Vortragsskizze_FrEbertSch 21 _6 _06 - Friedrich-Ebert

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Vortragsskizze_FrEbertSch 21 _6 _06 - Friedrich-Ebert
Vortrag von
Prof. Dr. Frank Nonnenmacher,
Goethe-Universität Frankfurt am Main
zum 75jährigen Jubiläum der
Friedrich-Ebert-Schule in Frankfurt-Seckbach
am 23. 06. 06
Thema:
Schule in der Demokratie – Demokratie in der Schule
Sehr geehrte Damen und Herren,
die Überschrift meines Vortrages signalisiert zwei Fragestellungen:
1. Welche Erwartungen hat eine Demokratie an ihr Schul- und Bildungssystem?
2. Wie
steht
es
mit
der
„inneren
Verfasstheit“
der
Schule?
Inwiefern kann Schule demokratisch sein?
Zum ersten Teil:
Ausgangspunkt der Überlegungen kann hier sein: Das „Grundgesetz der BRD Art.
20. „Die Bundesrepublik ist eine demokratischer und sozialer Bundesstaat.“
Die BRD ist demokratisch verfasst; wir haben ein vom Volk in freien Wahlen
gewähltes Parlament.
Die Schule steht laut Art. 7 GG unter Aufsicht des Staates (nicht mehr der Kirche).
Die entsprechenden Regeln, Gesetze, Verordnungen gaben insofern die
demokratischen Weihen – wir haben somit – wie in vielen anderen Demokratien der
Welt auch – eine „Schule in der Demokratie“.
Die Verfassung spricht aber von mehr: Sie verspricht einen demokratischen und
sozialen Bundesstaat.
Was aber macht das „soziale“ eines Gemeinwesens aus?
Das ist in erster Linie das Bekenntnis zur „Menschenwürde“ (Art. 1), die nicht
angetastet werden soll.
Das ist das Recht auf freie Entfaltung der Persönlichkeit (Art 2)
Und das ist vor allem der Gleichheitsgrundsatz (Art 3.).
Er bestimmt: Niemand darf wegen seines Geschlechtes, seiner Abstammung, seiner
Rasse, seiner Sprache, seiner Heimat und Herkunft, seines Glaubens, seiner
religiösen oder politischen Anschauungen benachteiligt oder bevorzugt werden.
Ein demokratisches Schulsystem hätte also zu garantieren,
- dass jeder sich in ihm gemäß seinen Neigungen, Interessen und Begabungen
frei entfalten kann
- dass er die Bildung erhält, die ihm dies ermöglicht
- dass jede und jeder diejenigen schulische Bedingungen vorfindet, die es
möglich machen, sich unabhängig von seiner Heimat und Herkunft, seiner
Sprache optimal zu entfalten.
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Nun ist es nicht besonders neu aber doch nicht weniger skandalös, was dem
bundesdeutschen Schulsystem – seit den PISA-Studien in unmissverständlicher
Deutlichkeit nachgewiesen wird:
- Das deutsche Schulsystem benachteiligt strukturell wie kaum ein anderes
vergleichbares Schulsystem die Kinder aus sogenannten bildungsfernen
Schichten.
- Nirgendwo ist der Anteil derjenigen, die nicht einmal den niedrigsten
Abschluss erreichen höher als in der BRD.
- Bei gemessenen (!) gleichen Basiskompetenzen z.B. in Lesen und
Textverständnis
und
Mathematik
haben
Oberschichtkinder
(Akademiker/Führungskräfte) eine vier mal größere Chance überhaupt auf das
Gymnasium zu kommen als die gleichaltrige Facharbeiterkinder. Nirgendwo ist
der
Anteil
der
Kinder
von
Geringverdienern
unter
den
Hochschulzugangsberechtigten geringer als in der BRD und
- Besonders skandalös: Nirgendwo ist der Anteil von Kindern mit
Migrationshintergrund unter den „sogenannten „Schulversagern“ so hoch und
der Anteil von Hochschulzugangsberechtigten im proportionalen Vergleich so
gering wie in der Bundesrepublik.
- Kinder aus Familien mit Migrationshintergrund haben eine 6 Mal geringere
Chance einen höheren Bildungsabschluss zu erreichen.
