Monique de Saint Martin Der Adel

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Monique de Saint Martin Der Adel
Monique de Saint Martin
Der Adel
édition discours
Klassische und zeitgenössische Texte
Der französischsprachigen Humanwissenschaften
Herausgegeben von Franz Schultheis
und Louis Pinto
Band 8
Monique de Saint Martin
Der Adel
Soziologie eines Standes
Aus dem Französischen von Jörg Ohnacker
UVK Verlagsgesellschaft mbH
Bibliographische Information der Deutschen Bibliothek
Die Deutsche Bibliothek verzeichnet diese Publikation in der
Deutschen Nationalbibliographie; detaillierte bibliographische Daten
sind im Internet über <http://dnb.ddb.de> abrufbar.
ISSN 0943-9021
ISBN 3-89669-854-0
Titel der Originalausgabe:
L’ Espace de la Noblesse
© 1993 by Éditions Métailié, Paris
© Deutsche Ausgabe: UVK Verlagsgesellschaft mbH, Konstanz 2003
UVK Verlagsgesellschaft mbH
Schützenstr. 24 · D-78462 Konstanz
Tel. 07531-9053-0 · Fax 07531-9053-98
www.uvk.de
Einleitung
»Den Adel gibt es nicht mehr«, sagen die Nachfahren des Adels gern
selbst, als wollten sie damit den Soziologen herausfordern, der ihnen
seine Absicht bekannt gibt, den Zustand des Adels der 1990er Jahre
zum Gegenstand seiner Untersuchungen machen zu wollen, dies mehr
als zwei Jahrhunderte nach der Revolution, der Abschaffung des Adels
und der Aufhebung seiner Privilegien.
Jeder direkte oder indirekte Versuch, ihre Verhaltensweisen und Gepflogenheiten mit ihrem Ursprung oder ihrer adligen Herkunft in Verbindung zu bringen, irritiert in der Tat die Adligen, d.h. wenigstens
eine beträchtliche Anzahl unter ihnen, die, vor allem angesichts eines
Beobachters oder Fragestellers, ein Vergnügen daran finden, die Vorzüge der gegenwärtigen Leistungsgesellschaft hervorzuheben, in der Herkunft, Beziehungen und traditionelle Unterstützung keine Rolle mehr
spielten, und in der sie ihre Stellung ihren eigenen Fähigkeiten und ihrem Talent verdankten. Einige versuchen, uns davon zu überzeugen,
daß sie sich selbst »gemacht« haben, ohne jegliche »Empfehlung«, wobei sie dennoch, manchmal beiläufig und beinahe unfreiwillig eingestehen, daß sie, ohne die ihnen verfügbaren familiären und gesellschaftlichen Beziehungen vielleicht nicht die Position einnehmen würden, die
sie innehaben.1 Diese Weigerung, die mehr oder weniger von der dazu
passenden Objektivierung einer extremen Vornehmheit bestimmt ist,
charakterisiert eine Reihe unserer Gesprächspartner, als ich mich mit
ihnen zum Meinungsaustausch getroffen habe, was ihnen jedoch nicht
verbietet, offensichtlich ein gewisses Vergnügen am Gespräch und
selbst an einer bestimmten Form der Analyse zu empfinden.
Als ob die Herausforderung an den Soziologen noch betont werden
1
Dasselbe Beharren auf der Aussage, man habe sich selbst gemacht, kann in einer
ganzen Reihe von der Revue L’Éventail veröffentlichter Gespräche mit oder Portraits von Nachfahren des Adels festgestellt werden. So »hält« Violaine de La Poëze
d’Harambure, eine Innenausstatterin großen Stils, »nichts darauf, was man über
ihre Familie, die La Poëze d’Harambure und ihren Ritteradel« in L’Éventail berichtet, nicht etwa weil sie »die Ursprünge dieses alten Hauses des Anjou verleugnet«,
sondern weil sie »sie selbst sein will, in ihrem Beruf, mit ihrer professionellen Einstellung, und Wert darauf legt, über ihre Arbeit anerkannt zu werden«, schreibt
Fernand de Saint Simon, der sie interviewt hat; »der schöne Name und das ehrwürdige Alter kommen zusätzlich hinzu« (L’Éventail, 11, April-Mai 1987).
7
solle, kehrt ständig das Thema des Zufalls in den Ausführungen der
Nachfahren des Adels wieder, und zwar sowohl in Gesprächen als auch
in Erinnerungen und autobiographischen Erzählungen, ob es sich dabei
nun um das Aufzeigen einer beruflichen Laufbahn, die Schilderung der
Familiengeschichte, vor allem die Wahl des Ehegatten oder auch die
Geburten2, oder die Darstellung der bevorzugten Lektüre oder der Freizeitvergnügungen handelt. Beim Zuhören hat man manchmal den Eindruck, daß ihnen alles oder fast alles aufgrund einer Reihe von Zufällen
zugekommen ist, die sie zu ihrem Vorteil zu nutzen verstanden haben3.
Die Kultiviertesten unter ihnen sind sich wohl oft bewußt, daß das, was
ihnen geschieht, nicht die Auswirkung eines glücklichen Zufalls sein
könne, aber sie schreiben Zusammentreffen und Beziehungen, die für
den außenstehenden Beobachter andere Erklärungen zu liefern scheinen, ebenso einer Reihe unvorhergesehener Umstände oder anekdotischer Nebensächlichkeiten zu. Die »glücklichen Zufälle« der Existenz
der Aristokraten und ihre »Verdienste« bieten offensichtlich wenig
Raum für die soziologische Analyse, die umso mehr versucht ist, hier
aufzugeben, als die Nachfahren des Adels, oft mit ausgesuchter Höflichkeit, in ihren Erzählungen und Reden ihre eigene Vision und Darstellung ihrer Geschichte oder Familie behaupten und tatsächlich jede Befragung untersagen4.
Die Erforschung des Adels hat übrigens lange Zeit nur im Rahmen
von Zelebration des eigenen Standes und Hagiographie stattgefunden,
manchmal mit einem Anklang von Humor oder selbst Ironie, oft in der
2
3
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So schreibt Christian de Nicolay zu Beginn seiner Kindheitserzählung über die im
Schloß seiner Großeltern verbrachten Weihnachtsfeste: »Sie waren neun Enkel, im
Altersabstand von mehreren Jahren (…). Sie waren neun Enkel, die durch Zufall
fast alle am selben Wohnsitz geboren wurden.« Vgl. C. de Nicolay, Aux jours
d’autrefois, Impr. Floch, 1980, S. 9.
