Chancen - Land Vorarlberg
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Chancen - Land Vorarlberg
vorum Verlagspostamt 6922 Wolfurt Erscheinungsort Bregenz, P.b.b. Nr. 02Z031538 Forum für Raumplanung und Regionalentwicklung in Vorarlberg Nr. 4/2012 16. Jahrgang Chancen IMPRESSUM: Medieninhaber und Herausgeber: Amt der Vorarlberger Landesregierung, Abt. Raumplanung und Baurecht, 6900 Bregenz, www.vorarlberg.at/gemeindeentwicklung Erscheinungsweise: viermal jährlich Auflage: 7.500 Stück Für den Inhalt verantwortlich: Dr. Wilfried Bertsch Projektleitung: Heiko Moosbrugger; [email protected] Redaktionsleitung: Pzwei. Pressearbeit, Mag. Daniela Kaulfus, Alexandra Stockmeyer Redaktionsteam: Dr. Wilfried Bertsch, Dr. Sabine Miessgang, Mag. Stefan Obkircher, Ing. Christoph Türtscher Lektorat: Pzwei. Pressearbeit Foto: iStock, aprott Gestaltung: Bertolini LDT, Bregenz Druck: Thurnher, Rankweil. Die Redaktion ersucht diejenigen Urheber, Rechtsnachfolger und Werknutzungsberechtigten, die nicht kontaktiert werden konnten, im Falle des fehlenden Einverständnisses zur Vervielfältigung, Veröffentlichung und Verwertung von Werkabbildungen bzw. Fotografien im Rahmen dieser Publikation um Kontaktaufnahme. Offenlegung gemäß § 52 Mediengesetz ist auf www.vorarlberg.at/gemeindeentwicklung veröffentlicht. Namentlich gekennzeichnete Beiträge geben ausschließlich die Meinung des Autors wieder, die sich nicht mit der des Herausgebers oder der Redaktion decken muss. Sinngemäße textliche Überarbeitungen behält sich die Redaktion vor. Zugunsten der Lesbarkeit wird, wenn von den Autorinnen und Autoren nicht anders vorgesehen, von geschlechtsspezifischen Endungen abgesehen. Ein kostenloses und jederzeit kündbares Abonnement der Zeitschrift vorum kann angefordert werden bei: E-Mail: [email protected]; Tel. +43 (0) 5574/511-27105 Foto: xxxx Editorial Welche Gedanken machen Sie sich über die Vorarlberger Lebenskultur, Andrea Kaufmann? Was macht eine erfolgreiche Gemeinde oder Region aus? Wo liegen ihre Chancen, die zum Erfolg führen? In der aktuellen VORUM-Ausgabe wollen wir dem Begriff einmal abseits seiner rein ökonomischen Bedeutung auf den Grund gehen. In die Vielschichtigkeit von „Erfolgsfaktoren“ führt uns Erwin Mohr in seinem Leitartikel ein. Als ehemaliger Wolfurter Bürgermeister und Ratsmitglied der Gemeinden und Regionen Europas spricht er aus seinem langjährigen Erfahrungsschatz, wenn er auf die örtlichen Gegebenheiten, gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Ressourcen eingeht, die es zu heben und pflegen gilt. Was passiert, wenn die „Ressource Frau“ fehlt, darauf weiß die Wissenschaftlerin Gerlind Weber eine deutliche Antwort. „Wenn die Frau geht, stirbt das Land“, sagt sie und richtet damit einen klaren Appell an alle Gemeindeentwickler, auf ein attraktives Lebensumfeld vor allem für junge Frauen im ländlichen Raum zu achten. Vom Sozialkapital eines Ortes spannen die Autoren einen Bogen über die philosophische, systemische und energetische Betrachtung von „erfolgreichen“ Orten – „Wohlfühlorten“, und was diese konkret ausmacht. Sehr kontroversielle Zugänge zum nachhaltigen „guten“ Leben schaffen Dieter Halbach und Johannes Heimrath. Will man etwas verändern, so geht das nur, wenn man bei sich selbst anfängt, meinen beide. Dies fällt den meisten Menschen schwer. Und sie retten damit auch nicht die Welt, mahnt Heimrath. Wie es manche dennoch schaffen, selbst einen aktiven Beitrag zu einem nachhaltigeren, lebenswerteren Wohnort zu leisten, zeigen einige Initiativen aus fünf Vorarlberger Regionen. Und was unsere Schweizer Nachbarn in Rorschach motiviert, auf „Schatzsuche“ zu gehen und wie sie sich einen „Neustart Schweiz“ vorstellen, finden Sie ebenfalls im vorliegenden VORUM! Viel Freude beim Lesen, Nachdenken und Diskutieren wünscht Ihre VORUM-Redaktion. Entwicklungen sind gestaltbar Erwin Mohr über Erfolgsfaktoren von Gemeinden und Regionen Durchaus vergleichbare Gemeinden verzeichnen manchmal völlig unterschiedliche Entwicklungen, ähnliches gilt bei Regionen und Nationalstaaten. Vergleichen wir etwa die Gesundheitssysteme in Europa, stellen wir fest, dass Griechenland fast doppelt so viele Ärzte hat wie Dänemark. Trotzdem werden die Dänen älter, sind gesünder und viel zufriedener mit ihrem System als die Griechen. Ein anschauliches Beispiel gibt es auch im Umweltbereich: Während die Kopenhagener 36 Prozent ihrer täglichen Fahrten mit dem Fahrrad zurücklegen, liegt dieser Anteil in Wien nur bei acht, in Vorarlberg bei 20 Prozent. Und dies, obwohl das Rheintal und der Walgau ebenso flach sind wie die dänische Hauptstadt. In Vorarlberg ist es andererseits gelungen, die Fahrgastzahlen im Öffentlichen Verkehr in den letzten fünf Jahren um 50 Prozent zu steigern. „Auch Gemeinden, Regionen und Staaten sind gefordert, ihre Systeme und Leistungen laufend zu prüfen und zu optimieren.“ Bereits aus diesen beiden Beispielen wird ersichtlich, dass Entwicklungen systembedingt und damit gestaltbar sind. Allerdings braucht es dazu den politischen Willen und die gesellschaftliche Akzeptanz. So wie jedes Unternehmen, das langfristig erfolgreich sein will, seine Strukturen und Produkte ständig verbessern muss, sind auch Gemeinden, Regionen und Staaten gefordert, ihre Systeme und Leistungen laufend zu prüfen und zu optimieren. Europa braucht erfolgreiche Regionen Erfolgreiche Regionen und Gemeinden sind ein Schlüssel für unseren heutigen und zukünftigen Wohlstand. Das stellt man auf europäischer Ebene immer mehr fest. Sie sind nämlich die bürgernächsten Ebenen und zeichnen für die gesamte Daseinsvorsorge der Menschen verantwortlich. Von der intelligenten Ausgestaltung dieser Dienste hängt es ab, ob die Bevölkerung damit zufrieden ist und ob die Angebote auch leistbar sind. Darüber hinaus sind Top-Regionen Vorbilder und Motoren gesellschaftlicher und wirtschaftlicher Entwicklung. Diese brauchen wir dringend, will Europa auch in Zukunft noch in der obersten Liga spielen: 90 Prozent des weltweiten Wachstums wird in diesem Jahrzehnt nämlich nicht in Europa stattfinden. Und noch ein wichtiger Trend sei erwähnt: Die Nationalstaaten müssen zunehmend Kompe- tenzen nach oben (an Brüssel) und nach unten an die Regionen abgeben. Es stellt sich in den kommenden Jahrzehnten daher die Frage, ob und wofür es die Nationalstaaten überhaupt braucht, wenn die Grenzen durch interregionales Zu sammenarbeiten sinnvoller Weise ihre Trenn funktion verlieren. Landflucht stoppen, Chancen nützen In Vorarlberg gibt es Regionen wie das Rheintal oder den Walgau, die laut Prognosen in den nächsten 40 Jahren ein deutliches Bevölke rungs wachstum verzeichnen werden. Dem gegenüber stehen Regionen wie der Bregenzerwald, das Große Walsertal, das Klostertal und insbesondere das Montafon die stagnierende bis stark abnehmende Bevölkerungszahlen zu erwarten haben. Es ist ein weltweiter Trend: Die Jungen ziehen in die Städte und Ballungsgebiete, die Alten bleiben zurück. Doch es gibt auch hier Erfolgsrezepte. Kommunen oder Talschaften, die zum Beispiel auf gemeinnützige Mietwohnungen und familienfreundliche Kindereinrichtungen setzen, werden junge Familien viel eher halten können als jene, die nichts tun. Für einen Gemeindeverantwortlichen gibt es dazu nur ein Credo: Tue alles, was das Leben von Frauen zwischen 15 und 45 in deiner Gemeinde angenehm macht; sie allein sind es, die die Einwohnerstatistik bestimmen – abgesehen von gelegentlichem Zuzug. Hervorragende Bildungseinrichtungen wie zum Beispiel die Tourismus- und Wirtschaftsschulen in Bezau sind ein wichtiger regionaler Standortfaktor. Genauso wie innovative Handwerksbetriebe, die eine exzellente Ausbildung und gute Verdienstmöglichkeiten bieten. Kleinbetriebe haben sich auch in der Krise als Stabilitätsfaktor erwiesen, Handwerk hat noch immer