Das alles ist nicht nur Ihnen, sondern sowohl der Öffentlichkeit als auch der Politik
hinreichend bekannt.
Die demokratischen Defizite sind so offenbar, dass im Auftrag der UNMenschenrechtskommission beim Hohen UN-Kommissar zur Wahrung der
Menschenrechte im Februar 2006 Herr Vernor Munoz eine Inspektionsreise gemacht
hat, deren Ergebnis für die Bundesrepublik recht peinlich war.
Eine solche Inspektion der UN hat übrigens bislang außer in Deutschland in
Botswana, Kolumbien und Indonesien stattgefunden.
Nirgendwo ist die Ignoranz der Politik gegenüber diesen Befunden so groß, wie in
der Bundesrepublik.
Jeder weiß doch inzwischen, dass ein zentraler Systemfehler des bundesdeutschen
Schulsystems in seiner Orientierung auf radikale und frühzeitige Auslese begründet
ist.
Jeder weiß doch, dass gerade die europäischen PiISA-Sieger genau hier einen
anderen Weg gegangen sind.
Diese Sicht auf die Dinge, die wir hier im Saal möglicherweise miteinander teilen,
geht aber von einer bestimmten theoretischen Interpretation von Gesellschaftlichkeit,
letztlich von einem Theorietypus aus, dem nicht nur das Gleichheitspostulat der
französischen Revolution zentral zu eigen ist, sondern auch die Prämisse eines
unauflöslichen Dualismus von Sozialität und Individuierung.
Wenn Sie so wollen halten wir damit - wenn ich Sie hier vereinnahmen darf – eine
„ego et alter-Theorie“ von Gesellschaftlichkeit aufrecht, die spätestens mit der
Aufklärung begann, indem nach Kant das Individuum sich selbst zugesteht, was es
zugleich allen anderen zugesteht. Bis heute fußen verständigungsorientierte
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Sozialphilosophien über Hegel, Dürkheim, Parsons Adorno und Habermas’
diskurstheoretische Theorie des kommunikativen Handelns auf dieser Denktradition.
Wir dürfen uns aber nicht einbilden, dass dieser Ansatz selbstverständliches
leitkulturelles Denken sei.
Schon immer gab es Theorien, - ich nenne sie „ego-Theorien“ - wonach
Gesellschaftlichkeit sich nur durch den Rückbezug auf individuelles
Nutzenmaximierungshandeln herstellt. Das Soziale ist dann unbeabsichtigte
Nebenfolge eines permanenten Kosten-Nutzen-Kalküls. Ein früher Vertreter dieser
Denkfigur ist z. B. Hobbes, wonach das Individuum von sich selbst nur im Interesse
seiner selbst absieht.
In diesem Denkrahmen ist es nur logisch, die Krise des Sozialstaates, die mit dem
neoliberalen Umbau der Welt einhergeht,
einer Krise, die ihrerseits zu einer erfolgreichen Erpressungspolitik der ökonomisch
Mächtigen gegenüber den Nationalstaaten geführt hat,
in diesem Denkrahmen ist es nur logisch die Krise des Sozialstaates dadurch zu
bewältigen, dass die Verantwortung des Einzelnen appelliert wird,
Für seine Lebensrisiken, wie Krankheit oder Arbeitslosigkeit soll der Mensch nicht
„Vater Staat“ in Anspruch nehmen; überhaupt soll „Anspruchsdenken“ abgebaut
werden,
stattdessen
wird
individuelle
Vorsorge
unter
dem
label
„Eigenverantwortlichkeit“ bis hin zu „Geiz ist geil“-Parolen propagiert.
