der deutsche kommunismus - Bayern gegen Linksextremismus

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der deutsche kommunismus - Bayern gegen Linksextremismus
DER DEUTSCHE KOMMUNISMUS
Von Klaus Schroeder und Jochen Staadt
Die Geschichte der extremen Linken im Allgemeinen und der
Kommunisten in (West-)Deutschland ist eine wechselvolle mit
Windungen, Brüchen und verwirrend vielen Abspaltungen. Von der SPD
und USPD zum Spartakusbund und der KPD, von der DKP über
Studentenorganisationen wie SDS und SHB bis hin zu diversen
sogenannten K-Gruppen. Übersichtlicher war die Lage nach 1945 in der
Sowjetischen Besatzungszone, wo eine „sozialistische Demokratie“
errichtet wurde. Hier galt bis zur Wende 1989/90 im Zweifelsfall das
Mantra: Die (kommunistische) Partei hat immer recht. Doch auch im
wiedervereinigten Deutschland hat die kommunistische Ideologie nur
wenig von ihrer Attraktivität und Verführungskraft eingebüßt.
Kommunismus in Deutschland seit 1918
Das von Marx und Engels 1847 beschworene Gespenst des Kommunismus geht in
Europa nicht mehr um. Der von Lenin 1919 ausgerufene Weltbürgerkrieg endete
1989/90 mit der Niederlage des europäischen Kommunismus. Die offenen und
demokratischen Gesellschaften des Westens erwiesen sich gegenüber der
kommunistischen Idee einer formierten Klassengesellschaft als die erfolgreicheren
und zukunftsfähigeren Gemeinwesen. Der verfassungsgestützten Verpflichtung auf
die allgemeinen Menschenrechte ist nun auch in jenen Ländern Mittel- und
Osteuropas Geltung verschafft, die von 1945 bis 1989/1990 unter sowjetischer
Kontrolle standen. Ausgerechnet im Jahr des 200. Geburtstags der Französischen
Revolution erkämpften sich die Bürger Ostdeutschlands wie schon zuvor die Bürger
Polens und Ungarns die elementaren, 1789 proklamierten Freiheitsrechte. Der 1917
angeschlagene hohe Ton einer kommunistischen Weltrevolution erstarb in
Deutschland sang- und klanglos mit dem Untergang des SED-Regimes im Herbst
des Jahres 1989. Der Spuk ist beendet.
Vierzig Jahre lang aber hatten Kommunisten den ehemals mitteldeutschen Teil des
1871 in Versailles ausgerufenen Deutschen Reiches beherrscht. Fast alle
kommunistischen Politiker, unter deren Verantwortung nach der militärischen
Niederschlagung des NS-Regimes in der sowjetischen Besatzungszone die neue
kommunistische Ordnung vorbereitet und in der 1949 gegründeten DDR unter
zentralstaatlicher Kontrolle auch durchgesetzt worden ist, erfuhren ihre politische
Sozialisation noch in der Spätphase des Kaiserreiches oder im Kampf gegen die
Weimarer Republik. Schon die Gründung der Kommunistischen Partei Deutschlands
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(KPD) erfolgte in scharfer Frontstellung gegen den Mehrheitswillen der deutschen
Arbeiterklasse.
Gegen Republik und Sozialdemokratie
Knapp zwei Wochen vor der KPD-Gründung tagte der Reichskongress aller Arbeiterund Soldatenräte Deutschlands im Preußischen Landtag zu Berlin. Das höchste
Organ der revolutionären Bewegung beriet vom 16. bis zum 21. Dezember 1918 in
der Hauptstadt über die Zukunft des Deutschen Reiches. Die Novemberrevolution
von 1918, die mit dem Kieler Matrosenaufstand am 4. November begann, hatte
innerhalb weniger Tage die Monarchie gestürzt und mit der Kapitulation
Deutschlands den Ersten Weltkrieg beendet. Der revolutionäre Aufstand gegen das
Kaiserreich verlief weitgehend friedlich. Die Arbeiter- und Soldatenräte, die überall im
Land die politische Selbstverwaltung in die Hand nahmen, sorgten mit Bedacht für
Ruhe und Disziplin unter ihren bewaffneten Anhängern. Kaiser Wilhelm II. hatte
abgedankt und war nach Holland geflohen. Seine letzte Reichsregierung übergab die
Macht dem Rat der Volksbeauftragten unter der Führung des Sozialdemokraten
Friedrich Ebert. Der Reichsrätekongress, in den die Arbeiter- und Soldatenräte aus
allen Teilen des Landes nach einem festgelegten Schlüssel ihre Delegierten entsandt
hatten, stand vor der Frage, ob Deutschland den Weg einer parlamentarischen
Demokratie beschreiten oder ob eine Räteherrschaft nach russischem Vorbild
errichtet werden sollte.
Die Idee einer sozialistischen Rätediktatur propagierte vor allem der Spartakusbund,
eine von Rosa Luxemburg und Karl Liebknecht geführte linke Abspaltung der
Sozialdemokratischen Partei Deutschlands (SPD). Der Spartakusbund strebte die
rasche Umwandlung der demokratischen Revolution durch einen sozialistischen
Umsturz an und hielt einen Bürgerkrieg für unausweichlich. Wer glaube, den
Bürgerkrieg vermeiden zu können, schrieb Rosa Luxemburg am 20. November 1918
in der Roten Fahne, opfere die Revolution kleinbürgerlichen Illusionen, »Bürgerkrieg
ist nur ein anderer Name für Klassenkampf«. Doch die Bürger in Deutschland wollten
alles andere als Bürgerkrieg, sie waren gerade aus dem bis dahin fürchterlichsten
und opferreichsten Krieg seit Menschengedenken herausgetaumelt. Frieden war die
Losung, unter der die Revolution am 4. November 1918 in der Reichskriegsflotte vor
Kiel ausbrach und die in Windeseile innerhalb weniger Tage das ganze Land
erfasste. Der Spartakusbund blieb in der demokratischen Revolutionsbewegung von
1918 isoliert. Karl Liebknecht und Rosa Luxemburg wurden nicht einmal als
Delegierte in den Reichskongress der Arbeiter- und Soldatenräte gewählt.
