Uwe Rada Russlands Suche nach der Memel. Erinnerungskulturen

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Uwe Rada Russlands Suche nach der Memel. Erinnerungskulturen
Uwe Rada
Russlands Suche nach der Memel. Erinnerungskulturen an einem
europäischen Strom
Vortrag Galerie im Studio, 18. Februar 2011
1.
Spricht man von der Wolga, weiß in Russland jeder, um was es geht.
Europas größter Strom ist ein nationaler Mythos. Manchen gilt er, nach der
Schlacht um Stalingrad, als russischer Schicksalsstrom. Anderen ist er das
„russische Mütterchen Wolga“. Wie mythisch aufgeladen die Wolga ist,
zeigt sich schon an der Quelle in Wolgowerchowje, 450 Kilometer
nordwestlich von Moskau. Jedes Jahr im Mai pilgern Hunderte von
Gläubigen in das Dorf, um die geistliche Segnung der Wolgaquelle zu
erleben. Geht es nach Wiktor Gribkow, dem Tourismusdirektor im Gebiet
Twer, sollen es sogar noch mehr werden: „Jeder Russe“, fordert er, „soll
wenigstens einmal im Leben zum Ursprung der Wolga pilgern.“
Als einen „russländischen Kulturraum“ bezeichnet der Osteuropahistoriker
Karl Schlögel die 3.530 Kilometer lange Wolga, in der sich russische
Geschichte wie unter einem Brennglas bündele. Derzeit arbeitet Schlögel an
einem auf fünf Jahre angelegten Publikationsprojekt der Europa-Universität
Viadrina in Frankfurt (Oder). An dessen Ende soll kein weiteres Buch über
die Wolga stehen, wie Schlögel betont, sondern eine neue, eine andere
Geschichte Russlands. Ein Strom als Symbol einer Nation, das hat zuletzt
nur Peter Ackroyd mit der Themse gewagt.
Das Thema meines Vortrags heute lautet „Russlands Suche nach der
Memel“. Mit der Wolga habe ich begonnen, um ihnen die Fallhöhe dieses
Themas vor Augen zu führen. Ist in Russland und damit auch im
Kaliningrader Gebiet vom Neman die Rede, ernten sie kein Leuchten in den
Augen, sondern allenfalls ein Schulterzucken. Dabei ist auch die Memel in
gewisser Weise ein Schicksalsstrom der Russen geworden. Zweieinhalb
Jahre nach der Schlacht von Stalingrad, das heute Wolgograd heißt, wurde
das nördliche Ostpreußen russisch, und aus der Memel, seit Hoffmann von
Fallersleben bekannt aus der ersten Strophe des Deutschlandslieds, wurde
im Kaliningrader Gebiet der Neman.
Doch das war es dann auch schon. Kaum ein Russe kann sagen, wo seine
Quelle ist, kein Lied besingt das „Mütterchen Neman“, keine
Ausflugsdampfer verkehren auf dem Unterlauf des Stroms, der hier die
Grenze zu Litauen bildet. Russland und die Memel, das ist seit 1945 die
Geschichte eines weißen Flecks im kollektiven Erinnern.
2.
Doch woher kommt dieses Fremdeln? Schließlich ist in Kaliningrad doch
auch wieder von Königsberg die Rede und in Sowjetsk von Tilsit. Nur der
Fluss, der gehört nicht dazu zur Suche nach dem kulturellen Erbe einer
Region, die 1945 vermeintlich bei Null anfing. Liegt es an der
Vergangenheit der Memel, die nie russisch war, dafür aber deutsch,
litauisch, belarussisch, polnisch und jüdisch? Lieben die Russen nur die
Ströme, die ihnen russisch genug sind? Oder wird die Memel deshalb
ignoriert, weil sie die Grenze zu Litauen bildet und damit, aus der
Perspektive Kaliningrads, die unbedeutende Periferie des Gebiets?
Werfen wir also einen Blick zurück auf die Anfänge des russischen Stromes
Neman – und auf den Anfang der russischen Inbesitznahme des nördlichen
Ostpreußen.
Als die Rote Armee Otto Lasch, den General der Festung Königsberg, am 9.
April 1945 zur Kapitulation zwang, lag kein Fahrplan vor für die
Eingliederung der Stadt in die Sowjetunion. Auch Stalin war sich nicht
sicher, ob ihm Königsberg, im offiziellen sowjetischen Sprachgebrauch die
"Wiege des preußischen Militarismus", langfristig nutzen oder eher schaden
würde. 1.275 Kilometer war die Stadt am Pregel von Moskau entfernt,
dazwischen lag Litauen, wo sich Partisanen zu Tausenden gegen das
Sowjetregime wehrten. Anders als über Schlesien, wo es in Breslau einen
ähnlichen Bevölkerungstausch wie in Königsberg gab, war über Ostpreußen
erst am 2. August 1945 auf der Potsdamer Konferenz entschieden worden.
Kurz darauf wurde klar, dass Stalin an Königsberg eher ein strategisches
denn ein wirtschaftliches Interesse hatte. Statt es als Oblast in die
Sowjetunion einzugliedern, machte er aus dem nördlichen Ostpreußen
zunächst ein Sperrgebiet und einen Sondermilitärbezirk. Die Botschaft war
deutlich: Die sowjetische Militärbasis an der Ostsee sollte den Nachbarn in
Litauen und Polen eine Mahnung sein, nicht von der Sowjetunion respektive
dem Bündnis der kommunistischen Satellitenstaaten abzufallen.