goldenen Boden. Es ist erstaunlich, wie viele kleine Handwerker aus den Talschaften Aufträge im Rheintal und Walgau an Land ziehen. Die Verbindung von gediegenem Handwerk und modernem Design bringt neue Produkte auf den Markt. Wie sonst wäre es möglich, dass beispielsweise ein Schuhmacher aus Bezau bis nach Asien exportiert? vorum 4/2012 Während in den Ballungsgebieten die besten Jugendlichen Arbeitsstellen in den großen TopUnternehmen bekommen, werden sie in den Talschaften oft zu hervorragenden Handwerkern oder perfekten Dienstleistern ausgebildet. Nicht selten gründen sie später ihr eigenes Unternehmen in der Region. Wer dieses Potenzial sieht und pflegt, der punktet. In einer interessanten Renaissance befindet sich unsere Landwirtschaft: „Der Bauer als Star“. Nach den Weinbauern und den Köchen als Stars folgen nun die Bauern mit ihren Lebensmitteln. Kaum eine Werbebroschüre oder Menükarte in gehobener Gastronomie kommt ohne Ursprungs-Hinweis und Foto des Produzenten aus. Gerade in einem Tourismusland wie Vorarlberg ist diese Identität, die Echtheit der Lebensmittel und die Verschränkung mit Handel, Gastronomie und Hotellerie ein unschätzbarer Mehrwert. Und den innovativen Landwirten winken neue Vermarktungs- und Verdienstmöglichkeiten. Chancen der älteren Gesellschaft Unsere Gesellschaft wird nicht nur vielfältiger und bunter, sie wird auch älter. Viel älter. Das wird uns vor neue Herausforderungen stellen: am Arbeitsmarkt, bei den Pensionssystemen, vor allem aber im Gesundheitssystem. Hier sollten wir die besten Modelle Europas betrachten. Es gibt beispielsweise in Finnland oder Irland schon jetzt Regionen, die sich auf Dorfgemeinschaften mit überwiegend älterer Bevölkerung einstellen mussten. Dabei kristallisierte sich ein neues gesellschaftliches Verhalten heraus. Die jüngeren Alten kümmern sich um die Hochbetagten und leisten soziale Dienste, zum Teil ehrenamtlich, in der Betreuung und Versorgung der Ältesten. Ähnliche Entwicklungen haben wir auch in Vorarlberg, man denke nur an die zahlreichen Seniorenbörsen, die in den letzten Jahren gegründet wurden. Die „gewonnene Generation“ für ehrenamtliches Engagement zu begeistern, birgt eine gewaltige Chance. „Erfolgreiche Regionen oder Gemeinden werden schlussendlich daran gemessen, welchen Wohlstand die Menschen dort vorfinden.“ Die Aussichten stehen nicht schlecht, wenn man dem Österreichischen Freiwilligenbericht 2010 Glauben schenkt. 58,4 Prozent der Bevölkerung wären zu solchem Engagement bereit, „wurden aber noch nie gefragt“. Freiwillige Arbeit ist zudem ein Vorzug des ländlichen Raumes. Hier sind österreichweit 34 Prozent bürgerschaftlich engagiert, in größeren Städten nur 14 Prozent. Die Zahlen für Vorarlberg sind noch deutlich höher. Foto: Tramper2 Eine zentrale Rolle für diese erfolgreiche Entwicklung spielen das wissenschaftliche Know-how und die innovative Forschungstätigkeit in den heimischen Unternehmen sowie den hochschulischen und wissenschaftlichen Einrichtungen. Sie bieten Wirkungsstätten für hiesige wie internationale Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler auf hohem Niveau. Die durch Wirtschaft und Wissenschaft bedingte Internationalisierung begünstigt die kontinuierliche Entwicklung hin zu einer offenen Gesellschaft – einer offenen Lebenskultur. Diese zeigt sich auch in der überaus lebendigen und vielfältigen Kulturlandschaft Vorarlbergs. Ein wesentlicher Erfolgsfaktor dafür ist die Ausgewogenheit zwischen international orientierten Spitzenangeboten und der Basisarbeit höchst aktiver Kulturträger aller Regionen. Auch die international angesehene Baukultur zählt zu den Impuls gebenden Faktoren und ist inzwischen fest in der heimischen Lebenskultur verankert. Sie gilt durchaus als Erfolgsgeschichte, die aktuell in Verbindung mit den Themen Nachhaltigkeit oder generationsübergreifendes Wohnen ihre Fortsetzung findet. Der kürzlich verliehene Baukultur-Gemeindepreis 2012 an mehrere Vorarlberger Kommunen oder der stetig wachsende Architektur-Tourismus sind Belege dafür. Erfolgsfaktoren für echten Wohlstand Erfolgreiche Regionen oder Gemeinden werden schlussendlich daran gemessen, welchen Wohlstand die Menschen dort vorfinden. Nicht nur den materiellen Wohlstand, ich meine vor allem den sozialen Wohlstand. Orte, wo es Chancengleichheit für Frauen und Männer gibt, wo es keine Kluft zwischen Alt und Jung gibt, wo Einkommen einigermaßen gerecht verteilt sind, wo auch die Ärmsten genug zum Leben und gleiche Bildungschancen haben. Wo das Sozialkapital und die Solidarität hoch sind. Wer das schafft, gehört zu den wirklichen Top-Gemeinden und Regionen. Übrigens, die Dänen liegen beim EU-Glücksindex, der aus obigen Faktoren zusammengesetzt ist, auf dem 1. Platz in Europa, Österreich an 19. Stelle. Erwin Mohr, Bürgermeister a. D. Präsidiums-Mitglied im Ausschuss der Regionen, Brüssel Vizepräs. Rat der Gemeinden und Regionen Europas, Paris/Brüssel Präsidiumsmitglied Österr. Gemeindebund, Wien Foto: Gerald Holz/Archiv Vorarlberg Tourismus 2 Foto: Popp & Hackner/Vorarlberg Tourismus Bestimmende Faktoren für die Ausprägung einer Vorarlberger Lebenskultur sind unter anderem die besondere Lage im „Drei ländereck“ sowie die Wandlung von einer ursprünglich ländlichen Agrargesellschaft zu einer prosperierenden, touristisch attraktiven Region mit einer stark exportorientierten, innovativen Wirtschaft. Vorarlberger Lebenskultur kommt auch in zahlreichen Initiativen zum Ausdruck, bei denen Bürgerinnen und Bürger in Planungs- und Entwicklungsprozessen mitwirken. Dies zeugt von einem starken Gemeinschaftssinn und ist ein klares Zeichen dafür, dass die Vorarlbergerinnen und Vorarlberger ihren Lebensraum und damit auch die Lebensqualität aktiv und zukunftsorientiert mitgestalten wollen. Als Landesrätin sehe ich meine wesentliche Aufgabe in der Schaffung und Sicherung von Rahmenbedingungen, die diese positiven Entwicklungen auch weiterhin in dieser vielfältigen Weise ermöglichen. Dipl.-Vw. Andrea Kaufmann ist Landesrätin für Kultur, Hochbau und Wissenschaft in der Vorarlberger Landesregierung zu beeinflussen, weil junge Frauen eine sehr heterogene Gruppe sind“, räumt Gerlind Weber ein. Dennoch sollte man nicht den Fehler machen, sich nur um Familien zu kümmern. „Haus und Kind sind ohnehin die besten Garanten dafür, dass Menschen an einem Ort bleiben“, so Weber. Ein entscheidender Faktor seien attraktive Jobs. Günstige Startwohnungen oder die aktive Unterstützung des Bürgermeisters bei der Arbeitssuche seien geeignete Maßnahmen, um junge Frauen im Ort zu halten. Weber: „In vielen Ortskernen stehen Räume leer, da könnten Gemeinden mit günstigen Konditionen locken.“ Rückkehrerinnen und Zugezogene müsse man „Günstige Startwohnungen oder die aktive Unterstützung des Bürgermeisters bei der Arbeitssuche sind geeignete Maßnahmen, um junge Frauen im Ort zu halten.“ Foto: Ludwig Berchtold/Vorarlberg Tourismus Wehret den Anfängen „Wenn die Frau geht, stirbt das Land.