Defekte Körperbilder: Spiegelhalluzination, Doppelgängerwahn und

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Defekte Körperbilder: Spiegelhalluzination, Doppelgängerwahn und
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August Ruhs
Defekte Körperbilder: Spiegelhalluzination, Doppelgängerwahn und
andere Somato-Agnosien.
(RUHS, A. (2012): Defekte Körperbilder: Spiegelhalluzination, Doppelgängerwahn und andere
Somato-Agnosien. In: Unterthurner, G.; U. Kadi (Hrsg.): Wahn. Philosophische, psychoanalytische
und kulturwissenschaftliche Perspektiven. Turia & Kant, Wien: 213-232)
Lacans Spiegelstadium der Subjektgenese. Erste Entwürfe
Anders als für Freud, der über die Frage der Neurose seinen spezifischen Zugang zum
unbewussten Seelenleben gefunden hat, ist für Lacan das Problem der (weiblichen)
Psychose primärer Erfahrungsgegenstand seines psychoanalytischen Interesses.
Nach seinem Medizinstudium wendet sich Lacan der Psychiatrie zu (1), beginnt 1932 seine
psychoanalytische Ausbildung und schließt im selben Jahr auch seine Dissertation ab. Deren
Thema mit dem Titel „Über die paranoische Psychose und ihre Beziehung zur
Persönlichkeit“ verweist auf ein Konzept der Selbstbestrafung im Rahmen einer Betonung
subjektiven Erlebens bei psychotischen Störungen, wobei Lacan auf einen „Aimée“
genannten Fall zurückgreift. Später sollte sich übrigens herausstellen, dass unter diesem
Pseudonym das Schicksal der Mutter seines psychoanalytischen Mitstreiters und späteren
Gegners Didier Anzieu abgehandelt worden war. 1933 veröffentlicht Lacan in der
surrealistischen Zeitschrift „Le Minotaure“ einen Artikel über ein damals aufsehenerregendes
weibliches Mörderpaar in Le Mans, die Schwestern Papin, welche ihre Herrschaft auf
grausame Weise umgebracht hatte. Dieser Text, „Motive des paranoischen Verbrechens:
Das Verbrechen der Schwestern Papin“ (Lacan 1933),inspirierte übrigens Jean Genet zur
Abfassung seines Dramas „Die Zofen“, der Vorfall selbst bildete die Grundlage für zahlreiche
literarische und filmische Werke.
Über die Beschäftigung mit der psychotischen Regression wird Lacan auch mit der Frage
nach den frühesten Stadien der Subjekt- und Identitätsentwicklung und nach der Entstehung
des spezifisch menschlichen Ich konfrontiert, wobei die Antworten darauf einen Großteil
seines psychoanalytischen Lehrgebäudes darstellen.
1936, auf dem Kongress im Marienbad wird ein diesbezügliches Konzept unter dem Titel
„Das Spiegelstadium“ vorgestellt. In dieser ersten und schriftlich nicht mehr vorhandenen
Fassung einer Neukonzeption der Narzissmustheorie auf der Basis einer Theorie des
Imaginären greift Lacan unter anderem auf Kinderbeobachtungen von Charlotte Bühler und
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Henri Wallon und auf klinisch-psychologische bzw. psychiatrische Studien zurück,
berücksichtigt aber auch Tatbestände der Verhaltensforschung und Erkenntnisse
aus
embryologischen, anatomischen und physiologischen Untersuchungen. 1938, in seinem
Beitrag „Die Familie“ für ein entsprechendes Kapitel in der Encyclopédie française, wird das
Konzept des Spiegelstadiums in eine Entwicklungslehre des kindlichen Subjekts unter
Berücksichtigung familiärer Komplexe einbezogen, bevor Lacan 1949 die Thematik
nochmals aufgreift und in einer erweiterten und damit auch stringenteren Form veröffentlicht.
In dieser Studie (Lacan 1949) wird gezeigt, dass das Subjekt des Menschenkindes nicht in
einem Akt der reinen Apperzeption vorgegeben ist, sondern dass es sich erst in einem
dialektischen Prozess, in dem Innenwelt und Umwelt voneinander geschieden werden
müssen, entwickelt. Bei diesem als Spiegelstadium bezeichneten Vorgang, der um den 6.
Lebensmonat herum einsetzt, konstituiert sich im Medium des Imaginären ein primitives Ich
durch Identifizierung mit dem Bild des Ähnlichen als einer Gesamtgestalt, konkret erfahren in
der
Wahrnehmung
des
eigenen
Bildes
im
Spiegel.
Dieser
grundlegende
Identifikationsvorgangermöglicht dem damit zu sich selbst kommenden Individuum einen
Vorgriff auf die Wahrnehmung seines Körpers als einer Einheit, die wiederum sein Ich
strukturiert, bevor sich ein Subjekt in der Dialektik der Identifikation mit dem Anderen durch
Vermittlung der Sprache entwickelt. Der im Spiegelstadium sich konstituierenden Erfahrung
des Körpers als einer begrenzten Form steht ein Phantasma gegenüber, in dem das Ich
seinen Zusammenhalt zu verlieren und sich in eine Dispersion seiner Körperteile aufzulösen
droht. Lacan bezeichnet diese Desintegration als „Phantasma des zerstückelten Körpers“,
welches in psychotischen Regressionen erscheint oder dann, wenn die Psychoanalyse ein
bestimmtes Niveau erreicht. In gewisser Weise entspricht dieses Phantasma dem
Autoerotismus, während die Ich-Bildung als Vorstellung körperlicher Abgeschlossenheit und
Begrenztheit einerseits mit dem primären Narzissmus und andererseits mit dem Ideal-Ich als
Grundlage aller Vorstellungen von Ganzheit und Vollkommenheit gleichzusetzen ist.
Allerdings ist zu bedenken, dass Lacan hier Freuds Nachträglichkeitsprinzip mit Nachdruck
zur Geltung bringt, wonach die Spiegelphase erst rückwirkend die Zerstückelungsphantasie
aufkommen lässt.