Wesentlich wichtiger als der kommunistische Spartakusbund war in dieser für die
Zukunft des damaligen Deutschen Reiches entscheidenden Situation die
Unabhängige Sozialdemokratische Partei Deutschlands (USPD). Sie hatte sich 1916
von der SPD abgespalten, nachdem die sozialdemokratische Reichstagsfraktion sich
wiederholt zur Bewilligung von Kriegskrediten und damit für die Weiterführung des
Ersten Weltkriegs bereit gefunden hatte. Der Spartakusbund gehörte der USPD als
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eigenständige Gruppe an. Die Mitglieder der USPD sympathisierten mehrheitlich
durchaus mit der russischen Revolution und der erfolgreichen Machtergreifung durch
die Bolschewiki.
Die Arbeiter- und Soldatenräte wandten sich auf ihrem Berliner Kongress schließlich
mit 344 zu 89 Stimmen gegen die von USPD, Spartakusbund und anderen linken
Splittergruppen geforderte Errichtung eines Rätesystems. Am Ende sprachen sich
die Delegierten mit einer Mehrheit von 400 gegen 50 Stimmen für die Einberufung
einer verfassungsgebenden Nationalversammlung am 19. Januar 1919 aus. Das war
die Geburtsstunde der Weimarer Republik.
Rosa Luxemburg beschimpfte die Delegierten des Reichsrätekongresses als »Eberts
Mamelucken«, als »williges Werkzeug der Gegenrevolution« und rief in völliger
Verkennung der Lage die Räte im Reich dazu auf, die Entscheidung der »ungetreuen
Vertrauensmänner für null und nichtig« zu erklären. Die Räte folgten solchen
Aufrufen der linken Radikalen jedoch nicht. Der Spartakusbund ignorierte die breite
Ablehnung seines Programms durch die Vertretungen der Arbeiter und Soldaten und
hielt an der Illusion fest, dass die Herbeiführung einer sozialistischen Revolution in
Deutschland auf der Tagesordnung stünde. In scharfer Abgrenzung zur USPD, die
sich an der Provisorischen Übergangsregierung, dem Rat der Volksbeauftragten,
beteiligt hatte, gründete sich am 1. Januar 1919 die Kommunistische Partei
Deutschlands (Spartakusbund), die zur »Bewaffnung des Proletariats« als »Gebot
der Stunde« aufrief und den sofortigen Sturz des Rates der Volksbeauftragten
forderte. In der Hauptresolution ihres Gründungsparteitags erklärte die KPD, dass sie
sich als »neue, selbstständige Partei mit klarem Programm, festem Ziel, einheitlicher
Taktik, höchster revolutionärer Entschlossenheit und Tatkraft« für die »Durchführung
der beginnenden sozialen Revolution« einsetzen wolle. Die KPD verstand sich als
organisierte Abteilung der »Weltrevolution« und erklärte sich zur einzigen Partei in
Deutschland, die sich einem »konsequenten Internationalismus« verpflichtet sehe.
Sofort nach ihrer Gründung stürzte sich die KPD unter der Führung Luxemburgs und
Liebknechts in eine aussichtslose Entscheidungsschlacht, die als
»Spartakusaufstand« in die Geschichte der Weimarer Republik einging. Tatsächlich
handelte es sich hierbei um den verzweifelten Versuch, in letzter Minute die Bildung
einer demokratischen Republik durch einen Putsch gegen die sozialdemokratische
Übergangsregierung zu verhindern. Als Anlass des Putschversuchs diente die
Absetzung des Berliner Polizeipräsidenten Emil Eichhorn (USPD) durch den Rat der
Volksbeauftragten. Bewaffnete Revolutionäre besetzten am 6. Januar 1919 mehrere
Gebäude im Berliner Zeitungsviertel, darunter auch das Redaktionsgebäude der
sozialdemokratischen Parteizeitung Vorwärts. Rosa Luxemburg unterstützte am 7.
Januar in der Roten Fahne den Aufstand: »Die Gegenrevolution entwaffnen, die
Massen bewaffnen, alle Machtpositionen besetzen. Rasch handeln! Die Revolution
verpflichtet.« Das Ziel des Aufstands sei, wie sie schrieb, die »Aufrichtung der
sozialistischen Diktatur«. Von der »Freiheit der Andersdenkenden«, für die sie sich
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im Streit mit den Bolschewiki ausgesprochen hatte, war im praktischen
Revolutionsgemenge nun nicht mehr die Rede. Im September 1918 noch hatte sie
Lenin und Trotzki kritisiert, weil »sie Volksvertretungen aus allgemeinen Wahlen
grundsätzlich ablehnen«. Zwei Monate später, im November 1918, wandte sie sich
dann selbst gegen die demokratische Republik und unterstützte den aussichtslosen
Versuch einer kommunistischen Machtergreifung.
Die sozialdemokratische Übergangsregierung unter Friedrich Ebert ließ den
kommunistischen Putsch durch Einheiten des noch nicht demobilisierten Heeres
(Freikorpstruppen) militärisch niederschlagen. In den Kämpfen und im Zuge von
Gefangenenerschießungen durch das Militär kamen 156 Personen ums Leben,
aufseiten der Regierungstruppen gab es 13 Todesopfer. Nachdem der Aufstand
gescheitert war, rechtfertigte Rosa Luxemburg das hoffnungslose Unterfangen am
14. Januar 1919. Die Revolution sei eben die einzige Form des Krieges, »wo der
Endsieg nur durch eine Reihe von ‚Niederlagen’ vorbereitet werden« könne, schrieb
sie in der Roten Fahne. Der »ganze Weg des Sozialismus ist - soweit revolutionäre
Kämpfe in Betracht kommen - mit lauter Niederlagen besät. Und doch führt diese
selbe Geschichte Schritt um Schritt unaufhaltsam zum endgültigen Sieg.« Am 15.
Januar 1919 wurden Rosa Luxemburg und Karl Liebknecht von Angehörigen einer
»Wilmersdorfer Bürgerwehr«gefangen genommen und der Garde-KavallerieSchützen-Division, einer in Berlin eingerückten Freikorpseinheit, übergeben. Noch in
der gleichen Nacht wurden die beiden KPD-Führer von Angehörigen der
Freikorpstruppe ermordet.
Dieser politische Mord machte Karl Liebknecht und Rosa Luxemburg zu den ersten
Märtyrern der deutschen Kommunisten. Bis heute pilgern Verehrer der beiden KPDGründer alljährlich anlässlich des Todestags zur Grabstätte auf dem Zentralfriedhof
in Berlin-Friedrichsfelde. Heute werden die Gedenkfeierlichkeiten für Liebknecht und
Luxemburg von der Partei Die Linke, Nachfolgerin der PDS und SED, organisiert.
