Die Gleichnisse Jesu 1 Die Gleichnisse Jesu – eine Hinführung

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Die Gleichnisse Jesu 1 Die Gleichnisse Jesu – eine Hinführung
Gt 08020 / p. 17 / 18.10.2007
Die Gleichnisse Jesu
Eine Leseanleitung zum Kompendium
Ruben Zimmermann
Die Gleichnisse Jesu zählen zum Kernbestand des Neuen Testaments, sie sind zugleich ein
Stück Weltliteratur. Sie zu kennen, ist eine Pflicht für alle, die zu den Wurzeln abendländischer Kulturgeschichte vordringen wollen. Sie zu verstehen, ist besonders für Menschen, die im christlichen Glauben stehen, eine Herausforderung, die ihr ganzes Leben
betrifft. Die vorliegende Einführung soll eine erste Annäherung für beide Perspektiven
bieten. So verbindet sie historische und hermeneutische Fragen ebenso wie theologische
und forschungsgeschichtliche (1). Auch die literarische Form des Gleichnisses wird eigens diskutiert (2). Doch eine Einleitung kann nur Vorentscheidungen des Kompendiums offenlegen, die Vorgehensweise beim Gesamtwerk und den Einzelauslegungen erklären (3) und somit einige Orientierungsmarken für die Lesenden setzen. Sie soll dabei
nichts weiter als eine Hinführung zum Eigentlichen sein. Worauf es ankommt, sind die
Gleichnistexte selbst. Sie gilt es zu kennen und zu verstehen.
1 Die Gleichnisse Jesu – eine Hinführung
1.1 Zur Überlieferung: Der erinnerte Gleichniserzähler
In vielen solchen Parabeln sagte er ihnen das Wort, so wie sie es hören konnten.
Ohne Parabel redete er nicht zu ihnen.
(Mk 4,33 f.)
Jesus war ein Gleichniserzähler. Diese Einschätzung wird nicht nur durch die Fülle der
Gleichnisse innerhalb der urchristlichen Jesusüberlieferung gewonnen. Eine bereits in
den Evangelien sichtbare Reflexion klassifiziert die Verkündigung Jesu in übergeordneter
Weise insgesamt als bildliche Redeweise (Mk 4,33 f.; Joh 16,25). Auch die neueste Phase
der Jesusforschung hat diese Grundüberzeugung wieder bestätigt (Funk 1996, 136.165;
Theißen/Merz 3 2001, 286-310; Schröter 2006, 188-213). Durch die Gleichnisse hofft
man deshalb besonders nah an die Verkündigung des geschichtlichen Jesus heranzukommen, in ihnen glaubt man einen Nachklang der Stimme Jesu hören zu können. So hatte
die historische Rückfrage bereits Adolf Jülicher in seinem epochalen Werk »Die Gleichnisreden Jesu« (2 1910) bestimmt und wurde 1947 in das berühmte Diktum des Gleichnisforschers Joachim Jeremias gegossen: »Wer sich mit den 41 Gleichnissen Jesu, wie sie
uns die drei ersten Evangelien überliefern, beschäftigt, steht auf besonders festem historischen Grund; sie sind ein Stück Urgestein der Überlieferung.« (Jeremias 11 1998, 7).
Allerdings waren die Forscher dieser Zeit auch der Meinung, dass uns die Worte
Jesu in den biblischen Texten nicht ungebrochen überliefert seien. Zwischen dem Akt des
Sprechens Jesu und der schriftlichen Fixierung in einem der Evangelien vergingen im3
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Die Gleichnisse Jesu · Eine Leseanleitung zum Kompendium
merhin mindestens 40 Jahre, eine Zeit, in der die Texte während eines mündlichen und
schriftlichen Überlieferungsprozesses erweitert, ausgelegt und verändert wurden. Es entsprach denn auch der methodischen Grundüberzeugung dieser Zeit, dass man versuchte,
die in den Evangelien überlieferten Gleichnisse von ihren redaktionellen Übermalungen
zu befreien, um die ureigenste Stimme (ipsissima vox) Jesu wieder hörbar werden zu
lassen. Es sollte der Versuch unternommen werden, »den ursprünglichen Ort im Leben
Jesu wiederzugewinnen, (damit) Jesu Worte wieder ihren ursprünglichen Klang erhalten« (Jeremias 11 1998, 19; vgl. noch Funk/Hoover 1993).
Die Ergebnisse dieser Rekonstruktionsversuche waren allerdings keineswegs konsensfähig. Zu unterschiedlich waren die literarkritischen Analysen, zu sehr waren sie von
theologischen Vorentscheidungen geprägt, die durch ein bestimmtes Jesusbild diktiert
wurden. Doch auch wenn heute die Rekonstruktion von originalen Jesusworten und
-gleichnissen weitgehend aufgegeben wurde, so besteht das Interesse am so genannten
›historischen Jesus‹ ungemindert, ja ist durch den so genannten »third quest« (die dritte
Phase) der Jesusforschung neu entfacht worden. Gleichwohl ist man methodisch sehr viel
vorsichtiger in der Rekonstruktion von so genannten ›historischen Fakten‹ geworden, da
sie sich schon aufgrund der Quellenlage, aber mehr noch aus geschichtsphilosophischen
und erkenntnistheoretischen Gründen verbieten.
Im vorliegenden Kompendium wird die historisch-diachrone Rückfrage deshalb
wesentlich auf folgende Aspekte begrenzt: 1) Die Gleichnisse werden als Medien der
Jesuserinnerung betrachtet. 2) Die Gleichnisse können als Spiegel der realen Lebenswelt
historisch befragt werden (dazu unter 3.2.3 »Bildspendender Bereich«, 36-39). 3) Die
Gleichnisse stehen in einem Prozess der literarischen Rezeption und Produktion. So
werden einerseits geprägte Bedeutungen und Motive aufgenommen (dazu unter 3.2.4
»Bildfeld-Tradition«, 39-41), andererseits setzen die Gleichnisse ihrerseits einen Überlieferungs- und Rezeptionsprozess in Gang (dazu unter 3.2.6 »Aspekte der Parallelüberlieferung und Wirkungsgeschichte«, 43 f.).
Mit Blick auf die hier interessierende Frage nach Jesus, kann grundsätzlich bejaht
werden, dass der geschichtliche Jesus von Nazareth ein Gleichniserzähler war. Allerdings
zeigt schon die Mehrfachüberlieferung einzelner Gleichnisse, dass der Prozess der Weitergabe seine Spuren auch in den Texten hinterlassen hat. Man kann deshalb wohl kaum
davon ausgehen, dass die in den urchristlichen Texten überlieferten Gleichnisse genau in
diesem Wortlaut von Jesus gesprochen wurden. Bei einigen ist es sogar eher unwahrscheinlich, dass Jesus überhaupt der Urheber dieser Gleichnisse war. Doch wo und mit
welchen Kriterien und Wertmaßstäben will man hier differenzieren? Können Exegeten
tatsächlich verbindliche Aussagen über die Authentizität einzelner Gleichnisse treffen?
Und wenn ja, in welcher Intention? Wird nicht oft genug mit dogmatischen Vorentscheidungen ausgewählt und bewertet? Die Suche nach dem authentischen Jesusgleichnis ist im
Ansatz verfehlt. Denn sie geht vielfach davon aus, dass das Urchristentum beliebig in Verfälschung und Widerspruch zu Jesu Verkündigung Gleichnisse hinzuerfunden hätte. Nach
neuen Kriterien der Jesusforschung müssen wir in der Zuschreibung von Gleichnistexten
zu Jesus hingegen ein Zeugnis der Wirkungsplausibilität erkennen (Theißen/Merz 3 2001,
116-120). Auch spätere Fixierungen von Gleichnisgut können authentische Elemente bewahrt haben und stehen schon durch die Rückbindung in einer Beziehung zu Jesus.
Das vorliegende Kompendium verzichtet deshalb bewusst auf literarkritische und
historische Rekonstruktionsversuche, in denen mündliche Vor- oder Urstufen der
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Gleichnisse rekonstruiert werden (abgesehen von der durch Mehrfachbezeugung plausiblen Q-Rekonstruktion, dazu unten). Gleichwohl nimmt es die Grundüberzeugung des
Urchristentums auf, nach dem Jesus als der Gleichniserzähler wahrgenommen wurde.
Während die rabbinischen Gleichnisse auf eine Vielzahl von Rabbis als Sprecher verteilt
wurden, wurden die Gleichnisse des Urchristentums von den ersten Quellen bis zum
Thomasevangelium fast immer Jesus zugeschrieben: Jesus ist der Gleichniserzähler par
excellence. Doch die urchristlichen Texte machen damit keine Aussage über ein historisches Faktum. Vielmehr geben sie die Überzeugung wieder, dass man sich an Jesus als
Gleichniserzähler erinnerte.
Diese in den Einleitungen und narrativen Darbietungen der Gleichnisse manifestierte Erinnerung war ausschlaggebend für die Auswahl der vorliegenden Gleichnistexte.
Sofern in biblischen und weiteren urchristlichen Quellen Gleichnistexte Jesus zugeschrieben wurden, wurden sie auch in dieses Kompendium aufgenommen, ohne Prüfung, ob
aufgrund des Inhalts oder Alters der Schrift diese Zuschreibung höhere oder weniger
hohe Plausibilität besitzt.
Weiterführend ist vielmehr die Frage, warum diese beachtliche Konzentration auf
und Rückbindung der Gleichnisse an Jesus erfolgte. M. E. kann man hierbei eine Konvergenz zwischen Form und Inhalt erkennen: Gleichnisse sind prädestinierte Medien der
Jesuserinnerung (ausführlich dazu R. Zimmermann 2008c). Erinnerung erfolgt nie
sprachlos und frei, sondern vollzieht sich in bestimmten Medien und Formen (Erll/Nünning 2004; dies. 2005). Eine Form, derer sich der Erinnerungsprozess bedient, ist allerdings kein inhaltsleeres Gedächtnisvehikel, sondern kann aufgrund der »Semantisierung
der Formen« (Nünning 2005, 603) auch inhaltlich maßgeblich auf den Erinnerungsgegenstand einwirken. Dass man sich an Jesus als denjenigen erinnerte, der bildhaft, in
Gleichnissen von Gott sprach, konvergiert mit dem christologischen Bekenntnis, dass
Christus selbst das »Bild Gottes« (2Kor 4,4; Kol 1,15) ist, der den Vater sichtbar macht
(Joh 1,18; 14,7). Der Gleichniserzähler ist selbst das »Gleichnis Gottes« (so nach Jüngel
7 2001, 491.495; Schillebeeckx 1992, 555 f.; vgl. Fuchs 1965).
1.2 Zu Tradition und Umfeld: Maschal, Beispiel oder Fabel?
(…) damit erfüllt würde, was durch den Propheten geredet ist, der spricht: »Ich werde meinen Mund öffnen in Parabeln; ich werde aussprechen, was von Grundlegung der Welt an
verborgen war.«
(Mt 13,35)
Die Suche nach authentischen Jesusgleichnissen war in hohem Maße auch von der Überzeugung geprägt, dass sich die Jesus-Gleichnisse wie ein erratischer Block aus Tradition
und Umfeldtexten abhoben: »Jesu Gleichnisse sind zudem etwas völlig Neues« (Jeremias
11
1998, 8). Jülicher hatte zwar die Nähe der Gleichnisse zu Parallelen in der jüdischen,
(insbesondere) rabbinischen Literatur anerkannt, aber vor allem um sie als Kontrastfolie
zu benutzen, vor der sich die Meisterlichkeit und Originalität der Jesus-Gleichnisse abheben sollte: »Der Gegensatz zwischen Jesu Lehrweise und der seiner schriftstellerischen
Zeitgenossen aus Israel ist riesengross. (…) Jesus (…) steht als Parabolist über der jüdischen Hagada. Seine Originalität ihr gegenüber ist durch seine Meisterschaft erwiesen.
Nachahmer leisten nie Grosses, Unsterbliches.« (Jülicher I 2 1910, 165.172).
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Die zum Teil sogar deutlich antijudaistische Einschätzung Jülichers wurde bereits
von seinem Zeitgenossen Paul Fiebig heftig kritisiert (Fiebig 1912, 119-222; vgl. die Debatte in ZNW 13, 1912). Im Bannkreis Jülichers dauerte es aber bis ins letzte Fünftel des
20. Jh., bis dann die jüdischen Wurzeln bzw. rabbinischen Parallelen zu den Gleichnissen
Jesu in eigenständigen Untersuchungen differenzierter wahrgenommen wurden (bahnbrechend hierzu Flusser 1981; ferner Dschulnigg 1988). Inzwischen wird kaum mehr
bestritten, dass die Gleichnisse Jesu schon rein formal in den Horizont jüdischer Erzählweise eingeordnet werden müssen.
So können bereits in der hebräischen Bibel, dem Alten Testament, etwa im »Weinberglied« (Jes 5,1-7), in »Nathans Strafrede an David« (2Sam 12,1-15), in den Pflanzenfabeln von Jotam (Ri 9,7-15) und Joas (2Kön 14,8 ff.) oder der Adler-Fabel in Ez 17,3-10
Texte gefunden werden, die formal und funktional als Vorläufer der ntl. Gleichnisse betrachtet werden können (vgl. C. Westermann 1984). Daneben wurde immer wieder auf
den hebr. Begriff lU5m5 māschāl als mögliche Wurzel hingewiesen, zumal der Begriff in der
Septuaginta vielfach mit dem griech. parabolffi parabolē wiedergegeben wurde. Die am
Paradigma eines normativen Klassifikationsrasters (Zymner 2003b, 10-23) ausgerichtete
ältere Formgeschichte hatte allerdings Mühe damit, dass so unterschiedliche Texte der
hebr. Bibel mit diesem Begriff bezeichnet wurden. Maschal sei folglich kein Gattungsbegriff im engeren Sinn, sondern diene »zur Bezeichnung einer Reihe literarischer Gattungen (…) im AT: Volkssprichwort, Lehrspruch, Lehrrede, Gleichnis, Orakelrede.«
(Eissfeldt 1913, 20). Die konkreten Belege sind in der Tat vielfältig: Neben einer häufigen
Belegung in prophetischen (Ez 12,22 f.; 18,2 f. etc.) oder weisheitlichen Texten (Ps 49,5;
summarisch dann Spr 1,1; 10,1; 25,1), wo vielfach einzelne Sentenzen und Sprichwörter
māschāl genannt werden (z. B. 1Sam 10,12: Ist Saul auch unter den Propheten?) finden
sich auch 7 Belege in der Bileam-Erzählung, wo die bildhafte, von Vergleichen lebende
Rede Bileams als lU5m5 māschāl bezeichnet wird (Num 23,7.18; 24,3.15.20 f.23, dazu Caesar 2005, Schüle 2008). Gleichwohl zeigt der Gebrauch des Terminus lU5m5 māschāl bzw.
in der LXX parabolffi parabolē, dass die Autoren des AT damit eine Gattungsbestimmung erkennen lassen, die ein funktionales Verständnis der Parabel voraussetzt. Durch
eine genaue Analyse aller Belege konnte Karin Schöpflin zeigen, dass man mit einem
veränderten Gattungsverständnis im Vergleichsvorgang ein übergreifendes und verbindendes Element der verschiedenen Texte wahrnehmen kann, so dass man māschāl als
»Gleichwort/Vergleichswort« übersetzen könnte. »Ein lUm entsteht durch einen Vergleichsvorgang. Der Vergleich kann zunächst sowohl in einem Analogie- als auch in
einem Kontrastverhältnis zweier Größen bestehen« (dazu Schöpflin 2002, 22 f.). Bernard B. Scott hat darüber hinaus auf die deutungsbedürftige Rätselhaftigkeit als übergeordnetes Moment hingewiesen (Scott 1989, 13).
Es ist unschwer zu erkennen, dass ein solches Gattungsbewusstsein auch maßgeblich auf die ntl. Autoren eingewirkt hat, die mit einer entsprechenden funktionalen Bestimmung eine Vielfalt textlicher Formen unter dem Begriff parabolffi parabolē vereinen (mit Scott 1989, 13.21).
Dass »Jesus als jüdischer Gleichnisdichter« (Kollmann 2004) betrachtet werden
kann und dass besonders in den rabbinischen Gleichnissen eine Fülle (Thoma/Lauer
nennen je nach Zählweise 500 bis 1400 Gleichnisse, vgl. Thoma/Lauer 1986, 12) von
Vergleichstexten gegeben ist, kann inzwischen als allgemeiner Konsens betrachtet werden. Unklarer ist hingegen die Frage, welche Bedeutung man den reichhaltigen rabbi6
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nischen Gleichnissen im Einzelnen beimessen kann. Können sie herangezogen werden,
um auf die jüdischen Wurzeln Jesu hinzuweisen (so etwa Young 1989 im Untertitel: »Rediscovering the Roots of Jesus’ Teaching«)? Allerdings wird diese diachrone Fragestellung
schon deshalb in ihre Grenzen gewiesen, weil die meisten rabbinischen Gleichnisse in
ihrer redaktionellen schriftlichen Überlieferung kaum vor das 3./4. Jh. n. Chr. zu datieren
sind (etwa die Pesiqta de Rav Kahana im 5. Jh. n. Chr.). Auch wenn einzelne Texte in ihrer
literarischen Rohform in die vorrabbinische Zeit (PesK 11,3) oder in das 2. Jh. (PesK 1,3,
nach Thoma/Lauer 1986, 63 f.) zurückzuverfolgen sind, kann damit kaum eine Basis für
überlieferungsgeschichtliche Hypothesen gewonnen werden. Der Begriff māschāl wird in
der Mischna etwa nur dreimal gebraucht (mSuk 2,9; mNid 2,5; 5,7; dazu Neusner 2006,
259-261).
Weiterführend waren hingegen Untersuchungen, die eher in synchroner Weise auf
Parallelen zwischen den rabbinischen Gleichnissen und den Gleichnissen Jesu im Blick
auf Gattung, Motive, Sujet und Stil hingewiesen haben (vgl. Flusser 1981; Dschulnigg
1988; Young 1989; ders. 1998; F. Stern 2006). Auch die innerjüdische Diskussion um
die Rolle der Gleichnisse im Midrash, insbesondere die Frage, ob der nimschal, d. h. die
beigefügte Sachdiskussion, als Bestandteil des eigentlichen Gleichnisses (Goldberg 1981;
Boyarin 1985) oder als sekundäre Erweiterung (D. Stern 1991; Thoma/Lauer 1986) anzusehen ist, hat sich für einen Dialog als fruchtbar erwiesen. Denn in jedem Fall wurde
hierbei die Bedeutung des literarischen Kontextes für das Gleichnisverständnis neu gewürdigt, so dass die Einbettung in christliche oder jüdische Kontexte gerade zum Ausgangspunkt intertextueller Vergleiche werden kann (Hezser 2008).
In eine ganz andere Richtung weisen Versuche, durch die die Gleichnisse des Neuen Testaments in den Horizont der griechisch-hellenistischen Literaturgeschichte und
antiken Rhetorik eingeordnet wurden (Berger 1973, 25-33; ders. 1984b, 1110-1124;
Rau 1990, 18-107; Dormeyer 1993, 140-158). Wie schon Jülicher gesehen hatte (Jülicher
I 2 1910, 69 ff., dazu Alkier 1999, 41-47), erfüllen die Gleichnisse Jesu die argumentative
Funktion der Überzeugung, und da man sie weithin der mündlichen Rede zuordnete
(noch Dormeyer 1993, 140 ff.; Lampe 2006,150-160), konnten sie in den Horizont der
antiken Rhetorik-Lehren eingeordnet werden. Dies war umso leichter möglich, als innerhalb der Systematik der antiken Rhetoren wie Aristoteles oder Quintilian gerade auch die
ntl. Begriffe parabolffi parabolē und – was bisher übersehen wurde – paroimffla paroimia verwendet wurden.
Unter der Hauptkategorie des Beispiels (paradefflgma paradeigma) hatten sowohl
Aristoteles im zweiten Buch seiner Rhetorik (Arist. rhet. 1393a, 28-31) als auch Quintilian im 11. Kapitel des 5. Buches seiner »Institutio Oratoria« (Quint. inst.) die parabolffi parabolē als eines der Gestaltungs- und Überzeugungsmittel der Rede angeführt.
Auch wenn die von den Rhetoren gegebene Systematik nicht ohne weiteres auf die ntl.
Texte übertragen werden darf (dazu unter 2.1.3, ferner R. Zimmermann 2007a), so wurde doch zweifellos zu Recht erkannt, dass die Gleichnisse Jesu vor dem Hintergrund der
antiken Literatur und Rhetorik wahrgenommen werden müssen. Auch die von Jülicher
ausgegrenzte Kategorie der »Allegorie« (griech. ⁄llhgƒria allēgoria) muss in diesem
Zusammenhang wieder rehabilitiert werden, denn die Nähe zu den ntl. Gleichnissen ist
nicht zu übersehen. Während dies im dt.sprachigen Raum nur mühsam gelingt (vgl.
dazu Sellin 1978a; Klauck 2 1986; Erlemann 2008b), ist die englisch-sprachige Gleichnisliteratur offener, die Allegorie als Deutungskategorie auch der ntl. Gleichnisse ein7
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zubeziehen (vgl. Boucher 1977; Crossan 1973, 8-10, Sider 1985; Blomberg 1990, dt.
1998).