Man sollte jedoch in dieser den ›glücklichen Zufällen‹ beigemessenen Bedeutung
nicht nur die ideologische Verkennung der sozialen Bedingungen sehen, die sie
möglich machen; die beiden gegensätzlichen Äußerungen: »Wir haben uns zufällig
getroffen« und »Alles war dafür geschaffen, daß wir uns trafen« bestehen häufig
nebeneinander und kommen ganz selbstverständlich im gleichen Diskurs vor. Dies
kommt daher, erklären Dominique Merllié und Jean-Yves Cousquer, daß Zufall bei
den Aristokraten nicht im Gegensatz zu Determinismus, sondern eher zu Absicht
oder Strategie steht. »Das Gefühl des Zufalls kann (…) das Resultat der im
Gespräch möglichen Positionsverdoppelung sein: dieselbe Person objektiviert die
Funktionsregeln ihrer sozialen Gruppe – und distanziert sich damit von ihr und
beherrscht sie – und sieht sich diesen Gesetzen unterworfen und wie von außerhalb
von ihnen beherrscht.« Vgl. D. Merllié und J. Y. Cousquer, »Mariage et relations
familiales dans l’aristocratie rurale: deux entretiens«, Actes de la recherche en sciences
sociales, 31, Januar 1980, 5.
Form des Dialogs oder der literarischen Nachahmung, aber unter Vermeidung jedes wissenschaftlichen, historischen oder gar soziologischen
Ansatzes. Während Untersuchungen von Amateuren und Laien von
den Adelsnachfahren unterstützt werden, stößt sich die Forschung an
zahlreichen Schwierigkeiten, sobald sie einerseits Zelebration und Glorifizierung, andererseits Verunglimpfung oder auch Faszination und
Neugier, also eine gewisse Verzauberung, vermeiden will. »Der Adel hat
den eingeweihten Erben eines Namens Material für genealogische Forschungen zur Verfügung gestellt, den angesichts einer verschwindenden
Welt nostalgischen Schloßherren Material für die eigene Ethnographie,
den Schriftstellern und faszinierten Bürgerlichen Stoff für Romane. Bis
jetzt war er nicht Gegenstand der Geschichtsforschung«, schreibt Claude-Isabelle Brelot sehr richtig, und noch weniger der Soziologie, ließe
sich hinzufügen5. Sie präzisiert jedoch, daß sich die Tendenz anscheinend kürzlich umgekehrt habe; die Diskussionen sind tatsächlich offener geworden, vor allem über die Rolle der Eliten beim Übergang von
der Ständegesellschaft zur postrevolutionären Klassengesellschaft, es
wurden Untersuchungen über die Prosopographie der Eliten und regionale Entwicklungen durchgeführt; der Adel findet sich wieder in den
Bereich geschichtlicher Forschung eingegliedert und wird seit kurzem
zum Gegenstand soziologischer Untersuchungen. Und verschiedene
Untersuchungen oder »relativistisches und pluralistisches Neulesen«
stimmen in einer Feststellung überein: »Die adlige Identität überlebt
das juristische und soziale Nicht-Sein«, wie wiederum Claude-Isabelle
Brelot zu Beginn ihrer Untersuchung über den Adel im Franche-Comté
des 19. Jahrhunderts notiert 6.
Im Lauf der Jahre, und vor allem nach dem zweiten Weltkrieg, ist es
immer schwieriger geworden, aristokratische Praktiken und Verhaltensweisen zu identifizieren und zu untersuchen. Haben sich die Bürger, oder wenigstens ein Teil unter ihnen, nicht seit langem und biswei4
5
6
Zu einem anderen Beispiel starken Widerstandes gegen die soziologische Analyse
vgl. P. Bourdieu und M. de Saint Martin, »La sainte famille. L’épiscopat français et
le champ du pouvoir«, Actes de la recherche en sciences sociales, 44–45, November
1982, S. 2–54; das Episkopat neigte dazu, das Bild eines homogenen Organs zu
vermitteln, wo die Einigkeit über die Unterschiede herrschte und sah jede Befragung über das Bestehen religiöser Spaltungen oder sozialer Differenzen in seinen
Reihen als inopportun an.
C.-I. Brelot, La noblesse réinventée: Nobles de Franche-Comté de 1814 à 1870, Annales littéraires de l’université de Besançon, 1972, S. 7.
C.-I. Brelot, La noblesse réinventée: Nobles de Franche-Comté de 1814 à 1870, op.
cit., S. 9.
9
len auch erfolgreich angestrengt, die Adligen nachzuahmen und, allgemeiner, den Lebensstil des Adels zu übernehmen und oftmals zu überbieten?7 Haben die Nachfahren des Adels nicht oftmals ihre adlige
Haltung verloren und bürgerliche, selbst kleinbürgerliche Verhaltensweisen angenommen? In den Familien, in denen Verbindungen zwischen Adligen und Bürgerlichen häufig, wenn nicht sogar geläufig geworden sind, kommt es nicht selten vor, daß der Ehegatte bürgerlicher
Herkunft, vor allem die Frau, sich offensichtlich aristokratischer verhält
als der Ehegatte adliger Herkunft.
Dennoch sind viele Anzeichen für die Bestätigung der adligen Identität vorhanden; noch heute gibt es zahlreiche Nachfahren aus Familien
des alten Adels, die sich als adlig bezeichnen und an ihren Adel glauben,
und die Zahl derer, die ihnen adlige Eigenschaften zugestehen und sie
für adlig halten, ist groß. Die Vereinigungen der Nachfahren des französischen Adels, vor allem die Association d’entraide de la noblesse française (ANF)*, vereinigen eine wachsende Zahl der am meisten mit ihrem ehemaligen Status und ihrer Vergangenheit verbundenen Familien: 1990 zählte die ANF, – durch ein Dekret vom 29. Juli 1967 als gemeinnützig anerkannt –, 2000 Mitglieder, wovon 597 in den Jahren
1987–1988 zugelassen wurden, aber nur 399 in den Jahren 1977–78,
264 von 1967–68, 175 von 1957–58, 256 von 1947–48 und 258 von
1937–388. Der Jockey Club, der bevorzugt die Nachfahren der großen
adligen Familien aufnimmt, »wobei Diplome, Orden, Talent und Stellung noch immer nicht den zur Aufnahme notwendigen und ausreichenden Paß darstellen«9, das juristische und soziale Nicht-Sein, bildet
den letzten sozusagen ausschließlich aristokratischen Zirkel. Obwohl
relativ verknöchert und starr, ist er dennoch nicht vollkommen aus der
Mode; 1989 zählte er 1111 zahlende Mitglieder und nahm in den letzten Jahren 30–40 neue Mitglieder jährlich auf, wobei der Seltenheitswert dieser aristokratischen Elite aufrechterhalten wird. Noch bezeichnender ist, daß Hochzeiten, vor allem in der Provinz, in sehr vielen Fällen weiterhin zwischen Nachfahren des Adels stattfinden. Viele Anzeichen lassen vermuten, daß diese letzteren öfter als zunächst zugegeben
7
8
9
*
10
Vgl. A. Mayer, Adelsmacht und Bürgertum. Die Krise der europäischen Gesellschaft
1848–1914, München, Oscar Beck, 1984.