Der Totenkult um Rosa Luxemburg und Karl Liebknecht war freilich schon in den
Zwanzigerjahren zu einem festen Bestandteil der kommunistischen
Geschichtslegende geworden. Seit 1927 gestaltete die KPD-Führung unter Ernst
Thälmann das Gedenken an die beiden Parteigründer zu einer »Lenin-LiebknechtLuxemburg-Ehrung« um. Lenins Todestag (24. Januar 1924) und die Erinnerung an
die Ermordung Liebknechts und Luxemburgs wurden als organisiertes Ritual
alljährlich durch Aufmärsche an der Grabstätte in Berlin-Friedrichsfelde begangen.
Die Machtergreifung der Nationalsozialisten unterbrach diesen Parteibrauch. Nach
1945 wurde er in der SBZ wiederbelebt und erhielt seit Gründung der DDR den Rang
einer Staatsfeier, in deren Verlauf die Parteiführung auf einem Podium den
wohlgeordneten Vorbeimarsch ihrer Gefolgschaft am Märtyrergrab abnahm.
Parteigeschichte und Ideologie
Die KPD beteiligte sich im Januar 1919 nicht an der Wahl zur Deutschen
Nationalversammlung. Die USPD erreichte bei dieser Wahl 7,6 Prozent der Stimmen,
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die SPD ging mit 37,9 Prozent als stärkste Kraft aus dieser ersten freien und gleichen
Wahl in Deutschland hervor. Zur ersten Reichstagswahl am 6. Juni 1920 trat auch
die KPD an und brachte es auf 2,1 Prozent der Stimmen. Die Entscheidung für eine
Wahlbeteiligung konnte die KPD-Führung unter ihrem Vorsitzenden Paul Levi nur
gegen erhebliche Widerstände in der eigenen Partei durchsetzen. Die starke
innerparteiliche Fundamentalopposition spaltete sich von der Partei ab und gründete
die Kommunistische Arbeiterpartei Deutschlands (KAPD).
Die USPD errang im Juli 1920 bei der ersten Reichstagswahl 18,8 Prozent und die
an einer Koalitionsregierung beteiligte SPD fiel auf 21,7 Prozent zurück. Nachdem
sich die USPD im Oktober 1920 auf einem Parteitag mehrheitlich für einen Anschluss
an die Kommunistische Internationale (Komintern) und für den Zusammenschluss mit
der KPD entschieden hatte, erhielt die mitgliederschwache KPD durch den USPDÜbertritt kurzzeitig einen enormen Mitgliederzuwachs von knapp 80000 auf über 350
000. Etwa ebenso viele Mitglieder der USPD akzeptierten die von der
Kommunistischen Internationale diktierten 21 bolschewistischen Beitrittsbedingungen
nicht und blieben in der USPD, die sich bis auf eine kleine Minderheitsgruppe 1922
mit der SPD wiedervereinigte. Zu den bekanntesten Rückkehrern in die SPD gehörte
Karl Kautsky, der als enger Vertrauter von Friedrich Engels nach dessen Tod als die
große marxistische Autorität der II. Sozialistischen Internationale galt. Kautsky
charakterisierte die Situation in der Sowjetunion als Diktatur einer Partei und forderte
eine demokratische Entwicklung. Ohne Demokratie könne es keinen Sozialismus
geben. Darüber hinaus betont er die Gemeinsamkeiten von Faschismus und
Bolschewismus. »Der Faschismus ist aber nichts als das Gegenstück des
Bolschewismus, Mussolini nur der Affe Lenins.« Scharf kritisierte Kautsky die
Doppelmoral des Bolschewismus: »Jede Niedertracht verwandelt sich in eine
herrliche Großtat, wenn ein Kommunist sie verübt. Jede Bestialität ist erlaubt, wenn
man sie im Namen des Proletariats vollbringt. So vollzogen auch die spanischen
Konquistadoren ihre Bluttaten in Südamerika im Namen Gottes.«
Der KPD gelang es nach 1922 nicht mehr, die Zahl ihrer Mitglieder zu steigern - im
Gegenteil, sie sank bis 1930 auf rund 120 000 Mitglieder. Auch nach dem
Zusammenschluss mit der USPD-Mehrheit erreichte sie in keiner Wahl einen
Zuspruch, der das Ergebnis der USPD aus dem Jahr 1920 übertroffen hätte. Die
Wählerstimmen für die KPD bewegten sich bei den Reichstagswahlen zwischen
1924 und 1933 auf einem schwankenden Niveau zwischen 12,6 Prozent (1924) und
16,8 Prozent (1932). In den letzten drei Jahren vor der Machtergreifung des
Nationalsozialismus stieg zwar die Zahl der KPD-Mitglieder auf rund 250 000 stark
an, die Verweildauer neuer Mitglieder lag aber im Durchschnitt bei unter einem Jahr.
Auch die Führungsgruppe der Partei wies zwischen 1919 und 1933 eine starke
personelle Fluktuation auf. Von den rund 60 Mitgliedern der verschiedenen
»Polbüros« (Parteiführung) schieden fast 40 Prozent durch Austritte oder
Ausschlüsse aus der KPD aus. Nach 1933 fielen sechs Kommunisten aus diesem
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Führungskern dem Naziterror und sieben dem kommunistischen Terror im
sowjetischen Exil zum Opfer.
Zwei Jahre nach dem gescheiterten »Spartakusaufstand« beteiligte sich die KPD sie nannte sich nach der Vereinigung mit dem linken Flügel der USPD Vereinigte
KPD (VKPD) - im März 1921 erneut an einem bewaffneten Aufstandsversuch gegen
die Weimarer Republik an. Die von Funktionären der VKPD und
Anarchokommunisten um den populären Arbeiterführer Max Hoelz im
mitteldeutschen Industriegebiet (Mansfeld, Leuna) angeführten Kampfhandlungen
gegen Polizeieinheiten des sozialdemokratisch regierten Landes Preußen endeten in
einer blutigen Niederlage, fast 200 Personen wurden im Verlauf der Kämpfe getötet.
Die Aufrufe der VKPD zu einem landesweiten Generalstreik fanden mit Ausnahme
einiger linker Hochburgen im Ruhrgebiet und im Hamburger Raum wenig Resonanz.