Schließlich wurde eine Nähe zur Fabel postuliert, indem seit Jülicher (Jülicher I
2 1910, 94-101) Formparallelen zwischen den ntl. Parabeln und den antiken Fabeln etwa
des Stesichoros und des Aesop erkannt wurden (Harnisch 4 2001, 97-105; Beavis 1990;
Vouga 1992). Dabei wurde nicht nur das narrative oder ›komische‹ Moment als Strukturparallele wahrgenommen, für F. Vouga ist der Vergleich mit den Fabeln auch überlieferungsgeschichtlich erhellend, weil »die äsopische Tradition den Übergang zwischen
der mündlichen Überlieferung und der literarischen Dichtung von Erzählminiaturen explizit reflektiert« (Vouga 2001, 153).
Die urchristlichen Gleichnisse Jesu können somit literaturgeschichtlich in den Horizont hellenistisch-römischer Rhetorik ebenso eingeordnet werden wie in den Rahmen
des hebr. māschāl oder der jüdischen Erzählgattungen. Wie das Neue Testament überhaupt in vieler Hinsicht eine Synthese zwischen griechisch-hellenistischer und orientalisch-jüdischer Welt markiert, so zeigen sich auch bei den ntl. Gleichnissen Merkmale aus
beiden Traditionen. Es würde dabei allerdings den konkreten Texten nicht gerecht, wollte
man sie etwa aufgrund der literarischen Gestalt wie z. B. der Länge oder der Funktion im
Kontext der einen oder anderen Tradition zuordnen. So war etwa geäußert worden, dass
sich kürzere Sentenzen (z. B. Gleichnisse i. e. S. nach Jülicher) eher der māschāl-Tradition
und Lang-Parabeln der hellenistischen Rhetorik zuweisen lassen. Eine solche Aufteilung
wird weder dem Begriffs-Gebrauch der verschiedenen Traditionsbereiche noch der Komplexität des ntl. Befunds gerecht.
Ferner ginge die Einordnung der Gleichnisse Jesu in ihr jüdisches bzw. hellenistisches literarisches Umfeld im Sinne einer »Unter-Ordnung« ebenso fehl wie die erratische Isolation früherer Zeit. Die Jesusgleichnisse können nur angemessen verstanden
werden, wenn wir sie in ihrem literarischen Vor- und Umfeld wahrnehmen. Ihre Wirkung kann aber auch nur angemessen gewürdigt werden, wenn man den kreativen und
innovativen Umgang mit den vorfindlichen Formen und Motiven anerkennt. Auch wenn
die spätere jüdische Tradition – durchaus unabhängig von Jesus – eine weit größere Fülle
von rabbinischen Parabeln hervorgebracht hat, finden sich in den ältesten Quellen noch
vergleichsweise wenige Texte (s. o.). Wie die neuere Gattungsforschung betont hat, handelt es sich bei Gattungen um »Wiedergebrauchsformen«, die allerdings nicht nur benutzt werden, um einer Botschaft Form zu verleihen, sondern die im Sinne eines dynamischen Gattungsbegriffs durch die Botschaft wiederum in ihrer Form verändert und
variiert werden. Die Einbettung in den literaturgeschichtlichen Horizont darf folglich
nicht zu überlieferungsgeschichtlichen Engführungen oder gar zu monokausalen genealogischen Ableitungen führen. Traditionelle Formen wurden gerade auch benutzt, um
damit Neues zu sagen. Die ntl. Gleichnisse sind insofern auch eine eigene, neue Größe,
die in Form, Vielfalt und Quantität, aber vor allem auch hinsichtlich ihrer Botschaft und
Theologie für sich gewürdigt werden muss.
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1.3 Zur Theologie: Von Gott reden mit Bildern der Welt
Er sagte nun: Wem ist das Königtum Gottes gleich, und wem soll ich es vergleichen?
(Lk 13,18)
Die Frage nach der theologischen Dimension der Gleichnisse kann beim Begriff »Theologie« selbst ansetzen. Theologie (qeologffla theologia) ist – wörtlich übersetzt – das
Wort, die Rede von Gott. Doch wie kann man von Gott reden? Steht jeder Versuch eines
Menschen von Gott zu reden nicht von vornherein unter dem Verdacht einer Projektion?
Sind es nicht, wie in religionsphilosophischer oder psychologischer Kritik vorgebracht,
menschliche Ideale oder Sehnsüchte, die dann in den Himmel verlagert werden?
Es war vor allem die dialektische Theologie um Karl Barth, die der Gefahr einer
solchen Vermenschlichung der Gottesrede bzw. einem entsprechenden Theologieverständnis ein radikales ›Nein‹ entgegensetzte. Gott darf nicht zum Objekt menschlichen
Redens und Denkens werden. Theologie könne nicht menschliches Reden über Gott,
sondern nur Gottes Reden zu den Menschen bezeichnen. Das eine Wort Gottes, das es
dabei vor allem zu hören gelte, sei »Jesus Christus«. Die Theologie als ›Lehre von Gott‹
wird in dieser Weise als eine von Gott selbst stammende Lehre verstanden, die den Menschen durch Offenbarung zugänglich gemacht ist.
Menschen können folglich gar nicht von Gott reden. Zugleich sollen sie es zumindest als Gläubige und als Theologen aber tun. Karl Barth hatte zunächst eine selbstbegrenzende, doxologische Vermittlung dieser Spannung vorgeschlagen: »Wir sollen Beides, daß wir von Gott reden sollen und nicht können, wissen und eben damit Gott die
Ehre geben.« (K. Barth 1924, 176). Der späte Barth benennt dann allerdings doch eine
Weise, wie konkreter gesprochen werden kann: »(D)ie neutestamentlichen Gleichnisse
sind so etwas wie das Urbild der Ordnung, in welcher es neben dem einen Wort Gottes,
durch dieses beschaffen und bestimmt, ihm genau entsprechend, ihm vollkommen dienend und darum in seiner Macht und Autorität auch andere, wahre Worte Gottes geben
kann.« (K. Barth KD IV/3,1, 126).
In diese Richtung soll hier weitergedacht werden und wurde natürlich auch schon längst
weiter- und vorgedacht. Es entspricht sogar schon dem Selbstverständnis der neutestamentlichen Gotteserkenntnis, wie sie beim Evangelisten Markus sichtbar wird: In der
markinischen Wiedergabe lautet das diesem Kapitel überschriebene Jesuswort wie folgt:
»Und er (Jesus) sprach: Womit sollen wir das Königtum Gottes vergleichen? Oder
in welcher Parabel sollen wir es darstellen?« (Mk 4,30). Der zweite Satz beinhaltet bereits
die Antwort auf die im ersten gestellte Frage. Wir können von Gott und Gottes Reich
nicht in direkter Weise sprechen. Wir können nur näherungsweise, vergleichend, eben
in Gleichnissen bzw. Parabeln davon erzählen.
Gleichnisse sind dabei nicht nur irgendeine Weise, vom Reich Gottes, von Gottes
Welt zu erzählen. Die Gleichnisse sind die der Sache einzig angemessene Rede von Gott.
So radikal hatte etwa Eberhart Jüngel im Rückgriff auf Ernst Fuchs den Eigenwert und
Ereignischarakter des Gleichnisses betont. Gott und seine Herrschaftsweise lassen sich
nur in der Gleichnisrede adäquat darstellen, lautete die These (Jüngel 1982, 281-342).
Dies hängt mit der Sprachform und Metaphorizität des Gleichnisses zusammen.
Das Gleichnis stellt, wie es in der Etymologie des Quellenbegriffs parabolffi parabolē
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(aus para-b€llein para-ballein – nebeneinandersetzen) festgehalten ist, nebeneinander. Es handelt vom Irdischen, das wir kennen, und weist auf das Göttliche, das wir nicht
kennen. Gleichnisse reden von Gott mit Bildern der Welt.
Besonders offensichtlich wird dieses ›Nebeneinander‹, wenn durch die Einleitungsformel die nachfolgende Erzählung unmittelbar auf das Königtum bzw. die Königsherrschaft Gottes (basileffla to‰ qeo‰ basileia tou theou) bezogen wird. Doch auch wenn
diese Zuordnung nicht explizit erfolgt, oder die »Reich-Gottes-Metapher« fehlt, bleibt
das Gewöhnliche im Kontext der urchristlichen Überlieferung doch immer in irgendeiner Weise auf die Wirklichkeit Gottes bezogen. Gleichnisse verknüpfen somit die
menschliche und die göttliche Welt miteinander, mehr noch: Sie setzen sie – folgt man
der Interaktionstheorie der Metapher (dazu s. u.) – nicht nur analogisierend zueinander
in Beziehung, sie setzen sie ineinander, sie setzen sie gleich. So lautet etwa eine häufige
Einleitungsformel: »Das Reich Gottes ist gleich wie …« (ˆmoiƒ@ ¥stin homoios estin …,
Q 6,48 f.; 7,32; Lk 12,36; Mt 13,52 etc.). Doch diese Gleichsetzung folgt nicht der Logik
der Mathematik. Indem semantisch Nicht-Zusammengehöriges syntaktisch zusammengezwungen wird, bleibt im »Ist wie« zugleich das »Ist nicht« transparent. Die somit im
Gleichnis erzeugte spannungsvolle Zuordnung bewahrt das Wissen um die Begrenzung
jeder menschlichen Rede über Gott. Sie wagt sich in ihrer poetischen Fiktion aber zugleich in Grenzbereiche der Einsichts- und Sprachfähigkeit hinein, was zur theologischen
Erkenntnis führen kann. Besonders die innovativen Potenziale der Metapher (dazu Buntfuß 1997, 227; R. Zimmermann 2000a, 30-33) erlauben es, das bisher Verborgene, das,
wofür es bislang keine Begriffe und Vorstellungen gab, in Sprache zu fassen.
Gleichnisse können deshalb zu einer neuen Erschließung von Welt und Sein führen. Jüngel und andere gingen hier noch einen Schritt weiter: Aufgrund des Ereignischarakters dieser Texte komme dem Gleichnis nicht nur eine Erkenntnis-, sondern eine eigene Offenbarungsdimension zu: »Die Basileia kommt im Gleichnis als Gleichnis zur
Sprache. Die Gleichnisse Jesu bringen die Gottesherrschaft als Gleichnis zur Sprache«
(Jüngel 6 1986, 135). Für Jüngel gewann dieser Satz vor allem im Verständnis der Verkündigung Jesu Relevanz. Die Gleichnisse Jesu sind »der die Verkündigung Jesu einigende Grund. Von ihnen her sind Jesu Gottesanschauung, Eschatologie und Ethik in ihrer
ursprünglichen Zusammengehörigkeit zu verstehen. (…) Das Sprachereignis der Gleichnisse bringt indirekt das Gottesverhältnis Jesu selbst zur Sprache.« (Jüngel 6 1986, 173).
Doch lässt sich die Wirkweise der Gleichnisse nicht auf den »Sitz im Leben Jesu«
begrenzen. Sie haben für uns vor allem einen »Sitz in der Literatur« und entfalten ihre
Wirkung somit im Akt des Lesens. Die Bedeutung des Satzes von Jüngel ist deshalb vor
allem hermeneutisch zu fassen (Stoellger 2003, 330). Die Gleichnisse geben dabei nicht
nur Gott und sein Reich zu verstehen, im Prozess der Aneignung vollzieht sich ein umfassender Prozess des Selbst- und Weltverständnisses. So verwischen die Grenzen zwischen der wirklichkeitsstrukturierenden und wirklichkeitsschaffenden Funktion der
Gleichnisse. Gleichnisse sind besonders in ihrer theologischen Dimension nicht nur
Spiegel oder Abbilder vorhandener Wirklichkeit, sie können etwa im Sinne einer »verdoppelten Referenz« (Ricœur 1974, 53) zum Modell und Vorbild von Wirklichkeit werden. Sie bieten Visionen, sind Vorgeschmack des Kommenden. Nicht selten entwerfen die
Gleichnisse sogar eine kontrafaktische Gegenwelt, die vorhandene Weltentwürfe kritisch
in Frage stellen will (z. B. Gerechtigkeitskonzeptionen in Mt 20,1-16) oder die zur Befreiung von in der gegenwärtigen Weltordnung Marginalisierten führen möchte (Suche des
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Die Gleichnisse Jesu – eine Hinführung
Verlorenen in Lk 15). Die Botschaft und ihr Verkündiger sind dabei nicht zu trennen.
»Durch Jesus schreibt sich die Herrschaft Gottes in die Geschichten der Menschen ein,
ihren Glauben, ihre Hoffnung und Liebe, auch ihr Versagen, ihre Schuld und Verblendung (…). Wenn die Gleichnisse kleine Dramen – Tragödien und Komödien – erzählen,
die auf der Bühne des Lebens spielen, machen sie den dynamischen Prozess deutlich, in
dem die Gottesherrschaft kommt und alles neu macht« (Söding 2007, 11).
Die im Gleichnis von Jesus erzählte Weltordnung Gottes soll somit nicht nur zur
Kenntnis genommen werden, sie soll aufgrund der Appellstruktur der Gleichnisse (dazu
unten unter 2.3) unmittelbare Wirkungen hervorrufen, sie soll ins Leben greifen, zum
Glauben führen. Wenn sich Menschen durch die Gleichnisse ansprechen lassen, dann
werden die Visionen einer neuen, anderen Welt schon ein Stück Wirklichkeit.
Die theologische Funktion der Gleichnisse beschränkt sich nicht auf Erkenntnis und
Glauben. Sie besteht auch im Bereich der Kommunikation. So sehr die Gleichnisrede
anspricht und die oder den Einzelne/n erreichen will, so sehr setzt sie in der Polyvalenz
ihrer Deutungspotenziale gerade auch einen Kommunikationsprozess in Gang. Um das
rechte Verstehen der Gleichnisse muss gemeinsam gerungen werden. Dies gilt in besonderem Maße für Menschen, die aus der Bibel und speziell aus den Gleichnissen Lebensorientierung und Sinnstiftung erwarten. Aber ist die Weise des Sprechens deshalb auf
eine Binnenkommunikation beschränkt? Sprechen die Gleichnisse – um eine gängige
Chiffre aufzunehmen – die ›Sprache Kanaans‹, die ihre Aussagekraft als Insidersprache
am Rand einer spezifischen Gruppe z. B. von Gläubigen verliert?
Gleichnisse sprechen die Sprache der Menschen. Indem die Gleichnisse die ›Bilder
der Welt‹ verwenden, indem sie konkrete Ereignisse erzählen und theologische Begriffsbildungen vermeiden, bieten sie Anknüpfungspunkte für einen Dialog weit über Theologie und Kirche hinaus.
Und sie können sich hierbei auch hinsichtlich ihrer erkenntnistheoretischen
Grundlagen durchaus in einen breiten geistesgeschichtlichen Diskurs einmischen.
Menschliche Erkenntnis wurde und wird in hohem Maße von metaphorischen Prozessen
bestimmt. So hat Taureck eine ganze Philosophiegeschichte anhand von »Metaphern und
Gleichnissen« entworfen (Taureck 2004; vgl. auch Blumenberg 1998). Der menschliche
Geist braucht Modelle und Bilder, um Neues zu denken. Er braucht Übertragungsvorgänge, um zur Erkenntnis zu gelangen, zumindest dann, wenn sich der Gegenstand, der
verstanden werden soll, unmittelbarer Anschauung entzieht. Dies gilt in der Geistesebenso wie in der Naturwissenschaft, wie z. B. bei makro-kosmischen oder mikro-kosmischen Forschungsfeldern. Schon die Sprache etwa im ›Zwergenreich‹ der Nano-Technik (griech. n€nno@ nannos = Zwerg) verrät die metaphorische Durchdringung der Wissenschaft. Immer dann, wenn sich ein Gegenstandsbereich dem sinnlichen Zugriff
entzieht, müssen die Daten, die etwa Messinstrumente liefern, in einen Bereich der konkreten Vorstellung übertragen werden. Es vollzieht sich ein metaphorischer Prozess,
wenn wir z. B. das Licht als »Teilchen« oder als »Welle« betrachten. Selbstreflexive Naturwissenschaftler können deshalb Hans-Peter Dürr beipflichten: »Auch die Wissenschaft
(als Naturwissenschaft) spricht nur in Gleichnissen« (Dürr 2 2004).
Das Gleichnis ist somit nicht nur ein urmenschliches, sondern auch wissenschaftlich etabliertes Erkenntnismedium. Die Einsichten, die darüber gewonnen werden, können und dürfen Diskurse entfachen. Dies gilt besonders für die theologische Botschaft
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Die Gleichnisse Jesu · Eine Leseanleitung zum Kompendium
der Gleichnisse Jesu, die aller Welt gilt und die die Frage wachhält, was diese Welt überhaupt ›gleichnisfähig‹ macht. Gleichnisse bleiben hierbei eine theologische Sprachkunst
im Bewusstsein um die menschliche Begrenzung. So können die im Gleichnis behaupteten Aussagen über Gott und seine Wirkweise zwar nicht bewiesen werden, man kann sie
aber ebenso wenig verneinen, denn »poetische Fiktionen (…) sind negationsimmun«.
(Hörisch 1999, 121).
Manche Leserin und mancher Leser wird nach diesem Abschnitt fragen, was ist denn nun
die Theologie der Gleichnisse, was genau wird in den Gleichnissen über die Gottesherrschaft, über Gottes Wirksamkeit ausgesagt oder was erfahren wir über die Theologie des
Gleichniserzählers Jesu. Es wäre verfehlt, hier begrifflich z. B. mit Theologumena wie
»Gerechtigkeit« oder »Barmherzigkeit« resümieren zu wollen, was Jesus bewusst der bildhaften Rede der Gleichnisse vorbehält. Wer die Theologie der Gleichnisse inhaltlich zu
erfassen versucht, kann nicht anders, als sie zu lesen, in ihre Welt einzutreten, um sie von
innen heraus zu verstehen.
1.4 Zum Verstehen: Die Leser(innen-)Orientierung der Gleichnisse
Und er sagte: Wer Ohren hat zu hören, der höre!
(Mk 4,9)
Gleichnisse sind Rätselworte. Sie sind nicht klar und eindeutig. Sie folgen ebenso wenig
den Gesetzen philosophischer oder mathematischer Logik wie sie bloße Binsenweisheiten formulieren. Nicht erst ein Blick in die Vielfalt späterer Auslegungs- und Rezeptionsgeschichte muss diese Einschätzung bestätigen. Schon die Unterschiedlichkeit im Verständnis dieser Texte innerhalb der ersten Jahrzehnte der Rezeption, wie sie sich anhand
der Parallelüberlieferungen von Mt, Lk oder EvThom ablesen lässt, dokumentiert eine
Deutungsvielfalt. Und sogar auf der narrativen Ebene eines Evangeliums wird die Notwendigkeit von Auslegung literarisch inszeniert: So kommen die Jünger zu Jesus und
bitten: Deute uns die Parabel (…)! (Mt 13,36). Zu zwei Gleichnissen werden dann auch
explizit Deutungen gegeben (zum Sämann: Mk 4,13-20par.; zum Unkraut im Weizen:
Mt 13,36-43). Auch die markinische Parabel- bzw. Verstockungstheorie kann auf pragmatischer Ebene als ein literarisch verarbeiteter Ausdruck der Deutungsambivalenz der
Parabeln verstanden werden. Offenbar waren diese Texte gerade nicht sofort verständlich,
ja für manche sogar gänzlich unzugänglich, was zum theologischen Verarbeitungsmodell
der ›Verstockung‹ geführt hat (dazu Erlemann 2008a). Auch die traditionsgeschichtlichen Bezüge etwa zum hebr. māschāl fügen sich in dieses Bild, da der māschāl explizit
als Rätselrede (z. B. Ez 17,2; Spr 1,6) aufgefasst werden kann.
Jülicher hingegen hatte der in seiner Zeit zum Teil wilden Allegorisierung von
Gleichnissen, d. h. einer willkürlichen Sinnzuschreibung und textfremden Aneignung,
entgegentreten wollen und deshalb die Klarheit und Eindeutigkeit besonders der Gleichnisse im engeren Sinn proklamiert. »Sie vertragen keine Deutung, sie sind so klar und
durchsichtig wie möglich, praktische Anwendung wünschen sie sich. Wenn man (…)
jemandem einen Spiegel vorhält, dass er seine Hässlichkeit oder Schmutzflecke, die ihn
entstellen, wahrnehme, so bedarf man dazu keines weiteren erklärenden Wortes; der
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Die Gleichnisse Jesu – eine Hinführung
Spiegel deutet eben besser, wie es in Wahrheit steht, als man es mit den längsten Beschreibungen zu Stande brächte.« (Jülicher I 2 1910, 114, s. o.).
Gewiss, es mag Sprachbilder geben, die unmittelbar einleuchten. Doch gerade
auch dann hat sich bereits ein hermeneutischer Prozess ereignet, der nur überraschend
schnell zum Ziel gekommen ist. Was Jülicher zu Recht erkannt hatte, ist dies, dass der
Verstehensprozess zum Teil mit einer suggerierten Eindeutigkeit des bildspendenden Bereichs arbeitet. Die Selbstverständlichkeit, mit der hierbei Zustimmung erwartet wird, ist
dabei ein Aspekt der rhetorischen Funktion, der die Parabel unterliegt.
Das intendierte Verstehen eines Gleichnisses kommt allerdings erst dann zum eigentlichen Ziel, wenn der mitunter ganz alltägliche Vorgang, z. B. das Aufstellen einer
Lampe, übertragen wird auf eine religiöse Dimension. So ›einleuchtend‹ die vorgestellte
Szene auf den ersten Blick scheinen mag, der Übertragungsvorgang ist alles andere als
eindeutig. Die von Jülicher postulierte Reduktion auf ein einziges ›tertium comparationis‹ (das Dritte des Vergleichs) muss gerade hier scheitern. Es gibt zwar eine Reduktion
von Sinnmöglichkeiten: In der Jesusmetapher von der Tür (Joh 10,7) kann man etwa
ausschließen, dass die materiale Beschaffenheit der Tür (z. B. aus Holz) übertragen werden soll. Gleichwohl bleibt eine ganze Reihe von Aspekten bzw. Funktionen der Tür
(Ausgang, Eingang, Öffnung etc.) übrig, die sinnvolle Deutungen eröffnet. Die Übertragungsleistung, die hier Bildlichkeit bzw. Metaphorizität genannt wird, impliziert Uneindeutigkeit. Denn sie wird zwar durch Transfersignale in Text und Kontext vorstrukturiert. Sie zu vollziehen, die Sinnfindung auf höherer Ebene auch tatsächlich zu leisten,
bleibt aber einem Leser oder einer Leserin überlassen.