Hinsichtlich des langwierigen und sozial begründeten Prozesses der Ausbildung von IchStrukturen ist von einer von Anatomen und Embryologen postulierten Vorzeitigkeit der
menschlichen Geburt auszugehen, worauf unter anderem die Unfertigkeit zentralnervöser
Bahnen und das lange Verbleiben mütterlicher Körperflüssigkeiten im Neugeborenen
hinweisen, so dass es in seinem Nesthockerdasein über eine nur mangelhaft entwickelte
Instinktausstattung verfügt. Dies bedingt andererseits eine relative Ungebundenheit und
Freiheit aller Triebregungen und Triebbefriedigungen, welche diesseits aller natürlichen
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Entwicklung in einem langdauernden Kultur-und Zivilisationsprozess ausgebildet werden
müssen. Allerdings gibt es Hinweise, dass auch im Tierreich und sogar bei sehr niedrigen
Spezies psychologische Faktoren für Identitätsbildungen eine Rolle spielen, wobei dem Bild
eine besondere Bedeutung zukommt. Bekannt ist in dieser Hinsicht die Tatsache, dass die
Reifung der Geschlechtsdrüsen bei der Taube den Anblick eines Artgenossen unbedingt
voraussetzt, wobei diese Wirkung auch durch das Spiegelbild ausgelöst wird.
Herangezogen wird von Lacan auch die Angst und der panische Schrecken des von sich
entfremdeten Psychotikers, der offensichtlich verzweifelt vor dem Spiegel versucht, die
Einheit seines zerstückelten Körpers wiederzufinden (»Spiegelzeichen der Schizophrenen«,
siehe unten).
Die Beobachtung des Verhaltens von Kindern vor dem Spiegel, wie sie Henri Wallon (1931)
in einer Arbeit mit dem Titel »Wie entwickelt sich beim Kind die Auffassung des eigenen
Körpers« dargestellt hat und wo der Begriff »Spiegelprüfung« auftaucht, lässt schließlich
eine systematische Betrachtung des Phänomens zu und erlaubt eine zeitliche Gliederung
dieser Reifungsphase in drei Hauptabschnitte:
I. Im ersten Abschnitt nimmt das Kind das Spiegelbild als ein reales Wesen wahr, an das es
sich mit einer bewegten Mimik anzunähern versucht.
II. In einem zweiten Abschnitt lernt das Kind zu verstehen, dass der andere des Spiegels nur
ein Bild ist und nicht ein reales Wesen. Es versucht nun nicht mehr, den anderen hinter dem
Spiegel zu suchen, da es nun weiß, dass es ihn da nicht mehr gibt.
III. Der dritte Abschnitt ist dadurch gekennzeichnet, dass das Kind das Bild des anderen im
Spiegel als sein eigenes Bild erkennt.
In der Wahrnehmung des Bildes seines Körpers als einer Einheit antizipiert also das Kind die
Einheit eines Ich, die objektiv noch fehlt. Auf dem Boden einer ursprünglichen und
angeborenen Imitationsneigung(reflexive und gleichgerichtete Antworten auf Gesten und
Mimik des Gegenübers) identifiziert es sich mit diesem Bild, das nicht es selbst ist und das
ihm doch erlaubt, sich zu erkennen.
Wie in einer primitiven Zeichensprache erscheint das daraus entstehende Ur-Subjekt als ein
Repräsentiertes in einem Repräsentationsvorgang, dessen Medium eben das Imaginäre ist.
Indem das kleine Individuum eine Beziehung zwischen seinem Körper und diesem Bild
herstellt, füllt es eine Lücke zwischen diesen beiden
Gegebenheiten aus, was einem
Wunsch entspricht, der das Ich definiert. In dieser primären Identifizierung liegt der Ursprung
allersekundären Identifizierungen des Subjekts und die Grundlage dafür, dass das Kind
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schließlich »Ich« sagen kann und sich dabei sowohl als Subjekt der Äußerung als auch als
Subjekt der Aussage begreifen kann.
Allerdings, und darauf weist Lacan erst in einer mehrere Jahrzehntespäteren ReFormulierung des Konzepts mit Nachdruck hin, ist für diesen Identifizierungsvorgang, der
das imaginäre Ich libidinös besetzt, die Anwesenheit eines Dritten Voraussetzung. Es ist in
der Regel ein Elternteil, der bei dieser Erfahrung anwesend ist und etwa das Kind vor dem
Spiegel hält und dabei in irgendeiner WeiseAnerkennung ausdrückt, welche als ein »Das bist
du!« verstanden werden kann. Damit wird symbolische Bedeutung eingeführt, dem
imaginären anderen gesellt sich als tertium comparationis ein symbolischer Anderer, welcher
spricht, hinzu, grundsätzliche Differenzwird erlebbar. Es vollzieht sich hiermit das, was man
üblicherweiseals Triangulierung bezeichnet, in verschiedenen Registern: Differenzierung von
imaginär, symbolisch und real (Signifikat bzw. Bild oder Vorstellung, Signifikant bzw.
symbolischer Repräsentant und Referent bzw. repräsentierter Sachverhalt) auf einer
Erkenntnisebene und Erweiterung einer narzisstisch-dyadischen zu einer triadischen
Beziehung im intersubjektiven Bereich. Deshalb kann Lacan auch den dritten Abschnitt des
Spiegelstadiums mit dem Beginn der Ödipalität gleichsetzen, zumal die Differenzierung der
Geschlechter auf der Grundlage dieser differenzierenden Zeichenerfahrung, genauer gesagt
durch
die
Signifikantenfunktion
des
symbolischen
Phallus,
erfassbar
wird.
Um
Missverständnissen bezüglich dieser imaginären Ich-Bildung zu begegnen seien hier noch
zwei Anmerkungen gemacht: das Ich des Spiegelstadiums ist im Gegensatz zu anderen IchBegriffen ein Ich mit Objektcharakter im Sinne einer Konzeption des Selbst, welches zwei
von
Freud
formulierten
Ich-Definitionen
entspricht:
das
Ich
als
Projektion
einer
Körperoberflache und das Ichals Summe aller Identifizierungen des Subjekts. Die anderen
Ich-Begriffe Freuds (das Ich als Repräsentant der Realität oder als modifizierter,
desexualisierter Teil des Es) bzw. spezifische Ich-Funktionen und psychologisch relevante
Fähigkeiten und Vermögen eines Individuums gehören einer anderen Kategorie an.
Andererseits ist darauf hinzuweisen, dass die Spiegelerfahrung als rein visuelles Phänomen
für die Ich-Bildung nur einen Musterfall darstellt. Daneben sind andere Sinne als der
Gesichtssinn für das Raumerleben und damit für das Erleben des abgegrenzten Körpers
konstitutiv, wodurch auch etwa das blind geborene Kind zu seiner ersten narzisstisch
strukturierten Identität gelangt. Schließlich beinhaltet die Narziss-Geschichte, welche diese
Primärerfahrung mythisch trägt, auch das Schicksal der der akustischen Dimension
zugehörigen Nymphe Echo, welches freilich in der Erzählung aufgrund der Vorherrschaft der
Sehwahrnehmung und des Blicks zumeist unterschlagen wird.