Wiederum zwei Jahre später plante die KPD-Führung auf Anweisung des
Exekutivkomitees der Komintern einen erneuten Aufstand, der intern bereits als »die
deutsche Oktoberrevolution« firmierte. Sowjetische Militärberater, die sich illegal in
Deutschland aufhielten, bereiteten in geheimen Ausbildungslagern »Proletarische
Hundertschaften« auf den Aufstand vor. Als Beauftragter der Komintern koordinierte
Karl Radek die Vorbereitung des Unternehmens, das jedoch kurzfristig wieder
abgesagt werden musste, da den verantwortlichen sowjetischen Militärstrategen
dessen praktische Undurchführbarkeit klar geworden war. Ende Oktober 1923 wagte
die KPD in Hamburg und an einigen Orten Schleswig-Holsteins unter Führung des
späteren KPD-Vorsitzenden Ernst Thälmann dennoch den bewaffneten Aufstand, der
jedoch nach wenigen Tagen von der Polizei niedergeschlagen wurde. Über
einhundert Menschen kamen dabei ums Leben. Auch die NSDAP wollte die
demokratische Novemberrevolution rückgängig machen und bereitete zur gleichen
Zeit wie die KPD den revolutionären Umsturz des Weimarer Systems vor. Doch auch
der nationalsozialistische Putschversuch am 9. November 1923 (Marsch auf die
Münchner Feldherrnhalle) scheiterte. Die Berliner Regierung verbot nach diesen
Ereignissen sowohl die KPD als auch die NSDAP. Leider hatte dieses Verbot nur
wenige Monate Bestand. Die rechten und linken Gegner der Republik verfolgten als
feindliche Brüder mit aller Konsequenz bis 1933 ihr Ziel der Beseitigung des
bürgerlich-demokratischen Systems zugunsten einer Diktatur. Die KPD verharrte bis
zu ihrer Zerschlagung durch den nationalsozialistischen Terror in dumpfer Ablehnung
der demokratischen Weimarer Verfassung, die sie als Betrugswerk im Interesse des
reaktionären Finanz- und Industriekapitals zum eigenen Machterhalt diffamierte.
Der politische Kurs der KPD war von ihrer Gründung bis zur Zerschlagung durch die
Nationalsozialisten von einer fundamentalen Ablehnung des demokratischen
Mehrparteiensystems und der kapitalistischen Wirtschaftsordnung gekennzeichnet
sowie durch ein völliges Unverständnis für die Bedeutung von kultureller und
politischer Meinungsvielfalt in einem demokratischen Gemeinwesen. Die KPD
bekämpfte mit allen Mitteln das »Weimarer System« und die dieses tragenden
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Parteien. Als ihren Hauptfeind machte sie dabei zeitweise die SPD aus, der sie
vorwarf, Teile der Arbeiterklasse durch Reformversprechen an die bürgerliche
Gesellschaftsordnung zu binden und durch die Verbreitung von Illusionen über einen
möglichen friedlichen und demokratischen Übergang zum Sozialismus von der
Notwendigkeit des unversöhnlichen Klassenkampfs abzulenken. Angelehnt an
Lenins Bannfluch gegen die SPD, die er wegen ihrer Zustimmung zu den
Kriegskrediten als Partei des »Sozialimperialismus« tituliert hatte, bekämpfte die
KPD die Sozialdemokratie als »sozialfaschistische Partei«. Mit dem Diktum des
Sozialfaschismus war die Einschätzung der SPD als Zwilling der NSDAP verbunden.
Erfolgreicher noch als den Nazis gelänge es der SPD durch ihre soziale
Reformdemagogie, den Interessen des Großkapitals Geltung zu verschaffen. Unter
dem Eindruck eines starken Rechtsrucks in Deutschland versuchte sich die KPD
nach der Weltwirtschaftskrise durch ein »Programm zur nationalen und sozialen
Befreiung« dem vorherrschenden Zeitgeist anzupassen. Diese Anbiederung an
nationalistische und völkische Stimmungen in der deutschen Bevölkerung blieb
jedoch ohne Erfolg. Im Gegenteil stärkte das Einschwenken der Kommunisten auf
einen nationalistischen Kurs sogar noch den ohnehin vorhandenen Trend in diese
Richtung. Außenpolitisch unterwarf sich die KPD bis zum bitteren Ende den
Anordnungen der Komintern. Sie folgte allen Windungen und Wendungen der
sowjetischen Außenpolitik bedingungslos und begrüßte 1939 im Exil sogar den
Hitler-Stalin-Pakt als Freundschaftsvertrag zur Sicherung des Friedens in Europa.
Zur Illustration der Moskauer Exilverhältnisse ein Beispiel: Am 18. Dezember 1936
empfing Georgi Dimitrow die deutsche Schriftstellerin Maria Osten und den Dichter
Lion Feuchtwanger, der später ein schwärmerisches Buch über die sowjetische
Gesellschaft unter Josef Stalin schrieb. Maria Osten stellte kritische Fragen zu den
Moskauer Prozessen. Es sei doch unverständlich, »warum alle Angeklagten alles
gestehen und dabei wissen, dass sie dies das Leben kosten wird«, und es sei
unverständlich, warum derart harte Strafen ausgesprochen würden, »wo doch das
sowjetische Regime so mächtig ist, dass ihm von denen, die im Gefängnis sitzen,
keine Gefahr droht«. Maria Osten aus Muckum (Westfalen), Journalistin und
Schriftstellerin, seit 1926 KPD−Mitglied und Lebensgefährtin von Michail Kolzow,
wurde am 8. August 1942 vom NKWD wegen angeblicher Spionage erschossen.
Ihren Geliebten, der lange Jahre ein führendes Mitglied der Internationalen
Vereinigung Revolutionärer Schriftsteller war, hatte die sowjetische Geheimpolizei
schon zwei Jahre zuvor ermordet.
Deutsche Kommunisten - exemplarische Biografien
Komplementär zu den Windungen und Wendungen der sowjetischen Innen- und
Außenpolitik, denen sich die KPD als Bestandteil der Komintern anzupassen hatte,
vollzogen sich auch die lebensgeschichtlichen Brüche ihrer führenden Mitglieder und
Funktionäre. Gegen Ende der Weimarer Republik arbeiteten fast 5000 Kommunisten
als Angestellte im Apparat der KPD und ihrer Umfeldorganisationen. Nach 1945
gehörten viele dieser abhängig beschäftigten Funktionäre zum personellen
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Grundstock der KPD/SED in der Sowjetischen Besatzungszone. Einige
exemplarische Biografien deutschen Kommunisten mögen im Folgenden die
schroffen Brüche als auch die Kontinuitäten in den Lebenswegen deutscher
Kommunisten verdeutlichen.