Der Mehrdeutigkeit eines Gleichnisses entspricht somit seine Appellstruktur. Weil
der Sinn der Bildersprache textlich nicht genau festgelegt ist, muss er von Lesenden erst
gesucht und gefunden werden. Weil die Gleichnisse deutungsoffen sind, sind sie zugleich
deutungsaktiv, d. h. sie evozieren eine Deutung. Anders formuliert: Gleichnisse laden die
Lesenden und Hörenden ein, sich auf einen Prozess des Verstehens einzulassen. Der in
Mk 4,9 noch einmal explizit formulierte Appell zu hören, liegt schon in den Gleichnistexten selbst. Er geht über die Aufforderung einer auditiven Wahrnehmung hinaus. Die
Gleichnisse wollen nicht nur gehört oder kognitiv erfasst werden, sie wollen auch begriffen, gefühlt oder sogar erlebt werden. Indem die Gleichnisse eine eigene Welt entwerfen,
in der z. T. Identifikationsfiguren agieren und reden, in Krisen geführt werden und daraus wieder auftauchen, ziehen sie die Lesenden buchstäblich in ihre Welt hinein. Sie
können – wie C. Link es trefflich formuliert – »bewohnte Bildwelten« werden. »Verstehen
beruht hier (…) geradezu auf der Möglichkeit, in das Szenarium ›einzusteigen‹ und die
Rolle eines seiner Akteure zu übernehmen« (Link 1999, 149).
Aber Gleichnisse sind kein bloßes Spiel, das zum Eintreten in eine Scheinwelt etwa
im Sinne der fiktiven Internetwelt ›second life‹ verführt. Die Auseinandersetzung mit
dem Gleichnistext verhilft den Lesenden, sich selbst und ihre konkrete Lebenswelt in
einem neuen Licht zu sehen. Das Verstehen der Gleichnisse bedeutet dann, »sich selbst
dem Text auszusetzen und von ihm ein erweitertes Selbst zu gewinnen, einen Existenzentwurf als wirklich angeeignete Entsprechung des Weltentwurfs.« (Ricœur 1974b, 33).
Um es mit Worten der Tradition zu sagen: Gleichnisse wollen zum Glauben, konkreter:
zum Leben aus dem Glauben führen.
Diese unmittelbare Ausrichtung auf den je konkreten Leser und die je konkrete
Leserin impliziert weit reichende methodische Konsequenzen für die Auslegung. Wenn
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Die Gleichnisse Jesu · Eine Leseanleitung zum Kompendium
das hermeneutische Ziel des Gleichnisses nur im je und je vollzogenen Lesevorgang erreicht werden kann, wenn es gerade nicht um historische Fakten- oder allgemeine Vernunftwahrheiten, sondern um konkrete Lebenswahrheiten geht, dann kann es auch keine
vorschreibende Auslegung geben. Das Kompendium trägt dieser Leser(innen)orientierung Rechnung, indem Verstehenswege und Deutungshorizonte angeboten werden (dazu 3.2.5), die zu konkreten Aneignungen des Textes einladen.
1.5 Zur Forschung: Ein integratives Modell
Wenn sie aber allein waren, erklärte er seinen Jüngern (und Jüngerinnen) alles.
(Mk 4,34)
Zuletzt soll der vorliegende Ansatz forschungsgeschichtlich eingeordnet werden. Hierbei
kann es nicht darum gehen, einen wirklichen Forschungsbericht zu geben (vgl. dazu Erlemann 1999, 11-52; Snodgrass 2000, 3-29; P. Müller 2002, 16-47; R. Zimmermann
2008b). Stattdessen sollen Leitlinien der Annäherung benannt werden, die in unterschiedlichen Phasen der Gleichnisexegese in den Vordergrund getreten sind. Dabei
möchte ich idealtypisch drei Perspektiven unterscheiden.
Zum einen lassen sich historisch-diachrone Zugänge benennen, die freilich ganz unterschiedliche Gestalt annehmen konnten. So hatte A. Jülicher nach den authentischen Ursprüngen der Gleichnisrede Jesu zurückgefragt (Jülicher 2 1910), was von Ch. H. Dodd
(Dodd 1935) oder J. Jeremias hinsichtlich der Frage nach der konkreten Situation eines
Gleichnisses im Leben Jesu, ja sogar nach den ipsissima verba (ureigenen Worte) Jesu
zugespitzt wurde (Jeremias 11 1998, 14.19 ff.). Neuerdings spricht etwa Scott von »ursprünglichen Strukturen« (Scott 1989, 35-42.54 f.: ipsissima structure). Ähnlich wie Jeremias hat auch J. D. Crossan in seiner ersten Annäherung die Gleichnisse im Leben Jesu
zu verankern versucht und dabei besonders die eschatologische Dimension hervorgehoben (Crossan 1973). Daneben wurde der anti-allegorische Zugang von Jülicher vor allem
durch sozialgeschichtliche Fragestellungen weitergetrieben. Besonders J. Jeremias hatte
hier in seinem Gleichnisbuch Pionierarbeit geleistet (Jeremias 11 1998). In jüngerer Zeit
sind dann vor allem die Arbeiten von W. R. Herzog II (Herzog 1994) und L. Schottroff
(Schottroff 2005) zu nennen, die eine genaue Situierung der Gleichnisse bzw. ihrer Ersthörer(innen) in einer sozio-kulturell bestimmten Gesellschaftssituation vorschlagen.
H.-J. Klauck (Klauck 2 1986) und später E. Rau (Rau 1990) vollziehen eine ›konsequente
Historisierung‹, indem die Gleichnisse in ihren literaturgeschichtlichen Horizont eingeordnet werden. Einen anderen diachronen Zugang beschreitet J. Liebenberg, der Überlieferungswege einzelner Gleichnisse nachzeichnet, allerdings nicht, um zu vorschriftlichen
Ursprungsstadien zurückzugelangen, sondern um die literarische Fortschreibung und
Applikation eines Stoffes innerhalb unterschiedlicher Rahmentexte Q – Mt – Lk –
EvThom zu beschreiben (Liebenberg 2001).
Einen zweiten Bereich der Gleichnisforschung kann man im Bereich literarischer Zugänge
sehen, die sich besonders im Zuge der sprachlichen Wendung (des linguistic turn) der
Exegese etabliert haben. Nicht mehr die historische Entstehungssituation oder textliche
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Die Gleichnisse Jesu – eine Hinführung
Vorgeschichte, sondern die überlieferten Texte selbst rückten hier in den Mittelpunkt.
Eine bahnbrechende Wirkung hatten hier die Arbeiten von Robert Funk (Funk 1966)
und Dan O. Via (Via 1967/dt. 1970). Während D. O. Via vor allem die literarisch-ästhetische Qualität der Gleichnisse als »genuine Kunstwerke« (Via 1970, 9) in den Mittelpunkt rückte, war es das Verdienst von R. Funk, die metaphorische Dimension der
Gleichnisse neu gewürdigt zu haben. Hatte Jülicher und die ihm folgende Gleichnisforschung die Metapher als Baustein der Allegorie abgewertet, so konnte Funk – nicht zuletzt aufgrund eines veränderten Metaphernverständnisses – die Metaphorizität als
Grundkategorie aller Gleichnisse erweisen und ihre kreativen Potenziale und Wirkungen
mit Blick auf die Rezipienten herausarbeiten (Funk 1966, 133.137; vgl. auch Funk 1982).
Es war dann im europäischen Raum vor allem P. Ricœur, der in Anknüpfung an I. Richards und M. Black die so genannte »Interaktionstheorie« in seiner »lebendigen Metapher« ausarbeitete (Ricœur 3 2004). Die Metapher wurde hierbei nicht auf ein substituiertes Wort begrenzt, sondern immer auf ein Stück Text bezogen (Ricœur 3 2004; zum
Überblick R. Zimmermann 2000b), innerhalb dessen eine Wechselwirkung zwischen
zwei semantischen Bereichen erzeugt wird, die gewöhnlich nicht zusammengehören. Damit war der Weg für ein metaphorisches Verständnis längerer Erzähltexte geebnet, was
Ricœur selbst für die Gleichnisse Jesu fruchtbar machte (Ricœur 1974; ders. 1975; vgl.
Perrin 1976). Bis in die Gegenwart werden nun die »Gleichnisse Jesu als Metaphern«
(Weder 1978 [= 4 1990]; Klauck 2 1986; Meurer 1997) betrachtet, wobei die Akzente unterschiedlich gesetzt werden können, indem etwa zwischen der »metaphorischen Erzählung« (Harnisch 4 2001) oder der »erzählten Metapher« (Heininger 1991) unterschieden
wird. Eine gewisse Ausnahme stellt Ch. Hedrick dar, für den Parabeln keine Metaphern
oder Symbole darstellen, sondern »potentially radical poetic fictions that competed with
Judaism’s paradigmatic narrative rigidity« (Hedrick 1994, 87; vgl. ders. 2004). Hatte
zwar Ricœur schon die Verknüpfung zwischen Narrativität und Metaphorizität in den
Gleichnissen wahrgenommen, so hat besonders W. Harnisch die erzählerische und sogar
dramaturgische Komposition der Parabeln herausgearbeitet (Harnisch 4 2001). Ferner
wurde in dieser Zeit die kontextuelle Verortung der Gleichnisse innerhalb der literarischen Ganzschrift, wie z. B. im Lukasevangelium (dazu Sellin 1974/1975) benannt.
Zuletzt möchte ich hermeneutische bzw. leserorientierte Zugänge eigens benennen. Die
Ausrichtung auf den Leser war zwar in ethischer oder existenzialer Weise immer wieder
benannt worden. Die hermeneutischen Ansätze von E. Fuchs (Fuchs 1958, 219-230)
oder die These der »Verschränkung« zwischen dem Urteil des Erzählers und dem Hörenden von seiner Schülerin E. Linnemann (Linnemann 7 1978) gingen weit über die primär
historisch ausgerichtete Forschung ihrer Zeit hinaus. Dass die Rezipienten aber nicht nur
Adressaten, sondern regelrecht Teilnehmer der Gleichniserzählung seien, wurde erst seit
den 70er Jahren intensiver bedacht.
So hatte Funk 1966 die Deutungsoffenheit der Parabel aufgrund ihrer Metaphernstruktur gewürdigt, was von M. A. Tolbert (1979) zur polyvalenten Deutungstheorie
ausgebaut wurde. E. Arens oder H. Frankemölle verstehen die Gleichnisse als »kommunikative Handlungen« (Arens 1982; Frankemölle 1982), bei denen die drei Dimensionen Sprecher/Hörer, Text und Sache berücksichtigt werden müssen (Arens 1982, 13).
Unter Aufnahme der Sprechakttheorie könne man die Gleichnisse Jesu als innovative
Sprachhandlungen bezeichnen, in denen Sach- und Beziehungsaspekte miteinander kor15
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Die Gleichnisse Jesu · Eine Leseanleitung zum Kompendium
relieren. Den kommunikativen Aspekt der Gleichnisse hat auf andere Weise C. Kähler
vertieft, indem er ihnen verändernde und sogar therapeutische Wirkung zuschreibt und
sie als »Phänomene heilender Rede« (Kähler 1995, 125) klassifiziert. D. Massa hat hingegen die kognitiven Prozesse, die im Verstehensvorgang beim Leser ausgelöst werden,
unter literaturtheoretischer und kognitionspsychologischer Perspektive in den Blick genommen (Massa 2000). Einen hermeneutisch-positionellen Zugang wählt schließlich
M. A. Beavis, die die Perspektive von Frauen – sei es als Akteurinnen auf Erzählebene,
sei es als rezipierende Leserinnen – in den Mittelpunkt rückt (Beavis 2002).
Betrachten wir die hier idealtypisch vorgeführten Zugänge als historisch, literarisch und
hermeneutisch, dann kann das vorliegende Modell als integrativ bezeichnet werden, denn
alle drei Perspektiven werden in spezifischer Weise aufgenommen.
So geht es zwar in historischer Perspektive nicht um die Rekonstruktion der authentischen Jesusworte und eines postulierten Überlieferungsweges. Gleichwohl werden
historische Fragen gestellt, wenn sozialgeschichtlich nach dem »bildspendenden Bereich«
gefragt wird, wenn die Übertragungsvorgänge diachron in »Bildfeldtraditionen« eingeordnet werden oder wenn mit der Parallelüberlieferung der Texte eine frühe Wirkungsund Rezeptionsgeschichte wahrgenommen wird.
Die literarische Fragestellung wird insofern aufgenommen, als im ersten Analyseschritt eine genaue, linguistisch ausgerichtete »sprachlich-narrative Analyse« geleistet
wird. Hierbei spielt die Untersuchung der Erzählweise des Textes ebenso eine Rolle wie
die Ermittlung von Transfersignalen und Interaktionsweisen, die seine Metaphorizität
anzeigen. Um den Text vor ideologischen Eintragungen und vorschnellen Aneignungen
zu schützen, soll er möglichst genau erst einmal in seiner sprachlichen Gestaltung und
ästhetischen Struktur untersucht und dargestellt werden. Gleichwohl werden die Parabeln in diesem Kompendium nicht als »autonome Kunstwerke« betrachtet, die isoliert
verstanden werden könnten. Die Einordnung in den literarischen Kontext ist ebenfalls
ein wesentlicher Aspekt der sprachlichen Analyse, die besonders als Zuordnung zum jeweiligen Quellenbereich verstanden wird.
Das Ziel der Gleichnisse ist aber die Auslösung eines Verstehensprozesses. Historische und sprachliche Aspekte sollen nicht zum Selbstzweck ermittelt werden, sondern
dienen letztlich einem vertieften Verstehen. Sie bewahren den hermeneutischen Zugang
vor einer einseitigen oder vorschnellen Vereinnahmung des Textes und machen sein Eigengewicht, seine Fremdheit deutlich. Historische Hintergründe und sprachliche Gestalt
geben die Verstehensrichtung vor, so dass nicht beliebig in den Text hineininterpretiert
werden kann. Gleichwohl sollen sie zu einem vertieften Verstehen führen, das zwar durch
Auslegungsimpulse vorstrukturiert wird, aber letztlich von jedem Leser und jeder Leserin
je neu vollzogen werden muss.
16
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Die Form bzw. Gattung der Gleichnisse
2 Die Form bzw. Gattung der Gleichnisse
2.1 Zur Jülicher-Klassifikation und deren Kritik
2.1.1 Gleichnis – Parabel – Beispielerzählung
Es war zweifellos eines der großen Verdienste von Adolf Jülicher, das Gleichnismaterial
(das er strikt von der Allegorie unterschied) einer klaren und relativ einfachen Systematik
unterworfen zu haben (Jülicher I 2 1910, 25-118): So differenzierte er »Gleichnis« (im
engeren Sinn), »Parabel« und »Beispielerzählung«. Bultmann hat das Repertoire noch
um »Bildworte« erweitert, die er auf der untersten Stufe bildlicher Redeweise ansiedelt
und mit Metaphern und Vergleichen parallelisiert (Bultmann 10 1995, 181-184). Diese
Klassifikationen haben (von geringfügigen Modifikationen abgesehen) – zumindest im
deutschsprachigen Raum – kanonischen Charakter angenommen, sind sie doch ungeachtet mancher Kritik vom Proseminar bis zum Examen, von Lehrbüchern bis hin zu
Spezialuntersuchungen zum Thema und bis in neuere und neueste Gleichnisliteratur
hinein anzutreffen (vgl. Knoch 3 1987, 18-20; Strecker 1992, 181-189; Vouga 1999, 76;
Reiser 2001, 141-149). Die weite Verbreitung der Begründung dieser Gattungstypen,
lässt es gerechtfertigt erscheinen, hier die Wiederholung des Rasters auf einige wenige
Skizzen zu beschränken.
Als Bildworte werden kurze vergleichende Sentenzen ohne Vergleichspartikel (so
wie …) bezeichnet, die häufig doppelgliedrig gestaltet sind.
Das Gleichnis i. e. Sinn ist nach Jülicher »die Veranschaulichung eines Satzes durch
Nebenstellung eines anderen ähnlichen Satzes« (Jülicher I 2 1910, 69), also ein ausgeführter Vergleich auf der Basis einer Ähnlichkeitsbeziehung. Bei der Schilderung des typischen und wiederkehrenden Geschehens werde das Präsens verwendet. Indem das
Gleichnis i. e. S. auf einen allgemein bekannten und natürlichen Vorgang bzw. auf Erfahrungswissen zurückgreife, sei eine gesonderte Deutung überflüssig.
Im Kontrast hierzu stehe die Parabel, bei der ein ›ungewöhnlicher Einzelfall‹ frei
erfunden werde. Die Geschichte wird nach Jülicher »zum Teil mit einer selbst in kleinen
Nebenzügen verschwenderischen Ausführlichkeit« (Jülicher I 2 1910, 93) im Vergangenheitstempus Aorist erzählt. Die Extravaganz des Erzählten erfordere hier eine eigene Deutung.
Jülicher hatte darüber hinaus noch die Beispielerzählung als eigene Gleichnisgattung benannt und damit vier Texte des lukanischen Sonderguts klassifiziert (barmherziger Samariter, Lk 10,30-35; reicher Kornbauer, Lk 12,16-21; reicher Mann und armer
Lazarus, Lk 16,19-31; Pharisäer und Zöllner, Lk 18,9-14). Die erzählte Geschichte repräsentiere hier bereits, worauf es ankomme, sei also »ein Beispiel des zu behauptenden
Satzes« (Jülicher I 2 1910, 112) und ziele auf eine ethische Anwendung. Die Erzählfiguren
sollten folglich zum Modell, zum Beispiel des eigenen Handelns werden.
Im Folgenden sollen Brüche und Grenzen dieses Modells aufgezeigt werden. Denn die
Einfachheit und Klarheit, der die Differenzierung ihren Erfolg verdankt, hält einer Prüfung am konkreten Text und historischen Kontext kaum stand.
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Die Gleichnisse Jesu · Eine Leseanleitung zum Kompendium
2.1.2 Kritik an der so genannten »Beispielerzählung«
Die Kritik an Jülichers Klassifikation wurde bislang vor allem an der Untergattung »Beispielerzählung« ausgeführt (vgl. Harnisch 4 2001, 84-97; Baasland 1986, ausführlich Tucker 1998). Während die Parabel indirekt auf etwas Anderes verweise, präsentiere die
Beispielerzählung bereits in der Erzählfolge das, worauf es eigentlich ankomme. Doch
Jülichers Postulat einer Identität von Sach- und Erzählebene bei der Beispielerzählung
ist fragwürdig: Dies wird schon an den von ihm konkret genannten Sachinhalten deutlich. So postulierte Jülicher, dass es beim Samaritergleichnis um den Wert der »echten,
opferfreudigen Liebe« gehe, beim Pharisäer und Zöllner um »Demut« (Jülicher I 2 1910,
112; II, 596); beim reichen Kornbauern werde die falsche Sicherheit durch Reichtum
thematisiert (die Erkenntnis, »wonach es Thorheit ist, sein Glück durch Reichtum gesichert zu wähnen«, a. a. O., 616), während beim reichen Mann und armen Lazarus »Freude an einem Leben im Leiden« und »Furcht vor dem Genussleben« (a. a. O., 638) erzeugt
werden soll. Allein die vielfältige Auslegungsgeschichte der genannten Texte wie z. B. zum
Samaritergleichnis widerlegt diese interpretatorischen Engführungen. Auch die unmittelbare Vorbildfunktion der Erzählfiguren ist nicht nachvollziehbar: Denn dass z. B. beim
Samariter-Gleichnis jüdische Hörer im Samariter ihre Identifikationsfigur finden sollen,
ist kaum vorstellbar. Ferner ist das angeblich fast völlige Zurücktreten der Bildlichkeit bei
den Beispielerzählungen nicht erkennbar. Die Nennung von Ortsangaben (Jerusalem;
Jericho) oder der Namen einzelner Akteure (Lazarus) entbindet den Leser/die Leserin
nicht davon, über das konkrete Szenario hinaus eine abstrakte Sinnebene zu suchen.
Ganz wie bei anderen Parabeln wird ein Einzelfall konstruiert, der aber in grundlegendere und auch sachfremde Bedeutungsebenen hinein übertragen werden muss. Der Tiefensinn des realitätsbezogen Erzählten erschließt sich auch hier erst durch metaphorische
Interaktion (so auch Funk 1982, 29-34). Konkret: Dass es bei dem Hilfshandeln des Samariters um die Erfüllung des Tora-Gebots der Nächstenliebe geht, wird in der Erzählung selbst gar nicht gesagt, sondern erst im »Neben- und Ineinander« zwischen Kontext
und Erzählung sichtbar. Umgekehrt gibt es auch eine ganze Anzahl anderer Parabeln, in
deren Erzählwelt das religiöse Leben eine Rolle spielt (z. B. Mk 2,18-20: Fasten; Mk 3,2226: Beelzebul; Mk 7,14-23: rein-unrein; Mt 25,32 f.: Menschensohn), ohne dass sie von
Jülicher zu den Beispielerzählungen gerechnet wurden.