Wesentlich für die Kategorie des Imaginären ist also nicht das Bild in seiner engeren
Bedeutung als visuelles Abbild, sondern seine Repräsentationsweise, welche auf Ähnlichkeit
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bzw. Punkt-für-Punkt-Entsprechung beruht. Dies ist dann auch der Unterschied zur
Kategorie des Symbolischen, dessen Repräsentationselemente Signifikant und Buchstabe
durch Differenz und Arbitrarität gegenüber dem Repräsentierten charakterisiert sind.
Im Lichte des Spiegelstadiums ist auch das Phänomen der Aggressivität zu überdenken,
welches als korrelative Spannung der narzisstischen Identifizierung in Erscheinung tritt.
Damit wird nicht zuletzt das Problem der Psychosen, insbesondere der infantilen Psychosen
anders als gewohnt beleuchtet, wobei folgendes zu bedenken ist:
Das Bild des Spiegels im weitesten Sinn ist nur ein Bild des Ähnlichen, mit dem die
existenzielle Auseinandersetzung ausgetragen wird. Die gleichaltrigen Spielgefährten und
die Puppen und Spielzeuge stellen ebenfalls Doppelgänger dar, die es anzuerkennen gilt,
ohne sich selbst dabei aufzugeben. Von grundsätzlich gleicher Art ist die erste Beziehung
des Kindes zu seiner Mutter, mit deren phallischem Mangel es sich zu identifizieren hat und
wodurch es zunächst das ist, was der Mutter fehlt. Alle diese dualen Beziehungen sind
jedoch äußerst problematisch und voller Gefahren.
Einerseits gewährleistet nämlich das Spiegelstadium die Realisierung einer Einheit, einer
koenästhetischen Subjektivität, andererseits stellt es aber eine ständige Entfremdung dar
und bedroht das Kind mit Unterwerfung hinsichtlich des eigenen Bildes, hinsichtlich seiner
kleinen
Doppelgänger,
Beziehungsmodus
hinsichtlich
ständig
durch
des
die
Begehrens
fehlende
seiner
Mutter.
Unterschiedenheit
So
und
ist
dieser
durch
die
Verwechslung des Selbst mit dem anderen charakterisiert. Das gerade erworbene
primordiale Ich ist zerbrechlich und flüchtig. So ist auch die Einheit des Körpers als totale
Gestalt ständig vom Auflösungsprozess, der durch sie erst zu einer (nachträglichen)
Erfahrung geworden ist, bedroht. Die korrelative Spannung dieser Beziehungsstruktur lässt
Lacan mit dem Begriff der Aggressivität zusammenfallen. Aggressivität wird damit einer
besonderen Beziehung zum Bild des eigenen Körpers oder zum Körper des anderen
zugeordnet, ihre archaischen Imagines der Kastration, der Zerstückelung, der Entleibung,
des Zerreißens, des Verschlingens etc. auf die Struktur des zerstückelten Körpers
zurückgeführt. In diesem Sinn lässt sich auch der primäre Sado-Masochismus und der
Todestrieb mit dem Spiegelstadium in Zusammenhang bringen. Zu verschlingen oder
verschlungen zu werden oder aber sich selbst oder den anderen zu quälen, zu deformieren,
zu töten, läuft auf dieser Ebene auf dasselbe hinaus. Wenn auch der Ödipuskomplex die
Problematik der primären Identifizierung zu begraben scheint, ist er nicht in der Lage, einen
Defekt in der Bildung des Spiegel-Ich wirklich zu beheben. Eine solche unvollendete IchBildung bildet dann die Grundlage nicht nur von latenten oder manifesten Psychosen,
sondern auch von schweren Charakterpathologien und psychosomatischen Störungen. Für
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letzteres sei auf die Konzeptionen der französischen psychosomatischen Schule
hingewiesen (Marty, de M’Uzan, Fain).
Ergänzungen und Umarbeitungen
Während Lacan in der Darlegung seines Konzepts des Spiegelstadiums die notwendige
Wirkung von Bildern für die Entwicklung und Reifung von Strukturen der Subjektivität
herausgestrichen hat, geht er in der Folge vor allem der Frage nach dem Wesen des Bildes
nach, wobei er in der Verfeinerung seiner Theorie des Imaginären auch dem Phänomen des
Objekts und den Grundlagen seiner Wahrnehmbarkeit seine besondere Aufmerksamkeit
schenkt. Denn die Lehre aus der Beachtung des Spiegelstadiums bedeutet nicht nur, dass
sich das menschliche Ich durch den anderen konstituiert, sondern auch, dass der Mensch
das Andere durch das Spiegelbild erfasst und erlernt. Die wichtigsten Impulse zu den daraus
resultierenden Erkenntnissen setzt Lacan bereits in seinen ersten beiden Seminaren, d.h in
„Freuds technische Schriften“ aus den Jahren 1953 – 1954 (Lacan 1978) und „Das Ich in der
Theorie Freuds und in der Technik der Psychoanalyse“ aus den Jahren 1954 - 1955. (Lacan
1980) Dabei bedient er sich einer Modellvorstellung, die einem optischen Experiment des
französischen Physikers Henri Bouasse (1866-1953) entlehnt ist und als das „Experiment mit
dem umgekehrten Blumenstrauß“ bezeichnet wird.
Abb. 1: Das Experiment mit dem umgekehrten Blumenstrauß, Seitenansicht
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Die Anordnung besteht darin, dass vor einem Konkavspiegel eine Vase aufgestellt ist, wobei
das Pult, auf dem sie steht, einen nach unten hängenden Blumenstrauß verbirgt. (Abb. 1)
Steht man vor diesem Pult und betrachtet man das durch den Hohlspiegel erzeugte Bild, so
sieht man eine mit Blumen gefüllte Vase, die sich aus dem realen Gegenstand Vase und
dem virtuellen aufrechten Spiegelbild der Blumen zusammensetzt. (Abb. 2)
Abb. 2: Das Experiment mit dem umgekehrten Blumenstrauß, Illusion von Vase mit Blumen
Für seine Zwecke dreht Lacan zunächst die Anordnung von Vase und Blumenstrauß so um,
dass der Blumenstrauß real und die Vase nur virtuell, d.h. gespiegelt sichtbar ist. (Abb.3).