Nach der Ermordung von Karl Liebknecht und Rosa Luxemburg übernahm Leo
Jogiches, 1867 in Wilna in eine wohlhabende Kaufmannsfamilie geboren, die
Parteiführung. Er war auf dem linken Flügel der polnischen und deutschen
Sozialdemokratie aktiv und im politischen und privaten Leben eng mit Rosa
Luxemburg verbunden. Nach bürgerkriegsartigen Unruhen, die im März 1919 in der
Folge eines Generalstreiks und der Verhängung des Ausnahmezustands mit über
1200 Todesopfern ihren Höhepunkt fanden, wurde er festgenommen und in der
Haftanstalt Berlin Moabit von einem Freikorpssoldaten ermordet.
In seiner Nachfolge übernahm der sechsunddreißigjährige Rechtsanwalt Paul Levi,
Strafverteidiger und Gefährte Rosa Luxemburgs, die KPD-Führung. Levi widersetzte
sich der auf dem II. Weltkongress der Komintern entworfenen »Offensivstrategie«
und kritisierte sie als Putschismus. Er trat im Februar 1921 vom KPD-Vorsitz zurück
und wurde aus der Partei ausgeschlossen. Mit der Herausgabe des bis dahin
unveröffentlichten Rosa-Luxemburg-Textes über die Revolution in Russland, in dem
sie die Bolschewiki wegen der Zwangsauflösung der Duma (Parlament) kritisiert und
die Freiheit der Andersdenkenden gefordert hatte, verschärfte sich der Konflikt
zwischen Levi und seiner früheren Partei. Paul Levi kehrte 1922 in die SPD zurück,
die er während des Ersten Weltkriegs als Anhänger des Spartakusbunds verlassen
hatte, und wurde für seine Partei in den Reichstag gewählt. Er starb im Februar 1930
nach einem Sturz aus dem Fenster seiner Wohnung. Als sich die Abgeordneten des
Deutschen Reichstags zu einer Gedenkminute für Levi von ihren Sitzen erhoben,
verließen die NSDAP- und die KPD-Fraktion demonstrativ den Plenarsaal. Auf Levi
folgten KPD-Führungen unter Heinrich Brandler, August Thalheimer und Jacob
Walcher (1921 bis 1923), Arkadi Maslow, Ruth Fischer, Werner Scholem und Alfred
Rosenberg (1923 bis 1925) und von 1925 bis 1933 unter Ernst Thälmann.
Ruth Fischer (1895 bis 1961) brachte es 1924 zur »Ersten Frau« des deutschen
Kommunismus. Sie war noch nicht einmal dreißig Jahre alt, als sie mit ihrem Freund
Arkadi Maslow die Führung der KPD übernahm. Die in Wien aufgewachsene
Professorentochter (Mitgliedsnummer 1 der KP Österreichs) wurde, bald nachdem
sie in Berlin zur KPD gestoßen war, im Jahr 1921 Vorsitzende der mächtigen Berliner
KPD-Organisation. Sie nahm als Delegierte am IV. Weltkongress der Komintern teil
und gehörte von 1924 bis 1926 deren Präsidium an. Als Repräsentantin des linken
Parteiflügels führte sie nach der Verhaftung ihres Lebensgefährten Arkadi Maslow
faktisch als erste Frau eine der großen Parteien in Deutschland. Unter dem Namen
Elfriede Golke wurde sie 1924 auch in den Deutschen Reichstag gewählt. Im Jahr
zuvor hatte der KPD-Hauptkassierer und Parteischatzmeister Artur Golke die KPDFührerin sozusagen treuhänderisch zur Gemahlin genommen, um ihre Abschiebung
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als unerwünschte Ausländerin zu verhindern. Ruth Fischer wurde 1926 aus der KPD
ausgeschlossen und floh 1933 vor den Nationalsozialisten nach Frankreich. 1940
emigrierte sie in die USA. Dort schrieb die ehemalige KPD-Chefin, die in ihrer aktiven
Zeit mit Lenin, Radek, Trotzki, Sinowjew und Bucharin konferiert und Stalin im
persönlichen Streitgespräch die Stirn geboten hatte, ihre Abrechnung mit der KPD
und dem Sowjetkommunismus. In dem 1948 erschienenen Buch Stalin und der
deutsche Kommunismus - der Übergang zur Konterrevolution erklärte Ruth Fischer:
»Ich habe den deutschen Nationalsozialismus immer als Spezialfall einer
allgemeinen Tendenz zur totalitären Gesellschaft gesehen, zu einer Gesellschaft,
deren totale Organisation konspirativ von einer terroristischen Minderheit
durchgeführt wird und deren Expansionsstreben nach totaler zentralistischer
Weltorganisation desto stärker hervortritt, je vollständiger ihr dies im nationalen
Rahmen gelingt. Intim und intern habe ich die Umwandlung der bolschewistischen
Partei in eine solche terroristische Herrschaftsorganisation miterlebt, habe eine
ganze Generation russischer Revolutionäre im Kampf gegen diese Entwicklung
zerbrechen sehen.« Zwei Brüder Ruth Fischers nahmen in der kleinen Welt des
deutschen Kommunismus vor 1933 und nach 1945 einen bedeutenden Rang ein. Ihr
jüngerer Bruder Gerhart Eisler (1897 bis 1968), dessen bürgerliche Laufbahn als
Offizier der k.u.k. Armee Österreichs schon 1918 endete, brachte es im zweiten
Leben zum Bürgerkriegsberater der Komintern und war u. a. deren Beauftragter in
China (1929) und den USA (1933 bis 1935). Nach 1945 kehrte er in die SBZ zurück
und übernahm den Vorsitz des Staatlichen Rundfunkkomitees. Ruth Fischers
jüngster Bruder Hanns Eisler (1898 bis 1962) schuf neben der DDR-Hymne
zahlreiche kommunistische Kampflieder wie das »Einheitsfront«− oder das
»Solidaritätslied« sowie über 40 Bühnenmusiken für den zwar kommunistisch
gesonnenen, aber zeitlebens parteilosen Dichter Bertolt Brecht.