»Assemblé générale du jeudi 17 novembre 1988«, Bulletin de l’ANF, 198, Januar
1989, S. 19.
F.-X. de Vivier, »Editorial«, Le Courrier du Jockey Club, 10, Dez. 1990, S. 6.
Im Anhang findet sich ein Glossar mit den deutschen Übersetzungen der französischen Abkürzungen.
an die Existenz des Adels oder vielmehr der Adligen glauben, und daß
sie vor allem auf die eine oder andere Weise einen Unterschied, das
heißt eine Überlegenheit gegenüber Nicht-Adligen empfinden, und
daß sie spürbar andere Praktiken als diese pflegen, sowohl was Art und
Formen der Erziehung betrifft, wie auch Ort und Art des Wohnens
oder der beruflichen Tätigkeiten und Freizeitgestaltung, wobei sie gerne
mit der relativen Unbestimmtheit von Status und Position spielen10.
Wie läßt sich erklären, daß die Nachfahren einer Gruppe, die weder
rechtlich noch gesetzlich weiterexistiert, die, wenigstens offiziell, keine
Anerkennung oder Garantie des Staates mehr genießt, die vom republikanischen Denken und den egalitäre Prinzipien proklamierenden, republikanischen Institutionen abgelehnt wird, in nicht geringem Ausmaß fortfährt, auf vielfältige Weise den Schnitt zu dokumentieren, der
sie von anderen Milieus trennt und sich innerhalb eines relativ geschlossenen Kreises zu reproduzieren?
Ein Phänomen des Glaubens
»Die Zugehörigkeit zum Adel und das daraus abgeleitete Prestige sind
vor allem Meinungstatsachen« schreibt Alain Plessis als Einleitung zu
einer Untersuchung über die Adligen und Aktionäre der Banque de
France zwischen 1800 und 191411. Es handelt sich dabei zweifellos um
»Meinungsphänomene«, wie auch von mehreren Forschern festgestellt
wird, die allgemein nicht zögern, kategorisch die Existenz eines »wahren« Adels und eines »falschen« oder »Scheinadels« zu behaupten, ohne
zu bemerken, daß diese Kategorien nicht vorgegeben sind und niemals
10
11
Ein Grenzbeispiel dafür liefern François de Negroni und Jean-François Desrousseaux de Vandières, die in ihrem Werk eine Reihe halb fiktiver, halb realer Dialoge in der Form von »Gesellschaftsspielen« mit den Nachfahren des Adels bieten.
Einer davon, Antoine de Castagnola genannt, ist »Soziologe und Marxist« und hat
mehrere beachtete Werke verfaßt; darüber befragt, wie »ein ›linker‹ Intellektueller
mit seiner Zugehörigkeit zum Adel leben kann«, antwortet Antoine de Castagnola:
»Ohne größere Zerreißproben, da können sie beruhigt sein. Meine sogenannte
Adligkeit stellt kein schwerlich zu verwaltendes symbolisches Kapital dar. Sie läßt
sich für mich in einigen netten Kindheitserinnerungen, der Zuneigung alter Menschen, die täglich für mein Seelenheil beten, einer unverbaubaren Sicht in meinem
Dorf und gewissen günstigen Umständen zusammenfassen«. Vgl. F. de Negroni, J.
F. Desrousseaux de Vandières, Le comte de Mirobert se porte comme un charme. Voyage dans la noblesse française, Paris, Olivier Orban, 1987, S. 158.
A. Plessis, »Nobles et actionnaires de la Banque de France de 1800 à 1914«, in: Les
noblesses européennes au XIXe siècle, Rome, École Française de Rome, Universita
di Milano, 1988 (Collection de l’École française de Rome 107).
11
ein für alle Mal vorgegeben waren und so zum Streitobjekt12 werden
können. Vor allem handelt es sich dabei jedoch, wie man sehen wird,
um Glaubensfaktoren, die nicht übertragbar wären, gäbe es nicht sozial
eingeführte Bestimmungen oder Habitus, die auf unterschiedliche Weise dazu bestimmt und darauf eingerichtet sind, diesen Glauben weiterzuentwickeln und zu stärken13. »Mit der Fiktion des adligen Blutes verbindet sich für die Adelsträger eine aufrichtige Überzeugung sie glauben
wirklich, ihre Gruppe sei der wertvollste, unersetzlichste und zugleich
der aktivste und wohltätigste Teil des Sozialkörpers, er sei in gewissem
Sinne die raison d’être der Gesellschaft. Man muß diesen Glauben analysieren, der sich nicht einfach auf kollektiven Größenwahn zurückführen läßt«, schrieb Maurice Halbwachs14. »Die Hauptsache«, präzisierte
er im Bezug auf die Adelstitel, »ist die Fiktion der Kontinuität der Titel,
die Meinung, daß sie sich von Generation zu Generation mit den persönlichen Qualitäten, die sie darstellen, weitervererben, so daß ihre
heutigen Inhaber die Großtaten derjenigen, die sie zuerst erlangten, für
sich reklamieren können«15. Die Grundlagen dieses Glaubens an die
Existenz eines wesentlichen Unterschiedes zu denen, die nicht dem
Adel entstammen, der sich auf Geburt und Herkunft stützt und der sich
im Lauf der Jahre und Jahrhunderte langsam zersetzt und verändert,
wollen wir ans Tageslicht zu bringen versuchen, indem wir sie an den
entsprechenden Stellen – Schlösser, Denkmäler, aber auch Lexika, literarische Werke, Zeitschriften – oder innerhalb mehr oder weniger institutionalisierter Gruppen – Zirkel, Clubs, Rallyes, Vereine – suchen;
ebenso wollen wir versuchen, die Ausdrucksweisen, Rechtfertigungen
und Behauptungen dieses Glaubens zu erfassen, indem wir die Strategien von Erziehung, Eheschließungen, die Umwandlungsstrategien der
Akteure und der Familien, die unterschiedlichsten regelmäßigen oder
episodischen Praktiken, – ehrenamtliche Tätigkeiten, Sport, Politik, die
mehr oder weniger öffentlichen oder privaten Diskurse zum internen
12
13
14
15
12
Vgl. A. Daumard, »Diversité des milieux supérieurs et dirigeants«, in: Histoire économique et sociale de la France, unter der Leitung von F. Braudel und E. Labrousse,
Bd. III, L’avènement de l’ère industrielle (1789 – années 1880), Vol. 2, Paris, PUF,
1976, S. 932, Anm. 1. Vgl. auch L. Girard, A. Prost, R. Gossez, Les conseillers généraux en 1870. Étude statistique d’un personnel politique, Paris, PUF, 1967, S. 116.