“ Mit diesen drastischen Worten kommentierte ein steirischer Bürgermeister die steigenden Abwande rungs neigungen junger Frauen vom Land in die Stadt. „Nicht zu unrecht“, sagt Gerlind Weber vom Institut für Raumplanung und Ländliche Neuordnung der Universität für Bodenkultur in Wien. Gemeinsam mit Tatjana Fischer untersuchte Weber im Auftrag der steirischen Landes regierung 2010 die Gründe für die weibliche Landflucht. „Die Frauen sind Hoffnungsträger für die Gemeinschaft. Sie sind potenzielle Partnerinnen, die den jungen Männern fehlen. Sie sind potenzielle Mütter. Das ist die Tragik für viele kleinere Orte. Die Bevölkerung dünnt nach unten hin immer weiter aus“, erklärt Weber. Frauen haben in strukturschwachen Regionen eindeutig die höheren Abwanderungsneigungen. Die Gründe dafür sind vielfältig. Im Gegensatz zu ihren Müttern sind junge Frauen im Alter zwischen 20 und 29 Jahren heute oft deutlich besser ausge- bildet als ihre männlichen Pendants. Sie ziehen zum Studieren in die Stadt und bleiben dort. Denn in ihrer Heimatgemeinde finden sie keinen adäquaten Arbeitsplatz. Andere ziehen ihrem Partner hinterher, der in einer strukturstarken Region einen Job gefunden hat. Fehlende Infrastruktur und Freizeitmöglichkeiten und die damit verbundenen langen Alltagswege vergällen jungen Frauen das Landleben zusätzlich. „Auch soziale Enge und patriarchale Strukturen lassen sie flüchten“, sagen die Autorinnen. In einigen steirischen Gemeinden gibt es bereits jetzt doppelt so viele 20- bis 29-jährige Männer wie Frauen – Tendenz steigend. Derart besorgniserregend ist die Situation in Vorarlberg noch nicht. Aber auch hier gibt es Regionen wie den Bregenzerwald, das Große Walsertal, das Klostertal und insbesondere das Montafon, die stagnierende bis stark abnehmende Bevölkerungszahlen zu erwarten haben. Wie können Gemeinden diesem Trend gegensteuern? „Das Bleibe- und Wanderungsverhalten ist schwierig bewusst in die Gemeinschaft integrieren. Willkommenspakete oder Patenschaften zwi schen Alteingesessenen und Neuankömmlingen wären passende Möglichkeiten. Eine „Bereitschaftsbörse für Leihgroßeltern“ sei eine weitere gute Idee, Zuzüglerinnen das Leben in der Gemeinde zu erleichtern. Denn ihnen fehle oft das familiäre Unterstützungsnetz. Abwanderungsbereite müsste man versuchen zu festigen. „Ohne zu klammern“, sagt Gerlind Weber. „Es ist wichtig zu signalisieren, dass der Schritt wegzuziehen respektiert wird, aber dennoch ein Platz im Dorf warmgehalten wird.“ Zum Beispiel könnte eine Außenbeziehungsbeauftragte den Kontakt zur Dorfgemeinschaft aufrechterhalten. Und dann wären da noch die Abgewanderten und Rückkehrbereiten. „Sie müssen wissen, dass die Dorfgemeinschaft auch weiterhin Interesse an ihrem Leben hat und dass eine Rückkehr unterstützt würde. Zum Beispiel mit einem Begegnungsfest wie das „Hiesigen, Dasigen und Fortigenfest“ im Mühlviertel.“ Das Sozialkapital liegt auf der Straße Sozialökonom Alexander Dill über unterschiedliche Auffassungen von Sozialkapital. Und wie man es findet und pflegt, um lebenswerte Orte zu schaffen. „Sozialkapital hat auch eine Räuberbande“ – diese Aussage des österreichischen Sozialkapital forschers Ernst Gehmacher zeigt das Dilemma sei ner Forschungsdisziplin: Der Wert sozialer Netzwerke wird kaum am Beitrag zum Gemeinwohl, sondern am gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Erfolg gemessen. Deshalb bescheinigt man Traditionsvereinen und Kirchen gerne ein hohes Maß an Sozialkapital. Die sozialen Netzwerke eines Karl Heinz Grasser und Jörg Haider werden beispielsweise völlig zu Recht als „Freunderlwirtschaft“ bezeichnet. Ihre Grenze ist in der Regel erreicht, wenn kein wirtschaftlicher Vorteil aus der Mitgliedschaft mehr erwächst. Die Paradoxie eines auf Zusammenhalt und Erfolg von Gemeinschaften basierenden Sozialkapitalbegriffs zeigt die Gemeinwohlbilanz nach Art des österreichischen Gemeinwohl-Propheten Christian Felber sehr gut auf: „Die Unternehmen mit guten GemeinwohlBilanzen erhalten einige Vorteile: niedrigere Steuern, geringere Zölle, günstigere Kredite, Vorrang beim öffentlichen Einkauf und bei Forschungsprogrammen et cetera.“ Ausgerechnet Gemeinwohl als Siegerstrategie mit Steuervorteilen und niedrigeren Zinsen? Wie der österreichische Sozialwissenschaftler und Publizist Ernst Gehmacher betont, sieht auch die OECD das Ziel der Sozialkapitalmessung zuerst in der Beförderung von Wohlstand und Wachstum. In beiden Fällen aber stellt sich die Frage: Ist Sozialkapital damit eine Art stille, aktivierbare Reserve zur Förderung von wirt schaftlichem Erfolg? Dann wäre Sozialkapitalforschung sozu sagen das letzte aufgebotene Freiwilligenbatallion der Armee des Wachstums. Sozialkapital wird unterschiedlich definiert o.Univ.-Prof. DI Dr. Gerlind Weber und Dr. Tatjana Fischer Institut für Raumplanung und Ländliche Neuordnung an der Universität für Bodenkultur Wien. Ihre fachlichen Schwerpunkte sind die Themen Raumordnungspolitik, nachhaltige Raumentwicklung, Entwicklung ländlicher Räume und Bodenpolitik. Regionale Schätze Das Basler Institut für Gemeingüter und Wirtschaftsforschung hat einen anderen Begriff von Sozialkapital entwickelt. Dieser wird nicht mehr Gruppen und Beziehungsgeflechten zugeordnet, sondern konstituiert sich im Moment der Befragung, wobei die Befragten selbst zu Sozialforschern werden. Somit wird Sozial kapital forschung zu einer Form der Bürgerbeteiligung. Die neun Fragen des lokalen Sozialklimabarometers (Quelle: Basel Institute of Commons and Economics): objektiv zu bewerten. Wie bisherige Forschungsergebnisse in unterschiedlichen Ländern und Kulturen zeigen, kann Sozialkapital sehr unterschiedlich ausfallen. Bei den nepalesischen Bergbauern der Chepang ist beispielsweise das Hauptgeschenk außerhalb der Familie Essen und Wasser. In ländlichen Vororten von Sao Paulo dagegen wurde das Hüten der Nachbarplantage als Hauptgeschenk genannt. Nahrung und Wasser kamen gar nicht vor. Demgegenüber verschenkten die Teilnehmenden am Deutschen Sozialklimaindex (siehe www.commons.de) überwiegend Aufmerksamkeit und Interesse. Was Schwarzenberg anders macht Die Heterogenität des Sozialkapitals zeigen zwei österreichische Orte sehr beispielhaft: Schwarzenberg in Vorarlberg und Großgmain in Salzburg. Gemein ist ihnen die Einwohnerzahl von rund 2.000 Menschen, eine Ansammlung wohlhabender Bewohner und die Nähe zu einer größeren Stadt. Die Schwarzenberger ziehen einen Gutteil ihrer Identität aus ihrer Gastgeberrolle für die Schubertiade. Diese Veranstaltung zieht ein internationales und überwiegend intellektuelles Großstadtpublikum in das Dorf. Fast 30.000 Gäste waren es 2012. Im etwa gleichgroßen Marienwallfahrtsort Großgmain im Land Salzburg hat Pfarrer Herbert Schmatzberger einen Marien heilgarten angelegt und macht gemeinsame Veranstaltungen mit Alpenschamanen. Das einzige Café und die Post haben kürzlich zugemacht. In den besseren Lagen wohnen Millionäre, die nicht am Gemeindeleben teilnehmen. In den einfacheren Lagen siedeln Pendler aus Salzburg. Die jungen Bewohner interessieren sich nicht für den Marienkult. Kommt man nach Großgmain, trifft man kaum Menschen auf der Straße und niemand grüßt. Das Sozialkapital ist vorhanden, etwa im Trachtenverein, den Chören und der Freiwilligen Feuerwehr. Aber es ist nicht für Besucher zugänglich. In Schwarzenberg dagegen begegnen sich nicht nur zur Schubertiade Einheimische und Fremde. Der Ort bietet eine Bühne. Ein Ort mit Seele Für den Gast spielt die Art des Sozialkapitals eine viel geringere Rolle als dessen Verfügbarkeit. Gerne mischt er sich unter die Gäste einer JazzSession oder eines Harfentrios, eines Rosen kranzes oder einer hippen Lounge. Oft reicht eine belebte Piazza, um das Gefühl zu bekommen, das Sozialklima sei gut. Gelingt es einem Ort, sich als Bühne zu öffnen, bildet sich dort spontan Sozialkapital auf der Straße. Wenn wir also Einheimische wie Besucher nach dem Sozialklima in einem Ort fragen, dann zählen wir nicht Vereinsmitglieder oder ehrenamtlich geleistete Stunden, sondern wir beobachten ein äußerst fragiles Gut. Schon am nächsten Tag kann das Sozialklima besser oder schlechter bewertet, können die Geschenke anders bezeichnet, die Treffpunkte neu lokalisiert werden. „You made my day!