Überhaupt erscheint es fraglich, ob sich aus vier Texten des lukanischen Sonderguts eine eigene Textsorte rekonstruieren lässt. Eine Zuordnung zur Exempla-Klassifikation der antiken Rhetorik rechtfertigt keineswegs die Absonderung einer Untergattung
»Beispielerzählung«, denn alle Formen faktualer Erzählungen und fiktionaler Gleichnisse
werden von den Rhetoren unter das große Dach der paradefflgmata (paradeigmata –
Beispiele) vereint: Parabeln sind Beispiele (vgl. Quint. inst. V 11, dazu Tucker 1998,
275-395.413; R. Zimmermann 2007a). Schließlich verbietet die Einsicht der neueren
Forschung zu literarischen Formen und Textsorten eine weitgehend von Inhalten bestimmte Definition einer Gattung, wie Jülicher sie hier vollzogen hatte.
Zuletzt ist auch die Gegenprobe stichhaltig, denn nicht nur die als Beispielerzählungen abgesonderten Texte sind unmittelbar an den Leser appellierende Texte. Alle Parabeln fordern eine Parteinahme, ein Urteil, ja ein bestimmtes Verhalten von den Leserinnen und Lesern, so dass die Appellstruktur keine Sonderstellung rechtfertigt.
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Die Form bzw. Gattung der Gleichnisse
Fazit: Die Texte, die Jülicher als Beispielerzählung klassifiziert hat, lassen sich problemlos mit den Kriterien der Parabel beschreiben.
2.1.3 Kritik an der Unterscheidung von »Gleichnis i. e. S.« und »Parabel«
Unkritischer wird hingegen bis in neueste Veröffentlichungen hinein die Unterscheidung
zwischen »Gleichnis im engeren Sinn« und »Parabel« aufrechterhalten. Die hierbei angeführten Unterscheidungskriterien müssen jedoch aus einer Reihe von Gründen in Zweifel
gezogen werden:
Quellensprachliche Kritik
Eine terminologische Differenzierung zwischen Gleichnis i. e. S. und Parabel (oder gar
Beispielerzählung) lässt sich an den ntl. und urchristlichen Schriften nicht nachweisen.
Die Autoren der ntl. Schriften sprechen in der Einleitung gerade auch zu solchen
Texten von parabolffi parabolē, die in der Forschungstradition den Gattungen »Bildwort«, »Gleichnis im engeren Sinn« oder »Beispielerzählung« zugewiesen wurden. Dies
sei kurz am Beispiel des Verfassers des Lukasevangeliums erläutert: Hier werden so genannte »Bildworte« wie vom »neuen Flicken auf altem Gewand« (Lk 5,36) oder vom
»blinden Blindenführer« (Lk 6,39) in der Einleitung parabolē genannt. Ferner werden
so genannte »Gleichnisse i. e. S.« wie z. B. »Die Rangordnung der Tischgäste« (Lk 14,7)
oder »Von der Frucht des Feigenbaums« (Lk 21,29) als parabolaffl parabolai eingeführt.
Auch die von Jülicher als »Parabeln« klassifizierten Texte wie das Sämann-Gleichnis (Lk
8,4.9.11) oder die »bittende Witwe« (Lk 18,1) werden mit demselben Terminus belegt,
ebenso wie schließlich die so genannten »Beispielerzählungen« »Vom reichen Kornbauern« (Lk 12,16) oder »Vom Pharisäer und Zöllner« (Lk 18,9). Eine entsprechende Breite
der Texte lässt sich auch bei den anderen Evangelisten nachweisen.
Die urchristlichen Evangelisten verwenden insgesamt zwei Begriffe zur Klassifikation der Gleichnistexte: parabolffi parabolē und paroimffla paroimia. Dabei zeigt sich eine
quellenspezifische Differenz, denn während die Synoptiker ausschließlich und in auffälliger Häufigkeit von der parabolffi parabolē sprechen, nennt der vierte Evangelist den
Begriff gar nicht und spricht stattdessen von paroimffla paroimia (nur vier Mal), wobei
sich nur der Beleg in Joh 10,6 auf einen konkreten Text bezieht, die Nennung in Joh
16,25bis.29 hingegen den Begriff als eine übergeordnete sprachlich-hermeneutische Kategorie versteht (R. Zimmermann 2004a, 29-45; Poplutz 2006). Beide Begriffe werden aber
in der LXX als Übersetzung des gemeinsamen hebräischen Begriffs lU5m5 māschāl benutzt.
Wenn wir versuchen wollen, zunächst das Gattungsbewusstsein der urchristlichen
Autoren einschließlich verwendeter Termini aufzunehmen, dann lässt sich m. E. keine
terminologisch manifestierte Gattungsdifferenz aus den Quellensprachen ableiten, denn
diese wäre nur zu bestimmen, wenn ein Autor mehrere Begriffe (z. B. parabolē und paroimia) auf ähnliche Texte unterschiedlich anwendete. Zugleich kann man aber feststellen,
dass die Autoren durchaus ein Gattungsbewusstsein mit den jeweils verwendeten Begriffen verbinden, sei es, dass eine Meta-Reflexion ausgeführt wird (vgl. die so genannte
Parabel-Theorie in Mk 4,10-12; oder zu paroimia in Joh 16,25-29), sei es, dass z. B. Lukas
übernommene Texte abweichend von der Vorlage nun explizit als parabolffi parabolē
klassifiziert (so etwa Lk 6,39; vgl. Q 6,39 / Mt 15,14 ohne Parabel-Begriff; Lk 5,36 im
Vgl. zu Mk 2,21; Mt 9,16).
19
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Die Gleichnisse Jesu · Eine Leseanleitung zum Kompendium
Will man aus der Quellensprache dennoch einen übergreifenden Gattungsbegriff ableiten, bietet sich am ehesten die »Parabel« an. Zwar ist die etymologisch nahe liegende
Übersetzung von parabolffi parabolē mit »Parabel« nicht zwingend, allerdings ist sie
dem terminologischen Bewusstsein der urchristlichen Autoren, die gerade mit dem Begriff parabolffi parabolē ein Gattungsbewusstsein zeigen (so z. B. zu Matthäus Münch
2004, 73 ff.), näher als alle anderen Begriffe. Dies gilt umso mehr, als die griech. Sprachwelt bekanntlich ausgehend etwa von Aristoteles durchaus reich an verschiedenen Termini der Bildsprache war: Man denke etwa an tŠ ˆmoion to homoion (das Ähnliche),
¡moiƒth@ homoiotēs (Ähnlichkeit/Gleichheit), metafor€ metaphora (Metapher), ⁄llhgorffla allēgoria (Allegorie), sÐmbolon symbolon (Symbol), m‰qo@ mythos (Mythos),
a—nigma/a§nigmƒ@ ainigma/ainigmos (Rätsel) etc. (vgl. R. Zimmermann 2004a, 62).
Kritik im Horizont der antiken Rhetorik
Immer wieder wurde darauf hingewiesen, dass die Binnendifferenzierung zwischen
»Gleichnis i. e. S.« und »Parabel« mit einer Unterscheidung von Gattungen der antiken
Rhetoriken korreliere. So sei etwa die terminologische Differenz zwischen parabolffi
parabolē und lƒgo@ logos bei Aristoteles im 20. Kapitel des zweiten Buches der Rhetorik
(Arist. rhet. 1393a, 28-31) oder zwischen similitudo und collatio, wie sie Quintilian im
11. Kapitel des 5. Buches seiner »Institutio Oratoria« vollziehe, eine unmittelbare Entsprechung zu Jülichers Unterscheidung.
Betrachtet man die innerhalb der Rhetoriken gegebene Klassifikation im Einzelnen
(vgl. Details bei R. Zimmermann 2007a), dann wird vor allem die Inkongruenz der Termini und der damit bezeichneten Phänomene mit den Rastern der Gleichnisforschung
evident. So gibt Aristoteles in seiner Rhetorik Gestaltungshinweise für Reden, wobei er
unter anderem die »Beispiele« (paradefflgmata paradeigmata) in Analogie zur Induktion als mögliches Überzeugungsmittel anführt. Neben den Beispielen, die auf geschehene
Dinge zurückgreifen, gebe es fiktive, also frei erfundene Beispiele, die Aristoteles wiederum in parabolaffl parabolai und lƒgoi logoi unterteilt, wobei erstere sokratische Analogien aus dem Erfahrungsbereich bezeichnen, letztere Fabeln wie die Äsopischen oder
Lybischen. Aristoteles benutzt also gerade den Begriff »Parabel« für das, was Jülicher
»Gleichnis i. e. Sinn« genannt hatte, eine Identifikation der logos-Fabel mit der Jülicherschen »Parabel« ist aber aus Aristoteles nicht abzuleiten.
Auch bei dem lateinischen Rhetoriklehrer Quintilian (ca. 35-96 n. Chr.) findet sich
die parabolffi parabolē in seinen Ausführungen zu den Beweisgründen unter der Überschrift der exempla (vgl. von Moos 1988, 48-68). In scheinbarer Anknüpfung an Aristoteles differenziert auch er zwischen den geschichtlichen und den erfundenen Beispielen,
allerdings werden dann die geschichtlichen Beispiele als »Beispiele im engeren Sinn« bezeichnet, die »die Erwähnung eines (…) nützlichen, wirklichen oder angeblich wirklichen Vorgangs« (id est rei gestae aut ut gestae utilis … commemoratio, Quint. inst. V
11,6) beinhalten. Daneben stehen die fiktiven Beispiele, denen Quintilian die Fabeln (abschätzend ›fabella‹ genannt) und paroimfflai paroimiai zuordnet, letztere seien »eine Art
kürzere Fabel und allegorisch zu verstehen« (Quint. inst. V 11,21). Als weitere, von den
bisher genannten abzugrenzende Gruppe benennt Quintilian nun noch die similitudines,
wobei er weiter in similitudo im engeren Sinn als Vergleichung ohne Übertragung und
collatio (synonym mit dem Lehnwort parabolffi parabolē) als Vergleich von weit her
(z. B. aus dem leblosen Bereich) differenziert (s. Tab.).
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Die Form bzw. Gattung der Gleichnisse
Tab. Exempla-Differenzierung nach Quintilian (inst. V 11), in Weiterführung des Schaubilds von Dormeyer 1993, 146.
Wer nun versucht ist – wie seinerzeit noch D. Dormeyer (Dormeyer 1993, 142-146) –, in
der von Quintilian gegebenen Unterscheidung von similitudo und collatio das metaphernlose »Gleichnis i. e. S.« und die den ungewöhnlichen Einzelfall schildernde »Parabel« im Sinne Jülichers wiederzuerkennen, der wird durch die konkreten Beispiele des
Quintilian eines Besseren belehrt. Entscheidend ist für Quintilian nicht die Alltäglichkeit
oder Außergewöhnlichkeit des Erzählten, sondern vielmehr die Nähe oder Ferne des Vergleichsgegenstands zum Erklärungsgegenstand. So kann der besondere Fall, dass sich
Kandidaten, die sich auf dem Wahlplatz haben Geld geben lassen, zur similitudo für bestechliche Richter werden, während der alltägliche Vorgang der Pflege des Ackerbodens
als Beispiel einer »aus der Ferne« geholten collatio/parabolē angeführt wird (Quint. inst.
V 11,22.24). Das maßgebliche Kriterium für die Gattungsdifferenzierung ist eine Ähnlichkeitsbeziehung zwischen zwei Ebenen. Die Bildungsmechanismen oder Formen des
Ineinandergreifens werden dann z. T. sehr differenziert beschrieben (Teil – Ganzes, vom
Kleineren zum Größeren und vice versa, ähnlich – unähnlich – gegensätzlich, von Nahem
– von Weitem etc.)
Zwar werden innerhalb antiker Rhetorik mit parabolffi parabolē und sogar paroimffla paroimia Termini verwendet, die auch im Neuen Testament vorkommen. Eine Entsprechung der damit beschriebenen Phänomene zur Binnendifferenzierung der Gleichnisse in der Jülicher-Tradition kann aber keineswegs erkannt werden.
Forschungsgeschichtliche Kritik
Mag die Klarheit der Binnendifferenzierung vielleicht im Sinne wissenschaftssprachlicher
Codes noch einen heuristischen Sinn haben, so wird im Blick auf die konkrete Anwen21
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Die Gleichnisse Jesu · Eine Leseanleitung zum Kompendium
dung des Rasters auf das Korpus der Gleichnisse gerade auch dieser Wert zweifelhaft.
Denn Forscher, die sich zu dem genannten Klassifikationsraster von »Gleichnis i. e. S.«
und »Parabel« bekennen, kommen in Applikation auf die konkreten Texte zu ganz unterschiedlichen Ergebnissen. Als Beispiel möchte ich hier nur auf die für die Formgeschichte
in unserem Bereich prägenden Exegeten Jülicher und Bultmann verweisen, die diesselben
Texte teilweise in konträrer Weise unterschiedlichen Gattungen zuordnen:
Text
Mk 4,26-29 (selbstwachsende Saat)
Mk 4,30-32 (Senfkorn)
Lk 7,31-35 (spielende Kinder)
Lk 15,4-7 (verlorenes Schaf)
Lk 15,8-10 (verlorene Drachme)
Mt 13,44-46 (Schatz im Acker; Kaufmann und Perle)
Mt 13,47-50 (Fischnetz)
Jülicher
Parabel
Parabel
Parabel
Parabel
Parabel
Parabel
Parabel
Bultmann
Gleichnis
Gleichnis
Gleichnis
Gleichnis
Gleichnis
Gleichnis
Gleichnis
Jülicher selbst gesteht bereits die Schwierigkeit der Abgrenzung ein: »Allerdings sind die
Grenzen fliessende; man kann bei einigen Perikopen zweifeln, ob sie mit mehr Recht zu
der ersten Gruppe oder zu einer höheren gezählt werden dürfen, z. B. bei Mt 7,24-27 dem
Bildwort vom Hausbau auf Felsen oder Sand, bei Lk 11,5-8 der parabolffi vom ungestüm bittenden Freund.« (Jülicher I 2 1910, 92). Auch Bultmann muss die Begrenzung
der Anwendung seines Rasters auf konkrete Texte eingestehen (Bultmann 10 1995, 189).
Eignet sich aber ein Klassifikationssystem gerade nicht, um zu klaren, konsensfähigen Ergebnissen zu gelangen, sollte man die postulierten Kriterien oder übergeordnete
Deutungskategorien wie die genannten Teil-Gattungen in Frage stellen.
Sprachlich-formale und inhaltliche Kritik
Überzeugend schien die Differenz vor allem auch wegen einer Konvergenz sprachlicher
und inhaltlicher Kriterien: So war man der Überzeugung, dass das Gleichnis i. e. S. im
Präsens von einem alltäglichen Vorgang berichte, während die Parabel von einem außergewöhnlichen Einzelfall im griech. Vergangenheitstempus Aorist erzähle (s. o.).
So evident diese Unterscheidung auf den ersten Blick schien, so wenig konnte sie
durch die Fülle der ntl. Texte bestätigt werden. Schon mit Blick auf die Tempusverwendung ist der Befund alles andere als eindeutig: So finden sich bei vielen Texten Zeitenmischungen (»Schatz im Acker« Mt 13,44; »wachende Knechte« Lk 12,35-38; »Weg zum
Gericht« Lk 12,58 f.; »Brot der Hunde« Mk 7,27 f. etc.), ferner wechseln die Zeitformen
innerhalb der synoptischen Überlieferung: So wird z. B. das Senfkorngleichnis bei Mk
4,30-32 im Präsens als Grundzeitform wiedergegeben, während dasselbe Gleichnis unter
Lk 13,18 f. und Mt 13,31 f. im Aorist erzählt wird. Haben Matthäus und Lukas hier tatsächlich aus dem ›Gleichnis i. e. S.‹ eine ›Parabel‹ gemacht?
Auch die von Jülicher eingeführten und im Weiteren immer wieder rezipierten
Differenzierungen hinsichtlich des Referenzbereichs halten einer kritischen Prüfung
nicht stand:
Denn ist es angesichts antiker Aussaatpraxis wirklich so außergewöhnlich, wenn
einiges Saatgut auf Wege oder in Dornen fällt? Oder handelt es sich um einen alltäglichen
Vorgang, dass ein Blinder sich als Blindenführer anbietet oder dass ein Hausherr auf
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Die Form bzw. Gattung der Gleichnisse
Reisen sein Haus den Sklaven überlässt? Oder »mutet es wirklich sensationell an« (Harnisch 4 2001, 67), wenn ein Richter aus dem Bedürfnis, endlich seine Ruhe zu haben,
einer insistierenden Witwe nachgibt (Lk 18,2-5)? Und welcher Vater würde sich nicht
über die Rückkehr seines verloren geglaubten Sohnes freuen und feiern? Ein außergewöhnlicher Einzelfall?
Die Grenzen zwischen Alltäglichem und Außergewöhnlichem, zwischen Allgemeinem und Individuellem sind fließend. Alltäglich erscheinende Vorgänge wie die Brotteigbereitung erweisen sich bei näherem Hinsehen (Teigmenge; Auslassung des Knetvorgangs)
gerade als ungewöhnlich (vgl. dazu die Auslegung von Q 13,20 f.). Außergewöhnlich erscheinende Begebenheiten (wie die nächtliche Ankunft eines Bräutigams nach Mt 25,113) lassen sich hingegen durch vertiefte Kenntnis der sozialgeschichtlichen Ausgangssituation wie hier des Hochzeitsrituals als normal einstufen (vgl. dazu R. Zimmermann
2002). Die Beurteilung von extravaganten Zügen hängt in hohem Maße von der Kenntnis des bildspendenden Bereichs und der Kommunikationssituation ab, die uns aber vielfach nicht (mehr) zugänglich sind oder hypothetische Konstrukte bleiben. Hieraus ein
Gattungs-Kriterium abzuleiten, erscheint deshalb problematisch. Bei jedem Text vollzieht sich in seinem übertragenen Referenz-Kontext eine Abstraktion vom Allgemeinen
oder Individuellen, die erst ein Verstehen ermöglicht. Eine kategoriale Unterscheidung
der Texte scheint mir deshalb im Blick auf ihren bildspendenden Bereich nicht möglich.
Fazit: Die genannten Kritikpunkte machen deutlich, dass die Differenzierung des ntl.
Gleichnisstoffes in Bildwort, Gleichnis i. e. S., Parabel und Beispielerzählung den ntl. Texten eine sachfremde Logik aufzwingt, die nicht länger fortgeschrieben werden darf. So ist
es an der Zeit, sich nicht nur von der Untergattung »Beispielerzählung« zu verabschieden, sondern auch den Gattungsbegriff »Gleichnis im engeren Sinn« aufzugeben und den
traditionellen Begriff »Gleichnis« nur noch als unscharfen Oberbegriff bildlicher Redeformen beizubehalten.
Ausgehend von dem Gattungsbewusstsein und Terminusgebrauch der ntl. Autoren
sowie der Fülle des Textmaterials scheint mir »Parabel« die einzige angemessene Bezeichnung zu sein, die auch in diesem Kompendium maßgeblich wurde: Parabel – sonst
nichts!
2.2 Was ist überhaupt eine »Gattung«?
Bevor nun im Folgenden die für dieses Kompendium maßgebliche Gattungsdefinition
der Parabel gegeben wird, ist es hilfreich, einige grundsätzliche Bemerkungen zu Form
und Gattung voranzustellen.
Entgegen der früheren Überzeugung von der Existenz eines übergeschichtlichen
Klassifikationssystems von Gattungen, in das dann Einzeltexte aufgrund von Übereinstimmung oder Abweichung einzelner Merkmale eingeordnet werden könnten, wird
heute in der literaturwissenschaftlichen Gattungstheorie an der geschichtlichen Kontingenz eines Gattungssystems nicht mehr gezweifelt (vgl. Duff 2000; Zymner 2003a, 7-36).
Gattungen müssen »als eine bestimmte kommunikative Praxis, die immer auch eine hermeneutische Praxis ist« (Zymner 2003a, 59), betrachtet werden. Gattungen sind Teil
eines Kommunikationsprozesses, bei dem sich die Teilnehmer/innen auf ein bestimmtes
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Die Gleichnisse Jesu · Eine Leseanleitung zum Kompendium
Merkmalsbündel verständigen und Übereinstimmungen oder Abweichungen erkennen
können. Dabei können Gattungen jedoch nicht im Sinne der normativen oder auch induktiven Gattungspoetik als allgemeine Idealformen oder natürliche Urformen beschrieben werden. Vielmehr sind sie »offene Systeme«, die im Sinne von Wittgensteins
Familienähnlichkeit durch Übereinstimmung einer Vielzahl von Merkmalen konstituiert
werden. Dieser Ansatz besagt zugleich, dass sich Gattungen »nicht mehr trennscharf voneinander unterscheiden, sondern fließende Grenzen haben und sich ob ihrer Nichtabgeschlossenheit auch leicht ausdehnen, verengen oder verlagern können« (Wenzel
2004, 214). Auf diese Weise können nicht nur Transformationsprozesse innerhalb der
Entstehung und Veränderung einer Gattung leichter erfasst werden, auch Mischgattungen (hybride genres) sind erklärbar, da Einzeltexte an den Merkmalen unterschiedlicher
Gattungen partizipieren können.
Wenn sich Gattungen somit nicht mehr allein aus philologischen Kriterien ableiten lassen, können sie rezeptionsästhetisch als Konstrukte im Bewusstsein ihrer Leser(innen) betrachtet werden (vgl. auch Ricœur 1982, 277: »kein Mittel der Klassifikation,
sondern ein Mittel des Herstellens«). Die Feststellung von Merkmalsähnlichkeiten hängt
damit aber letztlich vom Ermessen einer Kommunikationsgemeinschaft ab.