Abb. 3
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Das Pult soll nun den eigenen Körper außerhalb der Erfahrungswelt des Auges darstellen,
die Vase im Inneren der Kiste sei die Hülle des Körpers, den sich das Subjekt nur wie einen
umgedrehten Handschuh vorstellen kann. Der Blumenstrauß steht für das erste Reale des
Körpers, also das „Es“, die Objekte im Sinne der Ding-Erfahrung, die Triebe und Begierden,
etc. Festgestellt wird von dem in Entstehung begriffenen Subjekt offensichtlich nur die reine
Erfahrung eines „es ist“ im Sinne des freudschen Existenzurteils. (s. dazu Freud 1925) Was
da ist, ist demnach nicht eingegrenzt und sowohl jenseits von innen und außen als auch
jenseits von gut und böse stehend.
Durch das virtuelle Bild eines Behälters (in der Modellvorstellung die Vase) stellt sich für das
Subjekt ein erstes Körperbild her und liefert die Erfahrung eines realen Inhalts in einem
imaginären Behälter. Damit wird auch bestimmt, was zum Ich gehört und was nicht, das
heißt auch, ob etwas im Ich als Vorstellung Vorhandenes auch als Wahrnehmung, das heißt
als Realität, vorhanden ist.
In Abbildung 4 sieht man Lacans weitere Modifizierung des Experiments, wodurch gezeigt
werden soll, wie sich die intrasubjektiven Strukturen der Beziehung zum Anderen
herausbilden und wie dabei der doppelte Einfall des Imaginären und des Symbolischen zum
Tragen kommt.
Abb.4
Das Auge nimmt bei der neuen Anordnung das Hohlspiegelphänomen nicht direkt wahr,
sondern nur durch das Reflexbild eines vor dem Pult (C) aufgestellten Planspiegels (A). Hier
können die realen Blumen als reale Wahrnehmung in ihrem virtuellen Behälter nicht mehr als
solche erfasst werden, weshalb i(a) auch im Schema nicht vorkommt. Nur als Bild, nur als
virtuelle Realität, d.h. nur im Außen und im Bereich des Anderen können beide in ihrer
gleichzeitigen Einheit gesehen werden: i‘(a) und a‘. Das Körperbild präsentiert sich also in
einem Dispositiv des Spiegels, was die narzisstische Struktur des durch die fehlende
Eindeutigkeit entfremdeten Ich bedingt. Links hat das Körperbild keinen eigenen Ort in der
Struktur, es ist als Form nicht integriert, rechts gibt es das Körperbild nur als einen anderen
in einem virtuellen Raum. Ich kann mich selbst nur begreifen, wenn ich mein Ideal-Ich im
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anderen sehe und mich mit ihm identifiziere. Dabei kommt eine Logik zum Tragen, wonach
das Gleiche auch dasselbe ist. Die imaginäre Identifizierung geht aus einem Transitivismus
hervor, indem ich sowohl dort als auch da, also ein gespaltenes Subjekt (S) (schräg
gestrichenes S!) bin. Als mein Selbstbild erscheine ich im imaginären Raum (S, I).
Allerdings geht das Schema über diese reine Identifizierung hinaus, da es auch auf die
Abhängigkeit dieser imaginären Bestimmung des Bildes von den symbolischen Koordinaten
verweist. Dies geschieht durch die Einführung des Planspiegels A, der in gewisser Weise die
Stimme des Anderen verkörpert. Der Ort des Anderen ist im Modell der reale Raum, der von
den virtuellen Bildern hinter dem Planspiegel A überlagert wird. Die Spiegelbeziehung ist an
die symbolischen Koordinaten gebunden, bevor sie noch als solche existiert. Denn die
Sprache geht der Spiegelbeziehung voraus, indem das Kind für einen Anderen (A) existiert,
bevor es noch für sich, in sich und durch sich existiert.
Von diesem Anderen erhält das Kind die Bestätigung für das Erkennen eines Bildes, das
schon vor ihm da war, weshalb sich das Kind vor dem Spiegel zu dem umdreht, der es vor
dem Spiegel hält. Von da her erhält das Bild seine Konsistenz. Wenn diese Anerkennung
vom Anderen aber ausbleibt, bricht das Bild in seine Komponenten auseinander.
Dies zeigt sich in psychotischen Entwicklungen oder in anderen klinischen Bildern, wenn es
zu einer Dekomposition der Spiegelerfahrung kommt. Hier kommt der Moment des Blicks ins
Spiel, ein Blickaustausch, wobei der Blick entweder der Verdrängung anheimfällt oder nicht.
Die jubilierende Mimik des Kindes beim Erkennen des eigenen Spiegelbildes kommt nur
zustande, wenn der Blick als solcher aus dem Blickaustausch verschwindet bzw. nur noch
an seinem Rand erscheint. Denn der Blick hat keinerlei Materialität und keinerlei
Ausdehnung, besitzt also keine Objekthaftigkeit, sodass das Fixieren des Blicks bzw. die
Identifizierung mit dem Blick die Subjektivierung und damit auch die Objektivierung des
Spiegelbildes verunmöglichen würde. Es wäre die Fixierung auf den realen Blumenstrauß im
Schema, auf „a“ also, wodurch der Planspiegel nicht in Funktion tritt und weder das reale
Objekt als (a‘) noch das imaginäre Objekt als i‘(a)und damit auch nicht die Verbindung beider
gespiegelt werden würde. Diese Spiegelung führt aber zusammen mit der symbolischen
Signifizierung durch den Anderen (im Sinne eines „Das bist du!“) zu einer innigen
Verbindung der drei Register real, symbolisch und imaginär und eröffnet damit den Weg zur
Realität. Dabei ist nochmals hervorzuheben, dass in diesem Erkenntnisvorgang des Kindes
das Reale nicht mehr unmittelbar, sondern gespiegelt als virtuelles Bild erlebt wird, was mit
dem Verlust des Genießens im Realen (und damit auch mit der Herabmilderung der Angst
des reinen Seins ohne Bedeutung) einhergeht.