Die nicht-adligen Habitus, die bereit sind, das Bestehen von Unterschieden anzuerkennen und die Existenz einer besonderen, von Natur aus von den anderen
unterschiedenen Gruppe zuzulassen, sind nicht weniger notwendig.
M. Halbwachs, Das Gedächtnis und seine sozialen Bedingungen, Frankfurt am Main,
Suhrkamp, 1985, S. 304
Ibid., S. 315.
Gebrauch – Familie, Gruppe, Zirkel –, zum externen Gebrauch – nicht
zur Gruppe gehörender Soziologe, Schloßbesucher etc. –, oder auch
zum gemischten oder intermediären Gebrauch, zum Beispiel gegenüber
einem von einem Mitglied der Familie empfohlenen Journalisten oder
einem der Gruppe entstammenden Soziologen, analysieren.
Der Raum des Adels
Dieser Glaube ist stark erschüttert worden: Die Revolution war »der
erste Angriff gegen Werte die, für alle Ewigkeit, selbstverständlich zu
sein schienen«16; der Erste Weltkrieg hat in den Erinnerungen und Darstellungen der Aristokraten das Ende einer Epoche bezeichnet, und der
Zweite Weltkrieg hat bei vielen Aristokraten endgültige Gewißheit entstehen lassen; andere Momente oder Rupturen – die Gründung der
III. Republik oder die Volksfront, um nur diese zwei Beispiele zu nennen – haben stark dazu beigetragen, diesen Glauben zu schwächen oder
anzugreifen, der sehr oft vom Glauben an die Existenz einer kollektiven
Person, dem »Adel«, zum Glauben an einen Unterschied, der die Adligen von den Nicht-Adligen trennt und zum Glauben an die Existenz
der Adligen geworden ist; Skepsis und Zweifel bilden sich vor allem bei
den jungen Generationen, und das Spektrum der Überzeugungen, Erklärungen und Positionen hat sich sehr verbreitert. Dennoch lassen sich
die Nachfahren des Adels weder als heterogene und zersplitterte Ansammlung oder als Kreis von Individuen adliger Abstammung analysieren, die gemäß den Zufällen der Existenz oder den Mißgeschicken ihrer
Familien Offizier oder Stationsleiter bei der R.A.T.P. (Pariser Verkehrsbetriebe, A.d.Ü.), Bankier oder Surfer, Akademiker oder Akkordsetzer17 geworden und einzeln zu porträtieren sind, noch lassen sie sich als
reale Gruppe oder homogene Gesamtheit fassen. Wir wollen vielmehr
versuchen, sie als Raum oder den Teil eines Raumes von Gruppen und
Fraktionen zu begreifen, die über mehr oder weniger symbolisches, adliges und soziales Kapital, über ein mehr oder weniger umfangreiches,
sich verminderndes oder konsolidierendes ökonomisches Erbe, über ein
kulturelles Kapital mit familialem Schwerpunkt oder schulischem Bestandteil etc. verfügen, und die unterschiedliche Praktiken und Strate16
17
Vgl. J. Revel, Présentation de: E. Mension-Rigau, L’enfance au château. L’éducation
familiale des élites françaises au XXe siècle, Paris, Rivages, 1990, S. XVI.
Es handelt sich um einen in den neueren Untersuchungen über den Adel sehr
geläufigen Ansatz. Zu einem beispielhaften Fall vgl. F. de Coustin, Gens de noblesse
aujourd’hui, Paris, Flammarion, 1989.
13
gien übernehmen, in ihren Diskursen Autozelebration oder, im Gegenteil, Ablehnung pflegen, wobei jede Fraktion oder Gruppe ihrerseits
eine Unterabteilung des Raumes bildet.18
Der seit 1750 eingeleitete und mit dem Zeitpunkt der Revolution
beschleunigte zahlenmäßige Rückgang des Adels, der sich seitdem unregelmäßig fortsetzt, das Ende zahlreicher Familien, das Fehlen einer
offiziellen Erneuerung der Kategorie (im Gegensatz beispielsweise zu
England) haben starke Auswirkungen auf die Prinzipien der Strukturierung und der Differenzierung dieses Raumes; die von der Auslöschung
und vom Verschwinden am stärksten bedrohten Familien können dazu
getrieben werden, entweder jegliches Gefühl adliger Identität aufzugeben oder, im Gegenteil, stärker als die anderen ihre Zugehörigkeit zum
Adel geltend zu machen und sich somit denen entgegensetzen, die sich
progressiv in das Bürgertum und die Mittelklassen integrieren.
Die Grenzen des Raumes des Adels, die bis heute nie allgemeingültig
festgelegt wurden, sind sehr fließend und unbestimmt geworden. Die
Diskrepanzen zwischen den unterschiedlichen Einschätzungen und
Darstellungen der Bedeutung des Adels sind sehr groß und geben zu bedenken, daß der Anspruch, Grenzen zu ziehen oder etwa der Versuch
einer Bestimmung, wer zum Adel gerechnet werden muß und wer
nicht, ein vergebliches Unterfangen darstellt. Entsprechende Untersuchungen sind nicht weniger zahlreich. Für Gérard de Sède erscheint die
Anzahl von 25.000 Familien im Jahr 1789, das sind zwischen 100.000
und 150.000 Einzelpersonen, und 2.797 im Jahr 1969, mit einer
Spannweite von 12.500 bis 40.000 Einzelpersonen ziemlich wahrscheinlich19. Nach Etienne de Séreville und Fernand de Saint Simon
wurden 1900 5.033 adlige Familien gezählt, und 4.057 zu Beginn des
Jahres 1975, »bei denen das Prinzip des französischen Adels als regulärer, legitimer und übertragbarer Adel festgestellt und akzeptiert werden
kann«.20 Régis Valette gibt die Zahl von 3.600 adligen Familien für
1959 sowie 3.500 für 1977 an und schätzt, daß mehr als 10.000 Familien »– zumindest aus profaner Sicht – über Adelsprädikate und Titel
die äußeren Zeichen des Adels« führen21. Nach François de Negroni
18
19
20
14
Die in den Werken über »den Adel« häufige Verwendung von Begriffen wie »die
Aristokraten«, »die Adligen« oder auch »die Nachfahren des Adels« stellt eine ökonomische Lösung auf der Ebene des Schreibens dar, auf die wir häufig zurückgegriffen haben, um die Lektüre nicht zu schwer zu machen, ist jedoch soziologisch
in der Hinsicht wenig befriedigend, als sie dazu beitragen kann, die Illusion von
Zeitlosigkeit und Homogenität hervorzurufen.
Vgl. G. de Sède, Aujourd’hui les nobles…, Paris, Alain Moreau, 1975. S. 12.