Im Blick auf die formgeschichtliche Bestimmung der Gleichnisse Jesu besagt dies
Folgendes: Statt eines übergeordneten Klassifikationssystems kann man verschiedene
Kommunikationskreise bestimmen, innerhalb derer ein bestimmtes Bewusstsein für die
Gleichnis-Gattung besteht. Auf der einen Seite ist hier an die urchristliche Kommunikationsgemeinschaft zu denken, bei der ein bestimmtes Gattungsverständnis vorausgesetzt
werden darf. Auf der anderen Seite steht die Interpretationsgemeinschaft gegenwärtiger
Leser(innen). Eine Deckungsgleichheit zwischen beiden Gruppen wird zwar nicht zu erzielen sein, allerdings sollten gravierende Widersprüche vermieden werden, wie sie etwa
im Falle der genannten Jülicher-Klassifikation aufgezeigt wurden.
Ausgangspunkt ist also zunächst das Gattungsbewusstsein der urchristlichen Autoren, die offensichtlich eine Fülle unterschiedlicher Texte unter ihren Gattungsbegriffen
vereinen konnten. Wir müssen entsprechend fragen, welche Merkmale alle unter den
Begriffen paroimffla paroimia und parabolffi parabolē genannten Texte aufweisen. So
kann man eine kleinste gemeinsame Schnittmenge von Merkmalen bestimmen, die z. B.
Narrativität und Metaphorizität als Minimalkriterien umfasst. Andere wie Kontextualität
oder Fiktionalität ließen sich hinzunehmen.
Ist die Selbstklassifikation zwar ein hilfreiches und auch hinreichendes Kriterium
zur Bestimmung von Parabel-Texten, so ist sie doch keine notwendige Bedingung. Dies
wird besonders daran sichtbar, dass Parabel-Texte im Laufe der synoptischen Überlieferung ihren Textcharakter beibehalten, aber nicht von allen Evangelisten gleichermaßen
als parabolffi parabolē klassifiziert werden. Umgekehrt werden Texte, die ähnliche oder
sogar gleiche Merkmale aufweisen, nicht konsequent mit dem Gattungsbegriff eines Autors belegt, was z. B. in den narrativen Quellen wie den Evangelien auch dem Stil der
Erzählung geschuldet ist. Es gibt also Texte, die durchaus aufgrund eines bestehenden
Merkmalsbündels zu den Parabeln gerechnet werden dürfen, auch wenn die terminologische Benennung im Einzelfall fehlt. So gilt es, zwar ausgehend von den urchristlichen
Texten, aber im heuristischen Sinn darüber hinausführend, ein Merkmalsbündel zu bestimmen, das dann bei der Untersuchung und Bestimmung von Parabeltexten angewandt werden kann.
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Die Form bzw. Gattung der Gleichnisse
2.3 Das Merkmalsbündel der Gattung »Parabel«
Ungeachtet der Verschiedenheit der sprachlichen Gestaltung zeigen die Texte, die im NT
paroimffla paroimia oder parabolffi parabolē genannt werden, doch verbindende Charakteristika, die es gerechtfertigt erscheinen lassen, hier von einer gemeinsamen »Gattung« zu sprechen. Als markanteste Kriterien werden vielfach »Narrativität« und »Metaphorizität« benannt (Ricœur 1982, 248; Heininger 1991, 21-30; Söding 2003a;
Dormeyer 2008 u. a.), manche fügen noch die »Kürze« hinzu (Crossan 1980, 2-5; Rau
1990, 73-83; Scott 1989, 35: »a short narrative fiction«). Allerdings stehen diese Merkmale im engen Verbund mit anderen Kriterien, die zur Präzisierung ebenfalls benannt
werden müssen (Erlemann 1999, 75 f. nennt sogar 12 gemeinsame Merkmale). In Anlehnung an die von R. Zymner vorgeschlagene Beschreibung (Zymner 2003b, 502) soll für
das Kompendium folgende Definition gelten:
Eine Parabel ist ein kurzer narrativer (1), fiktionaler (2) Text, der in der erzählten Welt auf
die bekannte Realität (3) bezogen ist, aber durch implizite oder explizite Transfersignale zu
erkennen gibt, dass die Bedeutung des Erzählten vom Wortlaut des Textes zu unterscheiden
ist (4). In seiner Appellstruktur (5) fordert er einen Leser bzw. eine Leserin auf, einen metaphorischen Bedeutungstransfer zu vollziehen, der durch Ko- und Kontextinformationen (6)
gelenkt wird.
Zugespitzt auf Attribute lassen sich sechs Merkmale der Parabel unterscheiden, die im
Folgenden näher erläutert werden. Definieren heißt nicht nur bestimmen, sondern im
ureigenen Sinn auch begrenzen, deshalb sollen bei den Kurzcharakteristika in idealtypischer Weise auch Abgrenzungen der Parabel zu anderen Gattungen benannt werden:
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Die Gleichnisse Jesu · Eine Leseanleitung zum Kompendium
1) Narrativ
Parabeln sind kurze Erzählungen, d. h. narrative Texte, bei denen mindestens eine Handlungssequenz oder eine Statusveränderung berichtet oder vorgestellt wird.
Parabeln unterscheiden sich deshalb von bildhaften Stilformen/Tropen (Wortmetaphern, Symbol, Metonymie) oder Vergleichen. So liegen in Q 17,24 (Menschensohn
»wie Blitz vom Himmel«) oder Mt 10,16 (Jüngersendung »wie Schafe unter Wölfe«)
bloße Vergleiche vor. In Mt 5,13 f. (»Ihr seid das Salz der Erde … ihr seid das Licht der
Welt«) fehlt die Vergleichspartikel, statt dessen werden Satzmetaphern der Form »A ist B«
gebildet, die aufgrund mangelnder Narrativität isoliert betrachtet noch keine Parabeln
darstellen.
Parabeln sind Erzählminiaturen, die auf das Wesentliche konzentriert sind und im
Extremfall nur z. B. aus einem Handlungsverb bzw. einem Handlungssubjekt bestehen.
Vielfach wird aber von unterschiedlichen Figuren in komplexeren Beziehungskonstellationen und mehrstufigen Handlungssträngen erzählt. Gleichwohl bleibt die Erzählung
auf wenige Sätze beschränkt und unterscheidet sich deshalb von längeren Erzählgattungen (Epos, Roman, Kurzgeschichte etc.).
2) Fiktional
Die Parabel ist eine »fiktionale Erzählung«, sie ist ausgedacht – im Gegensatz zu einer
»faktualen Erzählung«, die sich auf tatsächlich stattgefundene (oder als solche geglaubte)
geschichtliche Ereignisse bezieht (Genette 1992, 66).
Obgleich auch die ›faktualen Erzählungen‹ in hohem Maße fiktional sind, es also
immer nur die »Fiktion des Faktischen« geben kann (H. White 1991, 145-160; zur Antike Backhaus/Häfner 2007, 1-29), gibt es Erzähltes, das von vornherein nicht den Anspruch auf eine geschichtliche Referenz erhebt. Um solche erdachten und erdichteten
Erzählungen geht es hier.
Auch die antike Rhetorik unterschied bereits zwischen geschichtlichen und erfundenen Beispielen. So hatte Aristoteles im 2. Buch der Rhetorik (20) im Rahmen seiner
Erörterung von Beweisverfahren unter dem Oberbegriff »Beispiele« (paradefflgmata paradeigmata) das paradefflgma (paradeigma) im engeren Sinn als historisches Beispiel
definiert und davon die »künstlichen«, d. h. frei erfundenen, Beispiele abgegrenzt, für
die unter anderem der Begriff parabolffi parabolē verwendet wurde. Entsprechendes
lässt sich bei Quintilian beobachten. Ein ntl. Beleg für ein historisches Beispiel wäre hier
etwa Mt 12,40: »Denn wie Jona drei Tage und drei Nächte im Bauch des Seeungetüms
war, so wird der Menschensohn drei Tage und drei Nächte im Herzen der Erde sein.«
Hier handelt es sich zweifellos um eine kleine Erzählung, die metaphorisch auf einen
anderen Sachverhalt (Menschensohn) übertragen wird. Allerdings ist die Erzählung nicht
fiktional, sondern bezieht sich auf ein geschichtlich vorgestelltes Ereignis (Prophet Jona).
Es handelt sich hier folglich nicht um eine Parabel im Sinne des Kompendiums. Andere
biblische Beispiele wären die joh Semeia-Erzählungen wie z. B. die Hochzeit von Kana
(Joh 2,1-11), deren metaphorischer Charakter in der Perspektive eines narrativen Rollentauschs kaum geleugnet werden kann (vgl. R. Zimmermann 2004a, 203-215), die
aber im narrativen Rahmen als faktuale Erzählung bestimmt wird.
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Die Form bzw. Gattung der Gleichnisse
3) Realistisch
Die Parabel weist einen engen Realitätsbezug auf, sie erzählt von der erlebbaren Welt. Die
Parabeln sind zwar erfunden, aber – um es mit U. H. J. Körtner zu sagen – es geht um
›erfundene Wahrheit‹ (Körtner 2001, 370-373). Das, was hier erzählt wird, könnte tatsächlich so stattgefunden haben, Parabeln sind deshalb ›realistisch‹ (vgl. Erlemann 1999,
75: »pseudorealistisch«). Parabeln unterscheiden sich in dieser Weise deutlich von fantastischen Erzählungen (science fiction) oder apokalyptischen Visionen. Sie unterscheiden
sich mit ihrem Realitätsbezug auch von Fabeln, in denen z. B. Tiere oder Pflanzen in anthropomorphisierender Weise sprechen und handeln, oder von Mythen, in denen die allgemeine Erfahrungswelt z. B. durch menschlich agierende Götter gesprengt wird (mit
Zymner 2003b, 502).
4) Metaphorisch
Die Parabel weist anhand von internen oder externen Transfersignalen (Zymner 1991,
87-96) auf eine Ausssage hin, die jenseits der primären Sinnebene liegt. Die Parabel hat
also eine »metaphorische« oder so wörtlich »übertragene« (meta–fffrein meta-pherein =
übertragen) Bedeutung. Mit anderen Worten findet ein semantischer Bedeutungstransfer zwischen verschiedenen Sinnbezirken statt. Das hierbei vorausgesetzte Metaphernverständnis knüpft an die von I. Richards und M. Black beschriebene und von P. Ricœur
weiterentwickelte »Interaktionstheorie der Metapher« an. Eine Metapher ist demnach
nicht auf ein substituiertes Wort begrenzt, sondern schließt immer ein Stück Text ein
(Ricœur 3 2004; zum Überblick R. Zimmermann 2000b), innerhalb dessen eine Wechselwirkung zwischen zwei oder mehreren semantischen Bereichen erzeugt wird. Es ist nicht
auszuschließen, dass einzelne Parabeln darüber hinaus Wortmetaphern etwa im Sinn
einer Metonymie oder Synekdoche oder symbolische Elemente beinhalten, vorrangig soll
aber die Funktionsweise des Parabeltextes als Ganzem hier »metaphorisch« genannt
werden.
5) Appellativ – Deutungsaktiv
Die Parabel spricht an, sie will gedeutet werden. Gerade auch aufgrund des metaphorischen Charakters wird unterstrichen, dass der Sinn einer Parabel nicht schon in den
Buchstaben festgelegt ist. Der metaphorische Prozess ist nicht schon abgeschlossen, sondern muss im Akt des Lesens je und je neu vollzogen werden. R. Zymner hat hier von der
»Appellstruktur« der Parabel gesprochen (Zymner 1991, 60-62). Die Parabel ist also deutungsaktiv, weil sie eine Sinnkonstitution vom Leser/von der Leserin erwartet. Sie ist zugleich notwendig deutungsoffen, weil die Sinnkonstitution nicht festliegt und auf je unterschiedliche Weise erfolgt. Gerade auch die narrativen Elemente wie rhetorische
Fragen, offenes Ende etc. rufen den Deutungsprozess hervor. Sie provozieren einen Leser
oder eine Hörerin zur Stellungnahme. Sie drängen ihn oder sie zu einer Einsicht, zu
einem vertieften Verstehen, ja sogar zum Handeln.
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Die Gleichnisse Jesu · Eine Leseanleitung zum Kompendium
6) Ko- bzw. Kontextbezogen
Parabeln sind eingebettet in größere Erzählzusammenhänge oder in Reden und Argumentationsgänge, die die Sinnkonstitution und Leserlenkung in hohem Maße beeinflussen. Diese Kontextbezogenheit der Parabel wird hier als konstitutiv betrachtet. Sowohl
die Transfersignale, die den metaphorischen Charakter einer Parabel anzeigen, als auch
die Verstehensimpulse, die die Sinnstiftung des Textes vorstrukturieren, liegen meist
nicht ausschließlich in der Parabel selbst. Erst der konkrete Ort innerhalb einer Sammlung von Sprüchen, im literarischen Umfeld bzw. im Kontext der Ganzschrift erlauben
eine Sinnzuschreibung (wie z. B. bei parallel überlieferten Parabeln sichtbar wird). Ferner
sind sogar die Sprech- und Lesesituation sowie die Lebenswelt der Kommunikationssituation einschließlich der geprägten Sprachformen (z. B. Bildfelder) als Ko-texte in
den hermeneutischen Prozess einzubeziehen (mit Heininger 1991, 26).
3 Anlage des Kompendiums und Einzelaspekte der
Auslegungen
3.1 Grundentscheidungen
Auswahl und Anzahl der Texte
In diesem Kompendium werden alle eruierbaren Parabeln übersetzt und kommentiert,
die die urchristliche Tradition Jesus zugeschrieben hat (s. o.).
Die Forschung ist sich allerdings keineswegs einig, wie viele Texte dies sind. So
hatte Adolf Jülicher in seiner Sammlung 53 Texte (28 Gleichnisse im engeren Sinn, 21
Parabeln und 4 Beispielerzählungen; vgl. Jülicher II 2 1910, VIIf.) benannt und analysiert,
eine Zahl, die bislang nur von Rudolf Bultmann übertroffen wurde. Dieser führte in
seiner Formgeschichte 56 gleichnishafte Texte auf (18 Bildworte, 17 Gleichnisse im engeren Sinn, 15 Parabeln sowie 6 Beispielerzählungen mit Lk 14,7-11 und 12-14, vgl. Bultmann 10 1995, 181-193). Joachim Jeremias ging von 41 Gleichnissen aus (Jeremias
11 1998, 7.242), Otto Knoch listete 36 Texte auf, darunter vier Doppelgleichnisse, so dass
er insgesamt auf eine Zahl von 40 kam (Knoch 3 1987); auch Detlev Dormeyer begrenzte
in seiner Literaturgeschichte noch auf die Langparabeln und listete ebenfalls 36 Texte auf
(Dormeyer 1993, 149 f.). Bernard Brandon Scott kommentierte 31 Gleichnisse (Scott
1989), während Arland Hultgren 38 Texteinheiten als Parabeln im weiteren Sinn klassifizierte (Hultgren 2000, 3). In einem neueren Standardlexikon werden 43 Gleichnisse
aufgezählt (Rose 2003, 450).
Die Abweichung der Zahl ist zum einen in der unterschiedlichen Bewertung der
Gattung begründet, denn gerade die kleineren Parabeln, die von Bultmann »Metaphern«
oder »Bildworte« genannt wurden, werden oft nicht als Gleichnisse wahrgenommen. Andererseits ist die Mehrfachüberlieferung und Auswahl der Quellen für die unterschiedlichen Zahlenangaben verantwortlich.
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Anlage des Kompendiums und Einzelaspekte der Auslegungen
Im vorliegenden Kompendium werden 104 Gleichnisse Jesu mit eigenen Kommentierungen aufgeführt, wobei zwei Doppelgleichnisse zusammen besprochen werden
(Mt 13,44-46: Schatz und Perle; Lk 14,28-33: Turmbau und Feldzug); einige Gleichnisse
mit gleichem Grundbestand werden aufgrund der abweichenden Überlieferung separat
analysiert (Gastmahl: Mt 22,1-14; Lk 14,12-24; Fischnetz/Fischer: Mt 13,47-50; EvThom
8; Dieb: Q 12,39 f.; Agr 45; Säue/Entweihung: Mt 7,6; Agr 165). Damit wird deutlich,
dass auch dieses Kompendium nicht den Anspruch erhebt, eine absolute Zahl festzulegen. Stattdessen wird im vorliegenden Buch eine integrative Strategie verfolgt, nach der
auch Grenzfälle in die Besprechung einbezogen wurden. Ferner werden erstmals in größeren Gleichnis-Zusammenstellungen Texte aus dem Johannesevangelium, Thomasevangelium und Agrapha berücksichtigt.
Anordnung und Gruppierungen der Texte bzw. Auslegungen
Es gibt ganz unterschiedliche Möglichkeiten, den urchristlichen Gleichnisstoff zu ordnen
und zu präsentieren.
Jülicher hatte die Gleichnisse bekanntlich in seinem analytischen zweiten Teil nach
den zuvor eingeführten Gattungen »Gleichnis im engeren Sinn«, »Parabel« und »Beispielerzählung« geordnet (Jülicher II 2 1910). Eine andere Möglichkeit besteht darin, den
Gleichnisstoff nach den postulierten Adressaten zu differenzieren, wie etwa GegnerGleichnisse (z. B. Mk 12,1-12) oder Jünger-Gleichnisse (Lk 12,41-44). Beliebt sind auch
Zuordnungen nach sprachlichen Kriterien, seien es die spezifischen Einleitungen, wie etwa
tffl@ ¥x ¢m¾n (tis ex hymōn – wer von euch; Q 11,11; 12,25; Lk 11,5; 14,28; 17,7) oder die
Wendung ˝nqrwpƒ@ ti@ (anthrōpos tis – ein Mensch; vgl. Q 19,12; Lk 10,30; 14,16;
15,11; 16,1.19; vgl. Lk 20,9) sowie die Kombination aus beidem tffl@ ˝nqrwpo@ ¥x ¢m¾n
(tis anthrōpos ex hymōn – welcher Mensch von euch; Lk 15,4; vgl. Mt 12,11).
Ferner kann man die Parabeln nach einer bestimmten Vergleichsformel zusammenfassen, sei es mit der Partikel £@ (hōs – wie: Mk 4,26.31, vgl. Joh 15,6) bzw. ¯sper
(hōsper – wie: Lk 17,24; Mt 13,40; 25,32), sei es mit der Wendung ˆmoiƒ@ ¥stin (homoios
bzw. homoia estin – … ist gleich wie …; Q 6,48 f.; 7,32; Lk 12,36; Mt 13,52 etc.) oder mit
Derivaten des Verbs ¡moiƒw (homoioō – vergleichen: Q 7,31; 13,18; 13,20: ¡moiðsw; Mt
13,24; 18,23; 22,2: £moiðqh; Mt 7,24.26; 25,1: ¡moiwqffisetai).
Oder die Anzahl der handelnden Personen gab den Ausschlag für eine Zusammenführung von »Zwei-Personen-Gleichnissen« (Lk 12,16-21; Lk 16,1-8; 18,1-8) oder
»Drei-Personen-Gleichnissen« (Mt 18,23-35; 20,1-16; 22,1-14; 25,1-13.14-30; Mk
12,1-12; Lk 10,29-37; 15,11-32; 16,1-13.19-31, nach Funk 1974, 51), wobei die Zuordnung der Personen vielfach ein antithetisches Zwillingspaar (zwei Söhne, Schuldner,
Wanderer) im Gegenüber zu einer dritten Person zeigt (Lk 7,41-42; Lk 10,30-35; 15,1132; 16,19-31; vgl. dazu Sellin 1974, 181 f.).
Wenn zwei unterschiedliche Bildbereiche so eng verbunden und parallel strukturiert sind, dass man von einer sprachlichen Einheit ausgehen kann, hat man von »Zwillings- oder Doppelgleichnissen« als eigener Gruppe gesprochen: Hierunter zählen die Parabeln vom Schatz und der Perle (Mt 13,44-46par.), vom Turmbau und Kriegführen (Lk
14,28-33par.), von den launischen Kindern (Q 7,31-35). Ferner werden in der Literatur
(z. B. Knoch 1 1987, 20) thematische Einheiten von Senfkorn und Sauerteig (Q
13,18 f.20 f.; Mt 13,31-33; Lk 13,18-21), Unkraut und Fischnetz (Mt 13,24-30.47-50)
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Die Gleichnisse Jesu · Eine Leseanleitung zum Kompendium
sowie verlorenes Schaf – verlorene Drachme (Lk 15,4-10) als Doppelgleichnisse betrachtet, obgleich hier die Zuordnung sprachlich nicht so eng und eindeutig ist. Auch die
Reihe der so genannten »Doppelbildworte« kann hier genannt werden, bei denen zwei
unterschiedliche Bildbereiche eng zugeordnet werden (vgl. Steinhauser 1981; ferner die
Liste bei Jeremias 11 1998, 89), wobei teilweise erzählende Elemente eine Zuordnung zu
den Parabeln erlauben (so z. B. beim Flicken und Weinschlauch, Mk 2,21 f.par. bzw.
Leuchter und Maß, Mk 4,21-25), teilweise aber auch reine Metaphern vorliegen (so z. B.
Salz und Licht, Mt 5,13 f.).
