Grenzen und Staat in Afrika - Institut für Politikwissenschaft
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Grenzen und Staat in Afrika - Institut für Politikwissenschaft
Grenzen und Staat in Afrika Univ. Ass. Albert Kraler, Institut für Politikwissenschaft, Universität Wien [After Independence] the suffusive mists of cartographic identity…make it difficult to remember that places are accidents and their names ideas. The citizenship feels new, at least to the citizens, but the identity does not: we have not always had a state, or have had too many; but we have, if not forever,… always been us. This disposition, not unqualified but nearly such, to view culture, geography, politics, and self in the blocked-out spaces of the absolute map, as a matter of countries, leads to the conception of the past as prologue and the future as dénouement – history with a permanent subject.” Clifford Geertz, After the Fact: Two Countries, Four Decades, one Anthropologist. Cambridge/Mass.: Harvard University Press 1995 Künstlichkeit vs. Natürlichkeit • Was das Zitat anspricht, ist das paradoxe Verhältnis der Selbstverständlichkeit von Grenzen und spezifischen Grenzziehungen einerseits und der gegenläufigen Gewissheit, dass Grenzziehungen einmal nicht so waren (oder anders hätten sein können), mit anderen Worten: veränderlich sind, andererseits • Ein immer wiederkehrender Topos in Diskursen über Afrika ist aber freilich gerade die Künstlichkeit der kolonialen Grenzziehung, die gleichzeitig in Verbindung gebracht wird mit der tiefen Krise von Staatlichkeit in weiten Teilen des gegenwärtigen Afrika • Im Gegensatz zum Fazit des Zitats, werden Diskurse über Afrika beherrscht von der Betonung auf Diskontinuitäten, die durch die Kolonialherrschaft hervorgerufen wurden • Die (kolonialen und) postkolonialen Grenzen kennzeichnet einerseits ihre Willkürlichkeit, andererseits die Fremdbestimmung der Grenzziehung aus • Die staatlichen Grenzen Afrikas, postkolonial kaum verändert, so das Argument, seien im Grunde nur ein Spiegelbild der Machtverhältnisse zwischen den europäischen Kolonialmächten zur Zeit des Scrambles for Africa und letztlich ein Ergebnis von Aushandlungsprozessen zwischen den europäischen Mächten, vor Ort aber noch viel mehr in Europa • Gleichzeitig stünden die kolonial gezogenen Grenzen oft im krassen Gegensatz zu historisch gewachsenen Realitäten – sei es i.S. von ethnischen Grenzen, den Grenzen vorkolonialer politischer Einheiten oder lange bestehenden Wirtschaftsräumen. Ohne Zweifel sei damit die gegenwärtige politische Landkarte Afrikas das am deutlichsten sichtbare Relikt der kolonialen Ordnung und in gewisser Weise, ein Ausdruck andauernder Fremdbestimmung. • Mit der Behauptung der „Künstlichkeit“ afrikanischer Grenzen geht allerdings meist nicht etwa eine grundlegende Aufmerksamkeit gegenüber Konstruktionsprozessen von Grenzen oder einher, noch führt sie in der Regel zu einer genaueren Analyse der Funktionen von Grenzziehungen, sondern wird oft selbst wieder zu einer „Gewissheit“, die keiner weiteren Hinterfragung offen steht (und mithin auch politische Forderungen enthält, wie der Wiederherstellung „vorkolonialer Grenzen“). • Die kolonialen und postkolonialen Grenzen werden in einem gewissen Sinn damit wieder naturalisiert – zwar werden sie nicht als gottgegeben verstanden, aber als vollständig