3.
Auch nach der Umbenennung des Gebiets in Kaliningradskaja Oblast am 4.
Juli 1946 verlief die Entwicklung alles andere als reibungslos. Zwar war
Kaliningrad nun Teil der Russischen Sozialistischen Föderativen
Sowjetrepublik (RSFSR), und die Uhren am Hauptbahnhof zeigten die
Moskauer Zeit an. Für die sowjetische Hauptstadt aber blieb Kaliningrad
Ausland und, wie es Per Brodersen in seiner Studie Die Stadt im Westen
formulierte, "ein ungeliebtes Kind. Viel Aufmerksamkeit brachte ihm
Moskau nicht entgegen."
Das ist womöglich untertrieben. Wie unscharf selbst die geografische
Kenntnis des Gebiets aus der Perspektive Moskaus war, zeigen die
damaligen Verkehrsplanungen. In dem "Schema von Autotransportstraßen
des Gebiets Kaliningrad", das Verkehrsplaner 1947 in Moskau
veröffentlichten, wird die Moskauer Kriegsbeute im Norden zwar
richtigerweise von der Memel begrenzt. Am andern Ufer aber zeichneten die
Planer nicht die Litauische, sondern die Lettische SSR ein. Das war nicht
der einzige Fehler. Anstelle von Sowjetsk, der Grenzstadt an der Memel, ist
im Transportschema Tilsit verzeichnet. Sowjetsk befindet sich auf der Karte
einige Kilometer weiter östlich, an der Stelle von Ragnit, das von den
Sowjets in Neman umbenannt worden war. Mithin existierte Tilsit weiter,
wenn auch nur auf der Karte. Das Chaos war so groß, dass sich die neuen
Bewohner des Gebiets noch 1948 in der Kaliningradskaja Prawda darüber
beschwerten, dass an den Verkaufsstellen für Eisenbahnfahrtkarten "bis
heute die alten Ortsnamen benutzt werden. (…) Die Fahrgäste geraten in
vollkommene Verwirrung, wenn sie erfahren, dass es die Städte Sowjetsk,
Pollesk oder Bolschakowo nicht im Fahrplan gibt."
Ohnehin standen nicht die Siedler im Mittelpunkt der Sowjetpolitik, sondern
die Ausbeutung der Region. Industriebetriebe wurden demontiert,
Drainagerohre herausgerissen, die wichtigsten Wertgegenstände gingen nach
Moskau, unter ihnen, natürlich, tonnenweise Ziegel. In einer Zeit, in der die
Deutschen das ehemalige Ostpreußen noch nicht vollständig verlassen
hatten, waren sich die zuständigen Stellen nicht sicher, ob und wie lange
Russland das Kaliningrader Gebiet behalten würde. Also baute man lieber
ab als auf. So offensichtlich war die Plünderung, dass sich der
kommissarische Gebietsparteichef Pëtr Iwanow in einem Brief an Stalin
persönlich wandte. Darin heißt es: "Stellvertreter verschiedener Ministerien
und Dienststellen im Gebiet betrachten Ostpreußen als besetztes Gebiet,
demontieren Ausrüstung, transportieren wertvolle Materialien aus Betrieben
ab", während die örtliche Führung "der Bevölkerung und den Angehörigen
der Sowjetarmee nicht erklärte, dass das Gebiet Kaliningrad ein
sowjetisches Gebiet ist und dass alle Betriebe, Einrichtungen, materiellen
Wertgegenstände als sozialistisches Eigentum, als Besitz des sowjetischen
Staats gelten". Als Moskau daraufhin eine Kommission nach Kaliningrad
schickte, die kurze Zeit später die Gebietsverwaltung für die Missstände
verantwortlich machte, verübte Pëtr Iwanow Selbstmord.
4.
So wenig interessiert Moskau an der wirtschaftlichen Entwicklung seiner
Beute war – seine Geschichtspolitik trieb es konsequent voran. Im Grunde
war es eine Politik der Geschichtslosigkeit. Nichts sollte mehr an die
ostpreußische Vergangenheit erinnern – und wie immer im Augenblick
solcher Zäsuren traf es die Orts- und Straßennamen als erste. Doch das war
schwieriger als gedacht. Im Gegensatz zu Schlesien, wo die polnischen
Geografen und Historikerkommissionen auf alte polnische Ortsnamen und
Flurbezeichnungen zurückgreifen konnten, war Ostpreußen nie russisch
gewesen. Wie also sollte man Königsberg, Tilsit und Ragnit nennen?
Und wie die Memel und ihre Mündungsströme Ruß und Gilge? Sollte man
die Namen einfach ins Russische übertragen oder ihnen russische Endungen
anfügen? Oder war es besser, ganz neue Namen zu finden, um die deutsche
Vergangenheit ein für allemal auszumerzen und 1945 als Stunde Null zu
etablieren – und damit als eigentlichen Beginn der, nunmehr sowjetischen,
Geschichte?
