Giftgas auf Halabja

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Giftgas auf Halabja
6 | Politik
Sonnabend/Sonntag, 16./17. März 2013 | u neues deutschland
*
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Giftgas auf Halabja
Vor 25 Jahren starben im kurdischen Nordirak Tausende
Zivilisten an Sarin und Senfgas – die Welt schwieg
Von Roland Etzel
Heute vor 25 Jahren verübte die irakische Luftwaffe einen Giftgas-Angriff
auf Halabja, eine Stadt auf irakischem
Staatsgebiet in Kurdistan. Tausende
Zivilisten starben – und doch wollte
außerhalb Kurdistans lange Zeit niemand davon Kenntnis nehmen. Das
Verbrechen und der Umgang damit
wirken bis heute nach.
Am 16. März 1988 vormittags bewegten sich eine Staffel Kampfjets
der irakischen Luftwaffe von Süden her in Richtung Halabja. Wenige Kilometer hinter der Stadt in
Irakisch-Kurdistan liegt die Grenze
zu Iran, und so mögen die Einwohner das Dröhnen in der Luft
nicht als unmittelbare Gefahr für
sich, sondern als »Feindflug« angesehen haben. Schließlich befand
man sich im irakisch-iranischen
Krieg, der schon im achten Jahr
tobte. Doch die Flugzeuge klinkten
ihre Last über Halabja aus: Granaten, die bei ihrer Explosion Giftgase wie Sarin, Senfgas und Tabun
freisetzten.
Mindestens
3000
Menschen sollen sofort gestorben
sein, innerhalb von zwölf Monaten
verdoppelte sich die Zahl; überlebende, aber dauergeschädigte
Einwohner gab es noch mehr.
Es war nicht der erste Gaseinsatz Iraks in diesem Krieg. Fronteinsätze sollen noch weit mehr
Opfer unter iranischen Soldaten
gefordert haben als in Halabja.
Doch beide Seiten hatten kein Interesse, das zu veröffentlichen:
Bagdad nicht, weil es völkerrechtlich geächtete Waffe einsetzte; und
auch Teheran nicht, weil es bei
Veröffentlichung hoher Zahlen an
eigenen Opfern um die Kampfmoral der Truppe fürchtete.
Warum aber dieses Massaker
auf eigenem Territorium? Viel
deutete auf einen Racheakt der –
durchweg arabischstämmigen –
irakischen Führung unter Präsident Saddam Hussein hin. Die den
Kurden unter Präsident Hassan alBakr zeitweise zugestandenen
Rechte auf Teilautonomie waren
unter Kriegsfürst Saddam Hussein
längst passé, und so hatten kurdische Milizen der Region in der trügerischen Hoffnung auf Belohnung
im Falle eines iranischen Kriegsgewinns den Truppen Teherans
gewisse Dienste geleistet.
Von
einer
tatsächlichen
Kriegsteilnahme der Kurden im
Norden Iraks für die andere Seite –
wie es umgekehrt die iranischen
Volksmujahedin für Saddam taten
– kann indes keine Rede sein. Nicht
einmal die irakische Propaganda
versuchte, eine darauf fußende
Rechtfertigung ins Feld zu führen.
Nein, zunächst verschwieg Bagdad
das Verbrechen und wollte es nach
einigen Wochen sogar Iran in die
Schuhe schieben.
Und hier zeigt sich der weit
über die unmittelbaren Kriegsteilnehmer hinausreichende Aspekt
des Verbrechens. In dem Moment,
da Saddam Hussein auf Iran als
Schuldigen zeigte, entdeckten urplötzlich auch die USA, dass hier
»eine abscheuliche und durch
nichts zu rechtfertigende Tat« geschehen sei, wie es Außenminister
George Shultz am 9. September
1988 sagte. Die USA, nach dem
Sturz des Schahs 1979, ihrem
Hauptverbündeten in der Region,
schmachvoll aus Iran hinausgeflogen und und gedemütigt durch eine 14-monatige Besetzung ihrer
Teheraner Botschaft durch
iranische
Revolutionsgarden, hatten Saddam Hussein
daraufhin 1980 grünes Licht
für einen Angriff auf Iran gegeben. Westeuropa verhielt
sich dem konform. Iran war
– wie heute – im Westen dämonisiert und hatte von dort
keinerlei neutrale Haltung,
geschweige denn Unterstützung zu gewärtigen. Entsprechend gleichgültig verhielten sich die westlichen
Staaten, auch wenn es sich
um ein offenbar von irakischer Seite verübtes Verbrechen handelte, wie sich trotz
der Bagdader Lügen sehr
bald herausstellte.