Die jeweiligen Eigenlogiken aller gesellschaftlichern Bereiche wie Politik, Kultur,
Sport und auch Bildung soll durch die Logik der Ökonomie überformt werden. Wenn
alles mit Angebot und Nachfrage zu regeln ist, wenn die Marktgesetze überall Einzug
halten sollen, dann ist es auch logisch, dass alles seinen Preis haben muss. In
dieser Logik ist auch das Lehrer-Schüler Verhältnis und die Professor-StudentBeziehung ein Anbieter-Kunden-Verhältnis und Studiengebühren sind ebenso
systemnotwendig wie Schulen und Universitäten – in den USA ist es längst so weit –
in Wettbewerb zueinender treten müssen. Ich prognostiziere, dass es nicht mehr
lange dauert, dass auch deutsche Bildungspolitiker
- sich gegen einheitliche Studiengebühren wenden und stattdessen die
Universitäten mit gestaffelten Studiengebühren um die Studierenden
konkurrieren lassen wollen
- sich für die Widereinführung Schulgeld – zunächst in den Oberstufen –
einsetzen werden.
Kurz: Was uns hier angetragen wird ist nichts weniger als ein kultureller
Paradigmenwechsel – weg von einer solidarischen Gesellschaft und hin zu einer
Gesellschaft wo die Kategorie der „Freiheit“ des Individuums – verkauft als Freiheit
vor der staatlichen Bevormundung – zur zentralen Norm wird. Nicht zufällig wird
immer häufiger der Sozialphilosoph Friedrich August von Hayek zitiert und
paraphrasiert, wonach die „Idee der sozialen Gerechtigkeit eine Wurzel des
Totalitarismus“.darstellt.
Jede Gesellschaft kann und muss sich zwischen den Alternativen, die ich hier –
sicher sehr kurz – skizziert habe, nämlich einer „ego“- und einer „ego et alter“Philosophie im Hinblick auf normative Geltung entscheiden. Diese Entscheidung
muss immer wieder neu getroffen werden, und es gibt historische Ausschläge nach
der einen oder anderen Seite. Ich jedenfalls halte den Kampf gegen den
„ökonomischen Imperialismus“ (Gary S. Becker) nicht für aussichtslos. Im Prinzip
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dauert er seit mindestens 250 Jahren an und es wird – abhängig von den sozialen
Bewegungen – und in dem Maße wie die neoliberalen Glücksversprechungen sich
nicht einstellen werden auch wieder eine Reortientierung an Prinzipien der „egalité“,
verstanden als Streben nach sozialer Gerechtigkeit, geben.
In der Bildungspolitik heißt das, dass auch die Auseinandersetzungen um ein sozial
gerechtes Schulsystem, das dann auch „demokratisch“ genannt werden könnte,
weiter gehen werden und zwar in dem Maße, wie das sozial segregierende und
institutionell auf scharfe und frühe Auslese orientierte System seine Mängel immer
wieder – vor allem im internationalen Vergleich – unter Beweis stellen wird.
Dabei würde es mir jedenfalls nicht genügen, für mehr integrierte Gesamtschulen
einzutreten. Eine Gesamtschule verdient meines Erachtens erst dann ihren Namen,
wenn sie – als Fortsetzung der einzigen Gesamtschule, die wir haben, der
Grundschule, hundert Prozent einer Normalpopulation umfasst. Da fast allen
Gesamtschulen – auch der Friedrich-Ebert-Schule – zwischen 30 und 50 %,
manchmal noch mehr, dieser Normalpopulation entzogen wird, sind wir noch weit
von diesem demokratischen Anspruch entfernt.
Woher kommt nun dieses außerordentliche Beharrungsvermögen, dieses Festhalten
an einem System, dass doch aus den unterschiedlichsten Richtungen so viel Kritik
erfährt? Hierzu nur zwei Hinweise:
1. Das System ist deshalb so stabil, weil es denen nützt, die von dem
gesellschaftlichen Exklusionsprozess profitieren, letztlich denjenigen, die sich
als gesellschaftliche Eliten verstehen und für ihre eigenen Kinder den
gleichen Bildungsweg wünschen,
2. Das herrschende System korrespondiert wunderbar mit einer Gesellschaft,
die in ihrer Geschichte nie – wie etwa die Franzosen – sich mit der Idee der
republikanischen Gleichheit aller citoyens, dem unauflöslichen Dreiklang von
liberté, égalité, fraternité anfreunden konnte. Mit einer Gesellschaft, in der
man mit der Parole „Freiheit statt Sozialismus“ Wahlkämpfe führen und
gewinnen kann, mit einer Gesellschaft in der die liberale Idee der Freiheit
meist nicht die bürgerlichen Freiheiten, sondern die Freiheit des Marktes
meinte und gegen die Idee der Gleichheit fast immer gesiegt hat.