E. de Séreville, F. de Saint Simon, La noblesse française en 1975, Paris, 1975, S. 22.
bilden 50.000 Familien eine statuarische Gruppe, die sich der alten
Aristokratie zurechnet, und es werden ungefähr 400.000 Adlige oder
»Mondäne« gezählt, die »unerschütterlich die mit ihren besonderen
Verhältnissen verbundenen alten und neuen Riten praktizieren«.22
Dieser Raum, dessen Grenzen nun sehr ungenau sind, ist nicht mehr
so deutlich abgesteckt wie in der Vergangenheit, und die alten, erklärten Prinzipien der Unterscheidung des Adels wie Anciennität, Titel,
Adelsgattung (Schwertadel, Amtsadel, Adel von Herkunft etc.) reichen
nicht mehr aus, diese Unterschiede zu erklären: die verschiedenen Gattungen des Adels haben sich im Lauf der Zeit auf vielfältige Weise verbunden, und es existiert praktisch keine Familie mehr, von der sich sagen ließe, daß sie ausschließlich aus Nachfahren des Schwertadels oder,
als Gegenbeispiel, aus Nachfahren des Amtsadels bestünde; darüber hinaus stellen diese Unterschiede auf der Mehrzahl der beruflichen oder
sonstigen Märkte keinen Wert mehr dar; dennoch sind sie nicht alle
vollkommen verschwunden, weder zum selben Zeitpunkt, noch im selben Rhythmus. Obwohl der Unterschied zwischen Schwertadel und
Amtsadel bereits im 18. Jahrhundert viel von seiner Bedeutung verloren
hat, ist er dennoch nicht ganz bedeutungslos geworden, und die vom
wirtschaftlichen Aufschwung begünstigte Diskrepanz zwischen einer
sehr begüterten Hocharistokratie und einem Kleinadel verarmter Landedelleuten hat noch lange nicht seine ganze Kraft verloren. Tatsächlich
ist heute der Abstand zwischen den berühmten, mit der internationalen
Aristokratie und dem Großbürgertum verbundenen Adelsfamilien und
den oft zum Niedergang verurteilten Familien des provinziellen Kleinadels sehr groß. Zudem gibt es eine häufig in Paris anzutreffende Gruppierung, oft rekonvertiert und relativ reich an hauptsächlich kulturellem, aber auch ökonomischem Kapital, mit der Tendenz, sich nicht
mehr als adlig zu verstehen, und die sich von einer anderen, größeren
Gruppierung mit eher provinziellem Schwerpunkt unterscheidet, die
über wesentlich mehr symbolisches als über kulturelles und schulisches
Kapital verfügt, und die manchmal Neigung zeigt, sich bezüglich der alten Werte des Adels (Rückkehr ins Schloß der Vorfahren, Rückzug auf
die Ahnenreihe, Integralismus etc.) gegenseitig zu überbieten.
21
22
R. Valette, Catalogue de la noblesse française, Paris, Laffont, 1989, S. 9.
Vgl. F. de Negroni, La France noble. Vorwort von Henri Lefebvre, Paris, Le Seuil,
1974. S. 17–19. (Die Statistiker beziffern die Anzahl derer »mit Adelsprädikat« auf
0,4 % der französischen Bevölkerung, das ist ein wenig mehr als das Doppelte des
»authentischen« Adels, schreibt Régis Valette, vgl. R. Valette, Catalogue de la
noblesse française, op.cit., S. 18).
15
Wenn man den Adel somit nicht als Raum mit mehreren, mitunter
antagonistischen Gruppen begreift, läuft man Gefahr, Eigenschaften
wie Ehrgefühl, Ausübung der Hetzjagd, des Reitsports oder die Neigung zu gesellschaftlichen Veranstaltungen und Empfängen zu Eigenschaften umzuformen, die dieser Gruppe des Adels eigen (oder natürlich zugeordnet) sind, und die ihr aufgrund ihrer Position im Raum des
Adels und aufgrund der Position dieses Raumes im sozialen Raum als
Raum der Beziehungen zwischen den Positionen selbst zustehen, wobei
diese wiederum mit bestimmten Tätigkeiten oder Praktiken verbunden
sind, welche im Raum der Praktiken und Tätigkeiten oder Lebensstile
relational gekennzeichnet sind.
Wenn die verschiedenen Gruppen des Adels noch heute in Konkurrenz treten können, wenn es darum geht, eine Darstellung oder Definition des Adels (die dem Blut, dem Alter, dem Verdienst, den inneren
Qualitäten etc. mehr oder weniger Bedeutung zumißt) sowie einen Lebensstil oder mehr oder weniger aristokratische Werte vorzuschreiben,
schließt das eine gewisse Komplementarität, d.h. einen gewissen, gern
bestätigten Zusammenhalt, vor allem gegenüber »Parvenus« oder »Neureichen« nicht aus.
Es wäre zweifellos verfrüht, von einem totalen Zerfall oder einer Auflösung des Adels zu sprechen, selbst wenn dieser Prozeß weiter fortgeschritten ist als zum Beispiel in Deutschland, wo der Adel im 19. Jahrhundert den Beweis »einer Solidarität und eines inneren Zusammenhaltes, der weit über das hinausgeht, was in Frankreich beobachtet wird«23,
liefert. Die Nachfahren des Adels, vor allem diejenigen, welche zu den
konservativsten Gruppen gehören, neigen in der Tat dazu, sich heute
noch so zu betragen, als ob sie einem Korps zugehörten, und dies um so
mehr, als ihre symbolischen Interessen im Spiel sind. Wenn sie sich in
ihrer Ehre angegriffen fühlen, ob es sich dabei nun um den Versuch
23
16
E. Fehrenbach, »La noblesse en France et en Allemagne à l’époque révolutionnaire.
Évolution économique, sociale et politique«, in: H. Berding, E. François, H.-P. Ullmann, La Révolution, La France et l’Allemagne. Deux modèles opposés de changement
social?, Paris, Ed. de la Maison des Sciences de l’Homme, 1989, S. 187. Der preußische Adel hatte ein besonders entwickeltes Kastenwesen und triumphierte immer
bei der Verteidigung gegen die Bedrohungen, die von anderen sozialen Gruppen
ausgingen, da er, nach Werner Mosse, mit der Fähigkeit ausgestattet war, den anderen sozialen Gruppen für ihn günstige Kompromisse aufzuzwingen. Vgl. W. Mosse,