Den Kurden half das freilich
wenig. Ob auf irakischem, iranischem, syrischem oder türkischem
Staatsgebiet – ihr Streben nach
Selbstbestimmung wurde und wird
überall bekämpft, am gnadenlosesten bis heute in der Türkei. Und
so nimmt es nicht wunder, dass
trotz aller erbitterten Rivalität untereinander weder Irak noch Iran,
Syrien oder die Türkei Interesse
zeigten, das Verbrechen auch nur
beim Namen zu nennen, denn damit hätte man ungewollt auf die
ungelöste kurdische Frage aufmerksam gemacht.
Eine Kurdin trauert um einen damals in Halabja getöteten Verwandten.
Es blieb international auch
deshalb ein beschwiegenes Massaker, weil die sozialistischen
Saaten ebenfalls keine Hand rührten. Die Sowjetunion hatte Saddam Hussein hochgerüstet und
lieferte auch während der acht
Jahre Krieg gegen Iran 1980-88
weiter Waffen. Folglich schwieg sie
zum Halabja-Verbrechen der Iraker, obwohl die Giftgas-Komponenten nicht von ihr geliefert wurden, sondern aus Westeuropa
stammten.
Die DDR verhielt sich ähnlich.
Ohnehin hatte sie schon den gesamten Krieg publizistisch nahezu
ignoriert; besser gesagt: die Agitationskommission des ZK der SED
hatte alle Medien verdonnert, lediglich von ihr selbst herausgegebene nichtssagende Fünfzeiler
über den Krieg und damit auch
über Halabja zu veröffentlichen,
und jeglichen eigenen Kommentar
untersagt. Nichts anderes galt für
den Kurdistankonflikt.
Gebrandmarkt wurde das Verbrechen von Halabja deshalb lange
Zeit fast ausschließlich von linken
Parteien in Westeuropa und ihnen
nahen Medien. 17 Jahre mussten
vergehen, ehe zwei Golfkriege
später Verantwortliche für den
Massenmord von Halabja zur Rechenschaft gezogen wurden. Einige der in Irak Verantwortlichen –
inzwischen infolge der US-Invasion gestürzt – wurden hingerichtet,
und zwar recht schnell. Durchaus
absichtsvoll versäumte man, zuvor
die Verstrickungen westlicher Regierungen aufzuklären.
Der Internationale Strafgerichtshof wurde 2005 aktiv und
verurteilte einen vergleichsweise
kleinen Fisch: Der Niederländer
Frans van Anraat hatte in den 80er Jahren Chemikalien für die Produktion von Giftgas nach Irak geliefert und wurde dafür in Den
Haag zu 17 Jahren Haft verurteilt.
Nachgewiesen sind aber auch
Verstrickungen deutscher Unternehmen. Laut der UN-Untersuchungskommission
UNSCOM
stammen sogar 70 Prozent der
Giftgasanlagen Iraks von bundes-
Foto: AFP/Safin Hamed
deutschen Firmen. Ein Vierteljahr
nach Halabja holte sich übrigens
die irakische Regierung in Bonn
einen neuen Hermes-Kredit über
300 Millionen DM ab.
Die Kurden in Irak haben aus
alledem offenbar die Lehre gezogen, sich mit keiner der regionalen
Mächte einzulassen, sondern einzig auf das Wohlwollen der USA zu
setzen, auf deren dauerhaften
Einfluss in Bagdad sie vertrauen.
Beim derzeitigen Machtkampf
zwischen Schiiten und Sunniten in
Irak haben die Kurden ihre inzwischen errungene Autonomie bewahrt, bis jetzt.
***
Der Deutsche Bundestag hat am
Donnerstag der Opfer von Halabja
gedacht. Er äußerte »sein tiefes
Bedauern darüber, dass die Verbrechen in Halabja mit Giftgas
verübt wurden, dessen Herstellung
mit illegalen Lieferungen deutscher Firmen ermöglicht wurde«.
nd-Karte: W. Wegener
»My Lai« rüttelte die USA-Bevölkerung wach
Das Massaker von Son My, das sich heute zum 45. Mal jährt, wurde zum Signal für die Friedensbewegung
Von Max Böhnel, New York
1969 war es, als Bilder und Berichte
vom Massaker in »My Lai« bewiesen,
dass die Friedensbewegung in den
USA Recht hatte. Sie trugen zu einem
Stimmungsumschwung in der Bevölkerung des Landes bei.