kolonial determiniert. • Die Behauptung der völligen Fremdbestimmtheit der Grenze dient damit selbst in gewisser Weise als neuerliche Abgrenzung Afrikas gegenüber Weltregionen mit „natürlich gewachsenen“ Grenzen Transformation von Grenzziehungen • • • Die eigentliche Veränderung, die durch koloniale Grenzziehungen erfolgte, besteht allerdings nicht so sehr in der Grenzziehung an sich bzw. in der Art und Weise der Grenzziehung (auch die staatlichen Grenzen in Europa Grenzen sind keineswegs „natürlich“ gewachsen, noch sind sie in selbstbestimmter Weise gezogen worden), sondern in der veränderten Rolle sowie dem veränderten Charakter von Grenzen In gewisser Weise ist es das in Europa weitaus erfolgreichere Ordnungsprinzip der Nationalstaatlichkeit und damit einhergehender Ideologien des Nationalismus, welches europäische Grenzen „natürlicher“ erscheinen lässt Zudem sind Staatsgrenzen (auch in Afrika) nicht die einzigen relevanten Grenzziehungen – zahlreiche innere Grenzen charakterisieren auch afrikanische Staaten. Tatsächlich kam es im Zuge von Staatszerfallprozessen in der letzten Dekade zu einer Vervielfältigung von Grenzen Grenzvorstellungen – Grenzräume vs. Grenzlinien • Funktion und Gestalt von Grenzen ist eng mit Gestalt von Staaten bzw. dem Charakter von Staatlichkeit verbunden • „Grenzen“ und Grenzvorstellungen von Gesellschaften ohne Staat (d.h. ohne ausgeprägte zentralisierte Autoritätsstrukturen unterscheiden sich offensichtlich von modernen Grenzregimen und -vorstellungen. – Auf solche Gesellschaften trifft mithin tatsächlich das von Melber im Bd. zitierte somalische Sprichwort zu: „Wo immer das Kamel hingeht, das ist Somalia“ – Präziser ausgedrückt, sind Grenzen in diesem Fall (und speziell im Falle nomadischer oder semi-nomadischer Gesellschaften) kaum oder gar nicht territorial definiert, sondern verlaufen entlang von unterschiedlichen Beziehungsnetzwerken • Verschiedene Formen solcher Beziehungsnetzwerke: tatsächliche oder geglaubte Verwandtschaft (Klan), Ethnie, religiöse/ rituelle Netzwerke, Klientelbeziehungen, etc. • Auf lokaler Ebene spielen solche Netzwerke auch in Gesellschaften mit zentralisierten Autoritätsstrukturen eine Rolle – in der vorkolonialen Zeit durchaus in politischer Hinsicht. Vgl. Danielle de Lame (2005): A Hill amongst a thousand“ Æ Raumvorstellungen, aber auch „Raumpraxis“ auf lokaler Ebene geprägt von (heute) v.a. verwandtschaftlichen Bindungen • Vorkoloniale „Staaten“ waren zu einem Gutteil ebenfalls auf Beziehungsnetzwerken aufgebaut (vor allem Tributund Klientelbeziehungen), während die territoriale Komponente eher schwach ausgeprägt war Theorie und Praxis von Staat und Grenze in der vorkolonialen Periode • Herrschaft im vorkolonialen Afrika v.a. Herrschaft über Personen; lediglich in dichter besiedelten Regionen (westafrikanische Küstenregionen z.b. Ghana, Ruanda, Burundi, Uganda, Äthiopien) hatte politische Herrschaft auch territoriale Züge. • Damit einher ging auch, dass es häufig zu Überlappungen z.T. unterschiedlich begründeter Herrschaftsansprüche kam. – In dichter besiedelten Regionen: häufig anzutreffende Unterscheidung zwischen territorialer Herrschaft (Kontrolle über Boden und Nutzungsrechte) einerseits und politischer Herrschaft anderseits; häufig auch religiöse/rituelle Herrschaftsbindungen als zusätzlicher Herrschaftsebene – Häufig auch