verkehrsunfall eintritt, steht in keinem Zusammenhang mit dem Jahre zuvor geleisteten
Wehrdienst. Ein Grund für eine unterschiedliche Behandlung danach, ob das Kind Wehrdienst
geleistet hat oder nicht, liegt nicht vor.
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§ 33 Abs. 4 Satz 1 Nr. 3 EStG verletzt auch nicht das Prinzip der Besteuerung nach der subjektiven
Leistungsfähigkeit. Denn wenn für ein behindertes Kind, dessen Behinderung nach Vollendung des
27. Lebensjahres eingetreten ist, kein Anspruch auf Kindergeld oder Kinderfreibetrag besteht, sind
Unterhalts- und sonstige behinderungsbedingte Aufwendungen nach §§ 33a und 33b EStG zu
berücksichtigen (vgl. z.B. Dürr, a.a.O., § 32 Rz. 76). Dadurch ist gewährleistet, dass das für die
Existenzsicherung auch eines über 27 Jahre alten Kindes erforderliche Einkommen von der
Besteuerung freigestellt ist.
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