12 - Prof. Dr. Reinhard Singer

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12 - Prof. Dr. Reinhard Singer
Prof. Dr. R. Singer
Wintersemester 2009/10
(9.2.2010, § 12)
Vorlesung Arbeitsrecht
§ 12 Außerordentliche Kündigung
I. Wichtiger Grund: § 626 BGB
1. Leistungsbereich:
-
Arbeitsverweigerung (z. B. eigenmächtiger Urlaubsantritt)
-
Ankündigung einer Erkrankung (BAG NZA 1993, 308)
-
Teilnahme am rechtswidrigen Streik? (nicht aber, wenn gewerkschaftlich
organisiert; arg.: Rechtsirrtum entschuldigt)
wichtig: i.d.R. Abmahnung erforderlich; nicht aber bei Störungen im
2. Vertrauensbereich:
a) Beispiele:
- Straftat gegenüber Arbeitgeber (Diebstahl/Betrug)
- Schmiergelder
- Verstoß gegen Wettbewerbsverbot (§ 60 HGB)
- Trunkenheitsfahrt bei Berufskraftfahrer
b) Sonderprobleme:
aa)
Diebstahl geringfügiger Sachen
- nicht, wenn Diebstahl ohne Zusammenhang mit Vertrauensstellung (3 Kiwi im
Kaufhaus des AG/5 Zigaretten aus Besucherschatulle)
- wohl aber: Diebstahl Bienenstich durch Buffetkraft (BAG NZA 1985, 286)
- LAG Berlin-Brandenburg NZA-RR 2009, 188 (Emily): Verdachtskündigung
einer Kassiererin wegen der unberechtigten Einlösung von Kunden-Pfandbons
im Wert von 0,48 und 0,82 € gerechtfertigt
1
Bei Interessenabwägung zu berücksichtigen, dass ANin Vertrauensstellung
innehatte (auch in Bezug auf die Pfandbons), beharrlich geleugnet, den Verdacht
haltlos auf andere Mitarbeiter abzuwälzen versucht und sich im Prozess
wahrheitswidrig eingelassen hat.
bb)
Verdachtskündigung:
strenge Anforderungen
(1) Objektive Tatsachen begründen Verdacht
Bsp. 1: AN entfernt Material aus einem Lager, ohne dazu beauftragt zu sein
(Pampers)
Bsp. 2: Kassiererin löst Pfandbons ein, die nicht abgezeichnet waren; am gleichen
Tag waren ihr vom Kassenleiter Pfandbons über exakt den gleichen Betrag (0,48
und 0,82 € ) übergeben worden.
(2) Umfassende Aufklärung durch Arbeitgeber, insbesondere
(3) Anhörung des Arbeitnehmers
Einladung muss Besprechungsthema angeben, sonst nur – abmahnungsbedürftige
– Pflichtverletzung, wenn AN nicht erscheint (BAG AP Nr. 39 zu § 102
BetrVG).
3.
Störungen im Betriebsbereich
- Beleidigung von AN, AG, Kunden
- politische Agitation am Arbeitsplatz
4.
Umfassende Interessenabwägung; Kündigung als ultima ratio
- Abmahnung, Versetzung … gehen vor.
__________
2
Fall 29: Private Internetnutzung
I.
Kündigung aus wichtigem Grund (§ 626 BGB):
1. Wichtiger Grund: schuldhafte Pflichtverletzung
a) Bei privater Internetnutzung gelten strenge Maßstäbe: wichtige Gründe sind
insbesondere
- entgegen einem ausdrücklichen Verbot,
- nach einer einschlägigen Abmahnung,
- während der Arbeitszeit (weil AN geschuldete Arbeitsleistung nicht erbringt),
selbst wenn Nutzung des Internet im Allgemeinen erlaubt, oder
- Herunterladen einer erheblichen Menge von Daten („unbefugter download“),
wenn damit die Gefahr der Infizierung mit Viren oder eine Rufschädigung
verbunden ist (zB bei Abrufen von Seiten mit strafbarem oder pornografischem
Inhalt)
b) Subsumtion:
- A hat unstreitig an 2 Tagen über eine Stunde (= maximale Arbeitspause) im
Internet gesurft = „ausschweifende“ Nutzung
- auch ohne ausdrückliches Verbot mit arbeitsvertraglichen Pflichten nicht zu
vereinbaren
- zur Tätigkeit des A gehörte Aufsicht über Anlagen
- Aufruf von Seiten mit pornografischem Inhalt
c) Fehlende Kenntnis des A vom Verbot: nach BAG gleichgültig; private Nutzung
des Internet ist grds. nicht erlaubt!