Nebeneinander von lineage- (verwandtschafts-) basierten Autoritätsstrukturen und Autoritätsstrukturen des Zentralstaates • Grundsätzliches Problem afrikanischer Herrscher/ staatlicher Gebilde: Zusammenhalt des Staates/ Durchsetzung von Herrschaftsansprüchen/ Ausübung von Herrschaft Æ hohe Kosten von Herrschaftsausübung (Jeffrey Herbst, States and Power in Africa, 2000) • Einschränkungen durch – Schriftlosigkeit (Kommunikation mit lokalen Herrschaftsträgern in peripheren Gebieten) – Geographische Beschränkung - Problem der Kontrolle/ Herrschaft über periphere Gebiete – Notwendigkeit, Herrschaftsansprüche v.a. in entlegeneren Gebieten auf Loyalitätsbeziehungen zu Gründen/ umgekehrt: Beschränkung des Einsatzes von Gewalt • Weil Land in den meisten Fällen bis ins 20.Jh. reichlich vorhanden war – Primat von „Exit“ (vgl. Albert O. Hirschman: Exit,Voice, and Loyalty) • „Frontierprozesse“ Æ stetige Ablösungsprozesse, nicht nur von peripheren Regionen, sondern von Gruppen, die sich aus dem engeren Herrschaftsbereich von Staaten begaben und neue Staaten gründeten. • Beispiel: Mfecane im südlichen Afrika: Ausgangspunkt das Zulu-Königreich unter Shaka, zahlreiche Neugründungen durch Dissidenten etwa im Gebiet um Pretoria (Ndebele) und in Zimbabwe (Matabele), dieser teils auf Migration, teils auf Inkorporation von vorgefundenen lokalen Bevölkerungsgruppen beruhende Staatsbildungsprozess strahlte bis ins Gebiet des heutigen Tanzania aus. • Primat von „Exit“ bedeutete auch, dass es kaum Konkurrenz zwischen Staaten gab, die in Europa einer der wesentlichen Motoren der Transformation von Staaten hin zu bürokratischen Anstaltsstaaten war • Beschränkung von Herrschaft auch im Sinne der „Ziele“ bzw. des Gegenstands von Herrschaft (in ritueller Hinsicht zwar „Wohlfahrtsideologien“, aber in der Praxis beschränkte sich Herrschaft auf Tributeinhebung, der Austragung von Macht- und Konkurrenzkämpfen mit rivalisierenden Staaten bzw. Gruppen innerhalb eines Staates, Reproduktion der Herrschaftseliten, Kontrolle über Ressourcen und Handel) • Damit war auch die Durchstaatlichung der Gesellschaft eingeschränkt • Überwiegend bei vorkolonialen Staaten: Realistische Theorie von Staatlichkeit – Grenzen von Staaten sind dort, bis wohin der Einfluss des Zentrums reicht Æ Herrschaft imaginiert als konzentrisch (ausgehend vom Zentrum). • Eine Konsequenz dieser Dynamiken war, dass Grenzen weder statisch noch fixiert waren,noch einer geometrischen Logik entsprachen Æ Grenzregion (Frontier). Grenzen konnten nichtsdestotrotz eine wichtige symbolische und praktische - Bedeutung haben – ebenso wie moderne Grenzen strukturierten die diffuseren vorkoloniale Grenzen politische Beziehungen und pol. Praxis und wirkten identitätsstiftend Koloniale Transformationen • Koloniale Grenzziehungen, die vor Ort oft nur begrenzt wirkmächtig wurden und erst Anfang des 20.Jh. im wesentlichen abgeschlossen waren, etablierte ein deutlich von indigenen „Grenzregimen“ abhebendes System, das gleichzeitig mit der kolonialen Transformation von Staatlichkeit an sich verbunden ist – Orientierung an normativen Gesichtspunkten: Souveränität über definierte Territorien, die allerdings während der Kolonialzeit weitgehend Fiktion blieb und es heute in vielen Ländern Afrikas immer noch (bzw. wieder) ist – Spannung zwischen Realität und normativer Begründung bzw. Theorie von