Winfried Heinemann: Die DDR und ihr Militär

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Winfried Heinemann: Die DDR und ihr Militär
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Christian Th. Müller: Rezension von: Winfried Heinemann: Die DDR
und ihr Militär, München: Oldenbourg 2011, in sehepunkte 12
(2012), Nr. 1 [15.01.2012],
URL:http://www.sehepunkte.de/2012/01/20534.html
First published: http://www.sehepunkte.de/2012/01/20534.html
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sehepunkte 12 (2012), Nr. 1
Winfried Heinemann: Die DDR und ihr Militär
Die vom Militärgeschichtlichen Forschungsamt herausgegebene Reihe
"Militärgeschichte kompakt" setzt sich zur Aufgabe, ein breites Publikum
"wissenschaftlich basiert und leicht fasslich, möglichst kurz und
prägnant" (7) mit den Ergebnissen der neueren militärgeschichtlichen
Forschung bekannt zu machen. Die Bände sind als Studienbücher für
Studierende und die interessierte Öffentlichkeit konzipiert. Die
inhaltliche Darstellung wird daher professionell mit Grafiken, Karten und
Quellentexten kombiniert. Nach Beatrice Heusers "Clausewitz lesen!"
und Jürgen Försters "Die Wehrmacht im NS-Staat" hat Winfried
Heinemann nun den dritten Band der Reihe vorgelegt.
Heinemann hat sich nicht weniger vorgenommen, als vierzig Jahre DDRMilitärgeschichte in ihren politischen, strategischen, gesellschaftlichen
und ökonomischen Dimensionen auf 200 Textseiten ebenso kompakt wie
fundiert darzustellen. Am Beginn dieses "Rundumschlags" steht die
Betrachtung des Forschungsstands, der Quellenlage und der weiteren
Forschungsperspektiven. Es folgt in einer Epochenübersicht ein erster
grober Überblick über die Entwicklung der ostdeutschen Streitkräfte von
den Vorläuferorganisationen der NVA bis zur friedlichen Revolution
1989/90.
In den folgenden fünf Kapiteln werden dann einzelne Themenkomplexe
eingehender thematisiert. Das Kapitel "Streitkräfte, Politik und
Gesellschaft" beleuchtet die Rolle von Militär und Militarisierung in der
"durchherrschten Gesellschaft" der DDR, die Stellung von SED und
Staatssicherheit in den Streitkräften, deren Traditions- und Feindbilder
sowie die Formen oppositionellen Verhaltens. Das vierte Kapitel gibt
einen soliden Überblick über die Strukturentwicklung der NVA und ihrer
Integration in den Warschauer Vertrag. Im Anschluss daran wird auf die
Rekrutierung des Personals sowie auf die Ausbildung und Qualifikation
des Unteroffizier- und Offizierkorps eingegangen. Innovative Züge tragen
Heinemanns Betrachtungen über die ökonomischen Implikationen des
"Systems der Landesverteidigung", die mit einer Diskussion der
methodischen Probleme bei der Ermittlung der Verteidigungsausgaben
im engeren und im weiteren Sinne eingeleitet werden, um dann den
Bogen von der DDR-Rüstungswirtschaft über die Rüstungskooperation im
Warschauer Vertrag bis hin zum Einsatz von Soldaten als billigen
Arbeitskräften in der Volkswirtschaft zu schlagen. Das siebte und letzte
Kapitel des Bandes bietet schließlich eine konzise Darstellung des
militärischen Denkens in der NVA und der operativen Planungen im
Rahmen des Warschauer Vertrages sowie der Aktivitäten des DDRMilitärs in der Dritten Welt und während der Intrablockkrisen der Jahre
1968 und 1980/81.
Heinemann referiert in einer gut lesbaren Darstellung routiniert den
aktuellen Forschungsstand zur Militärgeschichte des zweiten deutschen
Staates. Sein Urteil ist zumeist sachlich und differenziert. Neben
Missständen und Problemen werden auch Stärken der NVA etwa in den
Bereichen Ausbildungsstand und militärischer Infrastruktur explizit
angesprochen. Alles in allem wird dadurch der Anspruch einer
kompakten Gesamtdarstellung auf der Höhe des aktuellen
Forschungsstandes eingelöst.