Am Morgen des 16. März 1968
trieben Soldaten unter dem Kommando Leutnant William Calleys
die Bevölkerung des südvietnamesischen Dorfes Son My zusammen.
Auf den Karten der 11. Infanteriebrigade der USA-Armee waren die
Weiler der Gemeinde unter dem
Namen My Lai verzeichnet und
nummeriert – von My Lai 1 bis My
Lai 6. Was später als das »Massaker von My Lai« in die Geschichte
eingehen sollte, geschah in My Lai
4 und My Lai 2: 504 unbewaffnete
Zivilisten, Frauen, Kinder, Jugendliche und Greise, wurden von
Calleys Leuten niedergemetzelt,
mit Sturmgewehren, Granaten,
Bajonetten.
Es war nur eine von zahlreichen Search-and-Destroy-Operationen, durch »Aufspüren und
Vernichten« des »Vietcong« –
Kurzwort
für
vietnamesische
Kommunisten – wollten die USA
den Krieg gewinnen. Es gab in
diesem Krieg weitere, vielleicht
noch schlimmere einzelne Verbrechen. Aber die Bilder und Berichte
von Son My-My Lai, die später in
die Öffentlichkeit gerieten, wurden
für die bis dahin gutgläubigen USAmerikaner zum ersten Schockerlebnis. Sie bestätigten die Kritik
der noch jungen und vom Mainstream nicht ernst genommenen
Friedensbewegung. Für die linke
Radiojournalistin Amy Goodman
stellt My Lai einen »Wendepunkt in
der Wahrnehmung des Vietnamkriegs in der Öffentlichkeit« dar.
Wie bei vielen anderen Militäreinsätzen in Vietnam war auch in
My Lai ein Armeefotograf dabei.
Der damals 28-jährige Ronald
Haeberle
machte
Bilder
in
Schwarz-Weiß mit einer Armeekamera und weitere in Farbe mit
seiner eigenen. Die Fotos mit Aufnahmen von unverfänglichen Szenen gab er als Dokumente an seine
Armee-Oberen weiter. Die Farbbilder, die die verstümmelten Op-
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In tiefer Trauer nehmen wir Abschied von
Prof. Dr. Karl-Heinz Schöneburg
1928 – 2013
Besonders sein Wirken am Zentralen Runden Tisch, im Verfassungsausschuss des Landtages Brandenburg und im Verfassungsgericht des Landes
Brandenburg werden unvergessen bleiben.
Stefan Ludwig
Christian Görke
Landesvorsitzender
Vorsitzender der Fraktion
DIE LINKE. Brandenburg
DIE LINKE. im Landtag Brandenburg
16. März 1968: Calleys Leute wüten in Son My.
Foto: Ronald L. Haeberle
fer zeigten, behielt er für sich. Die die Hintergründe des Calley-VerBeweisstücke wären »sonst von fahrens publizieren konnte, wurde
der Armee zerstört worden«, sagte das Verbrechen bekannt. Ronald
Haeberle später aus. Er hielt da- Haeberles Farbfotos gingen durch
rauf Momente fest von zu Tode er- die Presse und belegten auf ihre
schrockenen Dorfbewohnern,
kurzRichter,
eigene
Regina Girod Herr
wasWeise
spricht und
er? unwiderlegbar
bevor Soldaten Ernst
sie hinrichteten,
den
grausamen
Antoni Da hilft der
Nazi
gerne Massenmord.
und von Leichen. Harald Munding AbschiedDas
Ausmaß des Massakers
vom Raketenpionier?
Es dauerte jedoch mehr als ein eröffnete eine Debatte über die bis
Peter C. Walther Einblicke in die VS-Praxis
Jahr, bis das Massaker in der USA- dahin sakrosankte USA-Armee.
Hans
Canjé »Das ist eben
eine Waffe«
Öffentlichkeit
wahrgenommen
Erwiesenermaßen
hatten sich bis
Janka
Kluge
Vernichtung
als
Programm
wurde. Ein Soldat, der selbst nicht zu 100
einfache Soldaten an der
Felix Pithan
in Magdeburg
daran teilgenommen
hatte, Teilerfolg
hörte Metzelei
beteiligt. Doch nur Leutvon mehreren Kompanieangehönant
Calley wurde zunächst zu leBea Trampenau Heideruh
gewürdigt
rigen von dem Geschehen
am 16.
benslanger
Haft
– und
Ulrich Schneider
Was hat
1933 mit uns
zu verurteilt
tun?