»Adel und Bürgertum im Europa des 19. Jahrhunderts. Eine vergleichende
Betrachtung«, in: J. Kocka Hrsg., Bürgertum im 19. Jahrhundert. Deutschland im
europäischen Vergleich, München, Deutscher Taschenbuch Verlag, Bd. 2, 1988,
S. 276–314.
handelt, ihren Namen für Werbe- und andere Zwecke zu benutzen, um
den Verkauf des Stammschlosses durch einige Familienmitglieder oder
um die Verbreitung einer Darstellung des Namens oder der Familie, die
nicht mit der von ihnen für richtig gehaltenen und vertretbaren Darstellung vereinbar ist, neigen sie dazu, weniger als Individuen oder Familienmitglieder, sondern als Mitglieder eines Korps oder einer einen
gewissen Zusammenhalt ausdrückenden Gemeinschaft mit eigenen
Funktionsmechanismen, Spielregeln und Werten zu handeln, was aber
nicht ausschließt, daß sie unter den Bedingungen des beruflichen und
täglichen Lebens unabhängig voneinander handeln. Es kann geschehen,
daß sich Nachfahren des Adels, die im gleichen Betrieb oder Unternehmen tätig sind, offensichtlich ignorieren oder manchmal gar nicht kennen, was bei Absolventen der Polytechnique, der ENS oder der ENA
kaum der Fall wäre. Vor allem können sie, je nach Lage, Gesprächspartner oder Notwendigkeit, gleichzeitig auf den Umstand setzen, daß sie
nicht zum Adel gehören, da dieser nicht mehr existiert, und daß sie
Nachfahren desselben und ihm etwas schuldig sind, und sei es nur der
Name oder bestimmte Tätigkeiten, oder eine gewisse Erziehung, oder,
darüber hinaus, Verpflichtungen und Aufgaben, wie sie gerne wiederholen.
Forschungsgeschichte und Methoden
»Eine große Familie«, die Familie Brissac, war Ausgangspunkt dieser
Untersuchung24. Der Herzog von Brissac, Träger eines der glänzendsten Titel und Namens, Erbe einer einflußreichen Familie, sehr begütert, Angehöriger des Militäradels, der »Frankreich seit 500 Jahren
dient«, Absolvent der École Polytechnique, Generaldirektor von
Schneider-Westinghouse (einem Unternehmen der Schneider-Gruppe), verheiratet mit May Schneider, die einer der größten Hüttendynastien entstammt, ist die Verkörperung vollkommener Aristokratie und
steht in dieser Eigenschaft für die beispielhafte Wirklichkeit seiner
Gruppe; gleichzeitig vereint er eine Reihe besonders seltener Eigenschaften (Alter des Adelsgeschlechtes, Titel eines Herzogs, Gewicht des
ökonomischen, kulturellen, sozialen und symbolischen Kapitals). Als
beispielhafter Fall erscheint er in diesem Werk immer wieder und bildet
eine seiner Stützen.
24
M. de Saint Martin, »Une grande Famille«, Actes de la recherche en sciences sociales,
31, Januar 1980, S. 4–21.
17
Die Untersuchung anderer Familien der Landaristokratie, die nicht
die Bedeutung und Berühmtheit der Familie Brissac besitzen, hat es ermöglicht, das Bild vielseitiger zu gestalten und, vielleicht noch darüber
hinaus, die Bedeutung des symbolischen Kapitals, vor allem bei der Erklärung der Heiratsstrategien, aber auch der Ausbildungs- und Rekonversionsstrategien, sowie das Verhältnis dieser Familien zur Vergangenheit, zum Raum, zu ihrem Namen oder den Glauben an die Existenz
des Adels hervorzuheben. Parallel zu monographischen Untersuchungen aristokratischer Familien wurden Analysen von Memoiren, Romanen, Biographien und Genealogien vorgenommen, die größtenteils in
diesem Jahrhundert verfaßt wurden und meist die offizielle Darstellung
oder Familiengeschichte bilden25.
Das Interesse an der Untersuchung und dem Verständnis der Rekonversionsprozesse sowie an einer Analyse der Verwaltung des sozialen
und symbolischen Kapitals gründet sich in hohem Maß auf meine persönliche Erfahrung, die eine weitere, sicher weniger offensichtliche, aber
dennoch wichtige Stütze dieses Werkes bildet. Eingehende, von Claire
Givry geführte und in Zusammenarbeit mit ihr analysierte Gespräche
mit Nachfahren adliger Familien, die beruflich in Werbung, Public Relations, Kommunikation, Rundfunk und Fernsehen tätig sind, haben es
ermöglicht, die Analyse der Rekonversionsfaktoren zu präzisieren und
haben vor allem die Spannungen und das Zögern einer bestimmten Anzahl unter ihnen aufgezeigt; je nach Umstand oder Art der Befragung
verstehen sich in diesen Berufszweigen tätige Aristokraten als Adlige
oder geben im Gegenteil an, nichts oder beinahe nichts mit dem Adel
zu tun zu haben. Diese Zweifel, diese offensichtlichen Widersprüche,
diese Verneinungen, diese oftmals zweideutigen Positionen sind nicht
nur bei den Aristokraten vorhanden, die sich am stärksten in einem Rekonversionsprozeß befinden. Es ist vorgekommen, daß sie auch in den
konservativen, traditionellen Institutionen zu Tage treten.
Um zu verstehen, wie der Glaube an die Existenz, wenn nicht des
Adels, so wenigstens an Unterschiede oder einen von anderen Gruppen
trennenden Spalt, mitsamt zahlreicher Widersprüche entsteht und sich
reproduziert, war es notwendig, nicht nur die Praktiken, die bewußten
oder unbewußten Strategien und den Lebensstil der Familien zu untersuchen, sondern auch die Institutionen, die zum Unterhalt und zur
Entwicklung eines Gefühls des Unterschiedes beitragen: Zirkel, Clubs,
Vereine, Zeitschriften, Verlage, Privatschulen etc. Mit Inhabern wich25
18
Diese Arbeit wurde zu einem Großteil in der Bibliothek des Jockey Clubs verfaßt.
tiger Positionen in folgenden Institutionen und Vereinen wurden ausführliche Gespräche geführt: Association d’entraide de la noblesse française, Jockey Club, L’Éventail, La demeure historique sowie mit Autoren von adelsbezogenen Nachschlagewerken oder Werken über den
Adel.
Zum Versuch der Beschreibung und, wenn möglich, der Konstruktion des Raums des Adels und seiner verschiedenen Fraktionen zum
heutigen Zeitpunkt war es notwendig, über Informationen zu verfügen,
die sich nicht auf einen repräsentativen Ausschnitt dieser Bevölkerungsgruppe beschränken, was im Fall dieser Untersuchung kaum sinnvoll
wäre, sondern die eine ausreichend diversifizierte Gesamtheit von,
wenn nicht Familien, dann wenigstens Einzelpersonen, die innerhalb
dieses Raumes verschiedenen Positionen einnehmen, einbeziehen26.