Bei näherer Betrachtung werden jedoch vermeidbare Schwächen
deutlich. Nicht in jedem Fall sind die dem Leser an die Hand gegebenen
Informationen auch zuverlässig. Dass das 1970 durchgeführte Manöver
"Waffenbrüderschaft" ebenso beharrlich wie inkorrekt - wohl in
Anlehnung an die zehn Jahre später stattfindende Neuauflage
"Waffenbrüderschaft 80" - gleich mehrfach als "Waffenbrüderschaft
70" (48) bezeichnet wird, mag noch als marginale Ungenauigkeit
erscheinen. Regelrechte Fehler finden sich dagegen in Heinemanns
Ausführungen zur Ausrüstung der NVA. So wird im Hinblick auf die
Gefechtsfahrzeuge der Mot. Schützen mitgeteilt, dass sich der
Schützenpanzer BMP-1 in den 1970er Jahren gegen die
Schützenpanzerwagen BTR-60 und BTR-70 "als das
Standardwaffensystem der Mot.-Schützenverbände [...] durchgesetzt"
hätte (109). Tatsächlich blieben bis 1989 zwei Drittel der Mot.
Schützenregimenter in den Mot. Schützendivisionen weiterhin mit den
genannten Achtrad-Schützenpanzerwagen ausgestattet. Zumindest
irreführend ist die Angabe, die beiden in den 1980er Jahren aufgestellten
Kampfhubschraubergeschwader seien mit dem Hubschrauber Mi-8
ausgestattet gewesen (109), während der hier prägende
Kampfhubschrauber Mi-24 gar nicht erwähnt wird.
Bemerkenswert oft bewegt sich der Autor auch im Ungefähren, so bei
der Feststellung, dass die zwei bereitgestellten NVA-Divisionen
"vermutlich" aus "allein militärfachliche(n) Überlegungen" (191) 1968
nicht an der Niederschlagung des "Prager Frühlings" teilgenommen
hätten. Angesichts der nahe liegenden politischen Überlegungen hätte
man darüber gern Genaueres erfahren. Wie zuverlässig Heinemanns
Kausalschlussfolgerungen mitunter sind, zeigt seine Annahme, dass die
Öffnung militärischer Laufbahnen für Frauen "vermutlich [...] mit der in
den Achtzigerjahren nachlassenden Bereitschaft der jungen Männer, sich
für den Dienst bei der Fahne zu verpflichten" (86) zusammenhänge.
Interessanterweise nahm diese - zum Teil mit an Nötigung grenzenden
Werbemethoden erzielte - Bereitschaft zum Dienst als Berufs- oder
Zeitsoldat gerade in den 1980er Jahren de facto jedoch zu und erreichte
1989 mit 36,2 % der tauglich gemusterten Wehrpflichtigen sogar ihr
Allzeithoch. [ 1 ] Stattdessen war es der demographische Wandel und
damit verbunden die gesunkene Zahl der Wehrpflichtigen pro
Musterungsjahrgang, der die Einbeziehung der weiblichen Bevölkerung
als probates Mittel zur Deckung des Bedarfs an Längerdienenden
erscheinen ließ.
Hinzu kommen wiederholt Passagen mit sprachlichen und
argumentativen Unschärfen, von denen hier lediglich zwei beispielhaft
vorgestellt werden sollen. Zum Thema Musterung schreibt Heinemann:
"Eine erneute gesundheitliche Überprüfung unmittelbar vor der
Einberufung sollte sicherstellen, dass nur hinreichend gesunde Männer
ihren Dienst bei der Truppe antraten - ein Ziel, das gleichwohl zumeist
nicht erreicht wurde." (142) Was will uns der Autor damit sagen? Meint
er, dass Fehldiagnosen - wie selbst bei höchstqualifizierten Medizinern nie völlig auszuschließen waren? Das wäre eine verzichtbare
Binsenweisheit. Oder ist der Satz so zu verstehen, dass die Männer, die
in der NVA ihren Wehrdienst antraten, zumeist nicht hinreichend gesund
waren? Das wäre eine gänzlich neue, aber erst noch zu belegende These.
Kaum vier Seiten später findet sich dann der vollends kryptische Satz:
"Die Erfahrung des Ersten Weltkriegs bestätigte die Rolle des
Unteroffiziers in der NVA." (146) Das ist sowohl hinsichtlich der
zeitlichen Reihenfolge, als auch der durchaus unterschiedlichen
faktischen Rollen der Unteroffizierkorps von Kaiserheer und NVA
einigermaßen widersinnig. Spätestens dem Lektor hätte das auffallen
müssen.
Insgesamt fällt die Bewertung des Bandes somit zwiespältig aus. Das
Vorhaben einer kompakten Bündelung des Forschungstands zur DDRMilitärgeschichte ist insgesamt gelungen. Gerade für ein Studienbuch,
das zuverlässige und klar verständliche Informationen liefern soll, hätte
man sich jedoch deutlich mehr inhaltliche und sprachliche Präzision
gewünscht.
Anmerkung :
[ 1 ] Christian Th. Müller: Tausend Tage bei der "Asche". Unteroffiziere in
der NVA (= Militärgeschichte der DDR, Band 6), Berlin 2003, 86f.