“ ist das Motto lokaler Bestandteile von Sozialkapital, also von Vertrauen, Hilfsbereitschaft, Freundlichkeit und Gastfreundschaft. Das einzige Budget, das Gemeinde und Ein wohner zur Bereitstellung dieser Güter brauchen, ist die Verfügung über ihre eigene Lebenszeit. Wenn sie nämlich selbst den Weg zur Piazza nicht finden, nützen ihnen ihre ganzen Netzwerke nichts. Der Ort bleibt dann ohne Seele. Und das Sozialkapital im Vereinssaal. Der Philosoph und Soziologe Alexander Dill beschäftigt sich mit Geschenkökonomie und alternativer Wirtschaftsforschung. Er ist Gründer des Basel Institute of Commons and Economics. Buchtipp: Gemeinsam sind wir reich – Wie Gemeinschaften ohne Geld Werte schaffen, oekom verlag München, 2012 Bregenzerwald Was schenken Sie anderen ohne Erwartung einer Gegenleistung? Was bekommen Sie geschenkt? Wie bewerten Sie das Sozialklima in Ihrem Ort? Wie das Vertrauen? Wie die Hilfsbereitschaft? Wie die Freundlichkeit? Wie die Gastfreundschaft? Welcher Ort hat das beste Sozialklima? Was möchten Sie uns noch sagen? Wirtschafts-Netzwerk um Bezau „witus ist eine projektbezogene Zusammenarbeit der Gemeinden Bezau, Bizau, Reuthe, Mellau und Schnepfau. Ziel ist die Vernetzung, Förderung sowie die Entwicklung von Tourismus, Kaufmannschaft, Handwerk und Landwirtschaft in und um Bezau“, erklärt witusGeschäftsführerin Margit Bilgeri. Die Genossenschaft haben der Bezauer Bürgermeister Georg Fröwis, der Direktor der Bezauer Wirtschaftsschulen Andreas Kappaurer und Ellen Nenning, Geschäftsführerin des Kuschelhotels Gams im Februar 2010 iniziiert. Seither hat das Unternehmernetzwerk unter anderem die witus-Gutscheine, spezielle Sitzbänke, den Unternehmerstammtisch und die Dörferbus-Linie 34 etabliert. In diesem Jahr präsentierte sich witus auf der Dornbirner Herbstmesse – passend zum Motto „gemeinsam stark sein“ – mit dem Fisch „Swimmy“. Analog zur Kindergeschichte bestand dieser aus 140 kleinen Fischen, die die witus-Mitglieder repräsentierten. Diese bildeten den großen Fisch, der für das gemeinsam gelebte Unternehmertum in der Region steht. www.witus.at Dabei wird hier nicht das eigene Befinden thematisiert, sondern die Fähigkeit, die Umgebung Foto: Archiv Gemeinde Schwarzenberg Der Schwarzenberger Dorfplatz ist ein beliebter Treffpunkt. 4 vorum 4/2012 Foto: witus Bezau Chancen aus systemischer Sicht: 3 Fragen an Siegfried Essen Chancen aus geomantischer Sicht: 3 Fragen an Ana Pogacnik 1) Es gibt Orte und Umgebungen an denen man sich spontan wohlfühlt, und Orte, die einem das Gefühl geben, so schnell wie möglich weg zu wollen. Gibt es dafür aus der systemischen Sicht eine Erklärung? 1) Es gibt Orte, an denen man sich spontan wohlfühlt, und Orte, die einem das Gefühl geben, so schnell wie möglich weg zu wollen. Gibt es dafür aus Ihrer Sicht eine Erklärung? Foto: xxxx Tatsächlich lernen wir aus der Praxis der systemischen Aufstellungsarbeit, dass Umgebungen uns mehr beeinflussen als wir denken. Dagegen „hilft“ nur eine innere Panzerung. Kafka hat unseren Charakter als tragbares Gefängnis beschrieben; unsere inneren Zirkelschlüsse aus Gedanken, Gefühlen und Handlungen, die sich selbst bestätigen: „Ich bin klug, ich bin ängstlich, ich bin stark, ich bin schwach, ich kann das nicht“ usw. In der systemischen Aufstellungsarbeit lässt man mit einem Schlag seine ganzen Masken fallen, in dem man in eine fremde Rolle schlüpft. Plötzlich ist man frei von all seinen eingepflanzten Eigenschaften, braucht niemandem mehr etwas zu beweisen und kann Unterschiede wahrnehmen, die die Umgebung in einem erzeugt. Also sind meine Gefühle immer ein Wechselspiel zwischen meiner Geschichte und der Umgebung. Ähnlich geht es uns in der freien Natur. Hier kann ich einfach sein, muss nichts vorgeben oder verbergen. Je mehr ich aber in meiner Geschichte festhänge, desto weniger nehme ich die Vor- oder Nachteile eines Ortes wahr. Was ich spüre, sind eher meine Projektionen. Wenn wir wirklich frei sind, erfahren wir Weite und Spielraum und gleichzeitig Geborgenheit und Schutz. Aufgrund unserer systemischen Struktur können wir solche Erfahrungen nicht architektonisch installieren. Ein freier Mensch wird dies überall erleben können. David Steindl-Rast nennt das die Haltung der Dankbarkeit. Ein gepanzerter Mensch wird hingegen überall Enge, Angst und Lieblosigkeit finden. Natürlich reagieren wir oft auf das Äußere eines Ortes, aber ich glaube, es ist noch viel mehr, als das. Jeder Ort hat – wie jeder Mensch – eine eigene Ausstrahlung, Energie, auf die wir mit unserem feinstofflichen Körper reagieren. Zudem speichern Orte wie wir Menschen Erinnerungen: Alles, was an einem Ort geschehen ist, bleibt auf einer energetischen Ebene präsent. Wenn wir mit unseren gespeicherten Erinnerungen an einen Ort kommen, wo Ähnliches in tiefen Schichten gespeichert ist, werden wir durch die Resonanz an das Geschehen unbewusst oder bewusst wieder erinnert. Je nachdem welches Erlebnis dahinter steht, fühlen wir uns an diesem Ort dann wohl oder nicht. 2) Was kann eine Gemeinde oder Region tun, um zu einem „Wohlfühlort“ zu werden? Städteentwickler müssten mit Bedeutungs gebungen arbeiten, das Denken und das Wahrnehmen des Besuchers atmosphärisch beeinflussen. Psychotherapeuten, Werbeleute, Regisseure, Architekten und Musiker zum Beispiel sind Künstler im Schaffen von Atmosphären. Orte könnten zu Wohlfühlorten werden, indem man zum Beispiel Tafeln mit Aphorismen und Geschichten anbringt, die auf die Möglichkeit hinweisen, diesen Ort als Ort von Weite und Freiheit und auch von Schutz und Geborgenheit zu erleben. 3) Im Bregenzerwald gibt es den Spruch „Das Alte ehren und das Neue begrüßen“. Wie interpretieren Sie diesen Satz? In diesem Spruch spiegeln sich die beiden Grundbedürfnisse nach Verbundenheit und Freiheit wieder. Das Alte ehren bedeutet, die Haltung der Dankbarkeit einzunehmen. Das Neue begrüßen bedeutet, Freiheit und Spielraum zu erfahren und in Anspruch zu nehmen. Beides ist immer gleichzeitig notwendig und vorhanden. Siegfried Essen arbeitet seit 1976 als systemischer Familientherapeut, seit 1979 auch als Lehrtherapeut. Er ist Autor zahlreicher Bücher und Fachartikel. (Selbstliebe als Lebenskunst. Ein systemisch-spiritueller Übungsweg. 2011) www.siegfriedessen.com 2) In Island werden Punkte in der Landschaft geschützt, die seit Generationen als wichtige Orte für Naturgeister, wie Zwerge, Trolle etc. angesehen werden. Diese Landstriche dürfen weder bebaut noch landwirtschaftlich genutzt werden. Gibt es bei uns auch solche Orte? Im Ökodorf Sieben Linden werden solidarische und ökologische Lebensweisen erprobt. Wie verändert sich Mensch? Alle Welt ruft nach Veränderungen im Lebensstil. Doch es klafft eine große Kluft zwischen unserem Wissen und Handeln. Nur wenn es gar nicht mehr anders geht, verlassen wir die eingefahrenen Hauptstraßen. Appelle an die Vernunft bleiben dagegen meist wirkungslos. Dieter Halbach über Wege zu einem anderen Lebensstil Bisher wurden Menschen in der Regel in drei Schritten zu einem veränderten Verhalten im Sinn von Umweltschutz und Gerechtigkeit zu bewegen versucht: 1. Man stellt dar, was schiefgeht. 2. Man sagt, was geschehen müsste. 3. Man legt den Menschen nahe, dies zur eigenen Sache zu machen. Wirksam ist das allerdings nicht, denn das unerwünschte Verhalten erscheint dabei als das „Normale“. Besser funktioniert der umgekehrte Ansatz des Psychologieprofessors Robert B. Cialdini: Wenn erklärt wird, dass das erwünschte Verhalten bereits erfolgt und den eigenen Möglichkeiten entspricht, sind deutlich mehr Menschen bereit, sich zu verändern. „An die Stelle der Norm ‚So sollen wir sein‘ tritt die andere ‚So sind wir (eigentlich) – darum wollen wir auch so sein‘.“1 „Wann verändert sich Mensch? „Durch Furcht! Durch eine Furcht zweiter Ordnung, die größer ist als die Furcht vor Veränderung.“ Der Schwerpunkt wirklicher Veränderungen liegt damit in der Stärkung menschlicher Ressourcen und beim Einüben neuer Lebensweisen. Dazu einige Beispiele. In einem Text über Change- 6 vorum 4/2012 Foto: Ökodorf Sieben Linden Management2 finde ich eine paradoxe Antwort auf die Frage „Wann verändert sich Mensch?: „Durch Furcht! Durch eine Furcht zweiter Ordnung, die größer ist als die Furcht vor Veränderung.