Erstaunlicherweise gaben die sowjetischen Behörden diese Fragen zunächst
an die Neusiedler weiter, deren Zahl im Jahr 1946 auf knapp 50.000
gestiegen war. Auf zahlreichen Versammlungen sollten sie die Namensfrage
beraten. Das Votum war eindeutig. Um eine Brücke zwischen ihrer alten und
der nunmehr neuen Heimat zu schaffen, sprachen sich die meisten für
Ortsnamen aus ihrer Herkunftsregion aus. Das zeigte, schlussfolgert Per
Brodersen, "wie stark die Bindung der Übersiedler an ihren alten Wohnort
geblieben war – zu Kaliningrad hatten sie keinen Bezug." Ende 1946
schließlich schickten die Kaliningrader Stellen eine erste Liste mit
Vorschlägen nach Moskau. Diese enthielt sowohl Namen, die an die
Herkunftsorte erinnerten, als auch Namen sowjetischer Herkunft wie
Komsomolskij, Uljanowo oder Oktoabrskoe. Wer es gern historisch wollte,
bediente sich bei Puschkin oder dem General des Vaterländischen Krieges
gegen Napoleon, Bagration. Das Ziel war klar, meint Brodersen:
"Kaliningrad sollte sowjetisch werden, in dem sich seine Ortsnamen überall
auf der sowjetischen Landkarte finden ließen. Zwar waren alle Regionen der
UdSSR sowjetisch – Kaliningrad aber sollte am sowjetischsten sein."
5.
Womit weder Kaliningrad, noch Moskau gerechnet hatten: Auch Wilna
wollte in der Umbenennungsfrage ein Wörtchen mitreden. Zu der
entscheidenden Sitzung im Februar 1947 kündigte sich auch Povilas
Pakarklis an, der Ministerratsvorsitzende der Litauischen Sozialistischen
Sowjetrepublik. Zur Überraschung des Kreml forderte er "die Beibehaltung
alter litauischer, von den Deutschen verdrehten Bezeichnungen".
Vollkommen abwegig war das nicht. Vor der geplanten Umbenennung durch
die Sowjetunion hatten bereits die Deutschen 1938 in Ostpreußen mehr als
der Hälfte der 2.087 Orte neue Bezeichnungen gegeben. Damit wollten die
Nationalsozialisten die allzu litauisch klingenden Ortsnamen germanisieren.
Wie fremd diese Namen in den Ohren der meisten Deutschen klingen
musste, zeigte ein Reisebericht des aus Masuren stammenden Robert
Budzinski:
"Bei meinen Wanderungen stieß ich wiederholt auf Ortschaften mit nicht
sehr bekannten, aber desto klangvolleren Namen, so dass ich oft glaubte,
mich in einer verzauberten Landschaft herumzutreiben. So fuhr ich mit der
Bahn von Groß Aschnaggern nach Liegetrocken, Willpischken,
Pusperschkallen und Katriningkeiten, frühstückte in Karkeln, kam über
Pissanitzen, Bammeln, Babbeln und abendbrotete in Pschintschiskowsken,
übernachten wollte ich in Karßamupchen."
Nach der „Eindeutschung“ 1938 war mit diesen fremden Namen Schluss.
Aus Pillkallen wurde Schlossberg, Wolla wurde Weißenfluss, Bialla hieß
Weißensee, Stallupöhnen Ebenrode, Darkehmen wurde zu Angerapp.
Als der nördliche Teil Ostpreußens 1945 zur LSSR kam, brauchte man also
rechts der Memel bloß auf die alten Ortsnamen aus der Zeit vor 1938
zurückgreifen. So ging nun also alles wieder in die andere Richtung:
Schmalleningken wurde Smalininkai, Wischwill hieß nun Viešvilė,
Bittehnen Bitėnai, Pogegen wurde zu Pagėgiai.
Doch der Regierungschef der LSSR ging noch einen Schritt weiter. Auf der
Sitzung im Februar 1947 betonte Pakarklis, "dass die litauische Regierung
nicht nur die Beibehaltung der alten litauischen Bezeichnungen von
Ortsnamen für zweckmäßig“ halte, sondern auch die „Eingliederungen eines
großen Teils des Gebiets Kaliningrad in die Litauische SSR in nächster
Zukunft." Moskau war alarmiert. Eine eilends eingesetzte Kommission von
Geografen und Sprachwissenschaftlern konnte den Streit nicht schlichten.
Am Ende aber setzten sich die Vertreter der Sowjetisierung durch. Die
Begründung, die der stellvertretende Außenminister der RSFSR, Smirnow,
dafür gab, war recht schlicht: "Angesichts dessen, dass das Gebiet
Kaliningrad Teil der RSFSR ist und mit russischen Kolchosebauern
besiedelt wird, für die die vorgeschlagenen litauischen Ortsbezeichnungen
ebenso schwer auszusprechen sind wie die deutschen", sei es "zweckmäßig,
dem Entwurf des Erlasses des Präsidiums des Obersten Sowjets der RSFSR
über die Umbenennung der Orte des Gebiets Kaliningrad zuzustimmen".
6.
Zu diesem Zeitpunkt war nicht nur Königsberg bereits in Kaliningrad
umbenannt. Auch die zweitgrößte Stadt des Gebiets, Tilsit an der Memel,
hatte bereits am 7. September 1946 seinen neuen Namen Sowjetsk
bekommen. Zwar hießen damals bereits sechs Städte in der UdSSR
Sowjetsk, aber das spielte keine Rolle. Mit einem sowjetischen Namen
versehen wurde ebenfalls die Gilge, jener Mündungsstrom der Memel, der
nun durch russisches Gebiet floss. Er hieß fortan, für Russen ganz leicht
auszusprechen, Matrosowka.