Somit muss derBlick als das „flüchtigste“ Pseudoobjekt wirksam werden, weil nur die
Neutralisierung des Blicks das Erkennen im Sinne einer reconnaissance garantiert.Unter der
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Bedingung dieser Wiedererkennung bzw. Anerkennung trägt das Wahrgenommene ein
Realitätszeichen, wird also spontan als etwas Bekanntes erkannt und muss nicht erst
entziffert werden, wie dies beispielsweise bezüglich der Buchstaben beim Erlernen einer
Schrift erforderlich ist. Der Erkennungsvorgang hängt also von einem dritten Element ab, das
Bild muss eingeschrieben werden unter dem Kennzeichen eines Symbols und dieses
Kennzeichen wird bestätigt durch den Appell an den Blick als „Augenzeugen“, womit auch
das Bild als solches bestätigt wird. Der dritte kommt also ins Spiel, das Kind dreht sich vor
dem Spiegel um, aus der dyadischen Beziehung entsteht durch die Identifizierung mit dem
Signifikanten eine aufgebrochene Beziehung. Dadurch entstehen aus dem ursprünglichen
Objekt, welches sowohl Identifizierung als auch Begehren einschließt, zwei voneinander
unterschiedene Objekte, wobei man das Eine begehrt und wobei man sich mit dem Anderen
identifiziert (ödipal gesprochen: über die Identifizierung mit dem idealen Vater wird das
mütterliche Objekt begehrt).
Störungen des Körperbildes im Zusammenhang mit der Spiegelfunktion
Stéphane Thibierge hat insbesondere in seinem Buch « L’image et le double. La fonction
spéculaire en pathologie» (Thibierge 1999) eine umfassende Darstellung der von Lacan
konzipierten (Spiegel-)Bildfunktionfür die Entstehung des Subjekts und ihrer mannigfaltigen
Störungen liefert. Bei letzteren handelt es sich, allgemein gesagt, um Störungen der
Somatognosie, also Störungen des Bewusstseins, dass der eigene Körper eine
funktionierende Einheit ist.
Die entsprechenden Körperbildstörungen laufen auf eine defizitäre Spiegelfunktion hinaus,
wobei entweder ein normaler Abschluss des Spiegelstadiums nicht erreicht wurde oder
wobei eine schwere Beeinträchtigung von Strukturen der Persönlichkeit zu einer
Dekomposition der vorher intakten Funktion geführt hat. Dabei kann die Störung auf der
Auflösung des Bildes als Form oder auf der Aufhebung der Beziehung von Bild und Namen
beruhen. In allen Fällen geht es um Verkennungsphänomene, um Störungen im Sinne der
fausse reconnaissance (wozu auch die „déjà…-Phänomene gehören) auf der Grundlage
einer
mangelnden Grenzziehung
von
Innenwelt
und
Außenwelt,
einer
fehlenden
Differenzierung von Bild, Ding und Vorstellung bzw. eines Verknüpfungsfehler der Register
des Realen, des Imaginären und des Symbolischen. Letztlich handelt es sich um ein
Versagen des großen Anderen, das unvermittelte dinghafte Reale als mit Bedeutung
versehene Bilderwelt einzufangen und damit zu sublimieren und schließlich zu bewirken,
dass die wahrgenommene Welt bis auf wenige Grenzbereiche der Unmittelbarkeit (Gewalt,
Orgasmus, Rausch, Ekstase etc.) als repräsentierte, d.h. gespiegelte und benannte Welt
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erscheinen kann. Auf das Schema unseres optischen Experiments gewendet bedeutet dies,
dass der das Symbolische verkörpernde Planspiegel eine verhängnisvolle Neigung besitzt,
welche es nicht mehr gestattet, vom realen Blumenstrauß zu Gunsten seines gespiegelten
Abbildes absehen zu können, was auf das Psychische bezogen bedeutet, dass das Subjekt
von der Wucht der unvermittelten Dingweltergriffen wird. Dieser gehört im Fall der groben
Störung auch sein eigenes Spiegelbild an, von dem es mehr entfremdet als in seiner Identität
erfasst wird. Es wird schließlich versuchen, dieses stets rätselhafte und repräsentanzlose
Etwas
in
die
Repräsentationswelt
einzugliedern,
es
wird
sich
bemühen,
das
Wahrgenommene zu interpretieren, es mühsam zu identifizieren und zu entziffern, ohne das
Kriterium eines spontanen Erkennens, Anerkennens und Wiedererkennens zu erreichen.
Man kann auch sagen, dass es dem großen Anderen nicht gelungen ist, dem im Entstehen
begriffenen Subjekt gleichzeitig und dialektisch sowohl mitzuteilen, dass es sein Bild, sein
Sprechen und sein Körper ist, als auch ihm zu vermitteln, dass es weder das eine, noch das
andere, noch das dritte ist.
Die diesen Störungen der Subjektgenese entsprechenden Erscheinungen lassen sich nach
Thibierge(ebd., 15ff) auf drei klinischen Ebenen deutlich nachweisen:
1) Als Beeinträchtigung der Form des Spiegelbildes, wie sie als so genanntes
Spiegelzeichen für schizophrene Erkrankungen typisch ist.
2) Als Zerfall der Spiegelbilderfahrung bei Altersdemenzen.
3) Als Auftauchen der Struktur der Verdoppelung mit Doppelgängerphänomenen, wobei
drei pathologische Gestaltungen hervorzuheben sind:
a) Das Phänomen des „imaginären Kameraden”
b) Die heautoskopische Halluzination bzw. der Doppelgängerwahn
c) Die Syndrome von Capgras und Fregoli als heautoskopische Sonderformen
1) Das Spiegelzeichen (signe du miroir):
Oft stundenlanges Verharren vor dem Spiegel mit offensichtlicher Verstörtheit verweist
einerseits auf einen Zerfall des Spiegelbildes, andererseits auf das Auftauchen von etwas
Fremdem, das der Kranke auch identifizieren und benennen kann. Während das erstere
Symptom vor allem bei beginnenden Psychosen und bei schizophrenen Störungen ohne
besondere wahnhafte Interpretationen zuzuordnen ist, ist letzteres Phänomen als „fausse
reconnaissance“ bekannt und findet sich vor allem beim „Fregoli-Syndrom“. (siehe unten)
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2) Die Spiegelbilderfahrung bei Altersdemenz
Thibierge (ebd., 19ffr.) beruft sich bei dieser Darstellung zunächst auf Studien von
Ajuriaguerra et al. aus 1963, welche die Dekomposition der Spiegelbilderfahrung bei
Demenzstörungen
auf
drei
Prüfungskriterien
beziehen,
welche
in
absteigendem
Schweregrad
- das Erkennen des eigenen Spiegelbildes,
- das Erfassen des virtuellen Spiegelraums
- und das Erfassen und Benennen von Körperteilen im Spiegel
betreffen.
Ausgeprägte Angstmanifestationen sind bei Schwierigkeiten mit dem Erkennen des eigenen
Spiegelbildes feststellbar, welche weitgehend dem Spiegelzeichen der Schizophrenen
entsprechen. Bei völligem Fehlen des Erkennens verschwinden allerdings auch ängstliche
Affekte.