Brecht war wie viele andere linke Intellektuelle seiner Zeit von der Idee der
Weltrevolution und der Ideologie des Kommunismus fasziniert. Im Umfeld der KPD
engagierten sich zahlreiche Künstler, Schriftsteller und Schauspieler von einiger
Prominenz. Mit Bündnisorganisationen wie dem Bund proletarisch-revolutionärer
Schriftsteller und durch Auftragsarbeiten im Rahmen des von Willi Münzenberg
geschaffenen KPD-Medienkonzerns versuchte die KPD diese Kreise an sich zu
binden. Auf dieses Reservoir der damals »jungen Wilden« konnte der staatlich
organisierte Kulturbetrieb der DDR in den frühen Fünfzigerjahren stützen, als es galt,
die Kunstdoktrin des Sozialistischen Realismus gegen die Einflüsse der westlichen
Moderne durchzusetzen.
Zum größten Helden des deutschen Kommunismus stilisierten die staatlichen
Auftragkünstler der DDR später den von den Nazis ermordeten KPD-Führer Ernst
Thälmann, der die KPD von 1925 bis 1933 geführt hatte. Ernst Thälmann, Jahrgang
1886, war ein bedingungsloser Gefolgsmann Stalins, der die Partei endgültig
gleichschaltete und keinerlei Abweichungen von der Parteidoktrin mehr zuließ. Sein
Ziel war es, in Deutschland eine Diktatur nach sowjetischem Muster zu errichten.
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Unter Führung des »Thälmannschen Zentralkomitees« bekämpfte die KPD mit allen
Mitteln die Weimarer Republik, wenn es sich ergab, sogar gemeinsam mit den
Nationalsozialisten. So versuchten NSDAP und KPD am 8. August 1931 gemeinsam,
durch einen Volksentscheid die sozialdemokratische Landesregierung Preußens zu
stürzen. Am Abend des gescheiterten Volksbegehrens erschossen KPD-Leute auf
dem Bülowplatz - heute Rosa-Luxemburg-Platz - aus einem Hinterhalt zwei
sozialdemokratische Polizeibeamte. Die Mörder, Erich Mielke und Erich Ziemer, die
Thälmanns Partei-Selbstschutz angehörten, flohen nach Moskau. Ernst Thälmann
selbst forderte damals »die schonungslose Abrechnung mit den faschistischen
Verbrechern an der Spitze der SPD«. Immer wieder beschimpfte er den
Parteivorstand der SPD und die sozialdemokratischen Reichstags- und
Landtagsfraktionen als »Sozialfaschisten« und rief zum Kampf gegen die SPD auf.
Noch kurz vor Toresschluss im Jahr 1933 hielt Thälmann die Sozialdemokratie für
gefährlicher als die NSDAP. Thälmanns Vollstrecker Erich Mielke brachte es später
in der DDR zum Minister für Staatssicherheit. Er war in dieser Funktion für die
Verfolgung, Ermordung und Erniedrigung zahlloser Menschen verantwortlich.
Nach der Machtergreifung der Nationalsozialisten versuchte Thälmann aus der
Illegalität heraus die durch eine erste Terrorwelle der Nazis stark geschwächte KPD
zu reorganisieren. Im März 1933 fiel er durch Verrat der Gestapo in die Hände.
Obgleich die Sowjetunion im September 1939 mit dem nationalsozialistischen
Regime einen Freundschaftsvertrag schloss, unternahm Stalin keinen ernsthaften
Versuch, den ihm bedingungslos ergebenen KPD-Führer aus der NS-Haft
freizubekommen. Die SS ermordete Thälmann 1944 im Konzentrationslager
Buchenwald.
Zu DDR-Zeiten betrieb die SED einen uferlosen Thälmannkult. Davon zeugen noch
heute die Thälmannstraßen und -plätze in ganz Ostdeutschland. Fabriken wurden
nach ihm ebenso benannt wie Kasernen und Parteiaufgebote, die Kinderorganisation
der SED trug den Namen »Thälmann-Pioniere«. Der Plan zur Errichtung eines
monumentalen Thälmanndenkmals in der DDR-Hauptstadt kam indes erst 1986 zur
Ausführung. Geschaffen wurde es von dem sowjetischen Bildhauer Lew Kerbel. Es
steht bis heute in Berlin wie auch der riesige, von Kerbel geschaffene Karl-Marx-Kopf
in Chemnitz.
Ein wichtiger Funktionär in Thälmanns Umgebung war in den letzten Jahren der
Weimarer Republik Herbert Wehner, Jahrgang 1906, der im Alter von
fünfundzwanzig Jahren aus Dresden in die KPD-Zentrale nach Berlin beordert wurde.
Wehner kämpfte in seiner Jugend zunächst als Anarchist gegen die Weimarer
Republik, bevor er 1927 der KPD beitrat. Im Alter von 24 Jahren brachte es der
begnadete Agitator bereits zum stellvertretenden Fraktionsvorsitzenden seiner Partei
im sächsischen Landtag. Nach der Machtergreifung der Nationalsozialisten
organisierte Wehner maßgeblich im Berliner Raum die illegale Arbeit gegen die NSDiktatur. Danach führte er die KPD-Organisation des Saargebiets in den Kampf
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gegen die Wiedereingliederung des 1918 abgetrennten Saarlands in das Deutsche
Reich. Einer seiner damaligen jungen Mitarbeiter war der spätere SED-Chef Erich
Honecker. Nach der Niederlage im »Saarkampf« - 90,73 Prozent der Wähler
entschieden sich für die Rückkehr ins Deutsche Reich - floh Wehner in die
Sowjetunion, wo er bald gemeinsam mit Wilhelm Pieck und Walter Ulbricht zum
engsten Führungskreis im Politbüro der KPD gehörte. Im Auftrag der Komintern
verließ er 1941 die Sowjetunion, um von Schweden aus die Untergrundarbeit im
Reich zu organisieren. Nach dem Krieg kehrte er in die englische Besatzungszone
zurück und trat 1946 der SPD bei.