Die Analyse eines Ausschnittes von 818 Mitgliedern der Association
d’entraide de la noblesse française, deren Auswertung von Salah Bouhedja auf der Grundlage der im Jahrbuch dieser Gesellschaft aufgeführten Angaben (Name des Ehegatten, Zahl der Kinder, Diplom und Beruf, Adresse, Orden etc.) durchgeführt wurde, hat Daten über die
Gruppe der Adligen geliefert, die oft noch in der Provinz residiert, eine
bedeutende Zahl von Grundbesitzern, Offizieren sowie leitenden Angestellten umfaßt, die ihrem Adel ein Maximum an Bedeutung zumißt
und die sich relativ explizit als adlig bezeichnet – um dem Verein beitreten zu können, muß man die Beweise der Verbundenheit mit dem
Adel gesammelt und bekanntgegeben haben. Die Untersuchung einer
Auswahl von 323, im Who’s who in France von 1989 aufgeführten Trägern adliger Titel oder von Namen mit Adelsprädikat, deren Auswertung ebenfalls von Salah Bouhedja durchgeführt wurde, hat es gestattet,
einen Raum mit stärker diversifizierten Positionen zu erstellen als es auf
der Grundlage des Jahrbuchs der ANF möglich war. Auch wenn das
Who’s who seine Auswahl unter den bekanntesten Aristokraten sowie
besonders unter den beruflich Erfolgreichsten trifft (hohe Beamte, Generaldirektoren, Unternehmensleiter, die oft in und um Paris wohnhaft
sind) und im wesentlichen den provinziellen Kleinadel nicht berücksichtigt, fehlen die ihren Prärogativen und Ursprüngen verbundenen
Nachfahren adliger Familien dennoch nicht darin – 12 % der im Who’s
who aufgeführten Aristokraten sind Mitglieder der ANF.
26
Das Fehlen statistischer Daten oder genauer Untersuchungen über die Zusammensetzung und Entwicklung des Adels erschwert noch die Probleme der Untersuchung. Die Erstellung eines »repräsentativen« Ausschnittes ist tatsächlich unmöglich.
19
Die Untersuchung beansprucht nicht, umfassend oder methodisch
unfehlbar zu sein27; der Untersuchungsbericht hütet sich vor a posteriori gegebenen Rechtfertigungen, die den Eindruck vermitteln sollen,
daß das gesammelte Material, die vorgestellten Daten und Analysen
nicht treffender oder gerechtfertigter sein könnten28. Der Raum des
Adels beschränkt sich nicht auf die hier analysierten Gruppen. Die Liste
der noch durchzuführenden Untersuchungen (über die Nostalgiker der
Monarchie, die Randgruppen und die Deklassierten, die Adligen und
die Armee, die Beziehung der Nachfahren des Adels zur Kunst, zum
Geld oder den Banken, die ökonomische Übertragungsmechanismen
etc.), der noch zu führenden Gespräche, der Mißerfolge, Enttäuschungen oder unbeantworteten Fragen, der Fragen, die man hätte stellen sollen, aber die zu stellen nicht möglich schien, wäre umfangreich. War es
notwendig, jeglicher Neugier nachzugeben oder mußte man manchmal
die Befragung beenden, um die hergestellte Verbindung nicht abzubrechen? Das Abwägen von Kosten und Nutzen, der möglichen Risiken,
annehmbarer oder nicht annehmbarer Kompromisse bleibt meist unsicher. Die Behandlung und die Analyse der Forschungsziele lassen ebenfalls zahlreiche, nicht beantwortete Fragen offen; die aus dem Kontext
gerissenen, als Beispiele oder Beweise verwendeten Auszüge aus Gesprächen dienen oft genug nur denen als Beispiele oder Beweise, die darin
eine Bestätigung ihrer Argumentation suchen.
Das methodische Sammeln von Informationen aus den verschiedenen Jahrbüchern, biographischen Lexika, Genealogien, die durch eige27
28
20
Über den Nutzen einer Methode, die, auf nach außen hin anarchische Art, so
unterschiedliche Methoden wie Gespräche, die eine Etablierung vertraulicher und
fruchtbarer Beziehungen zwischen dem Soziologen und seinem Informanten nicht
ausschließen, das Sammeln statistischer Daten, die Lektüre vergessener Werke, die
heimliche Beobachtung von Treffpunkten oder Zeremonien, die Analyse von Zeitschriften oder Fernsehsendungen etc. miteinander verbindet und die »scheinbar
ohne Methode« wäre wenn, wie Luc Boltanski beobachtet, »die Berichte der Ethnologen aus der Feldforschung uns nicht gelehrt hätten, daß die Wege zur eingeborenen Erkenntnis bisweilen unvorhersehbar und niemals gerade sind«, vgl. L. Boltanski, Les cadres. La formation d’un groupe social, Paris, Minuit, 1982, S. 8–9. Es
wäre übrigens illusorisch zu glauben, daß es möglich ist, die genaue Wirkung dieses
Werkes auf den Prozeß der Produktion und/oder die Zerstörung des Glaubens an
die Existenz des Adels und, mehr noch, der »natürlichen« Unterschiede vorherzusehen, welche die Gräben zwischen Individuen schaffen, die außer der Geburt nichts
voneinander trennt.
Ohne Würdigung der Schreibarbeit, der Überarbeitung und der Diskussionen, die
diese Arbeit begleitet haben, wäre der Forschungsbericht unvollständig. Ich bestehe
darauf, vor allem Luc Boltanski, Patrick Fridenson und Jacques Revel für ihre zahlreichen Vorschläge und ihre kritischen Anmerkungen zu danken.
ne Erfahrung nicht oder nur ungeordnet geliefert werden, die Anhäufung scheinbar nichtsagender Tatsachen und Daten aus den Gesprächen oder Werken, die statistische Auswertung von Daten aus Jahrbüchern oder Lexika, der Vergleich der verschiedenen Diskursgattungen,
je nachdem ob sie zu mehr oder weniger offiziellen oder feierlichen Anlässen oder »privat«29 stattfinden, ob sie mehr oder weniger defensiv
und darauf bedacht sind, Rechtfertigungen auch des am wenigsten
Rechtfertigbaren zu liefern, oder ob sie gewollt entspannt gehalten sind,
entsprechend auch der zum Befrager hergestellten Beziehung, sowie
verschiedene Arten von Daten haben es wenigstens ermöglicht, die versteckten Beziehungen aufzudecken und einige Schlüssel oder notwendige Elemente zur Objektivierung und zum Verständnis der Funktionsweise des aristokratischen Raumes zu liefern30. Es gilt jedoch, nicht nur
die Statistiken, Genealogien, Memoiren, Texte oder Diskurse zu untersuchen und zu vergleichen, sondern auch das Schweigen, das Ungesagte
und die Themen, von denen sich die Nachfahren des Adels zu sprechen
hüten. Die schriftstellerisch Tätigen unter ihnen fühlen sich ermächtigt
und gehen oft davon aus, den jüngeren Generationen ein beispielhaftes
Leben vorstellen zu können, sei es das ihre oder das dieses oder jenes berühmten Vorfahren. Sie sind keine Wortführer, gehören jedoch zum
höchsten Adel, zu den Eignern eines bedeutenden adligen Kapitals, oft
auch zum ältesten Adel, kurz zu denjenigen – meist Männern – die
kaum an ihrer Legitimität und am Nutzen dessen, was sie schreiben,
zweifeln31. Es ist viel schwieriger, den Standpunkt oder die Gefühle und
Überzeugungen derer kennen zu lernen und sie zu politischen Einstel29
30
31
Zu einer vertieften und klaren Analyse verschiedener Typen von Diskursen und
Zeugnissen, die von Zeugenaussagen von Frauen, welche die Konzentrationslager
überlebt haben und für die gerichtlichen Aussagen anläßlich der gegen die Nazis
angestrebten Prozesse von außen darum ersucht wurden, bis zu »spontan getätigten« Zeugnissen im Fall von autobiographischen Erzählungen reichen, einschließlich zwischen den beiden Extremen liegenden Zeugenaussagen mit mehr oder
weniger historischer oder wissenschaftlicher Bedeutung, vgl. M. Pollack, L’expérience concentrationnaire. Essai sur le maintien de l’identité sociale, Paris, Métailié,
1990.