Eine stärker thematisch orientierte Anordnung erfolgte durch Dan O. Via, der zwischen tragisch endenden Gleichnissen z. B. Mt 18,23-35; 22,1-13 (»The Tragic Parables«,
Via 1967, 110 ff.) und gut endenden »komischen« Gleichnissen z. B. Mt 20,1-16; Lk 16,19; 15,11-32 (»The Comic Parables«, Via 1967, 145 ff.) differenzierte. John D. Crossan
(Crossan 1973) unterschied zwischen Reich-Gottes-Gleichnissen (Parables and the Temporality of the Kingdom, a. a. O., 4 ff.), Ankunfts-Gleichnissen (parables of Advent,
a. a. O., 37 ff.), Umkehr-Gleichnissen (parables of Reversal, a. a. O., 53 ff.) sowie ethischen
Handlungs-Gleichnissen (parables of action, 79 ff.).
Versucht man solche thematischen Zuordnungen etwas präziser zu fassen, kann
man m. E. zwischen Gruppierungen nach Bild-Bereichen und Gruppierungen nach Referenz-Bereichen unterscheiden.
Bei einer Anordnung nach Bild-Bereichen ist der bildspendende Bereich für eine
thematische Gliederung maßgeblich (ausführlich dazu unten). So kann man hier Wachstums-Gleichnisse (z. B. Mk 4,26-29; Mt 13,24-30; Joh 12,24), Ernte-Gleichnisse (Q 6,4345; 10,2; 12,24; Joh 4,35-38; EvThom 63), Knechts- bzw. Sklaven-Gleichnisse (Q 12,4246; Mk 13,33-37; Lk 17,7-10; Mt 18,23-35; Joh 8,35 u. a.) sowie Hochzeitsgleichnisse
(z. B. Mk 2,18-20par.; Lk 14,7-11; Mt 22,1-14; Mt 25,1-13) und Tiergleichnisse (Mt 7,6;
13,47 f.; Joh 10,1-5; EvThom 47,1; Agr 165; 208) zu je eigenen Gruppen zusammenfassen.
In der Literatur werden darüber hinaus noch größere Einheiten gebildet, indem
z. B. Naturgleichnisse oder Sozialgleichnisse differenziert werden. So gliedert etwa Scott
(1989) den Stoff in drei große Teile: a) Family, Village, City, and Beyond (a. a. O., 79 ff.);
b) Masters and Servants (a. a. O., 205 ff.); c) Home and Farm (a. a. O., 301 ff.). Eine andere thematische Anordnung wird bei Shillington (vgl. Shillington 1997) vorgeschlagen,
der thematische Blöcke unter den Überschriften »parables of the Temple« (a. a. O., 21 ff.),
»parables of the Land« (a. a. O., 53 ff.), »parables of the Economy« (a. a. O., 85 ff.) und
»parables of the People« (a. a. O., 139 ff.) bildet.
Auf der anderen Seite werden Referenz-Bereiche zum Strukturierungsmotor, indem
der bildempfangende Bereich (s. u.) das einende Band unterschiedlicher Gleichnisse darstellt. Am bekanntesten ist hier die Zusammenstellung der so genannten »Reich-GottesGleichnisse« bei denen meist in der Einleitung die Zuordnung des Erzählten zum ReichGottes vorgegeben wird, so z. B. in Q 13,20: tfflni ¡moiðsw t¼n basilefflan to‰ qeo‰;
(tini homoiōsō tēn basileian tou theou – womit soll ich das Reich Gottes vergleichen?).
Eine ganze Fülle von Texten weist explizit das Reich Gottes als einen solchen Bezugsbereich aus (Q 13,20; Mk 4,26-29; 4,30-32; Mt 13,24-30; 13,44-46; 13,47-50; 13,52;
18,23-35; 20,1-16; 21,28-32; 22,1-14; 25,1-13; Joh 3,3-5; EvThom 22; 64; 97; 98).
Gleichwohl wäre es angesichts der Fülle des Materials verfehlt, im Reich Gottes den
einzigen oder auch nur primären Referenz-Bereich sehen zu wollen, oder gar eine dia30
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Anlage des Kompendiums und Einzelaspekte der Auslegungen
chrone Vorentscheidung zu treffen, nach der die Reich-Gottes-Gleichnisse als ältestes
Material z. B. des ›irdischen Jesus‹ eingeordnet würden. Allein der literarische Textbefund, nach dem gerade in den ältesten eruierbaren Quellen (Mk und Q) vergleichsweise selten eine solche Zuordnung erfolgt, spricht gegen diese Einschätzung.
Weitere, weniger prominente Gruppierungen nach Referenz-Bereichen wurden
mit der Zusammenfassung zu so genannten »Krisis-Gleichnissen« (Lk 10,30-35; 13,6-9;
15,1-7.8-10.11-25), »Parusie-Gleichnissen« (Q 12,39 f.; 19,12-26; Mt 25,1-13) oder zu
»Beelzebulgleichnissen« (so Jülicher II 2 1910, 214-240: Mk 3,22-27; Mt 12,22-30.43-45;
Lk 11,14-26) vollzogen. Richard N. Longenecker (Longenecker 2000) strukturiert seinen
Sammelband nach »Kingdom« (a. a. O., 79 ff.), »Warning and preparedness« (a. a. O.,
151 ff.) und »Christian Life« (a. a. O., 199 ff.).
Anordnung nach Quellen
So hilfreich und im Verständnis einzelner Texte weiterführend derartige Gruppierungsund Strukturierungsversuche sind, so bieten sie doch entweder bei der Orientierung an
sprachlichen Kriterien kein das ganze Material übergreifendes Gliederungsraster. Vielfach werden anhand bestimmter sprachlicher Kriterien nur sehr wenige Texte zu Gruppen zusammengefasst, und schon in der Parallelüberlieferung verändern sich die Formulierungen (z. B. Q 6,47-49!Mt 7,24-27). Oder bei thematischen bzw. auf Bildbereiche
bezogenen Kriterien sind Schnittmengen aufgrund der Polyvalenz der bildspendenden
Bereiche oder Unklarheiten hinsichtlich der bewusst offenen Referenz-Zuordnung unvermeidlich. »Am unverfänglichsten ist es, die G.se anhand der Quellenlage einzuordnen:
Texte aus dem Mk-Stoff, aus Q, aus dem Mt-Sondergut und aus dem Lk-Sondergut,
obwohl sich auch dabei Überschneidungen einstellen (z. B. bei Doppelüberlieferungen).«
(Klauck 1991a, 854, vgl. auch Rose 2003, 450).
Diese Einschätzung war auch für die Anordnung des Gleichnismaterials im vorliegenden Kompendium leitend. Dabei wurde eine lose zeitliche Reihenfolge der Quellen
postuliert, die mit Q und Mk beginnt, dann die Evangelien nach Mt, Lk, Joh, Thom
anführt und mit den Agrapha endet. Die Reihenfolge Mt – Lk folgt der kanonischen
Anordnung, ohne dass hier eine Entscheidung über die Entstehungszeit erfolgt wäre,
die auch derzeit in der Forschung nicht konsensfähig möglich ist. Neben den textlich
überlieferten Ganzschriften wird die Logienquelle Q als eine eigene Quelle betrachtet.
Auch wenn die diachrone und vor allem in den Bereich mündlicher Tradition zurückreichende literarkritische Fragestellung im Kompendium zugunsten der synchronen
Endtextexegese zurückgedrängt wurde, wird hinsichtlich der Q-Hypothese (vgl. dazu
die Einleitung zu Q) ein eigener Quellenbereich ausgewiesen, der von einer postulierbaren schriftlichen Quelle ausgeht. Die seit Mitte des 19. Jh. diskutierte Annahme einer
zweiten, von Mk unabhängigen gemeinsamen Quelle von Mt und Lk konnte bislang
durch keine bessere Hypothese ersetzt werden. Ferner liegt nun der Versuch einer schriftlichen Rekonstruktion von Q (Critical Edition 2000, vgl. Robinson/Hoffmann/Kloppenborg 2000) vor, an der zwar einige Probleme und Unsicherheiten von Q evident werden,
die aber insgesamt doch eine brauchbare Arbeitshypothese darstellt.
Werden Texte innerhalb des Überlieferungsprozesses mehrfach bezeugt, werden sie
ausführlich im Bereich der ältesten Quelle besprochen, während die Parallelüberlieferung
dann nur noch kurz unter dem Punkt Parallelüberlieferung (s. u.) aufgenommen wird.
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Die Gleichnisse Jesu · Eine Leseanleitung zum Kompendium
Dies führt dazu, dass unter den Quellenbereichen Mt, Lk und EvThom nur noch Sonderguttexte besprochen werden. Um die Gleichnisverarbeitung in diesen Ganzschriften im
Überblick wahrzunehmen, werden deshalb Einleitungen vorangestellt, die den Gleichnisdiskurs im gesamten Evangelium unter Einbeziehung aller Parabeltexte im Blick haben.
Eine tabellarische Auflistung aller Parabeltexte einer Quellenschrift soll zusätzlich einer
verzerrenden Wahrnehmung entgegenwirken.
Ein weiteres Wagnis stellt die Einbeziehung neuer Quellenbereiche dar. So werden
über die synoptischen Parabeln hinaus auch Texte aus dem Johannesevangelium, dem
Thomasevangelium sowie versprengte Einzelworte, so genannte »Agrapha«, untersucht,
die in ihrer Textgestalt auf eine Ebene mit synoptischen Texten gestellt werden können.
Die Ausgrenzung dieser Texte aus der Parabel-Diskussion lag im Fall von Johannes an der
kategorischen Abwertung allegorischer Bildtexte bei Jülicher, im Falle von EvThom an
dem noch nicht vorhandenen gnostischen Text, der erst 1946 in Nag Hammadi gefunden
wurde. Um bei der Erschließung dieses Neulands eine diskutable Grundlage zu haben,
wurden bei diesen Texten eher großzügig auch Grenzfälle einbezogen, auch wenn im Einzelfall nicht alle Parabel-Kriterien sofort evident erscheinen (z. B. Joh 6). So wird z. B. das
Kriterium der Kontextualität bei den Agrapha nicht vollständig eingeholt werden können.
Im Prozess der Entstehung des Kompendiums wurde immer wieder deutlich, dass
Auslegungen und überhaupt Wahrnehmungen von biblischen Texten in hohem Maße
von hermeneutischen Traditionen geprägt sind. So wird heute die enge Verflechtung z. B.
der mt oder lk Parabeln im literarischen und theologischen Kontext ihrer Schrift weithin
anerkannt. Gleichwohl war man gewohnt, diese Texte auch isoliert, sei es als »ursprüngliche Jesusgleichnisse«, sei es als »autonome Kunstwerke« zu verstehen, was bei Joh nicht
in diesem Maße der Fall war. Deshalb ist aber eine gesonderte Betrachtung joh Parabeln
nicht weniger lohnend oder berechtigt. Parabeln bei Joh und EvThom wie auch bei den
Synoptikern sind in Kontexte eingewoben und können nur in diesem Zusammenhang
verstanden werden. Die Differenz in der Auslegungstradition wird u. a. auch darin evident, dass für die synoptischen Parabeln (ausgehend von Jülicher und Bultmann) so genannte »klassische Titel« benannt werden können, was für die Parabeln in Joh und
EvThom nicht gleichermaßen gilt.
3.2 Die einzelnen Auslegungsschritte
Die Auslegungen im vorliegenden Kompendium werden von einer Vielzahl von Personen
vorgenommen. So unterschiedlich die Positionen einzelner Ausleger und Auslegerinnen
auch sein mögen, so bewusst die Vielfalt der Deutungen in diesem Kompendium bejaht
wird, so treffen sich doch alle Mitwirkenden in bestimmten Grundentscheidungen und
vor allem auch in der Einhaltung einer einheitlichen Basisstruktur. Diese Struktur erhebt
nicht den Anspruch, völliges methodisches Neuland zu erschließen, sondern integriert
Ansätze früherer Gleichnisbücher (z. B. Klauck 2 1986, 141-143 zum ›Bildfeld‹; sowie die
Fortführung bei Heininger 1991: »Realien und Bildfeld« [124 ff.; 172 ff.]; Kähler 1995,
passim: »Bildspenderseite« und »Bildempfängerseite«; Harnisch 4 2001, 15-41 zur narrativen-szenischen Analyse u. a.). Leitend für die einzelnen Analyseschritte waren ferner die
Grundcharakteristika der Parabel (s. o.). Parabeln werden in diesem Kompendium als
leserorientierte metaphorische Erzähltexte definiert, die in kommunikativen Kontexten
32
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Anlage des Kompendiums und Einzelaspekte der Auslegungen
stehen. Entsprechend wird die Schrittfolge der Auslegung verschiedene Schwerpunkte unterscheiden, die dieser Definition Rechnung tragen. Um die meist kunstvolle literarische
Gestalt dieser fiktionalen Texte wahrzunehmen, setzt die Auslegung mit einer genauen
sprachlichen Analyse ein, die die Narrativität und Metaphorizität als Basiskriterien der
Parabel herausarbeitet. Um metaphorische Übertragungsvorgänge zu verstehen, müssen
ferner zwei Aspekte berücksichtigt werden, die in den folgenden Auslegungsschritten in
den Blick genommen werden: Einerseits müssen die Realien, von denen die Parabel redet,
in ihrem historischen Kontext erhellt werden, andererseits stehen Metaphern immer schon
in einer Bildfeldtradition, die das Verständnis von Neubildungen entscheidend mitbestimmt. Wie dann im konkreten Text die Interaktions- und Übertragungsvorgänge vollzogen werden und welche Deutungsmöglichkeiten sie hervorrufen, wird in der »zusammenfassenden Analyse« dargelegt. Schließlich werden Aspekte der Parallelüberlieferung
und Wirkungsgeschichte benannt. So entsteht folgendes Auslegungs- und Darstellungsraster, das im Folgenden noch detaillierter erläutert werden soll:
(1) Titel
(2) Übersetzung
(3) Sprachlich-narrative Analyse (Bildlichkeit)
(4) Sozialgeschichtliche Analyse (Bildspendender Bereich)
(5) Analyse des Bedeutungshintergrunds (Bildfeldtradition)
(6) Zusammenfassende Auslegung (Deutungshorizonte)
(7) Aspekte der Parallelüberlieferung und Wirkungsgeschichte
(8) Literatur zum Weiterlesen
3.2.1 Titel und Übersetzung
Die ›Titelei‹ der einzelnen Parabeln setzt sich aus kreativem Titel, klassischem Titel sowie
Stellenangaben zusammen. Da viele Parabeltexte durch die Titelvorgaben schon auf
einen bestimmten Deutungshorizont verengt werden oder zumindest in der Auslegungstradition in dieser Weise wahrgenommen wurden, werden zu allen Parabeln kreative Titel(neu)bildungen gegeben. »Kreativ« meint dabei, dass der Titel einerseits durchaus
schon die Pointe der Auslegung andeuten kann, andererseits aber auch durch seine provokante oder ungewohnte Formulierung das Interesse des Lesers und der Leserin wecken
möchte. Gleichwohl sollen die von Jülicher und Jeremias eingeführten und zum Teil auf
ältere Traditionen zurückgehenden »klassischen Titel« zum Zweck der Wiedererkennung
und Orientierung in Klammern beigegeben werden. Als »klassische Titel« gelten vorrangig die Überschriften bei Jülicher (Jülicher II 2 1910, VIIf.), sofern dort nicht vorhanden,
die der exegetischen Tradition. Die Stellenangaben der Paralleltexte folgen dem Gesamtaufriss des Kompendiums, d. h. Q – Mk – Mt – Lk – Joh – EvThom – Agrapha.
Dazu zwei Beispiele:
Gott knetet nicht (Vom Sauerteig)
Q 13,20 f. (Mt 13,33 / Lk 13,20 f. / EvThom 96)
»Einstürzende Neubauten« (Hausbau auf Felsen oder Sand)
Q 6,47-49 (Mt 7,24-27 / Lk 6,47-49)
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Die Gleichnisse Jesu · Eine Leseanleitung zum Kompendium
Die im Kompendium besprochenen Texte werden jeweils in einer von den Autoren und
Autorinnen selbst angefertigten Übersetzung dargeboten. Die hermeneutische Problematik von Bibel-Übersetzungen wurde in jüngster Zeit heftig diskutiert. Wer immer sich mit
historischer Semantik einmal beschäftigt hat, wer immer fremdsprachige Texte in die
eigene Sprachwelt überführen will, weiß, dass Übersetzungen nicht ›neutral‹ oder ›wörtlich‹ sein können. Dies wird auch innerhalb des Kompendiums sichtbar. Je nach hermeneutischem Standpunkt werden unterschiedliche Prämissen für die Übersetzung gesetzt.
Einige Übersetzerinnen fühlen sich hierbei stärker der bekannten, z. B. von Luther herkommenden Übersetzungstradition verpflichtet, andere wollen – auch unter Einbuße
deutscher Sprachästhetik – möglichst nahe an der griech. Syntax bleiben. Wieder andere
fühlen sich als Übersetzer(innen) in der »Bibel in gerechter Sprache« den Grundentscheidungen dieses Projektes verpflichtet.
Alle Autorinnen und Autoren und vor allem auch das Herausgeberteam sind sich
darin einig, dass Übersetzungen bereits eine implizite Interpretation darstellen. Ungeachtet der Weite des gebotenen Spektrums soll immer eine hermeneutische Sensibilität gegenüber diesen Fragen sichtbar werden, sei es bereits in der Übersetzung selbst, sei es in
der Benennung von Übertragungsproblemen innerhalb der nachfolgenden Analyse. Insbesondere wurde darauf geachtet, dass keine frauendiskriminierende und auf antijudaistische Stereotypen rekurrierende Sprache verwendet wurde. Dies betrifft die Bezugnahmen auf die im bildspendenden Bereich handelnden Personen ebenso wie die generellen
Bezugnahmen auf die Adressatenschaft des Textes (in der Antike und heute). So kann
man aufgrund von sozialgeschichtlichen Analysen deutlich machen, dass z. B. bei der
Getreideernte Frauen eine zentrale Rolle spielten. Hier nur von »Arbeitern« und nicht
auch von »Arbeiterinnen« oder allgemein »Arbeitskräften« zu reden, würde den historischen Sachverhalt verstellen. Natürlich sollen hierbei auch nicht umgekehrt historische
Sachverhalte verfälscht werden. Wo eindeutig ausschließlich Männer gemeint sind, sollte
die Übersetzung das auch zeigen. Doch hat die sozialgeschichtlich-feministische Forschung der letzten Jahrzehnte für viele Lebensbereiche der Antike eine viel intensivere
Partizipation von Frauen nachgewiesen, als es bisher in Übersetzungen und wissenschaftlicher Literatur präsent ist.
Jesus sprach ferner nicht nur zu Hörern, sondern auch zu Hörerinnen, hatte nicht
nur Jünger, sondern auch Jüngerinnen, die Evangelisten und auch wir haben nicht nur
Leser, sondern auch (möglicherweise sogar überwiegend!) Leserinnen. Sie alle bleiben
unsichtbar und werden marginalisiert, wenn ausschließlich der so genannte generische
oder inklusive Plural maskulinum verwendet wird.
So finden sich schon bei der Übersetzung, aber auch bei den Auslegungstexten inklusive Sprachformen. Wie die gewünschte Balance zwischen Textgemäßheit, hermeneutischer Eindeutigkeit und Verständlichkeit im Einzelfall gefunden wurde, blieb den einzelnen Autorinnen und Autoren überlassen. Die somit gegebene Toleranz gegenüber der
Vielfalt der Interpreten und Interpretinnen ist auch charakteristisch für das Gesamtwerk.
3.2.2 Sprachlich-narrative Analyse (Bildlichkeit)
Die Parabeln sind sprachlich meist kunstvoll gestaltete Texte. Dies herauszuarbeiten ist
die Aufgabe der sprachlich-narrativen Analyse. Ohne hierbei einer speziellen Sprachtheorie oder dem linguistischen Fachvokabular verpflichtet zu sein, sollen einzelne
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Anlage des Kompendiums und Einzelaspekte der Auslegungen
sprachliche Gestaltungsmittel möglichst genau beschrieben und erfasst werden. Dabei
werden je nach Text Beobachtungen auf Wort-, Satz- oder Perikopenebene wiedergegeben: Wie ist der Text aufgebaut? Welche syntaktische und strukturelle Anordnung des
Textes ist zu erkennen? Welche leser(innen)orientierten sprachlichen Stilmittel (z. B. rhetorische Fragen; offenes Ende) werden eingesetzt?
Da die Parabeln narrativ und metaphorisch sind, sollen gerade auch diese beiden
Aspekte besonders benannt werden. So ist in narrativer Perspektive zu fragen: Welche
Zeit- und Raumangaben werden gemacht? Welche Personen oder Gegenstände kommen
innerhalb der Parabel vor, und wie werden diese zueinander in Beziehung gesetzt? (Figurenkonstellationen; Haupt- und Nebenpersonen; wer ist aktiv?; wer ist passiv?). Wie gestaltet sich der Handlungsverlauf (ggf. Einleitung, Spannungsbogen, Höhepunkt,
Schluss)? Worin besteht die (Mini-)Sequenz der Handlung bzw. Zustandsveränderung
(vgl. Parabeldefinition!).
Man kann besonders hinsichtlich der narrativen Ausgestaltung der Parabeln deutliche Unterschiede wahrnehmen. Bei einigen Texten ist die Handlungssequenz nur angedeutet und muss vom Leser vervollständigt werden, bei anderen zeigt sich ein ausgeführtes kleines Drama, das einen mehrstufigen Handlungsverlauf mit unterschiedlichen
Personen und zum Teil sogar wörtlicher Rede als Dialog oder innerer Monolog aufweist.