“ Und dann verblüfft der Autor Reinhard Sprenger mich. „Ach ja, das habe ich ganz vergessen: Es gibt noch eine Bedingung, unter denen Menschen sich verändern. Aber das ist eine sprachliche Peinlichkeit: Liebe.“ Kann so etwas wie „Liebe“ – für sich selbst, füreinander, mit der Erde – zu einer politischen Kategorie werden? Es gibt noch eine Bedingung, unter denen Menschen sich verändern. Aber das ist eine sprachliche Peinlichkeit: Liebe.“ Die weltweite Bewegung der Tiefenökologie hat viele Übungen entwickelt, um die verdrängten Kräfte von Furcht und Liebe wahrzunehmen und zur Quelle unseres Handelns zu machen. Ursprünglich als „Verzweiflungsarbeit“ bezeichnet, wird sie heute von ihrer Lehrerin Joanna Macy, „die Arbeit, die wieder verbindet“ genannt. Furcht und Liebe zur Welt sind natürliche Reaktionen in jedem von uns. Wir sind nicht getrennt von unserer Erde.3 Im Kern der U-Theorie von Otto Scharmer4 steht folgende Annahme: Jeder und jede von uns sind nicht Einer, sondern Zwei. Zum einen sind wir die Person, die wir durch unsere Vergangenheit geworden sind. Zum anderen die Person, die wir in der Zukunft werden könnten. In der Technik der Vergegenwärtigung („Presencing“) können die zwei „Selbste“, das Gewordene und das Werdende, miteinander in Dialog treten. Erst wenn durch die veränderte Sicht auf die Wirklichkeit eine Loslösung von der Vergangenheit stattfindet, öffnet man sich für neue Information, kann Zukunft aus der Gegenwart entstehen. Das ist der Moment des Wandels, der Umschlagpunkt, wenn man ganz unten im U angekommen ist. In der öffentlich-politischen Diskussion wird die innere Krise immer von der äußeren abgeleitet. Menschen aber sind ganzheitliche Wesen. Eine Biomöhre oder ein Solarauto hilft nicht gegen Trennungsschmerz, Tod oder Sinnverlust. Umgekehrt ist der Welt wenig geholfen, wenn wir zur Selbstfindung und Wellnesskur in den Flieger steigen oder versuchen, den Weltfrieden im stillen Kämmerlein herbei zu meditieren. Oft ist es wie eine Befreiung, wenn äußere und innere Krisen ganzheitlich betrachtet werden. Viele für die Welt folgenschwere Entscheidungen werden im „Privaten“ getroffen: tägliche Kaufentscheidungen, Mobilität, Energieverbrauch, Erziehung usw. Hier verknüpfen sich die inneren Themen mit unserer gesellschaftlichen Praxis. Der alte Satz von Adorno „Es gibt kein richtiges Leben im falschen“ muss neu geschrieben werden. Es gibt ein richtigeres Leben im falschen! Heute ist jeder aufgefordert, den kleinen Unterschied zu leben. Wenn ich die vielen Nebenstrassen entdecke, dann betrete ich Neuland. Damit ein Rückfall in eine alte Gewohnheit nicht vorprogrammiert ist, müssen neue Pfade geduldig erschlossen und begangen werden. Wir brauchen inspirierende Orte der Wahrnehmung und der Begegnung, Orte der Besinnung und Werkstatträume für eine andere Gesellschaft. Gute Beispiele sind Ökodörfer, Nachbarschaften, Lebensstilgruppen und Genossenschaften, die bereits jetzt solidarische und ökologische Lebensweisen erproben.5 Doch jede Reise beginnt vor den eigenen Füßen. Mehr als den nächsten Schritt kann man nicht tun. Dem Gehenden aber schiebt sich der Weg unter die Füße. Dieter Halbach (59) ist Mitbegründer des Ökodorf Sieben Linden. Er arbeitet als Seminarleiter und Berater, ist Musiker, Autor und Redakteur der Zeitschrift „OYA anders denken-anders leben“, www.oya-online.de 1 Broschüre »Suffizienzforschung« des Wuppertal-Instituts für Klima, Umwelt und Energie 2 www.denkmodell.de 3 www.tiefenoekologie.de 4 www.ottoscharmer.com 5 eurotopia- Verzeichnis – Gemeinschaften und Ökodörfer in Europa, Einfach Gut Leben e.V., Bestellung (039000) 51232 oder www.eurotopia.de Wichtige Orte für die Landschaft, für die Erde gibt es überall. Landschaften sind in Einheiten „aufgeteilt“, deren Grenzen von der Natur oder durch uns Menschen bestimmt sind. Eine Einheit kann zum Beispiel ein Fluss, ein Tal, ein Grundstück oder eine Stadt sein. Jede solche Einheit wirkt als eigene Zelle, als eigener Organismus und ist damit in sich eine „Ganzheit“. Das bedeutet, dass sie auch alle notwendigen energetischen Organe – vergleichbar mit unseren Chakren – hat, die diese Einheit mit Lebenskraft versorgen. So können wir in einer Landschaft Orte finden, die auf lokaler Ebene wichtig sind und solche, die Bedeutung für eine ganze Region oder sogar für die Erde als Planeten haben. Beim Schutz dieser Orte geht es nicht darum, nicht mehr zu bauen oder vorhandene Technologien nicht zu nutzen, sondern vielmehr darum, wie wir es tun: wie weit wir die Landschaft als Ganzes in den Prozess integrieren. Die Landschaft und Wesenheiten der Natur sind bereit mit uns zu kooperieren. Sie warten sogar darauf. Aber sind wir soweit? Sind wir bereit, uns dafür zu öffnen und über unsere Beschränkungen zu schauen, zu spüren und uns auszudehnen? 3) Was bedeutet der Schutz dieser Punkte, die Sie mit inneren Organen vergleichen? Kann sich eine landschaftliche Einheit damit besser – „authentischer“ entwickeln? So wie unsere physischen oder energetisch-feinstofflichen Organe – wie beispielsweise die Chakren – können auch die Organe einer Landschaft besser wirken, wenn sie unbeschädigt und frei sind. Sie können die Landschaft mit mehr Kraft und Energie versorgen. Sind für die Landschaft wichtige Orte nicht frei, wird die Energieversorgung schwächer oder sogar blockiert, zum Beispiel an ehemaligen Kriegsschauplätzen. Wir können das mit unserem Körper vergleichen. Ist ein Chakra blockiert, schwächt das den ganzen Körper, also unser energetisches, emotionales und physisches Empfinden. Ana Pogačnik ist Geomantin und Autorin. Sie leitet geomantische Ausbildungen und Seminare im Rahmen der Schule „Wieder sehen“. Ana ist die Tochter des bekannten Künstlers und Geomanten Marco Pogačnik, mit dem sie jahrelang zusammenarbeitete. www.ana-pogacnik.com Buchtipp Das Handbuch der Permakultur, gestaltet von Bill Mollison, erhältlich unter www.permakultur-akademie.com Foto: Siegfried Vogel Foto: Michael Tieck Vom Urwunsch, ein Nützling zu sein Zukunft lernen im Garten Die Frage, ob Gutmenschen die Welt retten können, beantwortet der Autor und Begründer einer nachhaltigen Lebensgemeinschaft Johannes Heimrath mit „Nein, ausgeschlossen“. Was ihn dennoch antreibt, ein „gutes“ Leben zu führen, erklärt er im Interview. Mit der Vision vor Augen, ernährungsautonom zu leben, gründete Elisabeth Esterer-Vogel vor drei Jahren den Verein Permatop Lustenau. Ihr Wissen als Permakultur-Gärtnerin gibt sie mittlerweile zwanzig Mitgliedern und im Rahmen von Schülerworkshops und Vorträgen weiter. vorum: Herr Heimrath, können Gutmenschen die Welt retten? Johannes Heimrath: Um diese Frage beantworten zu können, muss man zunächst den Begriff de finieren. „Gutmensch“ wird ja meist verächtlich verwendet für Menschen, die an das Gute glauben und sich in ihrem Lebensumfeld für etwas stark machen. Wenn diese in ihrem Tun den moralischen Zeigefinger erheben, geht das anderen Menschen auf die Nerven. Deswegen sind die anderen aber keine „Bösmenschen“. Sie sind nur skeptischer. Um auf die Frage zurückzukommen, ob Gutmenschen die Welt retten können: Nein, ausgeschlossen. In Lustenau, hinter der Kirche, liegt ein kleines Stück idyllischer Wildnis. Scheinbar unberührt. Doch neben einem Weidenwäldchen und Beerensträuchern zeugen Gemüsebeete und ein Gartenhäuschen von menschlichen Aktivitäten. „Das ist unser Lerngarten“, sagt Elisabeth EstererVogel. Die Landschaftsarchitektin und Gartengestalterin bewirtschaftet seit drei Jahren ein tausend Quadratmeter großes, von der Pfarre gepachtetes Grundstück als Permakultur-Gemeinschaftsgarten. Hier führt sie die zwanzig gleichgesinnten Vereinsmitglieder in die Prinzipien und Techniken der Permakultur ein. Damit erhalten sie das Rüstzeug, um einen eigenen Garten