Nur beim Rußstrom hatte sich die litauische Lesart durchgesetzt. Aus dem
nördlichen Mündungsstrom der Memel, der die Grenze zwischen dem
Kaliningrader Gebiet und der Litauischen SSR bildete, wurde die Rusne.
Doch das war eine Ausnahme: Im Kaliningrader Gebiet, das mit seinen
Siedlern aus Russland, Weißrussland, der Ukraine oder aus Kasachstan eine
Sowjetunion en miniature wurde, hatten die meisten Orts- und Flurnamen
nur die eine Botschaft: An die Stelle der Geschichte das allumfassende
Glücksversprechen des Sozialismus treten. Wozu braucht man die
Vergangenheit, wenn man eine glänzende Zukunft vor sich hat?
Was aber war das für eine Zukunft, die die russischen Pioniere auf ehemals
ostpreußischem Boden erwartete? Die Hoffnung war groß. Zuhause waren
die Dörfer im Krieg zerstört. Viel zu verlieren hatten die Neusiedler nicht,
umso mehr aber zu gewinnen. Der erste "Eschelon", ein Zug mit
Umsiedlern, startete am 19. August 1946 in Brjansk, einer kleinen
Bahnstation vor der Grenze zum Smolensker Gebiet. Die Fahrt verlief über
Witebsk und Polozk die Düna entlang, bevor der Zug bei Švenčionys das
Gebiet der Litauischen SSR erreichte. Auf geradem Weg ging es nun in die
litauische Hauptstadt Wilna und von dort weiter nach Kaunas an der Memel.
In Kybartai erreichte der Zug schließlich die Grenze zum Kaliningrader
Gebiet. Acht Tage waren die 151 Familien nach Ostpreußen unterwegs. Am
27. August 1946 hatten sie ihr Ziel erreicht – den Bahnhof von Gumbinnen,
das nun, nach einem sowjetischen Hauptmann, Gussew hieß.
Die Fahrt war alles andere als gewöhnlich, weiß Eckhard Matthes, der
ehemalige Direktor des Nordost-Instituts in Lüneburg: "Besonders der
Streckenabschnitt durch Litauen blieb vielen Neusiedlern in Erinnerung und
wird wiederholt erwähnt: wegen der dort unerwartet guten Versorgung der
Reisenden mit Lebensmitteln."
Doch Litauen war nicht nur ein Schlaraffenland, es war auch gefährlich:
"Während wir durch Litauen fuhren, stand vorne und hinten ein Soldat mit
Maschinengewehr", erinnert sich Iwan Fedosejewitsch Babenko an seinen
Transport. Michail Iwanowitsch Iwanow aus Gomel sagte, ihm sei vor dem
Transport geraten worden, "nicht zu viele Dinge mitzunehmen, weil noch
nicht bekannt sei, wie wir an den Ort kommen, da in Litauen die Züge
gelegentlich beschossen würden". Als die Züge die Grenze zum
Kaliningrader Gebiet erreichten, war die Partisanengefahr vorbei – doch der
Schrecken setzte sich fort, wie sich Juri Nikolajewitsch-Tregub erinnert, der
mit seiner Familie aus Alma-Ata gekommen war:
"Als wir in das ehemalige Ostpreußen einreisten, begann hinter der Stadt
Vilkaviškis die reine Hölle. Alles war zerstört, die Häuser beschädigt, auf
den Schienen standen total verbogene Waggons, überall waren Drahtigel
zur Panzerabwehr, Stahlbetonbefestigungen, weggeworfenes Werkzeug. (…)
Einen bedrückenden Eindruck hinterließ die Stadt Insterburg. Als wir in den
Bahnhof einfuhren, war er völlig zerstört. Eisenträger ragten empor, auf
denen einst das Dach befestigt war, und Metallrahmen ohne Scheiben.
Überall verkohlte Ziegelsteine, in der Luft lag ein Geruch von Verbranntem,
an den ich mich noch heute erinnere."
7.
Die Erinnerungen dieser Neusiedler sind Teil des ersten Oral History
Projekts im Kaliningrader Gebiet, das der Historiker Juri Kostjaschow 1988
begonnen hatte, in Kaliningrad selbst aber erst 2009 veröffentlicht werden
durfte. Dabei werfen die Schilderungen der Neusiedler auch die Frage auf,
wie die Sowjetisierung in den anderen Sowjetrepubliken verlief, durch die
die Memel floss.
In diesem Zusammenhang ist vor allem die Tatsache interessant, wie stark
die Neuankömmlinge die Unterschiede zwischen Litauen und dem
Kaliningrader Gebiet empfanden. Anders als das ehemalige Ostpreußen und
auch als Weißrussland war Litauen im Zweiten Weltkrieg nicht gänzlich
dem Erdboden gleichgemacht worden. Vor allem auf dem Land konnten die
Bauern schnell wieder ihre Äcker bestellen. Dass es in Litauen mehr zu
essen gab als im ehemaligen Ostpreußen, hatte sich auch bei jenen Kindern
herumgesprochen, die von ihren Eltern bei Flucht und Vertreibung
zurückgelassen worden waren und ihr Überleben auf eigene Faust sichern
mussten. Zwischen 10.000 und 25.000 dieser sogenannten Wolfskinder gab
es nach dem Krieg, und fast alle trieb der Hunger über die Memel nach
Litauen. Wer Glück hatte, wurde von litauischen Bauern aufgenommen.
Andere starben an Unterernährung.