In jedem Fall liegen aber bei allen Texten ausgeführte oder suggerierte MiniaturHandlungen bzw. Zustandsveränderungen von einem Status zu einem anderen vor. So
wird etwa nicht nur das Führen eines Blinden durch einen Blinden vor Augen gemalt,
sondern auch noch die Folge (in die Grube fallen) als nächste Szene in Aussicht gestellt
(Q 6,39). Oder man erfährt nicht nur vom Anzünden einer Lampe, sondern auch noch
von ihrem Aufstellen und schließlich von der Wirkung im Haus (Q 11,33), so dass eine
dreistufige Handlung innerhalb nur eines Verses erzeugt wird. Andere Parabeln berichten
selbst auf knappstem Raum von einem Dialog zwischen Brüdern über einen Splitter im
Auge (Q 6,41 f.). Die Übergänge zu längeren Erzähltexten sind hier fließend. Eine Differenz zwischen den einzelnen Texten kann bestenfalls quantitativ, nicht aber qualitativ
oder sprachlich (zum Tempus s. o.) wahrgenommen werden. Im Vergleich zu größeren
Erzählgattungen (z. B. Bios, Kurzgeschichte, Epos) sind auch die so genannten »Lang-Parabeln« des Urchristentums immer noch Miniatur-Gattungen, die sich durch ihre Kürze
und Prägnanz auszeichnen. Crossan hatte neben Metaphorizität und Narrativität sogar
die »Kürze« (»brevity«) als drittes notwendiges Gattungskriterium benannt (Crossan
1980, 2: »This is the third necessary element in the generic definition of parables: Parable
is a very short metaphorical narrative.«). Dementsprechend darf man aus einer Längendifferenz z. B. von 2 zu 8 Versen keine Gattungsklassifikation ableiten.
Die Erzähltexte weisen über ihren primären Wortsinn hinaus, sind also im Sinne der
oben genannten Definition »metaphorisch«. Wie diese Metaphorizität erzeugt wird, woran ein Leser bzw. eine Leserin erkennen kann und soll, dass eine zweite Sinnebene anzusteuern ist, ist ganz unterschiedlich. So kann es wie bei »kühnen Metaphern« zu semantischen Widersprüchen kommen (z. B. fastende Hochzeitsgäste Mk 2,18-20; Perlen vor
Säuen Mt 7,6), ferner können extravagante Züge innerhalb der erzählten Welt als interne
Transfersignale wahrgenommen werden (z. B. Hilfe eines Samariters Lk 10,33 f.; Zerstörung der ganzen Stadt, Mt 22,7). Häufig wird aber erst durch den Kontext eine Übertragung der Bedeutung nahe gelegt. Dabei kann die Leserlenkung durch externe Transfersignale wie z. B. Einleitung (»das Himmelreich gleicht …«, Mt 13,31.33) oder Schlussverse
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Die Gleichnisse Jesu · Eine Leseanleitung zum Kompendium
(»so …«, Mt 12,45; 13,49; 20,16) erfolgen. Teilweise bleibt der Übertragungsimpuls aber
auf implizite Hinweise des Gesamtkontextes begrenzt. Das Neben- und Ineinander der
unterschiedlichen Bedeutungsebenen ist in jedem Text unterschiedlich gestaltet. Dabei ist
es ein Idealbild der alten Formgeschichte, dass man klar z. B. zwischen dem »reinen Gleichnis i. e. S.« bei den Synoptikern und etwa den »allegorischen Bildreden« bei Joh unterscheiden könne. Auch bei den Synoptikern finden sich Texte wie z. B. Q 16,13 (Dienst an zwei
Herren); Mk 3,22-26 (Beelzebul-Text) oder Mt 25,32 f. (Menschensohn als Hirte), in denen die theologische Dimension in die Erzählwelt hineinragt, wie umgekehrt bei Joh recht
klar abgrenzbare Szenarien prima vista auf die reine Erfahrungswelt (z. B. zum Weizenkorn in Joh 12,24; zum Hirten in Joh 10,1-5) beschränkt bleiben.
Aufgrund der Komplexität und Individualität der Vergleichs- und Übertragungsvorgänge und fließender Übergänge zwischen einzelnen Gestaltungsmöglichkeiten soll
deshalb auf eine vorordnende kategoriale Einteilung innerhalb des Kompendiums bewusst verzichtet werden. Die unterschiedliche Funktionsweise der Metaphorizität der Parabeln muss je im Einzelfall beschrieben werden.
Bereits in der Wahrnehmung externer Transfersignale ist die Einbeziehung des
Kontextes unentbehrlich. Auch wenn die Parabeln im Kompendium als sprachliche Einheiten je für sich besprochen werden, bleiben sie eng eingebunden in ihre jeweiligen Kontexte und Diskurse (dazu Reinmuth 2008). Das Kriterium der »Kontextualität« (s. o.) soll
insofern ernst genommen werden, als der nähere und weitere Kontext der Einzeltexte in
der sprachlichen Analyse im Blick bleiben muss. Dies beginnt mit den Einleitungen und
Schlussformeln (vgl. beispielhaft zu Mt Münch 2004, 129-160. 249-290), geht weiter mit
der Einordnung in die Perikope bzw. den engeren literarischen Kontext und mündet in
eine Verortung im Gesamtarrangement der Quellenschrift und dabei insbesondere mit
Blick auf die anderen Parabeln.
So stellt sich die Frage, ob es in der Perspektive einer kontextuellen Endtextexegese
überhaupt Sinn macht, einzelne Parabeln je für sich zu besprechen. Die Antwort ist freilich mit dem Kompendium selbst gegeben. Ja, es macht Sinn und zwar deshalb, weil die
einzelnen biblischen Texte eine gewisse literarische Geschlossenheit aufweisen und innerhalb ihrer Auslegungsgeschichte in Predigt, Unterricht und Kunst auch immer schon je
für sich betrachtet wurden. Gleichwohl werden sie deshalb nicht zum ›autonomen‹ Kunstwerk. Wir müssen also nicht ein literarkritisches Konstruktionsmodell bemühen, um eine
gesonderte Betrachtung einzelner Parabeltexte zu rechtfertigen. In den Auslegungen wird
allerdings der Kontext so weit wie möglich als Referenzrahmen berücksichtigt.
3.2.3 Sozialgeschichtliche Analyse (Bildspendender Bereich)
Die Parabeln Jesu beziehen ihre Kraft aus der Übertragung realer Erfahrungen und konkreter lebensweltlicher Zusammenhänge in den religiösen Bereich. Um diesen Prozess
der Transformation verstehen zu können, ist es unerlässlich, die ›eigentliche‹ Bedeutung
der verwendeten Vorstellungsbereiche und beschriebenen Vorgänge zu kennen. Bevor ich
ermessen kann, was es bedeutet, wenn das Reich Gottes in der Parabel mit einem Senfkorn, Sauerteig oder Sämann verglichen wird, muss ich erst einmal wissen, was ein Sauerteig ist, wie ein Senfkorn aussieht oder wie ein Sämann arbeitet. Um die Bedeutung des
Verlusts einer Drachme einschätzen zu können, muss der Wert dieses Geldstücks ermittelt werden. Um die Tragweite des Reinigungsschnitts eines Weinstocks ermessen zu kön36
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Anlage des Kompendiums und Einzelaspekte der Auslegungen
nen, muss ich etwas über antike Weinkultur erfahren. Oder was sind etwa ein ›Weinschlauch‹, ein ›Scheffel‹ oder ein ›Quadrans‹ ? Wer ist ein ›Samariter‹, der ›Mammon‹
oder der ›Beelzebul‹ ? Die letzten Beispiele zeigen, dass zwar quellensprachliche Spezialbegriffe durchaus in der Gegenwartssprache geläufig sind, dass sie aber in einem ganz
anderen Sinn verwendet werden können. So ist ausgehend vom Samaritergleichnis und
seiner Wirkungsgeschichte der Begriff »Samariter« in der deutschen Sprache positiv besetzt, für die jüdischen Ersthörer Jesu stand der Terminus hingegen in einem recht negativen Horizont, weil er einen missachteten Ausländer und Außenseiter bezeichnete. Entsprechend darf der in der Parabel erzählte Umgang mit Talenten oder mit Schulden nicht
vorschnell in unser kapitalistisches Wirtschaftssystem hinein übertragen werden. Die
Konkretion und Lebensnähe der Parabeln ist nur zum Preis historischer Gebundenheit
zu haben.
Jenseits einiger elementarer menschlicher Grunderfahrungen, wie z. B. das Licht
auf einem Leuchter oder ein bittendes Kind, spiegeln die Gleichnisse vorrangig die Lebenswelt der Menschen im Palästina oder weiter gefasst im Mittelmeerraum des 1. Jh.
n. Chr. wider. Wenn wir die Gleichnisse verstehen wollen, müssen wir folglich versuchen,
in diese Lebenswelt einzudringen. Ein Ausleger oder eine Auslegerin muss deshalb nach
dem im historischen Kontext plausiblen Sinn einzelner Begriffe wie auch ganzer Vorgänge und Szenarien Ausschau halten. Die Ermittlung dieses Bedeutungshintergrunds muss
also zunächst notwendig zu einer Verfremdung führen. Wer die Parabeln Jesu verstehen
will, muss in historischer Perspektive in eine fremde Welt eintauchen. Dies soll mit dem
Auslegungsschritt »Sozialgeschichtliche Analyse« erfolgen. Dieser Begriff wird hierbei
verwendet, weil er innerhalb des Methodenkanons der Exegese zu einem Leitbegriff für
Analyseschritte geworden ist, die die Frage nach den konkreten Lebensverhältnissen, geschichtlichen Bedingtheiten und archäologischen Evidenzien stellen. Die Erforschung
von Geographie, Kleidung und Nahrung, Gebrauchsgegenständen, Arbeitsformen etc.
sind hier ebenso von Interesse wie politische und sozio-kulturelle Bedingtheiten. »Sozialgeschichtliche Analyse« meint also in einem weiten Sinn die Frage nach den realkundlichen Verstehensvoraussetzungen und wird nicht auf die menschlichen Sozialverhältnisse oder die Soziologie des Urchristentums beschränkt.
Über die in den biblischen Schriften oder sogar in den urchristlichen Parabeln
selbst gegebenen Informationen über diese Hintergründe hinaus, müssen vor allem Umfeldtexte, seien es die jüdischen oder christlichen Apokryphen sowie hellenistisch-römische Texte befragt werden. Auch rabbinische Schriften werden einbezogen. Ferner spielen
nichtschriftliche Quellen wie archäologische Funde (z. B. Münzen) bei der Rekonstruktion der Realia eine zentrale Rolle.
Der in den urchristlichen Parabeln angesprochene konkrete bildspendende Bereich
ist äußerst vielfältig. So werden nahezu alle Bereiche des privaten sowie öffentlichen Lebens einbezogen: Angefangen von elementaren Lebenssituationen wie Geburt (Joh
16,21) und Tod (Joh 12,24 f.) oder Krankheit und Gesundheit (z. B. Sehschwächen in Q
6,39; 41 f.; Pflege in Lk 10,34 f.), über die Stillung von Grundbedürfnissen wie Schlafen
(Mt 25,5; Lk 11,7; EvThom 61), Essen und Trinken (Q 11,11 f.; Lk 11,5; Joh 4,13 f.;
EvThom 60) einschließlich der Nahrungszubereitung (z. B. Q 13,21: Sauerteig) oder einzelnen Bestandteilen der Speisen (z. B. Salz in Q 14,34 f.; Brot in Mk 7,27 f.; Joh 6,31-51;
Mehl in EvThom 97) oder Kleidung (Q 12,26-28; Mk 2,21; Lk 10,30; 16,19), bis hin zu
den räumlichen Lebensverhältnissen wie das Bauen oder Abreißen eines Hauses (Q 6,4737
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Die Gleichnisse Jesu · Eine Leseanleitung zum Kompendium
49; EvThom 71), die Wohnräume im Haus (Joh 14,1-4) oder der Erwähnung einer ganzen Stadt (Mt 5,14; EvThom 32; Mt 22,1-14).
Häufig geht es aber weniger um die Beschaffenheit eines Gegenstandes als um die
damit verknüpften sozialen Verhältnisse. So ist – um am Beispiel des Hauses zu bleiben –
die Spaltung der Hausgemeinschaft (Q 17,34 f.; Mk 3,25; EvThom 61) von Interesse.
Gerade die spannungsvollen Beziehungen unter Menschen werden zum Anschauungsgegenstand, so etwa das Verhältnis zwischen Eltern und Kind (Q 11,9-13) oder speziell
zwischen Vater und Sohn bzw. Söhnen (Lk 15,11-32; Mt 21,28-32), zwischen Brüdern
(Lk 14,12; 16,28) und Bettgefährten (EvThom 61) oder Freund(inn)en (Lk 11,5-8; 15,810) bis hin zum Streit zwischen Kindern (Q 7,31-35). Einen ganz eigenen Bereich stellt
auch die Thematisierung der Beziehung zwischen Sklaven und Herren dar, wobei wiederum ein breites Spektrum an Lebenssituationen von der grundsätzlichen Loyalität im
Dienstverhältnis (Q 16,13) über spezielle Funktionen wie denen des Türhüters, des
Wachpersonals (Lk 12,35-38; Joh 10,3) oder der Geschäftsführer bei Abwesenheit (Q
19,12-26) bis hin zu Einzelsituationen wie dem Schuldenerlass (Mt 18,23-35) oder
einem Abendessen nach der Arbeit (Lk 17,7-10) herangezogen wird.
Auch Arbeits- und Dienstverhältnisse im weiteren Sinn wie z. B. Beziehung zwischen Pächtern und Besitzer eines Weinbergs (Mk 12,1-12), die Entlohnung von Tagelöhnern (Mt 20,1-16) oder die Entlassung eines Verwalters (Lk 16,1-8) spielen eine Rolle.
Innerhalb der Arbeitswelt wird häufig auf Verhältnisse Bezug genommen, wie sie
im kleinbäuerlichen Milieu etwa des galiläischen Dorfes anzunehmen sind. Hierbei spielen neben dem Fischfang (Mt 13,47-50; EvThom 8) vor allem der Getreide-Ackerbau
(Aussaat – Ernte, vgl. Mk 4,3-9; Q 10,2; Joh 4,35-38; 12,24; Wachstum und Pflege: Mk
4,26-29; Mt 13,24-30; Mt 15,13), der Weinbau (Mk 12,1-12; Joh 15,1-8; EvThom 40)
oder die Viehzucht, insbesondere die Schafhaltung (Q 15,4-7; Mt 25,32 f.; Joh 10,1-5)
eine zentrale Rolle. Besonders wird hier auch die Lebenswelt der Frauen zur Geltung
gebracht, wie z. B. implizit bei Teigbereitung (Q 13,20 f.) oder Erntearbeit (Q 10,2) oder
explizit, indem handelnde Frauen erwähnt werden (z. B. beim Verlust eines Geldstücks in
Lk 15,8-10; bei Mägden in Mt 25,1-13).
Doch die erzählte Welt der Parabeln lässt sich nicht auf eine bestimmte soziale
Schicht und deren Lebenswelt begrenzen. So steht etwa bei einer ganzen Reihe von Parabeln der Bereich der Finanzen und Ökonomie im Mittelpunkt, sei es, indem z. B. vom
Kauf eines Ackers (Mt 13,44), der Kalkulation kostspieliger Vorhaben (Lk 14,28) oder
der Verteilung des Hausschatzes (Mt 13,52) erzählt wird, sei es, dass die Schuldenproblematik (Mt 18,23-35; Lk 7,41-42; 16,1-8), die Verleihung von Geld (EvThom 109)
oder die Geldwechsler (Agr 31) zum bildspendenden Bereich werden.
Ein eigenes, selten beachtetes Anschauungsfeld liegt auch mit dem Rechtsbereich
vor: So wird von Prozessgegnern beim Gang zum Gericht (Q 12,58 f.), von Rechtsvollmacht (Joh 5,19-24), von dem Konflikt eines Richters mit einer Witwe (Lk 18,1-8) oder
vom Strafvollzug (Q 12,58 f.; Mt 18,30.34) erzählt.
Schließlich kann auch der außermenschliche Bereich eigens in den Mittelpunkt
gerückt werden, indem z. B. Tiere oder Pflanzen die Hauptakteure bzw. Anschauungsfelder der Parabeln darstellen. So lesen wir von Schweinen (Mt 7,6; Agr 165), von Hunden (Mk 7,27 f.; EvThom 102, vgl. Lk 16,21) und Pferden (EvThom 47,1-2) ebenso wie
von Raben (Q 12,24), Wölfen (Joh 10,12) und Aasgeiern (Q 17,37). Auch von Pflanzen
wie dem Feigenbaum (Mk 13,28 f.; Lk 13,6-9) und der Dattelpalme (EpJac NHC I 7,2338
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Anlage des Kompendiums und Einzelaspekte der Auslegungen
35), den Lilien (Q 12,27) oder sogar einzelnen Senf- (Mk 4,30-32) und Weizenkörnern
(Joh 12,24; EpJac NHC I 8,10-27) ist die Rede.
Eine detaillierte Auflistung der unterschiedlichen Lebensbereiche nach Motiven findet sich
in einer Tabelle im Anhang (S. 1003 ff.). Die Art der Bezugnahme ist sehr unterschiedlich.
Teilweise scheint mit einem Stichwort wie z. B. dem »Dieb« (Q 12,39 f.; Agr 45) bereits
ein ganzer Vorstellungsbereich vor Augen gestellt, teilweise werden Einzelheiten bis hinein zu inneren Monologen (Lk 15,17-19) oder mehrstufigen Handlungsverläufen (Mt
20,1-16) über längere Zeiträume hinweg (Q 19,12-26) erzählt. Zum Teil werden einzelne,
scheinbar nebensächliche Details hervorgehoben wie die Lampen/Fackeln beim Hochzeitszug (Mt 25,1-13), das Abfüllen des neuen Weins (Mk 2,22), die Tischordnung von
Gästen (Lk 14,7-11) oder das Verhalten des Lohnhirten bei der Schafhaltung (Joh
10,12 f.). Häufig geht es um Grundlegendes einer bestimmten Handlung (Aufstellen der
Lampe Q 11,33; Hausbau Q 6,47-49; Aussaat Mk 4,3-20; Festeinladung Mt 22,1-14).
Die reale Lebenswelt kann anhand des vorhandenen Materials freilich nur näherungsweise ermittelt und rekonstruiert werden. Wie bei einem Mosaik kann man Einzelinformationen unterschiedlicher Quellen zu einem Gesamtbild zusammensetzen, das
aber in den meisten Fällen doch ein Fragment bleiben muss. Ferner muss man reflektieren, dass viele antike Texte gerade entgegen ihrer eigenen Intention und Funktion hinsichtlich ihres historischen Informationsgehalts ausgewertet werden. Diese nur literarisch
und damit deutend-tendenziell vermittelte Information darf folglich nicht 1:1 mit der
realen Lebenswelt gleichgesetzt werden. Wird aus einzelnen Parabeln erst eine Lebenswelt
zur Deutung anderer Parabeln abgeleitet, kann es zu hermeneutischen Zirkelschlüssen
kommen (dazu Ostmeyer 2008).
Im Kompendium wird versucht, anhand des vorhandenen Quellenmaterials möglichst
konkret Einzelaspekte des Erzählten zu erhellen, die dann zum »bildspendenden Bereich«
für die Parabel werden können. Da der bei der metaphorischen Interaktion vollzogene
Selektions- und Übertragungsprozess jedoch letztlich durch das interpretierende Subjekt
vollzogen werden muss, werden bei diesem Auslegungsschritt mehr Hintergründe und
Verstehensangebote geliefert, als in der zusammenfassenden Auslegung nutzbar gemacht
werden können. Auf diese Weise wird es den Rezipienten ermöglicht, auch andere, eigene
Zuordnungen zu vollziehen.
3.2.4 Analyse des Bedeutungshintergrunds (Bildfeldtradition)
Die Analyse des ›bildspendenden Bereichs‹ ist nur eine Voraussetzung für eine solide
Beurteilung des Sinnfindungsprozesses. Die zweite ist die Erhebung von geprägten Metaphern und Symbolen, die innerhalb der Sprachgemeinschaft des Urchristentums geläufig waren und die maßgeblich auf ein Verständnis von Parabel-Texten eingewirkt haben
können.
Während A. Jülicher und noch L. Schottroff die Existenz von solchen Prägungen
als allegorisiernde Überformung der Gleichnistexte leugneten, halte ich es für unabdingbar, gerade auch die Einbettung von Übertragungsphänomenen in sprachliche Konventionen und Traditionen zu eruieren.
Damit ist eine gewisse »Rehabilitierung der Allegorie« (so schon Gadamer 6 1990,
39
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Die Gleichnisse Jesu · Eine Leseanleitung zum Kompendium
76 ff.) zum Ausdruck gebracht, womit eine der letzten großen Verdikte der Jülicher-Tradition angetastet wird. Anders als die allegorische Auslegungstradition etwa der Alten
Kirche, die z. B. in den beiden Denaren des Samariters die Sakramente erkannte, d. h. eine
völlig freie Sinnzuschreibung an Textelemente vollzog, soll die Konvention von Übertragungen jedoch methodisch kontrollierbar bleiben, um der Gefahr einer ›wilden‹ oder
auch ›willkürlichen‹ Allegorisierung entgegenzutreten.
Es wird allerdings auch nicht zu bestreiten sein, dass innerhalb der Konvention einer
Sprachgemeinschaft Tiefensinn an einzelnen Semantemen haftet, für jeden Teilnehmer
dieser Kulturgruppe sofort evident ist, auch wenn er nicht unmittelbar textlich zum Ausdruck gebracht wird. So ist z. B. in unserem gegenwärtigen Kulturkreis die »Rose« als Liebessymbol erkennbar, oder das »Kreuz« kann als christliches Grundsymbol wahrgenommen werden, ohne dass deutliche Transfersignale auf Textebene beigefügt werden müssen.