2. Abmahnung:
nur erforderlich, wenn AN plausibel annehmen durfte, sein Verhalten sei kein
(erhebliches) Fehlverhalten
II.
Interessenabwägung:
Für AN spricht: Beanstandungsfreier Verlauf des Arbeitsverhältnisses, Alter,
Unterhaltspflichten
Gegen AN: erschwerende Umstände (Aufgabenbereich: Aufsicht; Dauer und Art der
Internetnutzung)
Tatfrage
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-------------------------------------------------------------------III.
Weitere Einzelheiten
1. BAG 12.1.2006, NZA 2006, 980, 984: Installation einer privaten Software (Java und JAP),
die Überwachung und Kontrolle der Internetnutzung verhindern soll
(„Anonymisierungssoftware“)
= per se erhebliche Pflichtverletzung; rechtfertigt Kündigung aus wichtigem Grunde ohne
Abmahnung.
2. Praxistipp: AG sollte klare Regeln vorgeben und den AN zur Kenntnis bringen
(Bestätigung der Kenntnisnahme), um Missverständnisse zu verhindern; allerdings ist
Rspr. vor allem für AN riskant.
3. Erlaubnis privater Internetnutzung durch betriebliche Übung (Barton, NZA 2006, 460)?
AN darf im Allgemeinen nicht davon ausgehen, dass AG private Nutzung während der
Arbeitszeit toleriert (vgl. BAG 7.7.2005, NZA 2006, 98).
Jedenfalls sollte AG eine betriebliche Übung vermeiden und ggf. beseitigen (zB im Wege
der Änderungskündigung, m.E. durch Einstellung der Übung; arg.:„Annehmlichkeit“).
4. Überwachung des Internetverkehrs durch Arbeitgeber: erlaubt, weil AG berechtigtes
Interesse hat, die Einhaltung des Verbots privater Internetnutzung zu überwachen (§ 28
Abs. 1 S. 1 Nr. 2 BDSG).
Auch die restriktiven Vorschriften des Telekommunikationsrechts (§§ 88, 100 TKG)
bilden nach h.M. kein Hindernis für die Überwachung des Internetverkehrs, wenn dem
AN nur die dienstliche Nutzung gestattet ist (Barton, NZA 2006, 460, 462; OLG
Karlsruhe K& R 2005, 181).
Praxistipp: AG sollten private Internetnutzung untersagen, um künftige Kontrollen nicht
zu erschweren.
-----------------------------------------------------------------------VI. Weitere aktuelle Beispiele:
-
BAG 24.11.2005, NZA 2006, 484: Abstempeln der Zeiterfassungskarte (Stempelkarte)
durch Arbeitskollegen (§ 626 BGB +)
-
BAG 2.3.2006, NZA 6/2006, S. VI: ao. Kündigung eines Gutachters des medizinischen
Dienstes, der trotz bescheinigter Arbeitsunfähigkeit wegen einer Hirnhautentzündung
während eines Skiurlaubs am 27.12.2003 in der Schweiz stürzte und sich Schien- und
Wadenbein brach
arg.: Verletzung der Pflicht zu einem gesundheitsfördernden Verhalten und der Pflicht
zur Förderung des Vertragszwecks (zu dem Glaubwürdigkeit als Gutachter gehört)
-
BAG 6.10.2005, NZA 2006, 431: tätlicher Angriff auf Arbeitskollegin rechtfertigt
jedenfalls ordentliche verhaltensbedingte Kündigung (ohne Abmahnung); AN hat
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Arbeitskollegin belästigt und mehrfach versucht, sie in den Arm zu nehmen und auf die
Wange zu küssen. Als sie ein angebotenes Bonbon ablehnte, hat er ihr eine Ohrfeige
gegeben.
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II.
Ausschlussfrist des § 626 II BGB: 2 Wochen
1. Ratio legis: Vertrauensschutz, Rechtssicherheit
2. Beginn der Frist:
III.
a)
bei Straftat: Verurteilung
b)
bei Krankheit: sobald feststeht, dass mit Wiederherstellung Arbeitsfähigkeit nicht
mehr zu rechnen
Geltendmachung der Unwirksamkeit:
§ 13 I KSchG: 3 Wochen
alle Unwirksamkeitsgründe
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