In einer ausführlichen Selbstrechtfertigung schilderte er dem damaligen SPDVorsitzenden Kurt Schumacher seine Abkehr vom Kommunismus und rückte sich
selbst in die Rolle eines Leidtragenden des stalinistischen Terrors. Diese Darstellung
wurde durch Unterlagen der sowjetischen Geheimpolizei, die vor einigen Jahren
zugänglich wurden, nachdrücklich in Zweifel gezogen. Demnach soll Wehner der
stalinistischen Geheimpolizei Informationen geliefert haben, die in einem
Massenmordbefehl Verwendung fanden, den der Generalkommissar des
sowjetischen Staatssicherheitsdienstes Jeschowam 14. Februar 1937 erließ. Dieser
Geheimbefehl »über die terroristische Diversions- und Spionagetätigkeit deutscher
Trotzkisten auf dem Territorium der Union der Sozialistischen Sowjetrepubliken«
ordnete die sofortige Verhaftung von angeblich »konterrevolutionären Gruppen«
unter den deutschen Exilkommunisten an. Ein Jahr später saßen nahezu siebzig
Prozent aller in die Sowjetunion geflüchteten KPD-Mitglieder im Gefängnis. Unter
Schlägen und Folter bekannten sich viele von ihnen zu »Verbrechen gegen die
Sowjetunion und die kommunistische Bewegung«. Hunderte wurden in kurzen
Prozessen abgeurteilt und erschossen oder verschwanden für Jahre in den
gefürchteten Lagern der Geheimpolizei. Unter anderen waren dies der KPDMitbegründer Leo Flieg, 1939 nach schwerster Folter erschossen, die Mitarbeiterin
der KPD-Kaderabteilung Grete Wilde, verstorben 1943 im Straflager, sowie der
Mitarbeiter des KPD-Zentralkomitees Georg Brückmann, dessen Spur sich im
sowjetischen Gulag-System verlor, ohne dass je sein Todesdatum ermittelt werden
konnte.
Herbert Wehner spielte bis zu seinem Ausscheiden aus dem Deutschen Bundestag
im Jahr 1983 in der SPD als Fraktionsvorsitzender und Mitglied des SPD-Präsidiums
eine entscheidende Rolle. Zum achtzigsten Geburtstag erhielt er vom
Generalsekretär der SED Erich Honecker ein Glückwunschschreiben, das Honecker
mit der Anrede »Lieber Genosse Wehner« versah. Herbert Wehner starb im Januar
1990, zwei Monate nach dem Mauerfall.
In der Zeit der ersten Großen Koalition zwischen CDU/CSU und SPD (1966 bis 1969)
unter Bundeskanzler Kurt Georg Kiesinger war Herbert Wehner Minister für
Gesamtdeutsche Fragen. Sein direkter Gegenspieler in Ostberlin, Albert Norden, war
als Mitglied des SED-Politbüros für die gesamte Westarbeit der SED zuständig. Die
11
beiden Politiker kannten sich aus gemeinsamen Kampfjahren in der Weimarer
Republik. Geboren am 4. Dez. 1904 in Myslowitz im Kreis Kattowitz als Sohn eine
liberalen Rabbiners, gestorben am 30. Mai 1982 in Ostberlin, war Albert Norden
zeitweilig neben Walter Ulbricht einer der einflussreichsten Männer in der SED. Auf
dem Höhepunkt seiner Parteikarriere, Mitte der Sechzigerjahre, war er nicht nur als
denkender und leitender Kopf für die gesamte Auslandsarbeit der SED im Westen
zuständig, bei ihm liefen auch gleichzeitig alle Fäden der Anleitung und Kontrolle von
Presse, Funk und Fernsehen der DDR zusammen.
Albert Norden war 1918 der Freien Sozialistischen Jugend beigetreten, die 1919 in
Kommunistische Jugend umbenannt wurde. Er selbst gab in seiner SED-Kaderakte
zu Protokoll: »Im Einverständnis mit den leitenden Genossen der Kommunistischen
Jugend arbeitete ich 1920/21 im ‚Jüdischen Wanderbund’ an der Entwicklung eines
linken Flügels. Ich gab die gedruckt erschienenen ‚Rundbriefe der
radikalsozialistischen jüdischen Jugend’ heraus, die vom Religiösen her die
Wendung zur Kommunistischen Partei und zum Bündnis Deutschlands mit der
Sowjetunion und zur Hilfe für sie begründen suchten.«
Norden machte im KPD-Apparat als Journalist lokaler Parteizeitungen Karriere und
wurde 1931 von Heinz Neumann, dem später im sowjetischen Exil von Stalins
Geheimpolizei ermordeten Chefredakteur des KPD-Zentralorgans Rote Fahne als
stellvertretender Chefredakteur nach Berlin geholt. In einer nach dem Kriege
verfassten »Selbstkritik« schrieb Norden über seine nachträglich prekäre Nähe zu
Neumann: »Ohne zu seinem internen Fraktionskreis zu gehören, ließ ich mich jedoch
in starker Weise von ihm beeinflussen und teilte vorübergehend seine falschen und
parteifeindlichen Auffassungen.«
In den Ermittlungsakten des Oberreichsanwalts findet sich ein aufschlussreicher
Text, der belegt, welche Auffassungen Norden im Jahr 1931 mit Heinz Neumann
geteilt hat. Im Oktober, dem militärpolitischen Mitteilungsblatt der KPD, das in der
Schweiz gedruckt und unter der Hand in Deutschland vertrieben wurde, erschien am
4. Oktober 1931 unter der Überschrift »Individueller und Massenterror im Kampf
gegen die bewaffnete Staatsmaschine« ein Artikel, der aus der Feder Albert Nordens
stammte und zum bewaffneten Straßenkampf gegen die sozialdemokratisch geführte
preußische Landespolizei aufrief.
Am 15. Juli 1943 traf sich in einer Berliner Dachwohnung unweit des
Kurfürstendamms das vierköpfige Zentralkomitee der Europäischen Union, um über
die politische Ordnung des geeinten Nachkriegseuropas zu beraten. »Wir stehen am
Vorabend des Zusammenbruchs des europäischen Faschismus«, lautet die erste
These der programmatischen Erklärung des »ZK der EU an alle Antifaschisten«.