März 1968 und schrieb
empört ei- L’enfer
einenc’est
Tag
nach dem Urteil zu
Martin Schirdewan
les autres
nen Brief an Washingtoner
Hausarrest
begnadigt.
Den musste
Jürgen WeberPolitiBis der letzte
nicht mehr
lebt
ker. Gegen Zugführer Leutnant er ganze dreieinhalb Jahre »absitHans Canjé Unterm ungetrübten Himmel
Calley wurde auf dieser Grundlage zen«. Große Teile der anwachsenPeter Scherer
ausgelöscht
ein Verfahren eingeleitet.
ErstUmgedreht
als denund
Friedensbewegung
in den USA
P.C.Walther
Naziduldung
hat
Tradition
der Journalist Seymour Hersh betrachteten die Verurteilung CalThomas
Willms Verheißungen
Biologie
nach zahlreichen
vergeblichen
leys zuder
recht
als Manöver zur AbVersuchen im November
1969
– lenkung
von der offiziellen MilitärHeinrich Fink
Anfänge
und Abbrüche
sechzehn MonateTerra
nachRomero
dem Masder USA. Denn nicht zuletzt
Tarantinopolitik
Nazi-Zombies
saker – endlich einen
Artikel
Heinrich
Fink über
Ein Mordgingen
an der sämtliche
Kultur Vorgesetzte Cal-
Reinhold Weismann-Kieser Die Schrecken des Krieges
leys, die die Befehle zum Ausradieren von Ortschaften möglicher
Vietcong-Sympathisanten gegeben
hatten, straffrei aus.
Der Vietnamkriegsteilnehmer
und spätere Filmemacher Oliver
Stone sagte über das ungesühnte
Kriegsverbrechen My Lai, es habe
sich um einen »Zusammenbruch
innerhalb der Division und innerhalb der Führungsetage« gehandelt. Die Washingtoner Kriegspolitik habe aus der »Zählung von
gegnerischen
Leichen
(»body
count« genannt), Tötungsquoten,
Search-and-Destroy
und
zum
Feuer freigegebenen Zonen« bestanden. Der friedenspolitisch engagierte bekannte Psychiater Robert Jay Lifton sagte, My Lai sei typisch für die amerikanische
Kriegsführung in Vietnam gewesen
und nicht etwa eine Ausnahme,
verantwortet von durchgeknallten,
A
N
Z
E
I
G
ungebildeten Soldaten, wie das im
Mainstream dargestellt wurde.
Ein Bild des Fotografen Haeberle, das zusammengeschossene
Dorfbewohner, darunter Kleinkinder, zeigt, wurde seit der ersten
Veröffentlichung im Winter 1969
zum meistbeachteten Mobilisierungsplakat der USA-Friedensbewegung: Leichen liegen auf einem
Feldweg zwischen Reisfeldern.
Darüber steht in großen Lettern
»And Babies?«, darunter die Antwort »And Babies«. Die Worte geben Ausschnitte eines Fernsehinterviews mit einem USA-Soldaten
wieder, der sich an dem Massaker
beteiligt hatte. »Ich habe zehn oder
fünfzehn von ihnen umgebracht«,
sagte er. Der Interviewer fragte
weiter: »Männer, Frauen und Kinder?« Antwort: »Männer, Frauen
und Kinder.« Weitere Frage: »Und
Babys?« – »Und Babys.«
E
Magazin für antifaschistische Politik und
Kultur. Herausgegeben von der VVN-BdA
Beiträge im März/ April 2013:
Harald Munding Abschied vom Raketenpionier?
Hans Canjé »Das ist eben eine Waffe«
Felix Pithan Teilerfolg in Magdeburg
Bea Trampenau Heideruh gewürdigt
Ulrich Schneider Was hat 1933 mit uns zu tun?
Terra Romero Tarantino Nazi-Zombies
R. Weismann-Kieser Die Schrecken des Krieges
Rainer Komers Acht - Zwei - Vier
Gerald Netzl Der Peršmanhof
antifa erscheint alle zwei Monate, Preis € 2,50, ermäßigt für Schüler,
Azubis und Studenten (Nachweis) € 1,25, Jahresabo € 15,00 bzw. €
7,50, internet www.vvn-bda.de, Telefon: 030-29 78 41 75, Fax: 03029 78 41 79, Redaktion: Franz-Mehring-Platz 1, 10243 Berlin