Bei schwerer Beeinträchtigung können die Kranken zunächst ihr eigenes Spiegelbild, das sie
als solches nicht erkennen, nur schwer mit dem Blick fixieren. Wenn sie es aber als
Phänomen erfasst haben, können sie sich vom Bild kaum lösen, sind wie in Hypnose davon
fasziniert. Die verbalen Zuordnungen zum Bild sind sehr stereotyp: meine Mutter, mein
Bruder, eine Frau, die gerade gekommen ist, etc.
Nach der hochgradigen Dekomposition der Spiegelerfahrung bleiben nur noch einige
Begriffe übrig, um das im Spiegel Gesehene einzuordnen und zu identifizieren. Im Register
des visuellen Feldes herrscht entweder Indifferenz oder totale Faszination.
Demgegenüber hat 1962 Postel (ebd.) in seinen Arbeiten 6 Stadien der Spiegelerfahrung mit
folgenden Kennzeichen beschrieben:
1) Normales Erkennen
2) Normales Erkennen mit gesteigerter Emotionalität (eher euphorisch oder eher depressiventwertend)
3) Erkennen des eigenen Bildes, aber nach dem Muster einer Fotografie oder eines
erstarrten Portraits
4) Erkennen einer Person mit eigenen Zügen, aber unter Verlust der Benennung des Bildes
als das eigene. Dissoziation von Bild und Bezeichnung. Eventuell wird auf Grund von
logischen Beziehungen – „Da Sie neben mir stehen, muss das wohl ich sein!“ – auf die
Selbstreferenz geschlossen. Das könnte aber auch ein Hinweis auf einen Transitivismus sein
nach dem Modell: „Das sind Sie, also bin das ich!“ Zumeist ist das Bild aber ein Fremder,
dem man freundlich, indifferent oder feindlich gegenübersteht.
5) Völliges Verkennen eines menschlichen Bildes. Eventuell kann der Kranke noch gewisse
Kleidungsstücke erkennen und benennen. Bild eines zerstückelten Körpers wie bei gewissen
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Angstzuständen. Fehlen der Beziehung zwischen innerer und äußerer Topologie des
Körperschemas. Bei kompletter Verkennung manchmal fixierter Blick auf einen bestimmten
Spiegelpunkt.
6) Völliges Verkennen des Spiegels als solchen, der von der Umgebung nicht mehr getrennt
wahrgenommen wird. Verschwinden jeglicher intellektueller Aktivität, rein vegetatives Leben.
3a) Das Phänomen des imaginären Kameraden:
Nach einer Beschreibung des amerikanischen Psychologen und Pädiaters Arnold Gesell (s.
dazu Gesell et al. 1943) neigen Kinder im Alter von etwa dreieinhalb Jahren zur Erfindung
eines Spielkameraden, was an sich nicht als pathologisch zu werten sei. Diese Erscheinung
ist gegenüber dem Übergangsobjekt, gegenüber Phantasmen und Tagträumen und auch
gegenüber komplexeren imaginären Spielen von Kindern und Adoleszenten abzugrenzen.
Dieser Gefährte, der zumeist ein Doppelgänger seines Erzeugers ist, ist nach Postel (zit. n.
Thibierge 1999, 25 f.) als Über-Ich im Sinne einer Idealbildung zu verstehen, eines Bildes, an
dem sich einerseits das Ich weiter formt und durch das andererseits eine Spaltung im
Sprechen zwischen einem sich Äußernden und seinem Adressaten vertieft. In diesem Sinn
könne man darin auch die Matrix einer Strukturierung sehen, die bei einer rein
spiegelbildlichen Verdoppelung zur Psychose überleitet, bei einer hauptsächlich sprachlich
strukturierten Rededialektik aber mehr ins Neurotische hinüberreicht.
3b) Die Heautoskopie (Doppelgängerwahn)
Das Doppelgängerphänomen ist ein uraltes Motiv, das außerhalb seiner psychologischpsychiatrischen Bedeutsamkeit in zahllosen literarischen, künstlerischen und filmischen
Produktionen behandelt worden ist.
Als heautoskopische Halluzination in einem klinischen Kontext versteht man im allgemeinen
das plötzliche Auftauchen eines wahren Doppelgängers vor den erstaunten Augen des
Betroffenen, wodurch der Eindruck eines vor ihn hingestellten Spiegels entsteht. Das
halluzinierte Bild kann alle aktuellen Eigenschaften des Subjekts besitzen, es kann sich aber
auch in Einzelheiten von ihm unterschieden oder sogar als transparent erscheinen, so dass
man die umgebenden Gegenstände dahinter sieht. (s. dazu Hècaen und Ajuriaguerra 1952,
336f.)
Das Wesentliche am Syndrom ist die Verdoppelung, wodurch auch das Phänomen des
„Unheimlichen“ im Sinne Freuds ins Spiel kommt und welches wiederum weitgehend dem
“Fremdheitsgefühl” der Psychiatrie entspricht. Diesbezüglich heißt es bei Freud:
“...das Doppelgängertum in all seinen Abstufungen und Ausbildungen, also das Auftreten
von Personen, die wegen ihrer gleichen Erscheinung für identisch gehalten werden müssen,
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die Steigerung dieses Verhältnisses durch Überspringen seelischer Vorgänge von einer
dieser Personen auf die andere – was wir Telepathie heißen würden -, so dass der eine das
Wissen, Fühlen und Erleben des anderen mitbesitzt, die Identifizierung mit einer anderen
Personen, so dass man an seinem Ich irre wird, oder das fremde Ich an die Stelle des
eigenen versetzt, also Ich-Verdopplung, Ich-Teilung, Ich-Vertauschung – und endlich die
beständige Wiederkehr des Gleichen, die Wiederholung der nämlichen Gesichtszüge,
Charaktere,
Schicksale,
verbrecherischen
Taten,
ja
der
Namen
durch
mehrere
aufeinanderfolgende Generationen.” (Freud 1919, 245)
Das Unheimliche setzt sich also aus der Problematik der Spaltung, der Verdoppelung und
der Wiederkehr des Gleichen zusammen, wodurch es auch aufs Engste mit der Struktur des
Ich verbunden ist und worauf auch Freud schon durch die an diesen Textteil anschließende
Erörterung der verschiedenen Modalitäten und der verschiedenen Umarbeitungen des
Narzissmus näher eingeht. Dabei ist hervorzuheben, dass diese Phänomene für eine
bestimmte klinische Struktur zunächst nicht spezifisch sind.