Ich wende mich nun dem zweiten Aspekt im Verhältnis von Schule und Demokratie
zu:
Also reden wir über „Demokratie in der Schule“
Zunächst einmal hier eine Ausgangsthese: Gesetzt den Fall, wir hätten in
Deutschland in der Sekundarstufe nur integrierte Gesamtschulen, die mit
heterogenen Lerngruppen und Konzepten innerer Differenzierung arbeitet, so könnte
man bei strenger Logik des Begriffs dennoch nicht von „Demokratie in der Schule“
reden. Schule ist aus guten Gründen unter der Aufsicht des Staates als Pflichtschule
organisiert. Es gibt Anwesenheitszwang, es gibt einen vorgegeben Rahmen,
Zwangseinteilungen in Jahrgangskohorten, hierarchische Strukturen; ausgefeilte
Ordnungen, Regeln und Sanktionsmöglichkeiten, Vorgesetzte, die man nicht wählen
kann und das „Volk“ – wenn ich die Schülerinnen und Schüler einmal so bezeichne –
hat auf all diese vorab entschiedenen Setzungen keinen Einfluss. Schule ist damit
genau so wenig wie „Betrieb“ eine demokratische Einrichtung. Foucault hat
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strukturanalytisch Fabriken, Kasernen, Krankenhäuser und Schulen verglichen ist zu
verblüffenden Parallelen über ihre inneren Prinzipien gekommen. Die Lehrperson
befindet sich grundsätzlich und permanent in einer widersprüchlichen Bindung.
Einerseits ist sie gebunden an den staatlichen Auftrag, demzufolge sie – um die
Qualifikationsfunktion zu erfüllen - Bescheinigungen darüber ausstellen muss,
inwieweit die mehr oder weniger klaren Vorgaben über zu zeigende Leistungen erfüllt
worden sind. Es herrscht eine Bewertungsubiquität, der keine Lehrerin und kein
Lehrer entkommen kann. Indem Lehrerinnen und Lehrer über Erfolg einer
Lernanstrengung entscheiden, entscheiden sie immer auch über Misserfolg. Der
Lehrer kann nicht nicht-sanktionieren. Der Lehrer kann nicht nicht-selektieren. Die
Note, das Zeugnis, die Prüfung, ja jede Belobigung und jeder Tadel stellen letztlich
einen Baustein dar, der am Ende mit der Zuweisung oder Versagung bestimmter
Berechtigungen verbunden ist. Schule ist zur Agentur der Zuweisung von
Sozialchancen geworden, sie erfüllt eine Allokationsfunktion. Die Lehrerinnen und
Lehrer sind Agenten dieser Agentur.
Auf der anderen Seite ist jeder Lehrer und jede Lehrerin potentiell im Bündnis mit
jedem einzelnen Schüler und jeder Schülerin. Er/sie möchte eigentlich an deren
optimalen Förderung arbeiten, ohne dass der Sanktionszwang daran hindert,
Lernende als neugierige und an Aufklärung über sich und die Welt interessierte
Subjekte anzuerkennen.
Diese Anerkennungsnotwendigkeit im pädagogischen Bündnis mit dem Schüler steht
aber der im unauflöslichen Widerspruch zum Selektions- und Sanktionierungszwang,
den der staatliche Auftrag erfordert.
Ich gehe nicht so weit wie mein Kollege Ulrich Oevermann, der letztlich nur in der
Abschaffung der Schulpflicht die notwendige Bedingung für die Herstellung eines
professionalisierten Arbeitsbündnisses zwischen Lehrer und Schüller sieht, ähnlich
wie im therapeutischen Krisenbewältigungsbündnis zwischen Therapeut und Klient.
Ich plädiere an dieser Stelle vielmehr dafür, dass Lehrerinnen und Lehrer sich dieser
Widersprüchlichkeit bewusst sind und diese weder vor sich selbst noch vor ihren
Schülerinnen und Schülern leugnen. Das heißt letztlich ganz einfach, dass in
Anerkennung des Zwangsrahmens Schule die Spielräume definiert werden müssen,
die zur Gestaltung der Einzelschule und zur Gestaltung der einzelnen Lernprozesse
einer Partizipation durch die Betroffenen, also Lehrerinnen und Lehrer und
Schülerinnen und Schüler, offen stehen.