vorzubereiten. vorum: Was treibt Sie dennoch an, ein nachhaltigeres Leben zu führen als andere? Johannes Heimrath: Wenn ich alles, was ich tue, in einen kausalen Zusammenhang stelle, dann würde ich wirklich verzweifeln. Ich habe keine Ahnung, was der Effekt meiner Handlungen ist. Ich würde es trotzdem tun, weil ich mich wohl damit fühle. vorum: Damit reißen Sie andere Menschen mit und bewirken doch etwas ... Johannes Heimrath: Man ist ja immer von Menschen umgeben, die man mit seinen Ideen, Werten und Handlungen befruchtet und von denen man befruchtet wird. Dass aber der Same, den man legt, bei anderen etwas bewirkt und auf die ganze Welt übertragbar sei, ist viel verlangt. In dem Maß, wie ich andere anrege, entstehen auch andere Gruppierungen, die durchaus komplementär zu meinen Bemühungen sind. Die Gruppe der Ölmagnaten ist ja auch eine Gruppe von Menschen, die sind ja nicht alle böse. vorum: Auch der Ölmagnat tut Gutes? Meinen Sie das ernst? Johannes Heimrath: Kein Ölmagnat kann wollen, dass seine Kinder und Enkel in einer kaputten Welt leben. Er interpretiert, das was er tut, nur in einem komplett anderen Kontext, zum Beispiel Wachstum. Er kann sich nicht vorstellen, dass eine Welt, in der die Wirtschaft nicht wächst, überhaupt überle bensfähig ist. Er sieht sich dann aller Reichtümer beraubt, mit manikürten Händen im Ackerboden wühlen und gelbe Rüben auszupfen. Das ist für ihn eine furchtbare Vorstellung einer Welt, in der er sich ganz schlecht fühlt. vorum: Heißt das, wir sollten grundsätzlich auf das Gute im Menschen vertrauen? Johannes Heimrath: Jeder hat den Urwunsch, nicht als Schädling herumzulaufen, sondern als Nützling. Das habe ich in allen Situationen von Menschen gehört. Vielleicht genügt es, einfach das zu tun, was mir bestmöglich ist. Zumindest für mein eigenes „Biotop“. Für die Weltverbesserung wahrscheinlich nicht. vorum: Angenommen, es gibt viele solcher Biotope, wären diese zukunftsfähig? Johannes Heimrath: Das glaube ich fest, ohne Konjunktiv. Für die Organisation in vielen kleingliedrigen Zellen gibt es einen eigenen Ausdruck: das sogenannte polyzentrische System. Die Wissenschaftlerin Elinor Ostrom sagt dazu „commons“. Eine ihrer wichtigsten Entdeckungen ist, dass die friedliche Pflege gemeinsamer Ressourcen nur da gelingt, wo die Beteiligten ihre eigenen Regeln entwickeln können und niemand von außen versucht, diese mit anderen Regeln zu steuern. Das heißt, dass es durchaus ein Weltbild gibt, in dem viele kleine funktionierende Zellen oder Regionen existieren, die überschaubar sind. Und in denen die Menschen ihre eigenen Regeln und Werte entwickeln, die sie an ihre Enkel weitergeben wollen. Diese Zellen können sich völlig voneinander unterscheiden. Das ist Biodiversität. Je mehr unterschiedliche Biotope existieren, umso resilienter ist das ganze System. vorum: Was hindert uns daran, uns neu zu organisieren beziehungsweise besser zu leben? Johannes Heimrath: Am Ende ist es der fehlende Leidensdruck. Die Einsicht allein reicht nicht. Es gibt jede Menge Menschen, die begreifen, was sein müsste und doch im Konjunktiv stecken bleiben. In unserem Kulturkreis sind die meisten einfach noch zu gut eingerichtet. In dem Moment, wo zu dieser Einsicht aber eine Erschütterung kommt, zum Beispiel es hat mit dem Job nicht geklappt, Familie hinüber, Krankheit etc. überlegt man, wie es anders gehen könnte. Auch ein genereller wirtschaftlicher oder gesellschaftlicher Kollaps hätte ähnliche Auswirkungen. vorum: Der Kollaps als Chance für einen Neuanfang? Johannes Heimrath: Wenn unser System kollabiert, sind die Strukturen, die daraus hervorgehen, deutlich kleiner, als wir sie vorher hatten. Mein Szenario sieht so aus, dass wir ein paar HightechInseln haben werden, die sehr diktatorisch organisiert sind. Andere werden von den technisch entwickelten abgeschnitten sein und in einen vorindustriellen Zustand zurückfallen. Und es wird einige geben, die es geschafft haben werden, ihre guten Potenziale aufrechtzuerhalten. Ich nenne sie die Halbinseln des guten Lebens ... Selbst in den dunkelsten Vorstellungen gibt es Lichtstrahlen. vorum 4/2012 „In Zeiten von Klimawandel, Peak Oil und Wirtschafts krise kann ich mit dem Perma topgarten einen zukunftsfähigen Lebensraum für Mensch und Natur schaffen“, betont die 31-Jährige. „Wir betreiben hier eine Mischkultur. So gibt es das ganze Jahr über verschiedene frische Gemüsesorten. Und die unterschiedlichen Pflanzenstrukturen vom Wäldchen über Wildsträucherhecken bis zu den Nutzpflanzen bieten einer großen „Mit einer Schulklasse habe ich einmal einen Weidenzaun aus den geschnittenen Ästen geflochten“, erklärt Elisabeth Esterer-Vogel. Ihr zentrales Anliegen ist es, ihr Wissen möglichst vielen Menschen weiterzugeben – etwa im Rahmen von Vorträgen, Workshops und Kursen, um weitere Permatopgärten in Lustenau und anderen Gemeinden zu initiieren. „Ich stelle mir ein Netzwerk von Menschen vor, die ihre Erfah rungen, Ressourcen und auch Saatgut tauschen. Die Gärten würden nicht nur zur Erhöhung der Biodiversität in den Gemeinden beitragen, sondern auch zur Ernährungsautonomie“, ist die gebürtige Weinviertlerin überzeugt. „Und das Tolle ist: Permakultur funktioniert überall.“ Foto: Siegfried Vogel Elisabeth Esterer-Vogel, 31, Landschaftsarchitektin und Gartengestalterin, lebt mit ihrem Mann und ihrem Sohn in Lustenau. Jahrelange Praxiserfahrung im In- und Ausland ergänzte sie mit einem Permakultur-Zertifikatskurs an der österreichweit tätigen „Permakultur-Akademie im Alpenraum“. http://lustenau.permatop.at Regionale Schätze Johannes Heimrath lebt seit 35 Jahren in einer Lebensgemeinschaft, seit 1997 in Klein Jasedow/OstVorpommern, um einen Beitrag zum „Aufbau Ost“ zu leisten. Heimrath ist Herausgeber der Zeitschrift Oya, Autor, Gründungsmitglied zahlreicher Organisationen u.v.m. Buchtipp 8 Kultivierte Nachhaltigkeit Vielfalt von Tieren und Pflanzen einen wichtigen Lebensraum.“ Wichtigste Prinzipien der Permakultur sind minimaler Energieaufwand, keine Verwendung von Herbiziden, Insektiziden und Kunstdünger. So gibt es zum Beispiel keinen „Grünabfall“, der mit dem Auto weggeführt werden müsste. Blätter, Be schnitt, gerodete Brennnessel, alles wird wieder verwendet: als Strauchunterlage, Dünger oder Baumaterial. Johannes Heimrath Die Post-Kollaps-Gesellschaft. Wie wir mit viel weniger viel besser leben werden – und wie wir uns heute schon darauf vorbereiten können. SCORPIO Verlag Montafon Walgau Initiative zur Verbreitung des Montafoner Steinschafes Walgau-Wiesen-Wunder-Welt „Es wäre schade gewesen, wenn dieses kulturelle Erbe verloren gegangen wäre“, erklärt Martin Mathies. Wie sein Kollege Peter Kasper züchtet der St. Gallenkircher das Montafoner Steinschaf, das vor wenigen Jahrzehnten nur noch vereinzelt im Montafon vorkam und somit vom Aussterben bedroht war. Die beiden Züchter haben 23 Tiere dieser robusten und langlebigen Schafrasse und engagieren sich gemeinsam mit dem Stand Montafon für die „Initiative zur Verbreitung des Montafoner Steinschafes“. Damit wollen sie diese Schafrasse gezielt im Montafon ansiedeln und das Wissen über das Steinschaf bei den Landwirten, in der Gastronomie sowie innerhalb der Bevölkerung verbreiten. „Die alte Nutztierrasse zeichnet sich durch ihre glänzende Mischwolle und ihre hervorragende Fleischqualität aus“, so Mathies. Eine Zusammenarbeit mit der Landwirtschaftsschule Hohenems im Bereich Marketing ist bereits vereinbart. www.steinschaf.at Foto: Stand Montafon Unter dem Titel „Walgau-Wiesen-Wunder-Welt“ startete Apotheker Günter Stadler ein walgauweites Projekt, das die Bewirtschaftung ökologisch wertvoller Streu- und Mager wiesen in den Mittelpunkt stellt. Den Ursprung hat die Aktion im Projekt „Heugabel“ in Frastanz. Dort bewirtschaften die Landwirte derartige Flächen gemeinsam