Die im Heautoskopischen beinhaltete Wiederkehr des Gleichen gibt auch Anlass zur
verschiedenen Formen der bereits erwähnten “fausse reconnaissance.”
Gewisse Beispiele legen die Annahme nahe, dass diese heautoskopischen Phänomene, die
insgesamt auf die Spiegelstruktur des Körperbildes hinweisen, mit gewissen Bruch- und
Auflösungslinien der symbolischen Ordnung verbunden sind. Dabei kommt es auch zum
Aufbruch und zur Dekompensation des Wahrnehmungsfeldes vereint mit dem Einbruch
punktueller symbolischer Elemente, die die Verdoppelung und die Befreiung von Bildern
einleiten. Es sind Wörter, die eine zwanghafte Bedeutung einnehmen und das plötzliche
Aufreißen des visuellen Bereichs nach sich ziehen. Dort, wo das streng halluzinatorische
Element fehlt, wo es nur um den Eindruck eines Doppelgängers geht, kann man von Formen
des so genannten Echodenkens sprechen, wozu man auch Clérambaults „mentalen
Automatismus“ zählen kann. Bei Clérambault allerdings finden diese Erscheinungen auf dem
Feld der Stimme und der Akustik statt, während es hier vor allem um jene Erfahrungen geht,
bei welchen der Blick die Stütze der Verdoppelung liefert. Zu überlegen ist aber auch, ob
nicht der Automatismus in gewisser Weise die elementare Struktur der Verdoppelung
darstellt, so dass er auch an den komplexeren Doppelgängerpathologien stets beteiligt ist.
Der Heautoskopie im üblichen Sinne verwandt sind Erscheinungen, die man unter dem
Begriff der “Negativen Heautoskopie” subsummieren kann, wobei vor allem
- das Verschwinden des Spiegelbildes,
- das unvollständige Erkennen des Bildes und die
- Identifizierung mit einem anderen in Anbetracht des eigenen Spiegelbildes
15
zu nennen sind (s. dazu Thibierge 1999, 36f.) Eine anschauliche und berühmt gewordene
Schilderung dieser und anderer Formen von Heautoskopie findet sich übrigens in der
Erzählung „Der Horla“ von Guy de Maupassant, welche auch mit Nachdruck die berechtigte
Frage aufwirft, wie der Blick als solcher aus dem Feld des Erkennens sowohl
ausgeschlossen als auch gleichzeitig identifiziert wird auf Grund der spezifischen Art und
Weise dieses Abzugs aus dem Wahrnehmungsfeld. Dabei tritt in diesen wie in allen anderen
verwandten Fällen die elementare Form der Spiegelspaltung und die Verselbstständigung
des Körperbildes hervor. Das bedeutet einen Riss im Spiegelfeld auf Verdoppelungsbasis,
gefolgt von einer Autonomisierung des Bildes, welches das virtuelle Register verlässt, um
sich in einem Bündel erstarrter Bedeutungen zu kristallisieren. Damit sind wohl auch die
elementaren logischen Prinzipien der diversen Syndrome von “fausse reconnaissance” bei
Psychosen zu erfassen.
In den heautoskopischen Erscheinungen gibt es demnach eine Korrelation eines oft
vorhandenen mentalen Automatismus mit einer Beeinträchtigung des Spiegelbildes mit oder
ohne Verdoppelung und der Identifizierung eines Anderen, der immer der Gleiche ist, aber
als dem wirklichen Erkennen entzogen erscheint.
Was Seglas und Clérambault als “Echodenken” im Feld der Stimme entfaltet haben, tritt hier
analog als Verdoppelung auf dem Feld des Blickes auf, wodurch auch die Heautoskopie die
Wirkungsweise der Struktur des Spiegelregisters jenseits aller klinischen Manifestationen zu
erhellen imstande ist.
Quantitativ betrachtet findet man schließlich in den verschiedenen heautoskopischen
Erscheinungen eine Anzahl von Steigerungsformen semiologischer Befunde, die vom
Unheimlichen ausgehen und bis zur vollkommenen Depersonalisation reichen, d.h alle
Grade einer Verselbstständigung des Spiegelbildes mit mehr oder weniger großer
Angstentbindung umfassen, um schließlich in die systematisierten Wahnbildungen der
Syndrome von Capgras und Fregolizu münden. Hier zeigt sich dann deutlich, wie sich die
Verbindung des Bildes und insbesondere des Körperbildes mit seiner Bezeichnung, mit
seinem
Namen
also
und
dessen
individualisierender
Funktion
auflöst,
was
mit
Veränderungen oder Verwandlungen einhergeht, die das Subjekt an seinem eigenen Bild
oder an
den Fremdbildern der es umgebenden Personen wahrnimmt. „Auf diese
Beeinträchtigung beziehen sich dann die Eigennamen seines Diskurses, um entweder den
Ursprung – der oder die Verfolger – oder das Objekt – die verwandelten und manipulierten
Bilder der anderen – oder aber beide zusammen zu bezeichnen.“ (ebd., 140, Übers. A.R.)
3c) Die Syndrome von Capgras und Fregoli
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Capgras beschrieb 1923 eine psychische Störung, welche durch das Beharren des
Betroffenen gekennzeichnet ist, dass andere Individuen nicht sie selbst seien, sondern
Doppelgänger oder Betrüger bzw. dass in den Repräsentanten des eigenen Selbst jeweils
doppelgängerische Andere gesehen werden. (Capgras und Reboul-Lachaux 1923) Dieses
klinische Bild, das Capgras auch als „Identifizierungsagnosie“ bezeichnete und das auf einer
Beeinträchtigung der individualisierenden Wirkung des Eigennamens beruht, führt einerseits
zu einer Überfülle von Doubles, andererseits wird an den wahrgenommenen Trugbildern
permanent nach Details, Charakteristisken und Unterscheidungen gesucht, um letztlich
ergebnislos die verstörenden Reduplikationen des Spiegelkabinetts zu etwas Einheitlichem
zusammenzufügen. Kommentare von Betroffenen zu ihrem Erleben wie etwa: „Er/Sie sieht
aus wie ich, aber das bin ich nicht“ oder:„Ich habe dauernd mit 100 Doppelgängern meiner
Tochter zu tun, das ist nicht meine Tochter, das ist eine Doppelgängerin“, verweisen auf eine
nicht vollzogene Dialektik, welche durch den günstigen Ausgang des Spiegelstadiums
eröffnet wird und im Begriffspaar von „das Gleiche“ und „dasselbe“ verankert ist. Eine
durchgehende Identität, die sich unter verschiedenen Gestalten aufrechterhalten lässt, kann
hier nicht erfasst werden. Im Capgras-Syndrom gilt vielmehr das Prinzip, wonach alles das
Gleiche, aber nichts dasselbe ist. Auf das optische Schema bezogen, wird in diesem Fall der
Blumenstrauß ohne Behälter und ohne virtuelle Spiegelung in einer Einheit mit der Vase
gesehen.