Staatlichkeit – Ideal homogener und bürokratischer Herrschaftsausübung (Æ ließ überlappende Autoritätsstrukturen verschwinden) – Kein Platz für die für vorkoloniale Staaten so charakteristische Ambiguität von Grenzregionen Funktionen kolonialer und postkolonialer Grenzen • Brachte v.a. auch eine Verdichtung der Herrschaft nach Innen • Kontrollfunktion: Kontrolle der Mobilität von Menschen und Gütern (und wenn auch nur symbolisch) • Abgrenzung von unterschiedlichen Rechtssytemen, • in Verbund mit der Kontrolle von Mobilität von Menschen unterschiedliche Zuschreibung von Rechten – in der kolonialen Periode bezeichnenderweise vor allem nach innen gerichtet – Exkurs: Innere Grenzen • einerseits entlang der Unterscheidung Stadt vs. Land (Beschränkung der Urbanisierung; Landbevölkerung als „tribal population“ hatten einen anderen rechtlichen Status als die „detribalisierte“ Stadtbevölkerung • Andererseits (und häufig mit ersterer Unterscheidung überlappend) auf der Basis von „Rasse“ bzw. Ethnie • am ausgeprägtesten in Siedlergesellschaften des südlichen Afrikas • Diese Binnengrenzen sind für viele afrikanische Gesellschaften weiterhin prägend, wobei es auch bei diesen Grenzen unterschiedliche Durchlässigkeiten gibt Grenzen und die kapitalistische Durchdringung der Peripherie • Koloniale Grenzziehungen war u.a. auch bedeutsam für die Verdichtung der Herrschaft nach innen, v.a. hinsichtlich – Steuereinhebung, – Zwangsarbeit – Zwangsanbau • Die Durchsetzung einer kapitalistischen Logik („mise en valeur“) in den Kolonien brachte zudem eine deutliche Verschiebung der Bedeutung von Territorium/ Territorialität – Landkonflikte (grundlegende Frage: wer ist Eigentümer des Landes, in dieser Weise neu) – Weil unter kolonialen Politiken indirekter Herrschaft Ethnizität ein entscheidendes Kriterium für den Zugang zu Land darstellte, verschärfte die Kapitalistische Durchdringung des ländlichen Afrikas und die damit entstehenden Landkonflikte auch ethnische Grenzen – In der postkolonialen Phase wurden viele der Konflikte auch in bezug auf Staatsbürgerschaft ausgetragen (vgl. Banyamulenge im Ostkongo) Grenzen als Opportunitätsstrukturen • Grenzen sind nicht nur „Barriers“, sondern stellen für viele auch Chancen dar (insbesondere Schmuggel) • Auch koloniale Grenzziehungen in Afrika nicht völlig fremdbestimmt, sondern mitunter durchaus lokale Interessen an Aushandlungsprozessen beteiligt. • Bsp. British-Togoland (Ghana): – politische Eliten adaptierten sich sehr schnell an die neuen Grenzen nach dem 1. Weltkrieg – anderseits war die neue Grenze auch der wesentliche Motor in der Herausbildung der Ewe als ethnische Gruppe (bzw. einer Gruppe von politischen Aktivisten, die sich zu dem Sprachrohr der Ewe machten) – nicht die Ewe wurden also kolonial geteilt, sondern die Teilung brachte die Ewe als ethnische Gruppe erst hervor Die Thesen dieses Vortrags werden näher ausgeführt bzw. durch Beispiele erläutert in folgenden Arbeiten • • Albert Kraler (2004): The state and population mobility in the Great Lakes – What is different with post-colonial migrations? Working Paper Nr.24, Sussex Centre for Migration Research, UK, online unter www.sussex.ac.uk/migration/documents/mwp24.pdf Albert Kraler (2005): Kolonialismus, Staatlichkeit und die Idee nationaler Selbstbestimmung in Afrika. Wiener Blätter zur Friedensforschung 124, pp.38-57