Entsprechend gibt es einzelne Motive, die innerhalb der jüdisch-christlichen
Sprachgemeinschaft des 1. Jh. n. Chr. kaum ohne Tiefensinn verwendet werden konnten,
man denke z. B. an den »Weinberg«, der auf Israel hindeutet, oder an das »Haus (Gottes)«
als Hinweis auf den Tempel.
Am deutlichsten können solche konventionalisierten Übertragungsphänomene bei
stehenden Metaphernfeldern nachgewiesen werden. In Anknüpfung an die Theorie von
H. Weinrich, soll hierbei von »Bildfeldern« gesprochen werden, bei denen eine traditionelle Kopplung von Sinnbereichen nachweisbar ist (Weinrich 1976, 276-290; dazu auch
R. Zimmermann 2001, 41-44). Eine Sprachgemeinschaft kann bestimmte semantische
Bereiche immer wieder aufeinander beziehen, so dass auch Metaphern-Neubildungen
in diesem Horizont sofort einsichtig und verständlich sind. Ein Beispiel aus der gegenwärtigen Sprachwelt kann dies verdeutlichen: So gibt es derzeit das Bildfeld von »GeldWasser«, bei dem der komplexe Bereich des Geldwesens immer wieder auf Phänomene
des Wassers abgebildet wird. Entsprechend entstehen Einzelmetaphern wie »Geldquelle«,
»ich bin liquide«, die »Geldhähne wurden zugedreht«. Auch aktuelle Neubildungen, wie
etwa die »Überschwemmung mit Studiengebühren«, können vor dem Hintergrund des
bekannten Bildfelds sofort sinnvoll eingeordnet werden.
Übertragen auf die Parabeltexte besagt dies: Die in den urchristlichen Texten angelegten metaphorischen Zuordnungen sind in Bildfelder eingebunden, die es zu erheben
gilt – und, das ist im Vergleich zur freien Allegorisierung ein entscheidender Unterschied,
die auch mit einiger Wahrscheinlichkeit erhoben werden können.
So zeigen sich z. B. zum Hirten innerhalb der Schriften Israels klar erkennbare
Koppelungen von semantischen Bereichen, die es erlauben, Bildfelder wie die des »Königs-Hirten« (2Sam 5,2; Ps 78,70-72), des »JHWH-Hirten« (Jes 40,10 f.; Ps 23,1; Ps 80,2)
oder des »Messias-Hirten« (Ez 34,11-22; PsSal 17,32) zu benennen (vgl. dazu R. Zimmermann 2004b, 101-106). Wird nun innerhalb einer Parabel von einem Hirten erzählt
(Q 15,4-7; Joh 10,1-5), dann ist es wahrscheinlich, dass sowohl Jesus als Urheber der
Erzählung als auch seine Hörer(innen) sofort ein entsprechendes Bildfeld ins Bewusstsein bringen. Entsprechendes gilt, wenn etwa vom Vater (Lk 15,11-32), vom Richter (Lk
18,1-8) oder vom König (Mt 18,23-35; Mt 22,1-14) die Rede ist, womit klassische Gottesmetaphern der jüdischen Tradition in Erinnerung gerufen werden (man denke etwa
an die JHWH-Königs-Psalmen). Ob und in welcher Notwendigkeit im einzelnen Text
tatsächlich dieses Bildfeld abgerufen werden soll, lässt sich freilich nicht exakt bestimmen. Als Faustregel kann folgendes Wechselverhältnis gelten: Je stärker die konventiona40
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Anlage des Kompendiums und Einzelaspekte der Auslegungen
lisierte Festlegung einer stehenden Metapher, desto geringer können die Textsignale sein,
die auf eine solche Übertragung hindeuten und umgekehrt.
Auf der anderen Seite muss diese Festschreibung im Sinne der hier im Kompendium intendierten Deutungsoffenheit (s. u.) auch gar nicht erfolgen. Entscheidend ist zunächst nur, dass der Leser und die Leserin auf mögliche antike bzw. präziser im jüdischchristlichen Raum geprägte Bildfelder hingewiesen wird, die Verstehensvoraussetzung
sein können. Dabei wird versucht, wiederum möglichst weit auszugreifen und Sprachkonventionen neben dem Urchristentum selbst aus unterschiedlichen Traditionsbereichen, sei es des Alten Testaments und Frühjudentums, des rabb. Judentums oder auch
der griech. Sprachwelt einzuholen.
3.2.5 Zusammenfassende Auslegung (Deutungshorizonte)
In der zusammenfassenden Auslegung sollen die Linien aus den vorgenannten Analyseschritten zusammengeführt werden, um zu einer bzw. mehreren kohärenten Gesamtdeutungen zu gelangen.
Viele Exegeten sehen ihre Aufgabe darin, eindeutige, zwingende Auslegungen vorzustellen. Nicht selten werden diese aufgrund philologischer oder historischer Argumentation als die einzig möglichen Verstehenswege präsentiert. Das vorliegende Kompendium möchte hier bewusst einen neuen Weg versuchen. Abgesehen davon, dass schon
erkenntnistheoretisch und hermeneutisch betrachtet historische Eindeutigkeit ein uneinholbares Ideal bleibt, ist es vor allem bei den hier verhandelten bildlichen Texten eine
Fehleinschätzung zu glauben, dass es eine interpretatio sancta geben könne. Es ist m. E.
sogar eine bewusste Missachtung der in Parabeln selbst gegebenen Textform, wenn man
eine solche allgemein verbindliche Auslegung suggerieren würde.
Es war vor allem die Einsicht der phänomenologischen Hermeneutik etwa von
H.-G. Gadamer (Gadamer 6 1990), die das Postulat eines objektiven Verstehens ad absurdum führte und stattdessen die intentionale Bezogenheit zwischen Rezipienten und Verstehensgegenstand herausarbeitete. Die gerade innerhalb exegetischer Arbeiten dominante Suche nach der historischen Ursprungssituation muss nicht nur aufgrund
geschichtstheoretischer Rahmenbedingungen auf einen relativen Rekonstruktionsversuch beschränkt bleiben, sie reduziert auch die Sinnpotenziale eines Textes in unbefriedigender Weise auf einen Horizont der Vergangenheit, worauf schon Gadamer hingewiesen hatte: »Der Sinnhorizont des Verstehens kann sich weder durch das, was der Verfasser
ursprünglich im Sinn hatte, schlechthin begrenzen lassen, noch durch den Horizont des
Adressaten, für den der Text ursprünglich geschrieben war.« (Gadamer 6 1990, 398). Gilt
diese Einsicht prinzipiell für jeden historischen Text, so muss die Gegenwartsbezogenheit
der Sinnstiftung umso mehr bei biblischen Texten im Bewusstsein sein, die mit der Erwartung gelesen (und auch wissenschaftlich erforscht) werden dürfen, theologische Bedeutung für aktuelle Lebensfragen zu stiften.
Neben diese hermeneutische tritt auch eine literarische Notwendigkeit zur polyvalenten Deutung. So hatte der Literaturwissenschaftler Peter Szondi das Fehlen von Eindeutigkeit z. B. in Celans Texten als Strukturelement gewürdigt: »Die Ambiguität ist nicht
Mangel noch bloßes Stilmittel, sondern die Struktur des poetischen Textes selbst« (Szondi 1978, 374). Ästhetische Hermeneutik ist für Szondi gerade dadurch gekennzeichnet,
dass »sie den ästhetischen Charakter der auszulegenden Texte nicht erst in einer Würdi41
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Die Gleichnisse Jesu · Eine Leseanleitung zum Kompendium
gung, die der Auslegung folgt, berücksichtigt, sondern zur Prämisse der Auslegung selbst
macht«. (Szondi 1975, 13). Was hier sehr allgemein für poetisch-ästhetische Texte formuliert wird, lässt sich bei bildlich-metaphorischen Textformen zuspitzen. Sprachbilder
besitzen eine »offene Sinndynamik« (dazu R. Zimmermann 2000a, 25-35). Es entspricht
also genuin der Form metaphorischer Texte und im Besonderen auch der Parabeln, dass
sie polyvalent ausgelegt werden müssen, will man ihre sprachliche Gestalt ernst nehmen.
Diese Einsicht hat weit reichende Konsequenzen für Methode und Ziel der Auslegung. So wäre es verfehlt, die Gleichnisse in begriffliche Sprache zu übersetzen oder aus
ihnen theologische Fundamentalsätze ableiten zu wollen. Auch die Zuspitzung auf ein
allgemeines ethisches Prinzip (so Jülicher) oder eine bestimmte historische Situation im
Rahmen der Wirksamkeit Jesu (so Dodd, Jeremias) gingen fehl.
Dem metaphorischen und appellativen Charakter der Parabeln entspricht es vielmehr, dass die Parabeln nicht nur auf eine (historisch mehr oder weniger rekonstruierbare) Leserschaft ausgerichtet sind, sondern jeden Lesenden immer wieder neu in einen
Verstehensprozess hineinziehen. Die Beteiligung des Auslegers am Verstehensprozess
(vgl. Harnisch 1999a, 59 f.) wird insofern noch radikalisiert, als sie nicht auf den Fachexegeten oder die Fachexegetin beschränkt bleibt, sondern auf jeden Leser und jede Leserin ausgeweitet wird. Es wäre vermessen, wenn Exegeten oder sonstige z. B. kirchliche
Instanzen vorschreiben wollten, wie ein biblischer Text verstanden werden muss. Was
Jesus und die urchristlichen Autoren bewusst in der Uneindeutigkeit bildlicher Sprache
formuliert haben, sollte von keinem Exegeten auf das Prokrustesbett von univoker, eindeutiger Sprache gepresst werden. Bildersprache folgt gerade nicht den Gesetzen der Definitionslogik.
Die Auslegungen im vorliegenden Kompendium wollen in der Nennung unterschiedlicher Deutungsvarianten diesem Spezifikum der Gleichnisrede Rechnung tragen.
Die Aufgabe des Exegeten oder der Exegetin besteht also vorrangig darin, mögliche Verstehenswege aufzuzeigen, die die Lesenden dann selbst gehen müssen, um zu einer Sinnstiftung, zu einem persönlichen Verstehen, ja zum Glaubens- und Lebensgewinn zu gelangen.
Die Bejahung der Polyvalenz in der Auslegung von Gleichnissen hatte zuerst Mary
Ann Tolbert in ihrer Arbeit »Perspectives on the Parables. An Approach to Multiple Interpretations« (Tolbert 1979) reflektiert. Sie hat dabei zeigen können, dass die Offenheit der
Interpretation durch sprachliche Form, Kontext und Interpreten gleichermaßen bedingt
wie begrenzt werden. Insbesondere in der englisch-sprachigen Gleichnisexegese wurde
die Mehrdeutigkeit forthin reflektiert und positiv gewürdigt (vgl. »polyvalence in parable
interpretation« bei Crossan 1980, 102; Shillington 1997, 17 f.).
Gleichwohl darf diese Offenheit der Interpretation nicht mit Beliebigkeit oder postmodernem Verstehensverlust verwechselt werden. Ein treffendes Bild für diese Spannung
aus Offenheit und Begrenzung hat Erwin Straus mit der Metapher des »Spielraums« eingeführt (Straus 2 1978, 274 ff., dazu auch R. Zimmermann 2000a, 25 f.). Man kann klare
Grenzen des Spielfeldes benennen, jenseits derer kein Spiel mehr möglich ist, der Ball ins
»Aus« geht. Bezogen auf unseren Gegenstand heißt das, es gibt klare Grenzen des Verstehens, die z. B. durch philologische Eindeutigkeit oder historische Plausibilität markiert
werden und jenseits derer man von einem »Missverstehen« sprechen muss. Innerhalb dieser Grenzen ist allerdings ein recht freies Spiel an Interpretationsmöglichkeiten gegeben.
Sinnstiftung und Auslegungen vollziehen sich nicht in den Bahnen monokausaler Erklä42
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Anlage des Kompendiums und Einzelaspekte der Auslegungen
rungswege. Der Spielraum des Verstehens kann somit als ein Feld zwischen Offenheit und
Verbindlichkeit benannt werden.
Diese leserorientierte Grundoffenheit anzuerkennen ist aber nicht nur eine hermeneutische Pflicht oder erkenntnistheoretische Last. Sie birgt auch Chancen. Denn nur so
bleiben die Parabeln auch für neue kreative Interpretationen offen. Nur so kann der »tote
Buchstabe« immer wieder neu zu einem »lebendigen Wort Gottes« werden. Die Auslegungen wollen in dieser Hinsicht als Einladungen an die Lesenden verstanden werden,
selbst einzutreten in den Interpretationsvorgang. Die Vielfalt und Offenheit der Deutungsmöglichkeiten kann erst im Lesevorgang des einzelnen Lesers und der einzelnen
Leserin zur Eindeutigkeit einer individuellen Interpretation verarbeitet werden. Denn
Sinn kann nur je individuell, je kontextuell gefunden werden. Wenn das Kompendium
als Orientierung oder gar Katalysator zu dieser individuellen Sinnstiftung durch die
Gleichnisse Jesu beiträgt, dann hat es schon seinen Zweck erfüllt.
3.2.6 Aspekte der Parallelüberlieferung und Wirkungsgeschichte
Die Parabeln Jesu wurden gelesen, sie wurden zu verstehen versucht, ihre Sinnpotenziale
wurden in unterschiedlichen Kontexten und Situationen zur Entfaltung gebracht. Bereits
im Urchristentum lässt sich dieser Prozess nachweisen, wenn eine Parabel mehrfach in
unterschiedlichen Quellen überliefert ist. Hans Weder hatte m. W. als Erster die »Wirkungsgeschichte« der Gleichnisse in den Blick genommen und versteht darunter »nicht
nur die (nachkanonische) Geschichte der Wirkung neutestamentlicher Texte (…), sondern überhaupt die Geschichte eines Sprachereignisses von seinem Ursprung bis zur
Gegenwart des Auslegers.« (Weder 4 1990, 73). Doch während Weder die wirkungsgeschichtliche Fragestellung »aus technischen Gründen auf den Bereich vom historischen
Jesus bis zum Ende der synoptischen Tradition« (a. a. O., 74) beschränkt, soll im vorliegenden Kompendium gerade die umgekehrte diachrone Perspektive leitend sein. Vom
Beginn der synoptischen Tradition an, konkret mit der Logienquelle bzw. Markus beginnend, bis zu den literarischen Zeugnissen im Thomasevangelium und der apokryphen
Gleichnisüberlieferung (ähnlich Liebenberg 2001).
Auf der Basis der Zwei-Quellen-Theorie (dazu unter Q-Einleitung) kann man annehmen, dass Parabeln aus der Logienquelle Q und aus dem Markusevangelium von Mt
und Lk aufgenommen wurden, auch wenn teilweise nur Doppelbezeugung vorhanden ist
(z. B. Brot der Hunde in Mk 7,27 f. und Mt 15,26 f.). Ferner gibt es parallele Überlieferungen zwischen Mk und der Logienquelle, etwa bei den Parabeln vom »Licht auf dem
Leuchter« (Q 11,33//Mk 4,21) oder vom »Senfkorn« (Q 13,18 f.//Mk 4,30-32). Auch die
parallelen Überlieferungen zwischen der synoptischen Tradition und Johannes gilt es zu
beachten (Q 6,40//Joh 13,16; Q 10,22//Joh 5,19 f.). Schließlich finden sich auch im Thomasevangelium viele Parabeln des Neuen Testaments, zum Teil mit großer Übereinstimmung (z. B. Q 6,43-45//EvThom 45; Q 10,2//EvThom 73; Mt 13,24-30//EvThom 57),
zum Teil mit markanten Abweichungen (z. B. Mt 13,47-50//EvThom 8; Q 15,4-7//
EvThom 107). Einige Parallelen sind auch zu Parabeln in den Agrapha festzustellen (Q
12,39 f.//Agr 45; Mt 7,6//Agr 165).
Innerhalb der Mehrfachbezeugung zeigt sich ein Interpretations- und Applikationsvorgang, der durch die kontextuelle Anordnung in der jeweiligen Schrift, durch Einleitungen und Kommentare, aber auch durch Eingriffe in den Text erzeugt wurde.
43
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Die Gleichnisse Jesu · Eine Leseanleitung zum Kompendium
Die mehrfach überlieferten Parabeln werden bis auf wenige Ausnahmen nur einmal ausführlich besprochen. Dabei war meist eine diachrone Vorentscheidung für die
Zuordnung zu einem Quellenbereich ausschlaggebend. In einigen schwer zu entscheidenden Fällen (z. B. Senfkorn-Parabel) spielte auch die sprachliche Ausgestaltung bei
der Zuordnung eine Rolle. Um den urchristlichen Rezeptions- und Transformationsprozess sichtbar zu machen, werden unter dem hier genannten Gliederungspunkt (Parallelüberlieferung) die anderen Bezeugungen vielfach auch mit eigener Übersetzung aufgeführt und kurz besprochen. Dabei sind allerdings nicht Paradigmen der früheren
Literar- und Redaktionskritik leitend, etwa in dem Sinne, dass eine (implizit) wertende
Analyse der Abweichung und Veränderung durchgeführt wird. Vielmehr geht es darum,
kontextuelle Bedeutungsverschiebungen zu benennen, die als Ausdruck eines urchristlichen Relecture- bzw. Applikationsprozesses zu würdigen sind.
Die schon in den ersten Jahrzehnten innerhalb urchristlicher Überlieferung sichtbar werdenden Bedeutungspotenziale der Jesusparabeln haben dann innerhalb einer nahezu 2000jährigen Rezeptionsgeschichte gewirkt. Die Parabeln wurden hierbei je neu
gelesen und auf unterschiedlichste Weise verstanden, so dass ihre Sinnpotenziale in neuen Kontexten immer wieder entfaltet und zur Geltung gebracht oder gar in innovativkreativer Weise entdeckt werden konnten. Dieser Prozess der Wirkung und des Verstehens dauert bis in die Gegenwart hinein an.
Die Vielfalt der unterschiedlichen Wirkungen kann bei den einzelnen Auslegungen
nur sehr selektiv zur Darstellung gebracht werden. Teilweise werden größere Leitlinien
der Rezeption aufgezeigt, teilweise sollen gerade auch verschüttete Details in Erinnerung
gerufen werden. Teilweise werden Verarbeitungen des Parabelstoffes innerhalb der Literatur-, Kunst- oder Musik-Geschichte benannt. Wieder andere Autor(inn)en versuchen
Sinn- und Applikationsmöglichkeiten in gegenwärtigen Verstehenskontexten aufzuzeigen, was dann sogar zu Impulsen für den praktisch-theologischen Diskurs führen kann.
Die Offenheit in diesem Punkt kann gerade auch – ähnlich wie bei den Deutungshorizonten – als Einladung verstanden werden, als Leserin oder Leser selbst in den Interpretations- und Verstehensprozess der Parabeln mit einzusteigen.
3.2.7 Literatur zum Weiterlesen
Die Auslegungen schließen mit einigen Literaturhinweisen. Hierbei werden je nach Umfang und Bedeutung des Textes bzw. der Auslegung ca. 3 bis 15 weiterführende Titel
genannt. Die nicht von den jeweiligen Auslegern, sondern von den Bereichsherausgeber(innen)n verantworteten Angaben führen die einschlägige und monographische Literatur zu einem Text auf, ebenso neuere (auch englisch-sprachige) Sekundärliteratur.
Zusammen mit Veröffentlichungen zu interessanten Einzelaspekten bieten sie interessierten Leserinnen und Lesern die Möglichkeit, auch jenseits des Kompendiums dem Sinn
der Gleichnisse weiter nachzuspüren.
Die von den einzelnen Autorinnen und Autoren herangezogene und abgekürzt
zitierte Literatur (jeweils Autor, Erscheinungsjahr und Seitenzahl) bleibt aber nicht auf
diese Titel beschränkt, sondern wird in einem abschließenden Gesamtliteraturverzeichnis mit vollständiger Bibliographie aufgeführt.
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Allgemeine Literaturhinweise zu den Gleichnissen Jesu
Die Hin- bzw. Einführung, oder sagen wir besser: Einladung zu den Gleichnissen Jesu
und den im Folgenden gebotenen Auslegungen ist nun hinreichend geleistet. Wer sich
der Mühe unterzogen hat, durch diese Leseanleitung an die Gleichnisse Jesu heranzutreten, dem- oder derjenigen kann in Abwandlung des Botenworts aus dem GastmahlGleichnis (vgl. Lk 14,17) nur noch zugerufen werden:
Lest, denn es ist alles bereit!
Allgemeine Literaturhinweise zu den Gleichnissen Jesu
(Monographien und Sammelbände der letzten 20 Jahre)
(chronologisch)
F. H. Borsch, Many Things in Parables: Extravagant Stories of New Community, Philadelphia
1988.
J. R. Donahue, The Gospel in Parable: Metaphor, Narrative, and Theology in the Synoptic Gospels, Philadelphia 1988.
B. H. Young, Jesus and his Jewish Parables. Rediscovering the roots of Jesus’ Teaching, Mahwah
1989.
B. B. Scott, Hear Then the Parable: A Commentary on the Parables of Jesus, Philadelphia 1989.
E. Rau, Reden in Vollmacht. Hintergrund, Form und Anliegen der Gleichnisse Jesu, FRLANT
149, Göttingen 1990.
C. L. Blomberg, Interpreting the Parables, Downers Grove 1990 (dt. Übersetzung: Die Gleichnisse Jesu. Ihre Interpretation in Theorie und Praxis, TVG Bibelwissenschaftliche Monographien 3, Wuppertal 1998).
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