Ich scheue mich, das Ergebnis solcher Spielraumdefinitionen dann „Demokratie in
der Schule“ zu nennen. Es ist bestenfalls – aber das dann immerhin – Herstellung
von Transparenz und begrenzte Mitbestimmung, wobei die jeweiligen Spielräume
zwar diskutiert, aber ihre Reichweite letztlich durch die bestehende Hierarchie
festgelegt, mehr oder weniger liberal gewährt, eingeschränkt oder widerrufen werden
können. Das Diskursangebot findet niemals unter gleichen statt und ist somit wirklich
demokratischen Spielregeln entzogen.
„Endlich Freiheit“, sagte der Löwe, als er den Käfig verließ, und merkte nicht, dass es
nur der Auslauf war.“
Dieses Bild wird in einigen Publikationen von radikalen Schulkritikern vertreten, um
alle partizipative pädagogische Theoriekonzeptionen zu diffamieren. Letztlich seinen
sie doch nur Augenwischerei und noch so viel Schülermitbestimmung, die bei der
Frage nach Pausenregelungen, Schulparties oder Fahrradständer zum Zuge komme,
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verhindere nur die Einsicht in den prinzipiell undemokratischen Charakter der Schule
verhindern und sei letztlich bloße Instrumentalisierung der Schülerinnen und Schüler.
Demgegenüber bekenne ich mich zur Spielraum-Theorie. Wenn Sie so wollen: Es ist
meines Erachtens durchaus nicht egal – um im Bild zu bleiben - ob der „Auslauf“ nur
ein paar Quadratmeter groß ist, oder ob er eine ganze Flusslandschaft mit Wiesen
und Wäldern umfasst. Entscheidend wäre für mich, dass die Löwen die
Bewegungsmöglichkeit haben, die sie brauchen, zugleich erkennen, wo sie sich
befinden und ihnen nicht vorgespielt wird, sie befänden sich in der paradiesischen
Wildnis.
In diesem Sinne nenne ich jetzt einige Bereiche, die relevant sind für die
Beantwortung der Frage, wie viel Spielraum für Mitbestimmung der Schülerinnen und
Schüler, wie viel „demokratische“ Partizipation bestehen kann.
Dabei gehe ich zunächst auf das Kerngeschäft der Schule, auf die Lernprozesse der
Schülerinnen und Schüler ein.
In diesem Bereich ist der Gestaltungsspielraum der Einzelschule und letztlich der
einzelnen Lehrperson relativ hoch.
Nach den Beobachtungen, die wir im Rahmen von teilnehmenden Beobachtungen
gerade an Gesamtschulen gemacht haben, ist die Souveränität, mit der Lehrerinnen
und Lehrer, vor allem im sprachlichen Bereich und im Lernbereich
Gesellschaftslehre, einen selbstbewussten Umgang bei der Interpretation der
vorgegebenen Rahmen- und Lehrpläne pflegen, sehr ausgeprägt. Inhaltliche Leitlinie
ist nicht der vorgegeben „Stoff“ – und zwar schon alleine deshalb, weil in diesen
Bereichen eine plausibler Katalog in Folge des exponentiell wachsenden
Wissensbestandes gar nicht mehr plausibel zu erstellen ist. Die Fachdidaktiken
haben längst das Prinzip der „Problemorientierung“ entwickelt. Ausgehend von
exemplarischen sogenannten „Schlüsselproblemen“ - ein von Wolfgang Klafki vor
Jahrzehnten in die Debatte eingebrachter Begriff – wird nicht mehr grundlos Wissen
„vermittelt“, vielmehr werden im Rahmen der Problemstellungen gemeinsam mit der
Lerngruppe
Fragen
entwickelt,
Rechercheaufgaben
vergeben,
Informationsbeschaffung und die Aneignung (nicht Vermittlung) des benötigten
Wissens findet aus Gründen, die vorher erörtert wurden, in selbständig arbeitenden
Kleingruppen statt. Dabei werden quasi automatisch Fächergrenzen überwunden,
weil die zu bearbeitenden Probleme eben nicht auf Fächergrenzen achten, sondern
interdisziplinäre Zugänge erzwingen. Allmählich lernen die Schülerinnen und Schüler
das Lernen des Lernens, sie sind an der Planung des Prozesses mehr und mehr
intensiv beteiligt.