Die noch aktuelle Wirkung des Adelstitels hätte zum Beispiel nicht aufgezeigt werden können, wenn man sich diesbezüglich nur an die Äußerungen der Titelträger
gehalten hätte, die zu der Feststellung neigen, daß dieser Titel nichts mehr wert sei,
und wenn es nicht möglich gewesen wäre, sie mit der Analyse der Daten des Jahrbuchs der ANF zu konfrontieren, was nicht heißt, daß die Äußerungen der Betroffenen nicht berücksichtigt werden müssen.
Der Herzog von Brissac, der in dieser Hinsicht einen Grenzfall darstellt, zögert
nicht, die Ereignisse des Lebens seiner Familie oder seines eigenen Lebens auf der
gleichen Ebene wie den Bericht der großen Weltereignisse anzusiedeln.
21
lungen, Einkünften und Geld zu befragen, die sich sozial nicht ermächtigt fühlen zu reden oder zu schreiben, ob es sich nun um diejenigen
handelt, die eine Randposition innehaben, oder um diejenigen, deren
sozialer Abstieg weit fortgeschritten ist.
Ohne alle Kriterien erfassen zu wollen, die in verschiedenen historischen und soziologischen Untersuchungen oder Arbeiten der Adelstheoretiker zur Definition und Rechtfertigung des Adels berücksichtigt
wurden32, und ohne eine neue Definition des Adels vorzuschlagen, seine »Spezifität« zu charakterisieren, ihn einzugrenzen oder untersuchen
zu wollen, worin sich die Adligen von den Nicht-Adligen unterscheiden
könnten, soll im ersten Teil dieser Arbeit zunächst der Frage nach den
verschiedenen Mechanismen nachgegangen werden, die zur Produktion des Glaubens an die Existenz der Adligen und gleichzeitig zur Konstruktion ihrer Identität beitragen. Die soziologische Analyse ermöglicht es aufzuzeigen, daß die Aufmerksamkeit und das Interesse, welches
den Aristokraten und dem Umstand entgegengebracht wird, daß die
Nachfahren des Adels, oder wenigstens ein bedeutender Teil von ihnen,
weiterhin einen Unterschied zwischen sich und denen sehen, die nicht
aus der gleichen Gruppe hervorgegangen sind und sich ihnen überlegen
glauben, zu einem guten Teil daher kommt, daß dem von ihnen oft im
Überfluß gehaltenen und dank fortwährender Bemühungen erhaltenen
symbolischen und sozialen Kapital Wert beigemessen wird.
Anstatt mühsam der Frage nach der Verbürgerlichung des Adels
oder der Nobilitierung des Bürgertums33 oder dem eventuellen Verschmelzen des Adels und des Bürgertums nachzugehen, mit der sich
viele Forscher beschäftigen, die oft eher darauf bedacht sind, die Wahrheit zu sagen, die Realität zu fassen, das Gewicht ihres Standpunktes zu
betonen, sich der Bedeutung ihrer Position im sozialen und wissenschaftlichen Raum zu versichern als die beobachteten Phänomene zu
32
33
22
Zu einer Analyse der wichtigsten Rechtfertigungen des Adels im Ancien Régime
vgl. D. Richet, »Autour des origines idéologiques lointaines de la Révolution française : Élites et despotisme«, Annales, 1, janvier – Février 1969, insb. S. 2–14.
Man darf im übrigen die Bedeutung der Kontakte zwischen Adel und Großbürgertum nicht übertreiben, die nach Werner Mosse im 19. Jahrhundert in Frankreich
wie in Rußland, im Gegensatz zu England oder Deutschland, relativ selten waren.
In Frankreich war der auf kleinen Inseln des Faubourg Saint Germain oder in der
Provinz isolierte Adel ab 1830 nicht mehr im öffentlichen Leben anwesend, und
der Provinzadvokat oder bürgerliche Beamte hatten die Führungsrolle übernommen. Vgl. W. Mosse, »Adel und Bürgertum im Europa des 19. Jahrhunderts. Eine
vergleichende Betrachtung«, in: J. Kocka Hrsg., Bürgertum im 19. Jahrhundert.
Deutschland im europäischen Vergleich, op. cit., S. 276–314.
verstehen und zu erklären, soll in einem zweiten Teil versucht werden,
die bewußten oder unbewußten Praktiken und Strategien der Erziehung, der Eheschließungen (matrimoniale oder andere), der Rekonversion etc. der Adligen zu erklären, wobei besonders Umfang und Struktur des von ihnen verfügten Kapitals, vor allem des symbolischen und
sozialen, aber auch des ökonomischen und kulturellen Kapitals, und die
Entwicklung dieses Kapitals bei den unterschiedlichen Generationen in
Betracht gezogen wird. Wie und warum fahren die verschiedenen Fraktionen des Adels, bei denen die Ahnenreihe oder die Familie mehr oder
minder vollständig die Übergabe des symbolischen und ökonomischen
Kapitals und, noch weitergehend, ein System von Reproduktionsstrategie kontrollierte, welches der Weitergabe des Namens und »ewiger«
Werte zum Primat erhob, fort, sich in einer Gesellschaft zu reproduzieren, wo der Reproduktionsmodus mit familialem Schwerpunkt an Bedeutung verliert, und wo der Reproduktionsmodus mit schulischem
Bestandteil, der die Macht der Familie und der Ahnenreihe begrenzt,
der die Privilegien des Namens, der Klasse oder Gruppe ignorieren und
schulischen oder beruflichen Sanktionen sowie erworbenen Verdiensten Platz schaffen will, immer dominanter wird?
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