Doch die Fassade des relativen Wohlstands täuschte. Trotz aller
Bemühungen war Litauen nach dem Zweiten Weltkrieg nicht wieder, wie
bis 1940, unabhängig geworden. Schon beim Einmarsch der Roten Armee
1944 machte Moskau deutlich, dass es das Land erneut der Sowjetunion
zuschlagen wollte. Und wie bereits im "Russenjahr", vom 15. Juni 1940 bis
zum 22. Juni 1941, war der erste Schritt der Sowjetisierung die Deportation.
Während zur Zeit der sogenannten "ersten Okkupation" 18.000 Litauer nach
Sibirien deportiert worden, betrug die Zahl der Opfer in den Jahren
zwischen 1944 und 1953 nach Schätzungen des "Museums für die Opfer des
Genozids" 118.000. Weitere 186.000 wurden verhaftet, viele von ihnen
saßen im berüchtigten KGB-Gefängnis, dessen Kerkerzellen heute das
Genozidmuseum in Wilna beherbergen.
Moskau stieß allerdings auf Widerstand. Rund um Wilna, Kaunas und die
anderen Städte des Landes schlossen sich zahlreiche Menschen den
Partisanen an. Schon 1945 kämpften 30.000 dieser "Waldbrüder" gegen die
Rote Armee, verübten Anschläge und Sabotageakte, verteilten Flugblätter –
und schossen auf die Transportzüge, die aus dem Innern der Sowjetunion ins
Kaliningrader Gebiet fuhren. Mit dem Beginn der Kollektivierung der
Landwirtschaft stießen auch zahlreiche Bauern zu den Waldbrüdern. Die
Hochburg der Partisanen war die Dzūkija, das Grenzgebiet Litauens zu
Weißrussland, das sich rechts und links der Memel erstreckte. Bis 1949 war
es den Freischärlern gelungen, weite Teile der Region um die Memelstadt
Alytus unter ihre Kontrolle zu bringen. Doch die Hoffnung der Partisanen
auf Hilfe aus dem Westen erfüllte sich nicht. Als Stalin 1953 starb und
Moskau eine Amnestie gewährte, legten die Partisanen die Waffen nieder.
20.000 von ihnen waren gefallen. Allmählich kehrten auch die Verbannten
aus Sibirien zurück. Nach dem nördlichen Ostpreußen war nun auch Litauen
sowjetisch.
8.
Doch die unmittelbare Nachkriegszeit ist noch heute – oder besser gesagt,
heute wieder – bestimmend für die litauische Erinnerungspolitik. "Kurz
nach der Wende", sagt Alvydas Nikžentaitis, der Direktor des Litauischen
Historischen Instituts, "hat die litauische Erinnerungspolitik alle Ethnien
umfasst." Historischer Bezugspunkt war das Großfürstentum Litauen, das
seit dem 14. Jahrhundert in Personalunion mit dem Königreich Polen
existierte, von der Ostsee bis zum Schwarzen Meer reichte und Litauern wie
Polen, Juden, Weißrussen und Ukrainern eine Heimat war. "Nun aber", sagt
Nikžentaitis, "erleben wir eine Renationalisierung der Erinnerung.
Ausgangspunkt der offiziellen Erinnerungspolitik ist eine nationale
Erzählung, die das litauische Gedenken in eine Opfererzählung presst,
demgegenüber die Sowjets als Täter dastehen." Das sei, sagt der Historiker,
typisch für postkommunistische Länder. Litauen unterscheide sich darin in
keiner Weise von Russland oder Weißrussland.
Gleichwohl gibt es in Litauen auch eine nicht nur nationale, sondern auch
regionale Erinnerung – auch und gerade an der Memel. In Klaipeda etwa
steht Preußens Königin Luise heute für das deutsche kulturelle Erbe einer
Stadt, die sich zu ihrer Besonderheit gegenüber Kaunas und Wilna bekennt.
Memel war einst die größte Stadt des Memellandes. Hier wohnten Deutsche
und preußische Litauer, die anders als die Litauer in Großlitauen
protestantisch waren. Heute heißt das ehemalige Memelland Lietuva mazoji,
Kleinlitauen – und ist stolz auf die preußisch-litauische Vergangenheit. Zu
dieser Vergangenheit gehören auch die Aufenthalte der Luise im Memeler
Exil. In Klaipeda betont man gerne, dass die preußischen Reformen, von
denen auch Memel profitierte, von dieser Stadt ausgingen. Am ehemaligen
Haus des Kaufmanns Consentius, in dem die Königsfamilie lebte, wurde
deshalb eine Erinnerungstafel angebracht. Kein nationaler Stolz und keine
antirussische Erinnerungspolitik ist es, die man da in Klaipeda eingeübt hat,
sondern die Wiederentdeckung der Geschichte und der Stolz auf die Stadt
und ihre Region.
9.
Ein neues Erinnern gibt es aber auch im Kaliningrader Gebiet – und auch da
spielt die Königin Luise eine Rolle. Im Juli 2007 sollten, so sah es die Regie
vor, der russische Präsident Wladimir Putin, Frankreichs Staatsoberhaupt
Nicolas Sarkozy und der deutsche Bundespräsident Horst Köhler ins
russische Sowjetsk reisen. Auf dem Programm stand nichts Geringeres als
die 200-Jahr-Feier des Friedens von Tilsit, der Bittgang der Königin Luise
bei Napoleon – und mit ihm die Frage nach der Aktualität des
Friedensschlusses für das Europa der Gegenwart.