Einen solchen Unterrichtskultur, die nicht mit einer „Methode“ – schon gar nicht mit
dem Klippertschen Begriff des Methodentrainings und der Schüleraktivierung verwechselt werden darf, würde ich subjektorientiert und tendenziell an der
Mündigkeit der Lernenden durch die allmähliche Erhöhung der Verfügungsgewalt der
Lernenden über den Lernprozess selbst bezeichnen, wenn Sie so wollen, als
tendenziell demokratischen Unterricht.
Wir haben solchen Unterricht beobachtet – nicht nur an Gesamtschulen, aber dort
öfter als an Gymnasien. Um der Wahrheit die Ehre zu geben: Auch an
Gesamtschulen haben wir Unterricht beobachtet, der demgegenüber sehr
konventionell, noch sehr dem Vermittlungsmodell, dem Sender-Empfänger-Modell
verpflichtet war.
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Nun muss an dieser Stelle aber hinzugefügt werden, dass hessische Lehrer
traditionell große Erfahrung in der kreativen Interpretation von Lehrplänen haben,
und gelernt haben, sich hier Spielräume zu verschaffen. Diese Spielräume werden
aber durch eine Tendenz zu neuen Steuerungsphilosophien stark relativiert. Unter
dem Stichwort „Autonomie der Einzelschule“ soll die bislang bestehende In-putSteuerung abgelöst werden, durch out-put-Steuerung. In Hessen wie in vielen
anderen Bundesländern auch geschah die Steuerung der Schulen hinsichtlich der
Lerninhalte durch die erwähnten Lehr- und Stoffpläne. Noch bis in die 70erJahre des
letzten Jahrhunderts mussten sich Lehrerinnen und Lehrer gegenüber einer
kontrollierenden Schulaufsicht rechtfertigen, wenn Sie den „Stoffplan“ nicht
eingehalten haben. Das ist spätestens seit der großen Curriculumdebatte, die in
Hessen unter dem Stichwort „Rahmenrichtlinien“ eine große bildungspolitische
Kontroverse ausgelöst hatte, vorbei. Wo Rahmenpläne politisch umstritten waren,
Verbindlichkeit in Frage gestellt wurde und die „Offenheit“ der Curricula propagiert
wurde, musste das Steuerungsmittel „Lehrplan“ versagen. Der erwähnt
selbstbewusste Umgang damit – bis hin zum nachhaltigen Ignorieren – war die
Folge. In den letzten 10 Jahren ist eine Entwicklung eingetreten, die auf den ersten
Blick die Autonomie der Einzelschule zu erweitern und damit den „Spielraum“
auszuweiten scheint. Lehrpläne werden mehr und mehr „weit“ und „offen“ gefasst,
Schulen sollen in einem weiten Rahmen Fachinhalte selbst definieren können.
Lehrpläne orientieren sich immer weniger an einem Inhaltskatalog, als vielmehr an
Zielen, auch Standards genannt. Den Schulen soll mehr und mehr überlassen
bleiben, auf welchen Wegen und mit welchen Inhalten sie diese Standards erreichen.
Auf den zweiten Blick aber stellt die Relativierung der Bedeutung von Lehrplänen
aber keinen Steuerungsverzicht der Administration dar. Die Autonomie erweist sich
als janusköpfig, da sie einhergeht mit der Einführung von landesweiten
Vergleichsarbeiten schon im dritten Schuljahr, von landesweiten Mathematiktests,
von
zentralen
Hauptschulprüfungen,
Realschul-Abschlussprüfungen
und
Abiturprüfungen. Hatten das anfangs noch einige Kollegien, die erstmals damit
konfrontiert waren, noch recht locker genommen, tritt mittlerweile ein Effekt ein, der in
Ländern mit zentralen Evaluations- und Prüfungskulturen längst bekannt ist. Nicht
Lehrpläne sind der Orientierungspunkt, sondern die Aufgaben und Fragen, die in
dem jeweiligen Fach in der jeweils letzten landesweiten Prüfung abgefragt wurden.