mit der Bevölkerung. „In diesem Projekt geht es um die Sensibilisierung der Menschen für den gesamten Lebens- und Naherholungsraum“, erklärt Günter Stadler. Manche dieser ökologisch wertvollen Biotope des Walgaus sind österreichweit einmalig. „Sie bieten eine unglaubliche Vielfalt an gefährdeten Pflanzen und Tieren. Hier setzt das ehrenamtlich getragene Projekt an“, so Stadler. Bis Ende 2013 soll die reichhaltige Natur des Walgaus in den „Räumlichen Ent wicklungskonzepten“ zusammengefasst und abgesichert sein. www.imwalgau.at Denkanstöße für ein nachhaltigeres Zusammenleben Foto: Andres Krähenbühl Eine Stadt auf Selbstfindung Broschüre von Vision Rheintal gibt praktische Hilfestellung im Planungsalltag. Foto: Nikolaus Walter Kein noch so tolles Öko-Plus-Energiehaus kommt ohne den Blick über die Grundstücksgrenze aus. Auf Quartiersebene kann eine Auseinandersetzung mit Themen, die über die eigenen vier Wände hinausgehen, die Nachhaltigkeit des Zusammen lebens bedeutend verbessern. Die Möglichkeiten sind vielfältig: Sie reichen von der Energie versorgung über Mikro-Nahwärmenetze, über das Nutzen von Synergien bei gemeinsamer Infrastruktur, Fragen des Ortsbildes und der Aufenthaltsqualität, der Identität und des sozialen Zusammenlebens bis hin zur Schaffung und Gestaltung von Grünräumen, der Nutzungsvielfalt und der Bürgerbeteiligung im Prozess und vieles mehr. Überaus spannende Themen, mit denen man sich jahrelang beschäftigen könnte. In der Praxis bleibt dafür aber meist nicht genug Zeit. Deshalb braucht es Instrumente, die helfen, sich mit der enkeltauglichen Quartiersentwicklung zu beschäftigen. Vision Rheintal hat gemeinsam mit dem Energie- institut Vorarlberg nach eingehender Be schäftigung mit diesem Thema in den vergangenen zwei Jahren zehn Denkanstöße formuliert und in einer Broschüre anregend aufbereitet. Sie sollen einerseits den Impuls geben, sich überhaupt mit dem Thema Quartier zu beschäftigen und andererseits Anregungen sowie einen Rahmen bieten für eine zukunftsfähige Quartiers betrachtung. Die Denkanstöße sind keine Kochrezepte, sondern eröffnen vielmehr einen Lösungsraum. Denk anstoß Nummer 8 heißt zum Beispiel „Synergien nutzen“. Was so selbstverständlich klingt, wird in der Praxis jedoch selten ausgereizt. Ist es etwa möglich, Abwärme aus einem Industriebetrieb für die Wohnraumheizung zu nutzen? Können Parkplätze von Bewohnern, Kinos, Betrieben oder Ärzten gemeinsam und damit effizienter genutzt werden? Oder ist es nicht sinnvoller, die Autos in einem gemeinsamen Carsharing-System allen im Quartier zur Verfügung zu stellen? Die Synergien werden in jedem Quartier anders aussehen, aber es gibt sie überall. Meist sind die Lösungen schon bekannt, das Rad muss nicht neu erfunden werden. Die Denkanstöße helfen aber die richtigen Ideen aufzuspüren und in einem strukturierten Rahmen zu diskutieren. Sie können als Leitfaden für eine Quartiersbetrachtung verwendet werden, die bei größeren Bauprojekten für die Wohnbauförderung vorgeschrieben ist, aber bei jedem Bauvorhaben Sinn macht. Erhältlich ist die Broschüre „10 Denkanstöße für eine enkeltaugliche Entwicklung“ über Vision Rheintal (www.vision-rheintal.at) und das Energieinstitut Vorarlberg (www.energieinstitut.at). Regionale Schätze Klostertal-Arlberg Großes Walsertal Passionsspiele Biosphärenparkfest 2012 regt zur Schatzsuche an Foto: Fritz Martin Die Idee für die „Passionsspiele Klostertal-Arlberg“ hatten zwei Bewohner der Region: Herbert Margreitter und Werner Barjak. Im Jahr 2000 stellten sie ihre Idee den Verantwortlichen aller Klostertal-Gemeinden und der Gemeinde Lech vor. Auf die Bühne kamen die Passionsspiele Klostertal-Arlberg erstmals 2003. Und ernteten großen Erfolg. In den Jahren 2007 und 2012 wurde das Volksschauspiel deshalb wiederholt. Über 500 Freiwillige aus diesen Regionen wirkten als Darsteller, im Chor, Organisationskomitee, bei Technik, Bühnenaufbau, als Helfer, Security, Kostümbilder mit. „Bisher lockten die Passionsspiele über 25.000 BesucherInnen aus Vorarlberg, Tirol, aus der Schweiz und dem süddeutschen Raum hier her“, erklärt Barbara Mathis vom Tourismusbüro Klösterle. www.passionsspiele2012.at 10 vorum 4/2012 Foto: Ramona Küng Am 17. November öffnete das Biosphärenparkfest im Geroldshus in St. Gerold einen Raum für die wertvollen Dinge im Tal. An diesem Abend gingen alle Besucher gemeinsam auf Suche: Was gelingt? Welche besonderen Menschen, Fähigkeiten, Geschichten und Orte gibt es? In Gesprächsrunden tauschten sie sich aus, wie die „Schätze im Tal“ sichtbar gemacht werden können und was jeder dazu beitragen kann. Das Thema und den Ablauf des Abends erarbeiteten sechs Bewohner aus St. Gerold zuvor in regelmäßigen Treffen. „Dieser Abend war ein kleines Wagnis. Die positiven Rückmeldungen haben uns umso mehr gefreut“ erklärt Ruth Moser vom Organisationsteam. Ob es 2013 wieder ein solches Fest gibt, ist noch offen, „aber die ‚partizipative Arbeitsweise‘ war gut und die Gruppe ist motiviert“, verrät Moser. Die Schließung einer Fabrik Mitte der 80er Jahre stürzte Rorschach in eine tiefe Krise. Jahrzehnte lang war die einst blühende Industrie-Kleinstadt am Schweizer Bodenseeufer von Abwanderung und Zerfall betroffen. Um eine begonnene Trendwende voranzutreiben, startete eine Handvoll kreativer Menschen das Projekt „Stadt als Bühne“. Sie begaben sich gemeinsam mit den Rorschachern auf „Schatzsuche“, um die eigene Identität wieder zu finden. „Bim-bam“ läutet das Glockenwerk des Jakobsbrunnens in Rorschach. „Die Glöckner haben Winterpause, deshalb wird das Werk derzeit von Maschinen betrieben“, erklärt die Rorschacherin Barbara Camenzind. Sonst versetzen 17 Frauen und Männer die Glocken händisch ins Schwingen. Täglich jeweils um 11 und 18 Uhr. Das war nicht immer so. Erst, seit das Glockenwerk des Jakobsbrunnens ganz offiziell als „Schatz“ gilt, gibt es wieder „echte“ Glöckner. Barbara Camenzind ist Schatzsucherin. Damit bekleidet sie ein öffentliches Amt, für das sich Rorschach für jeweils ein Jahr einen städtischen Angestellten leistet. „Ich habe den Auftrag bekommen, immaterielle Schätze zu finden, also Menschen mit zündenden Ideen oder besonderen Talenten“, beschreibt die quirlige 37-Jährige ihr Jobprofil. Ihr Vorgänger Richard Lehner hob materielle Schätze. Besondere Gebäude, Plätze oder Objekte, wie das Glockenwerk des Jakobsbrunnens. Gelotst wurde er dabei von den Einheimischen, die ihm in persönlichen Gesprächen ihre Lieblingsorte in der Stadt verrieten. Auf sachdienliche Hinweise aus der Bevölkerung ist auch Barbara Camenzind aus. „Wie ein Detektiv fahnde ich nach besonderen Geschichten, die die Menschen mit ‚ihrer‘ Stadt verbinden.