Schon Wochen vorher waren in Sowjetsk die Vorbereitungen für das
historische Zusammentreffen angelaufen. Der Leiter des Stadtmuseums,
Georgi Ignatow, hatte für sein Projekt "Krieg und Frieden" von der EU
53.000 Euro bekommen. Ein Festumzug mit historischen Uniformen sollte
das Geschehen vom Juni und Juli 1807 noch einmal aufleben lassen, bei
einem Schönheitswettbewerb galt es die "Miss Luise" zu küren und die
Stadt an der Memel aller Welt bekannt zu machen. Für die Häuser der
ehemaligen Deutschen Straße 21 und 24, in denen der russische Zar und der
französische Kaiser residiert hatten, waren Erinnerungsstelen geplant.
Natürlich durfte auch das kulturelle Rahmenprogramm nicht fehlen – mit
Filmen wie "Krieg und Frieden", der "Husarenballade" und "Waterloo".
Schon zwei Monate zuvor hatte im Hotel "Rossija" in Sowjetsk eine
Konferenz stattgefunden – als intellektueller Auftakt der Feierlichkeiten.
"Der Tilsiter Friede als Prototyp des Europäischen Hauses", lautete der Titel
des Symposiums. Vor allem das Tilsiter Vertragswerk von 1807 hatte es
Historikern und Politikwissenschaftlern angetan – es galt als Meisterwerk
der Diplomatie und russischer Verhandlungskunst. In Tilsit, resümierten vor
allem russische Experten, seien die Grundlagen europäischer
Friedensarchitektur gelegt worden.
Wie es um diese Grundlagen bestellt war, zeigte sich freilich kurz vor dem
Jubiläum. Aus unerfindlichen Gründen wurde das Treffen zunächst von der
Ebene der Staatschefs auf Außenministerebene herabgestuft. Kurz darauf
sagte die französische Delegation ab. Einige Unterhändler hatten
herausgefunden, dass es Tilsit nicht mehr gab. Und das, obwohl der Name in
Frankreich jedem Schulkind bekannt ist. Den russischen Namen der Stadt
dagegen kannte keiner. Zudem war in Paris bekannt geworden, dass die
Pferde, die die Franzosen für das Historienspektakel mitbringen wollten,
keine Einreiseerlaubnis erhielten. Spätestens da war klar: Aus. Vorbei. Finis.
Die zweite Absage kam aus Moskau. Trotz des Optimismus im Vorfeld der
Konferenz befand der Kreml plötzlich, dass der Friede von Tilsit für
Russland eine Schmach gewesen sei – und stornierte die zugesagten Gelder.
Da konnte natürlich auch Georgi Boos, der Kaliningrader Gouverneur, nicht
anders. Auch er sagte ab.
Als ob das nicht genug gewesen wäre, gab es Ungemach auch von der
anderen Seite des Flusses. Aus Litauen hieß es, der Nachbau eines Pavillons
auf der Memel sei schön und gut, nur Strom gebe es dafür keinen.
Schließlich handele es sich bei der Memel um EU-Grenzgebiet.
So schwanden also die Grundlagen der 200 Jahre währenden europäischen
Friedensarchitektur langsam dahin. Zu allem Überfluss begann es am 9. Juli
2007 auch noch in Strömen zu schütten. Doch die Stadtväter von Sowjetsk
machten das Beste daraus – und improvisierten. In die Uniformen der
Grande Armée Napoleons, die eigentlich von der französischen Delegation
getragen werden sollten, schlüpften kurzerhand ein paar zur Gedenkfeier
angereiste Polen. So fanden die Feierlichkeiten schließlich doch noch einen
versöhnlichen Abschluss. Wenn schon keine europäischen, dann wenigstens
einen polnisch-russischen. Zur „Miss Luise“ wurde mit Anna Oborska eine
Polin gekürt.
10.
Dennoch hat der Juli 2007 in Sowjetsk etwas Bleibendes hinterlassen. Auf
einem Gedenkstein am ehemaligen Fletcherplatz, der Zentralnaja
Ploschtschadj heißt, steht nun auf Französisch, Deutsch und Russisch
geschrieben: "1807 – Paix de Tilsit, Tilsiter Frieden, Tilsitskij Mir". Und
auch die Brücke, die über die Memel ins litauische Panemunė führt, trägt
seitdem ihren alten Namen. Hammer und Sichel mussten weichen, am
monumentalen Brückenportal hängt wieder das Relief der preußischen
Königin. Königin-Luise-Brücke: Das war auch der Name für die Brücke,
die 1907 im Gedenken an die Ereignisse von 1807 eingeweiht wurde.
Woher aber der Sinneswandel? Warum plötzlich die Luise statt Hammer und
Sichel? Die Antwort gab eine kleine Ausstellung über die Königin Luise, die
im Juni 2009 im Stadtmuseum von Sowjetsk gezeigt wurde. Nicht nur vom
Treffen Luises mit Napoleon und der Niederlage Preußens war da die Rede,
sondern auch von den preußisch-russischen Beziehungen zu Beginn des 19.
Jahrhunderts. Die hatte auch Napoleons Russland-Feldzug nicht
beschädigen können, obwohl mit der Grande Armée am 24. Juni 1812 auch
preußische Soldaten den Njemen überquerten. Nach Napoleons Niederlage
aber hatte Preußen die Gelegenheit ergriffen und das unfreiwillige Bündnis
mit Frankreich beendet. Was folgte, ist bekannt: Die Befreiungskriege,
Napoleons Sturz, die Rehabilitierung Preußens während des Wiener
Kongresses.