Da Lehrerinnen und Lehrer natürlich wollen, dass ihre Schülerinnen und Schüler
(indirekt sie selbst) erfolgreich abschneiden, orientieren sie curricular zwangsläufig
an diesen Tests. So wird unter dem label Autonomie letztlich eine effektivere,
nachhaltigere und wirksamere Steuerung des Bildungswesens betrieben, als dies mit
Hilfe der Lehrplansteuerungsmethode jemals möglich war, und zwar um so mehr, je
mehr man das System nicht nur auf Abschlussklassen bezieht.
Natürlich steht und fällt die Bewertung dieser neuen Steuerungsphilosophie mit dem
Charakter, den diese Abschlussprüfungen einnehmen. Je mehr sie auf die
Reproduktion anlernbaren Wissens abzielen, desto eher behindern sie das zuvor als
partizipatorisch und subjektorientiert bezeichnete Lernverständnis. Je eher sie den
Charakter von Projektprüfungen annehmen, desto eher können sie mit diesem
Verständnis vereinbar sein. Letzteres scheint aber nicht die Regel und aus meiner
Sicht völlig unlogisch nur für die Hauptschule vorgesehen zu sein.
(((Hier evtl. noch einfügen:
Stichworte: Analyse und Kritik des BLK-Programms „Demokratie lernen und leben“:
Programm (mit viel Geld gefördert) 2002 – 2007
Förderung von Einzelschulen, die an diesem Programm teilnehmen
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Geförderte Projekte z.B.
- oral-history
- Parlamentsspiele und –besuche
- debating-clubs
- Schulkonferenzen mit Entscheidungsprozessen in Einzelfragen (Bsp: In Ffm
Hausordnung: „Welches out-fit ist an unserer Schule erwünscht?)
- Regelmäßige Jahrgangversammlungen nach US-Vorbild
Problem: Ausblendung der hierarchischen Struktur
Ausblenden der Analyse der Relativität der Entscheidungs“spielräume“
Gut wäre, wenn man die „Spielraumtheorie“ als partizipatorischen Rahmen (und
Grenze) immer mitreflektieren würde.
Wenn nicht: Gefahr der unerkannten (unbewussten) Produktion von Illusionen über
Demokratie im nicht-demokratischen Raum Schule.)))
Meine Damen und Herren, eine letzte Anmerkung möchte ich zu der
institutionalisierten Mitbestimmung an Schulen durch die Schülervertretung machen.
Ich möchte Ihnen einige wenige Ergebnisse aus einer Untersuchung, die wir im
Fachbereich Gesellschaftswissenschaften an 28 Sekundarstufenschulen ,
hauptsächlich Gymnasien und Gesamtschulen gemacht haben. Basis waren
Interviews mit Direktorinnen und Direktoren, Verbindungslehrerinnen und –lehrern,
und Schulsprechern.
Unter anderem hat uns die Funktionszuweisung der Schülervertretung durch die
Beteiligten interessiert. Zentrale Ergebnisse: Die interviewten Schulsprecherinnen
und Schulsprecher hatten ein hohes Reflexionsniveau hinsichtlich ihrer Tätigkeit. Sie
beklagten sich meist weniger über die Schulleitungen, stärker hingegen über an der
SV-Arbeit uninteressierte Lehrerinnen und Lehrer sowie in zweiter Linie über
ungenügende Unterstützung aus der Schülerschaft. Sie konstatierten häufig eine
Diskrepanz zwischen den von Ihnen bei ihrer Wahl formulierten Erwartungen und
Programme einerseits und den tatsächlichen Inhalten ihrer Aktivitäten, die sich dann
oft in der Organisation von Schulparties erschöpften. Selten wurden Aktivitäten
entwickelt, die über Konfliktmanagement hinaus soziale und im weitesten Sinne
politische (z. B. ökologische oder auf die 3. Welt bezogene) Projekte betrafen.