“ Da ist etwa der über 90-jährige Willi Kern, ehemaliger Lokführer und Tambour-Spieler. Er war lange Präsident der Rorschacher Stadtharmonie „Eintracht“. Dort gab er seine Leidenschaft fürs Trommeln jüngeren Generationen weiter. Als offizieller „Schatz“ wird er den Rorschachern im Gedächtnis bleiben. Denn alle Schätze – materielle wie immaterielle – werden in der Rorschacher Schatzkarte eingetragen. Zurückgebliebenen zu schaffen. Kaum jemand wohnte hier, dem die Stadt noch lebenswert schien – wirtschaftlich wie emotional. Rorschach war für die Initiatoren quasi Forschungsgegenstand für angewandte Sozialwissenschaft. Gemeinsam mit insgesamt 500 Studierenden des Fachbereichs Soziale Arbeit an der Fachhochschule St. Gallen haben sie Rorschach vier Jahre lang zur Bühne gemacht. Mit zahlreichen Aktionen animierten sie die Bevölkerung alle sechs Monate, wieder die Schönheiten und Qualitäten ihres Wohnortes wahrzunehmen. Die Studierenden mimten beispielsweise „Butler“, herausgeputzt mit weißem Hemd, Handschuhen und Fliege. So holten sie Passanten an einem kalten Novembertag als Schuhputzer, Vorleser, Komplimente-Verteiler, Handföhner, Türaufhalter, Musikanten, KaffeeServierer oder Grüßer aus ihrer Alltagsroutine heraus. In einer Frühlingsaktion platzierte die Gruppe hundert Liegestühle auf dem Hafenplatz. Ganz ungezwungen ließen sich die Menschen darauf nieder und hielten Siesta, mitten im öffentlichen Raum, am helllichten Tag. Raus aus der Depression Das Projekt trägt nachhaltig Früchte. Die Stimmung in der Stadt hat sich positiv verändert. Barbara Camenzind ist auch nach Abschluss des Projekts weiterhin als Schatzsucherin aktiv. Zusammen mit ihrem Vorgänger und Kollegen Richard Lehner führt sie das Büro Schatzsucher auf eigenständiger Basis weiter und spürt weiterhin Schätze auf. „Mittlerweile kennen uns die Leute und reagieren nach anfänglicher Skepsis durchwegs postiv auf uns“, erklärt Camenzind. Ihre Arbeit geht inzwischen über die Schatzsuche und Erstellung der Rorschacher „Schatzkarte“ hinaus. Sie ist selbst Teil davon. Als Engel bei der Engelapotheke referiert sie über das Schöne der Stadt. Die Schatzsuche in Rorschach war Teil des Projekts „Stadt als Bühne“, das von 2005 bis 2009 lief. Initiiert haben es Mark Riklin und Selina Ingold, Lehrbeauftragte an der Fachhochschule St. Gallen. Ihr Ziel war es, Rorschach und seine Bewohner aus einer jahrzehntelangen Depression zu führen. Die Schließung der Feldmühle-Fabrik vor dreißig Jahren, der folgende Verfall und eine Abwanderungsquote von vierzig Prozent machten den Auf Grundlage der Schatzkarte bieten die beiden Schatzsucher über die Tourismusbehörde mittlerweile Stadtführungen an. Die Karte ist auch als App geplant. Damit kann man Rorschach auf eine ganz persönliche Weise kennenlernen und sich auf den Spuren und Geschichten ihrer Einwohner auf Entdeckungsreise begeben. Und auch dem Referat des Engels lauschen. Foto: Lea Müller Inzwischen gibt es auch Nachfolgeprojekte in anderen Städten, deren Geschichten aber völlig andere sein werden. Das Ziel bleibt hingegen dasselbe: die positive Wahrnehmung des eigenen Umfelds, Bewusstseinsbildung und Stärkung der Identität in der Bevölkerung. Foto: Wolfgang Alberty Buchtipp Mark Riklin & Selina Ingold: Stadt als Bühne. Szenische Eingriffe in einen Stadtkörper. Schwanverlag 2010. www.stadt-als-buehne.ch Buchtipp P.M.: Neustart Schweiz – so geht es weiter. Edition Zeitpunkt, 2010. Wohlstand durch multifunktionale Nachbarschaften Die Ziele der 2000-Watt-Gesellschaft übertrumpfen und trotzdem wie in einem Viersterne-Hotel leben. Dieses Ziel hat sich der Verein „Neustart Schweiz“ auf die Fahne geschrieben. Das multifunktionale Nachbarschafts-Modell, das der Verein Neustart Schweiz vorschlägt, soll das Leben lokaler, synergetischer und gemeinschaftlicher machen. Dadurch mehr Lebens qualität bringen und gleichzeitig die 2000-WattGesellschaft unterbieten. Was wie ein utopischer Traum klingt, ist bereits in Ansätzen vorhanden und wird konkret in Bauprojekten umgesetzt. von 3.800 Quadratmetern, bietet ein spannendes Straßenleben an ihren Rändern und vielfältige Nutzungen im Erdgeschoss. Eine NeustartNachbarschaft kann auf eine eigene Versorgung mit in der näheren Umgebung erzeugten Lebensmitteln zurückgreifen (Vertrags landwirtschaft). Damit hat sie ein großes Lebensmitteldepot mit kostengünstigen Lebensmitteln, eine Großküche, Einzelperson zwei Quadratmeter weg, entstehen insgesamt 1.000 Quadratmeter gemeinschaftlich nutzbare Fläche. Ein Lebensmittellager, das durchgängig geöffnet ist, und die professionell geleitete Großküche und Restaurants, die jedem zur Verfügung stehen, gehören da zur Grundausstattung. Der Phantasie sind aber fast keine Grenzen gesetzt. copyright: Neustart Schweiz Auf dem ehemaligen Flugplatz im zürcherischen Dübendorf hätte es Platz für rund 20 Nachbarschaften und gleich anschließend daran landwirtschaftliche Betriebe, die einen Großteil der Versorgung der rund 10.000 Menschen übernehmen könnten. Die Baugenossenschaft NENA1 möchte das ehemalige Kasernenareal in Zürich in die NeustartSiedlungen UNA und ALTRA verwandeln. In einer typischen Neustart-Nachbarschaft leben 500 Menschen in achtstöckigen Randbebauungen. So bleibt in der Mitte ein großzügiger Park von fast 4.000 Quadratmetern. Die Zürcher Stimmbevölkerung hat vor vier Jahren mit einem überwältigenden Mehr von über 76 Prozent beschlossen, dass die Stadt Zürich bis 2050 die Ziele der 2000-Watt-Gesellschaft verwirklichen soll. Ein hehres Ziel. Umfassende Berechnungen, welche die graue Energie von Importgütern berücksichtigt, gehen von einem Verbrauch von über 8000 Watt pro SchweizerInnen aus. Die Zürcher StadtbewohnerInnen haben also ein gutes Stück Arbeit vor sich, wenn sie ihr Ziel verwirklichen wollen. Und sie müssen sich gegen politische Kräfte wehren, die behaupten, eine Reduktion des Energieverbrauchs sei nur unter Verzicht auf die schönen Dinge im Leben möglich. Der Verein Neustart Schweiz setzt diesem Irrglauben ein Gegenmodell entgegen, das deutlich aufzeigt, dass die Lebensqualität bei sinkendem Energieverbrauch sogar steigt, wenn wir uns entsprechend organisieren. Restaurants mit Take-Away, Bars, Bibliothek, Secondhand-Depot, Reparaturservice, Wäscherei, Gästehaus, Schwimmbad, Geräteverleih, Kinderparadies und vieles mehr. All dies wird machbar und bezahlbar, wenn alle BewohnerInnen einen Freiwilligen-Einsatz von rund vier Stunden pro Monat leisten. Sie sparen dafür ein Mehrfaches an privater Hausarbeit, haben vielfältige soziale Kontakte und leben günstiger. Zugleich schaffen sie eine Lebensweise, die weniger abhängig ist von wirtschaftlichen Schwankungen, keinem „Wachstumszwang“ unterliegt und global nachhaltig ist. Selbst verständlich sehen Nach barschaften überall wieder anders aus, je nach Siedlungsstruktur, kulturellen Vorlieben und vorhandenen Ressourcen. Die Vielfalt entsteht aus den Bedürfnissen der BewohnerInnen heraus und macht ihre Stärke und Krisenfestigkeit aus. Nachbarschaften im Bau Gemeinschaftliche Infrastruktur Nach Hause ins Vierstern-Hotel Eine typische Neustart-Siedlung wird nicht neu gebaut, sondern erweitert durch häuserübergreifenden Umbau der bereits vorhandenen Bausubstanz. Im Idealfall wohnen auf einem Hektar rund 500 Menschen in achtgeschossigen, kompakten Gebäuden. Trotz dieser verdichteten Bauweise erlaubt eine sogenannte Hofrand bebauung einen ruhigen Innenhof im Ausmaß Weitere Infos: www.neustartschweiz.ch Überall gleich bleibt die Energieersparnis durch die nahe Lebensmittelversorgung und durch Gemeingüter und gemeinsame und dadurch energiearme Verwendung von Teilen der Infrastruktur. So haben die meisten der individuell gestalteten Wohnungen innerhalb einer Neustart-Nachbarschaft nur einen kleinen Kühlschrank und wenige Küchenelemente und vieleicht keine Badewanne. Nimmt man so jeder www.kraftwerk1.ch In Ansätzen sind die Vorstellungen von Neustart Schweiz bereits realisiert. Die Zürcher Wohngenossenschaften Kraftwerk 1 & 2 beinhalten für über 300 Menschen bereits ein hohes Maß an Selbstverwaltung sowie eine attraktive Infra struktur. Im Bau befindet sich momentan die Genossenschafts-Siedlung „mehralswohnen“ mit 400 Wohnungen, die sich als Innovationsplattform für den gemeinnützigen Wohnungsbau versteht und weite Teile des Neustart-Konzepts übernimmt. Ebenfalls in Zürich hat sich vor kurzem die Bau- und Wohngenossenschaft NENA 1 (Neustart-Nachbarschaft 1) gegründet. Auch in Basel und Luzern sind Neustart-Bauvorhaben geplant. Neustart Schweiz ist in Zusammenarbeit mit der Fachhochschule Nordwestschweiz, zudem mit fünf Quartieren, Gemeinden und Regionen im Gespräch. In den nächsten Jahren werden also verschiedene Versionen von Neustart-Nachbarschaften real anfass- und erlebbar sein und das Konzept dadurch noch mehr Dynamik erhalten. Wir freuen uns darauf ! www.mehralswohnen.ch Raffael Wüthrich ist Vorstandsmitglied des Projekts „Neustart Schweiz“. www.nena1.ch