Alexanders Veto gegen die Zerschlagung Preußens war Teil eines
strategischen Bündnisses zwischen den Hohenzollern und den Romanows.
Immer wieder wurde dieses Bündnis durch Heiratspolitik bekräftigt. So
ehelichte Luises Tochter Charlotte 1817 den späteren Zaren Nikolaus I.
Nicht die militaristischen Traditionen Preußens, wegen derer Stalin 1945
das nördliche Ostpreußen für sich beanspruchte, stellt die russische
Luisenrezeption in den Vordergrund, sondern die deutsch-russische
Freundschaft, deren jüngster Ausdruck die Ostseepipeline von Gerhard
Schröder und Wladimir Putin ist.
11.
So stehen sich an der Königin-Luise-Brücke also zwei Suchen nach der
Geschichte und der Memel gegenüber: eine nationale und regionale in
Litauen und eine noch immer weitgehend nationale im Kaliningrader
Gebiet. Für Alvydas Nikžentaitis gehen die verschiedenen Erinnerungspfade
zwischen Litauen und Russland bereits auf die Zeit der Sowjetunion zurück.
"Anders als die Bewohner im Kaliningrader Gebiet", betont er, "haben sich
die Litauer im Memelland schon zu Zeiten der Sowjetunion mit dem
kulturellen Erbe Ostpreußens beschäftigt." Hinzu komme die Tatsache, dass
die Memelniederung bis 1945 eine multikulturelle Region war, in der
Deutsche, Litauer, Juden und autochthone "Memelländer" wohnten. Das
erleichtere es, dass in Klaipėda heute Platz für "viele Heimaten" sei, meint
der Historiker. Der Umgang mit dem historischen Erbe, sagt Nikžentaitis,
sei der Gradmesser für die Herausbildung einer regionalen Identität.
Doch auch in Russland ist Bewegung im Spiel, wie die Debatte um die
Umbenennung der sowjetische Ortsnamen zeigt:
Anders als in Moskau hat sich in der Stadt am Pregel längst ein lockerer
Umgang mit der deutschen Vergangenheit eingebürgert. Die Studenten,
deren Universität seit 2005 nach Immanuel Kant benannt ist, nennen
Kaliningrad beim Kurznamen "Kenig". Eine Hip-Hop-Band heißt "Kenig
City Breaker", die Ostmarkbrauerei, die ihren deutschen Namen behalten
hat, braute das Jubiläumspils "Königsberg 750", das Dramentheater nannte
sein Festival "Korolewskaja Gora", zu deutsch: Königsberg. Auch
Ostpreußen kehrt nach Kaliningrad zurück, wie die Wodka-Sorte
"Wostotschnaja Prussija" zeigt. Schließlich wurde hinter dem Dom das
Fischereiviertel wieder aufgebaut. Mit Ideologien haben die Jungen
Kaliningrader nichts mehr am Hut, sie sehnen sich nach den Verheißungen
des Westens, weiß der Duma-Abgeordnete Solomon Ginsburg: "Für die
Jugend hier ist der Mercedes wichtiger als Roter Platz und russische Birke
zusammen."
Nachdem sich der ideologische Rauch über den Feierlichkeiten verzogen
hat, war selbst die Rückbenennung der sowjetischen Ortsnamen in
Kaliningrad kein Tabu mehr. Den Anstoß hatte im Frühjahr 2009 der
geschäftsführende Kaliningrader Oberbürgermeister Felix Lapin gegeben.
Dem Radiosender Echo Moskwy sagte Lapin: "In Russland könnte man stolz
sein auf den Namen Königsberg als eine russische Stadt." Zwar liefen
Russlands Kommunisten und Nationalisten Sturm und warnten vor einer
"schleichenden Germanisierung". Aber auch der damalige Gouverneur
Georgij Boos hatte sich in die Debatte eingeschaltet. Zwar sei das Thema
schwierig und schmerzhaft, sagte Boos im Oktober 2009, ein Existenzrecht
habe aber sowohl der aktuelle als auch der historische Name eines Ortes:
"Städte wie Gussew, Gurjewsk, Tschernjachowsk sind nach Helden der
Sowjetarmee bekannt, sie führten die Erstürmung dieser Orte an. Das ist
unsere Geschichte, große Geschichte. Aber man muss andererseits auch
anerkennen, dass hinter den alten Städtenamen Kultur und Tradition
stehen."
Boos plädierte deshalb für Bürgerentscheide. Vor allem in der Memelstadt
Sowjetsk, meinte er, sei die Zeit für eine Rückbenennung in Tilsit
womöglich nicht mehr fern:
"Mit dem heutigen Namen verbinden viele, vor allem die jüngeren
Einwohner der Stadt keine Tradition, keine positiven Emotionen mehr.
Sowjetsk, die Stadt der Räte? Die Sowjetunion ist längst Vergangenheit."
Tatsächlich ist Tilsit in Sowjetsk so geläufig wie Königsberg in Kaliningrad.
Das lokale Radio sendet unter dem Namen "Tilsitskaja Wolna", das Theater
heißt "Tilsit-Teatr". Kein Wunder also, dass seit 2006 eine Bürgerbewegung
für die Umbenennung von Sowjetsk in Tilsit wirbt.