Eine ausgezeichnete Darstellung des Capgras-Syndroms bietet übrigens der von Virgil
Widrich realisierte Film „Copy Shop“ (Österreich, 2001).
Beim Fregoli-Syndrom hingegen, das 1927 von Courbon und Fail an Hand einer Patientin
herausgearbeitet und nach dem italienischen Schauspieler und Verwandlungskünstler
Leopoldo Fregoli benannt wurde (Courbon, P. und Fail, G. 1927), handelt es sich um eine
Fehlidentifizierung von Personen, die der Patient kennt, aber von denen er überzeugt ist,
dass sie sich nur verkleidet hätten und ihn verfolgen würden, dass sie in ihm selbst seien,
dass sie von ihnen zu allen möglichen Handlungen und Schandtaten gezwungen würden
usw. Nach den dokumentierten Worten der besagten Patientin seien ihre Verfolgerinnen
(und da hauptsächlich eine Person namens Robine) „Fregoli“, welche es darauf abgesehen
hätten, die Welt zu „fregolisieren“. (ebd., 141) Auf einer Desintegration des Bildes beruhend
wird im allgemeinen die als fremd und autonom empfundene Macht auf eine bestimmte und
stets mit einem Namen genannte Gestalt reduziert, welche die Sicht auf den Anderen als
etwas anderes und damit Austauschbares verstellt, indem er mit einer einzigen Instanz
identifiziert wird, demgegenüber sich der/die Betroffene als unterworfenes und manipuliertes
Objekt „a“ erlebt. Was hier ausgeblieben ist, ist die Verdrängung von „a" durch einen
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Repräsentanten (Ich-Ideal, Phallus, „einziger Zug“), durch den der Mangel des Objekts
bezeichnet bzw. die Metaphorisierung des Objekts bewerkstelligt wird.
Dem Phallus und damit dem Sexuellen kommt hierbei insofern eine besondere Bedeutung
zu, als er für ein Zeichen, welches sowohl Abwesenheit als auch Anwesenheit zu
repräsentieren hat, eine spezielle Eignung besitzt, wodurch es mit der Subjektwerdung durch
Metaphorisierung des Objekts auch gleichzeitig zur Sexuierung des Subjekts kommt. Wie bei
allen verwandten Psychosen, wo es zu keiner wirklichen Metaphernbildung kommt, wird
daher auch beim Fregoli-Syndrom die sexuelle Identität in der Schwebe gehalten.
Bezogen auf das optische Schema wird der Anblick des realen Blumenstraußes nicht
vermieden, er fügt sich damit nicht als gespiegeltes Bild in die Körpererfahrung ein, wobei es
nur einen Körper in verschiedenen Verkleidungen gibt. „a“ wird also weder in die Klammern
der Verdrängung gesetzt [i(a)] noch als solches durch den Planspiegel des großen Anderen,
d.h. durch die symbolische Ordnung reflektiert [i‘(a)].
Hier herrscht im Gegensatz zum Capgras-Syndrom das Prinzip, wonach alles dasselbe, aber
nichts das Gleiche ist.
Anmerkungen
(1) In der Psychiatrie war Lacan stark beeinflusst von Gaetan Gatian de Cléarambault,
der sich nicht nur als Gerichtspsychiater und durch seine psychiatrischwissenschaftlichen Abhandlungen (v. a. über den „mentalen Automatismus“) einen
Namen gemacht hatte, sondern der sich auch durch eine an die Obsession
grenzende Sammelleidenschaft sowohl von psychiatrischen Fällen als auch von
Fotografien nordafrikanischer Frauengewänder auszeichnete. Als Clérambault wegen
einer Netzhauterkrankung vom Verlust seines Augenlichts bedroht war, beging er vor
einem Spiegel sitzend mit einem Schuss in den Kopf Selbstmord. In Anbetracht des
von Lacan später entwickelten Spiegelstadiums der Subjektgenese und dessen
Beziehung zur narzisstischen Aggressivität liegt in diesem Vorfall zumindest ein
Stück geschichtlicher Ironie.
Literatur
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Capgras,J.; Reboul-Lachaux, J. (1923): L’illusion des “Sosies” dans un délire systematisé
chronique. Bull. Soc. Clin. Méd. Ment., XI, 6-16
Courbon, P.; Fail, G. (1927): Syndrome d’illusion de Frégoli et schizophrénie. Bull. Soc. Clin.
Méd. Ment., 5-6-7, 121-125
Freud, S. (1919). Das Unheimliche. G.W. XII, 229-268
Freud, S. (1925): Die Verneinung. G.W. XIV, 9-15
Gesell, A.; Ilg, F.L. (1943): Infant and Child in the Culture of Today. Harper & Bros., New
York und London
Hécaen, H.; de Ajurriaguerra, J. (1952): Méconnaissances et hallucinations corporelles,
intégration et désintégration de la somatognosie. Masson, Paris
Lacan, J. (1933): Motive des paranoischen Verbrechens. Das Verbrechen der Schwestern
Papin. In: Salvador Dali: Gesammelte Schriften. Hrsg. V. Axel Matthes und Tilbert Diego
Stegmann, Matthes und Seitz, München 1974. Erstdruck: „Motifs du crime paranoiaque.
Minotaure, 1933, Nr. 3/4, Paris
Lacan, J. (1949): Das Spiegelstadium als Bildner der Ich-Funktion, wie sie uns in der
psychoanalytischen Erfahrung erscheint. In: Schriften I, Walter, Olten 1973, 61-70)
Lacan, J.(1975): Freuds technische Schriften. Das Seminar von Jacques Lacan, 1953/54,
Buch I. Walter, Olten 1978
Lacan, J. (1977): Das Ich in der Theorie Freuds und in der Technik der Psychoanalyse. Das
Seminar von Jacques Lacan, 1954/55, Buch II. Walter, Olten 1980.
Thibierge, S. (1999) : L’image et le double. La fonction spéculaire en pathologie. Editions
Erès, Ramonville saint-Agne
Wallon, H. (1931) : Comment se developpe chez l’enfant la notion ducorps propre. Journal
de Psychologie (Nov.-Dec. 1931), 705-748

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