Unter den Verbindungslehrerinnen und –lehren konnten zwei Typen identifiziert
werden. Eine Minderheit stellen diejenigen dar, die ihr Amt als im weitesten Sinne
„politisch“ begreifen und – wie Fallbeschreibungen zeigen – auch in Konflikte mit
Kolleginnen und Kollegen geraten, und zwar oft wegen von Schülerinnen und
Schülern beklagten autoritären oder ungerechten Verhaltens von Lehrern. Dies sind
VerbindungslehrerInnen, die auch Konflikte mit der Schulleitung oder der Behörde
nicht scheuen. Eine Mehrheit musste identifiziert werden als Typus, der eher mit
geringem Aufwand das Amt wahrnimmt. Zur Wahl kam es hier oft, „weil es sonst
keiner machen wollte“.
Die große Mehrheit der VerbindungslehrerInnen sieht die wichtigste Aufgabe im
„Vermitteln“ bei persönlichen Streitigkeiten zwischen einzelnen Lehrern und
Schülern.
Nur in sieben von 28 Fällen gab es eine tatsächliche Wahl mit personellen
Alternativen.
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Die Schulleiterinnen und Schulleiter reagierten bei den Befragungen mit sehr
standardisierten und meist auf Formales verweisenden Äußerungen, insbesondere
bezogen sie sich auf die rechtlichen Grundlagen der SV.
Fast alle Schulleiter lobten die reibungslose Kooperation mit den Schulsprechern und
Verbindungslehrern und verneinten die Existenz bedeutsamer Konflikte.
Viele SchulleiterInnen sehen die Vertrauenslehrer (so werden sie von diesen oft
genannt) als präventives Organ, das potentielle Konflikte im Vorfeld abfängt oder
„abfedert“, so dass die Schulleitungen letztlich „verschont“
Ein zentraler Eindruck ist auch, dass vieler Schulleiterinnen und Schulleiter die
Schülervertretung funktionalisieren, indem sie sie z. B. für Renovierungsprojekte,
Reinigungsorganisation oder als Disziplinierungshilfe einsetzt. Allerdings lassen sich
– vor allem am Sekundarstufenschulen ohne Oberstufe - Schülervertreter gerne in
diesem Sinne verwenden und ziehen daraus eine spezifische Identität.
Ich möchte diese Ergebnisse einer kleinen Untersuchung, die noch nicht
abschließend ausgewertet ist, einfach so stehen lassen. Inwieweit dies zum Thema
„Demokratie in der Schule“ zu tun hat oder gar auf die Friedrich-Ebert-Schule
bezogen werden kann, möchte ich Ihnen überlassen.
Zum Schluss möchte ich aber doch ein Wort über die Friedrich-Ebert-Schule konkret
sagen. Zu einer demokratischen Schule gehört auch, dass sie sich ihrem Umfeld
öffnet, dass sie aufgeschlossen ist, gegenüber dem fremden Blick und sich den
Diskussionen stellt. Ich habe die Friedrich-Ebert-Schule erlebt, als eine Schule, die
hier keine Berührungsängste hat. Seit vielen Jahren darf die Universität und vor
allem mein Fachbereich Studierende in die Praktika schicken, darf Befragungen und
Interviews machen, auch wenn der kritische Blick junger Studierender nicht immer
ausgewogen ist und hedonistische studentische Kulturen mit dem strengen
Zeitreglement der Schule nicht immer kompatibel sind.
In der Universität ist die Friedrich-Ebert-Schule von daher bekannter als Sie denken
und sie dient bei der Diskussion über Lernkulturen und Schulprofile sehr oft zur
Illustration positiver Beispiele.
Ich möchte mich jedenfalls bei den Kolleginnen und Kollegen für diese
Zusammenarbeit recht herzlich bedanken. Sehr gerne wäre ich irgendwann spätestens bei der 100-Jahrfeier - wieder dabei, um zu sehen, was inzwischen
daraus geworden ist.
Vielen dank für Ihre Aufmerksamkeit.
Prof. Dr. Frank Nonnenmacher
Martin-Luther-Str. 13
60316 Frankfurt am Main
mail: [email protected]
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