Noch, meint der Sowjetsker Bürgermeister Wiktor Smilgin, gebe es keine
eindeutige Mehrheit, "Es steht so fifty-fifty". Doch das könnte sich bald
ändern. "Die Jugend ist sicher mehrheitlich für Tilsit, bei den Älteren
überwiegt Sowjetsk."
So könnte an der Memel bald der letzte Hinweis auf die Sowjetunion fallen.
Die Ironie der Geschichte: Ausschlaggebend sind dabei jene Neusiedler und
ihre Nachfahren, um deretwillen Tilsit 1947 in Sowjetsk umbenannt wurde
– weil sie angeblich den deutschen Namen nicht aussprechen konnten.
12.
Doch seit diesen Vorschlägen ist wieder einmal viel Wasser den Neman
hinuntergeflossen. 2009 demonstrierten die Kaliningrader in Scharen gegen
ihren Gouverneur – und Moskau setzte Georgij Boos ab. Seitdem wird im
Kaliningrader Gebiet wieder die Angst vor der Germanisierung geschürt.
Und noch etwas hindert das Gebiet an unverkrampften Umgang mit der
ostpreußischen Geschichte und den deutschen Touristen. 2007 hat Wladimir
Putin, damals noch Präsident, seinem Reich eine neue Vorschrift verpasst.
Um Russland vor terroristischen Attacken zu schützen, dürfen Ausländer
und russische Staatsbürger die Grenzgebiete nur noch mit einer besonderen
Erlaubnis, dem sogenannten Propusk, betreten. Als ob das nicht schon
Hürde genug wäre, bekommt man die Sondergenehmigung nur vor Ort
ausgestellt, die Bearbeitungszeit dauert eine Woche oder länger. Für
Sowjetsk ist das ein herber Rückschlag, war das ehemalige Tilsit doch
gerade dabei, sich als Tourismusort für Heimwehtouristen aus Deutschland
zu etablieren.
Und dann ist da noch das Atomkraftwerk. Als Antwort auf den Neubau eines
baltischen AKW in Litauen will Russland im Kaliningrader Gebiet nicht
nachstehen. Das AKW soll direkt an der Memel, in Neman, ehemals Ragnit
gebaut werden. Gefährliche Großprojekte wie diese an die Grenze zu setzen,
ist eigentlich eine Hinterlassenschaft des Kalten Kriegs.
Kaliningrad, meine Damen und Herren, und damit komme ich zum Schluss,
die ehemalige Terra incognita, die sich erst nach dem Ende der Sowjetunion
für Touristen aus dem Westen geöffnet hat, schottet sich also wieder ab. Und
nicht nur aus der Perspektive von Litauen und der EU bildet die Memel eine
Außengrenze, sondern auch im Handeln der politischen Akteure vor Ort.
So endet dieser Vortrag also wenig optimistisch. Oder doch?
Lassen Sie mich Ihnen zum Schluss eine kleine Geschichte erzählen. Vor
zwei Jahren konnte ich im Kaliningrader Gebiet mit einer Deutschlehrerin
am linken Ufer des Neman entlangfahren. Ludmilla Gulajewa, so heißt die
Lehrerin, lebt in Neman, früher Ragnit. Wir besuchten die Burgruine von
Ragnit, eine der mächtigsten Ordensburgen in Ostpreußen, die
Hinterlassenschaften des Bismarckturms und das Memelufer von
Untereißeln, einst ein beliebter Ausflugsort der Tilsiter, die zumeist mit dem
Dampfer kamen. Was ihr die Memel und ihre Geschichte bedeuten, wollte
ich von Ludmilla wissen. "Viel", antwortet sie. "In den siebziger Jahren bin
ich aus Kasachstan hierher gekommen. Ich hatte die Wahl zwischen Sibirien
und dem Kaliningrader Gebiet. Heimisch bin ich aber erst geworden,
nachdem ich von der Geschichte Tilsits und Ragnits erfahren habe.
Über einen Sandweg fuhr Ludmilla ihren Golf hinunter ans Ufer des
Stroms. "Hier war die Ausflugsgaststätte von Untereißeln", erklärte sie,
"dort befand sich der Anleger." Heute ist davon nichts mehr zu sehen.
„Weißt Du“, sagte Ludmilla und lächelte vielsagend, "auch wenn über die
Geschichte Gras gewachsen ist, verschwunden ist sie dennoch nicht. Das ist
wie mit den Toten, die erst dann tot sind, wenn keiner mehr an sie denkt."
Auch Ludmilla hatte man einmal einreden wollen, dass die Geschichte des
Kaliningrader Gebiets 1945 begonnen habe. Ostpreußen, das war für
Ludmilla lange Zeit gleichbedeutend mit Junkerherrschaft und preußischer
Pickelhaube, eine deutsche Provinz, die im Zweiten Weltkrieg zu Recht
untergegangen sei. "Erst von den deutschen Touristen habe ich erfahren,
dass hier mehr war – nämlich Heimat." Seitdem hält Ludmilla das
Andenken an diese Heimat, die inzwischen auch ihre Heimat geworden ist,
aufrecht. Und sie will den Jüngeren vermitteln. Mit ihrem Schülern fährt sie
regelmäßig dorthin, wo einmal Untereißeln war, und veranstaltet dort ein
Picknick oder ein Zeltlager.
Solche Geschichten, meine Damen und Herren, gibt es viele. Es sind private
Geschichten. Noch. Oder noch immer.
Ich danke Ihnen.