Zwar sei es dem Nationalsozialismus gelungen, heißt es weiter, unzählige politische
Organisationen zu zerschlagen und die besten und mutigsten Kämpfer in
Konzentrationslager zu sperren, »doch eines ist ihm nicht gelungen: Er konnte die
alten und ewigen freiheitlichen Ideen, die in Europa in den großen Revolutionen
12
geboren wurden, nicht vernichten!« Die kommende Revolution werde »das
sozialistische Europa einigen in der Europäischen Union«. Dem ZK der
Europäischen Union, das diesen programmatischen Aufruf billigte, gehörten vier
Männern a: der Internist und Privatdozent Georg Groscurth, der Assistent am
Pharmakologischen Institut der Berliner Universität Robert Havemann, der Dentist
Paul Rentsch und der Architekt Herbert Richter. Das programmatische
Gründungsdokument hatte Robert Havemann verfasst. Aus seiner Feder stammten
auch die in kurzen Abständen herausgegebenen Grundsatzerklärungen, die neben
wiederholten Bekenntnissen zu den »politischen und menschlichen Grundrechten
des Individuums« auch eine deutliche Kritik am Stalinismus enthielten. So schrieb
Havemann in einem Flugblatt, der künftige europäische Sozialismus werde weder die
»Ausrottung der Bourgeoisie« noch die Aufhebung des privaten Eigentums
anstreben und schon gar nicht die »Errichtung einer blutigen Diktatur dogmatischer
Marxisten«. Von der deutschen Bevölkerung, die in ihrer Mehrheit den
Nationalsozialismus unterstützte oder sich mit dem Regime arrangiert hatte,
erwartete Havemann nicht viel. Er schätzte seine Landsleute als ängstlich und passiv
ein. Die deutschen Großstädte seien »beherrscht von panischem Schrecken und
verzweifelter Furcht vor den katastrophalen Wirkungen der Luftangriffe«. Die
Europäische Union hatte deswegen unter den in Berlin und Umgebung eingesetzten
ausländischen Zwangsarbeitern und Kriegsgefangenen ein weitverzweigtes Kontaktund Informationsnetz aufgebaut. Wenn es an der Zeit war und die Alliierten auf Berlin
vorrückten, sollte mit den Untergrundorganisationen der Zwangsarbeiter und
Gefangenen der bewaffnete Kampf in der Hauptstadt ausgelöst werden. Nur zwei
Monate nach Gründung der Europäischen Union gelang es der Gestapo, die
Widerstandsgruppe zu infiltrieren und zahlreiche ihrer Mitglieder und ausländischen
Verbindungsleute zu verhaften. In dreizehn Verfahren verhängte der
Volksgerichtshof gegen EU-Mitglieder und ihre ausländischen Kontaktpersonen
vierzehn Todesurteile. Robert Havemann entging der Hinrichtung, da er im
Zuchthaus Brandenburg mit kriegswichtigen Forschungsarbeiten betraut war. In der
DDR war Havemann später als überzeugter Kommunist zunächst ein angesehenes
Mitglied der SED. Zeitweise arbeitete er sogar als Informant mit dem
Staatssicherheitsdienst zusammen. Nachdem er in den frühen Sechzigerjahren als
Regimekritiker hervortrat, versuchte die SED ihn aus der Geschichte des
Widerstandskampfs gegen die NS-Diktatur zu tilgen und seinen internationalen Ruf
als Widerstandskämpfer zu zerstören. Havemann wurde 1965 aus der SED
ausgeschlossen und wegen seiner unbeugsamen Haltung 1976 unter Hausarrest
gestellt, der erst kurz vor seinem Tod im Jahr 1982 aufgehoben wurde.
Die Biografien deutscher Kommunisten weisen einen Spannungsbogen auf, der sich
von der absoluten Parteitreue bis zum späteren militanten Antikommunismus
erstreckt. Der Umstand, dass den »Parteisäuberungen« in der sowjetischen
Emigration mehr führende KPD-Funktionäre zum Opfer fielen als dem
nationalsozialistischen Terror, führte erstaunlicherweise bei den überlebenden
Kommunisten nach 1945 nur in geringerem Umfang zu einer weltanschaulichen
13
Umorientierung. Die Wirkungsmacht der totalitären Ideologie des Kommunismus
hatte diese verschworene Gemeinschaft von Weltanschauungskriegern derart
zugerichtet, dass sie im Zweifelsfall sogar unter der Folter ihrer eigenen
Gesinnungsgenossen nicht den Glauben an die Ideologie, sondern eher den
Glauben an sich selbst als gute Kommunisten verloren. Die Partei nämlich hatte
immer recht.
Die Westkommunisten 1945 bis 1989
Unmittelbar nach der Konferenz von Jalta im Februar 1945 bat Georgi Dimitrow als
Europabeauftragter der KPdSU die Führung der Moskauer Exil-KPD zu sich, um sie
darüber zu informieren, »dass Berlin geteilt wird, dass Deutschland geteilt wird«.
Neben Wilhelm Pieck und Walter Ulbricht nahmen auch Anton Ackermann und seine
Lebensgefährtin Elli Schmidt an diesem Treffen teil. Die KPD-Führung wusste seit
dem Gespräch mit Dimitrow, »dass der Kapitalismus wenigstens in einem Teil
Deutschlands seine Existenz behaupten wird«, erinnerte sich Elli Schmidt 1966. Die
Tatsache der künftigen Teilung erläuterte Josef Stalin am 4. Juni 1945 den aus Berlin
nach Moskau angereisten KPD-Führern Wilhelm Pieck, Walter Ulbricht, Anton
Ackermann und Gustav Sobottka im Zusammenhang mit der sowjetischen
Nachkriegspolitik in Deutschland. Dazu verkündete er folgende »Perspektive«: »Es
wird zwei Deutschlands geben - trotz aller Einheit der Verbündeten.« Die
Verantwortung für die Teilung Deutschlands solle den Westmächten angelastet
werden.
Die westdeutsche KPD
Die KPD beorderte schon im Herbst 1945 Funktionäre aus den Westzonen in die
SBZ, um wichtige Positionen in den mit sowjetischer Hilfe kontrollierten Verwaltungen
besetzen zu können. Die Politik der KPD in den Westzonen wurde von 1945 an
durch die Führungsgruppe in Ostberlin bestimmt. Die SED nutzte seit ihrer Gründung
im Jahr 1946 die KPD im Westen als ihren verlängerten Arm in den Westzonen. Die
SED-Führung entschied über das von der KPD im Westen zu vertretende Programm,
steuerte die Besetzung der Schlüsselpositionen in der Partei, sorgte für die
Ausbildung und Finanzierung der KPD-Funktionäre wie auch für den Unterhalt des
mit insgesamt 17 Zeitungen sehr aufwendigen Propagandaapparats der Partei.
Die KPD erhielt 1949 bei der ersten Bundestagswahl 5,7 Prozent (1361 706 Wähler)
der Stimmen. In den zweiten Bundestag zog sie 1953 nicht mehr ein, da sie nur noch
2,2 Prozent der Stimmen erhalten hatte. Die KPD-Vertreter lehnten im
Parlamentarischen Rat und im Deutschen Bundestag das Grundgesetz der
Bundesrepublik ab. Die Partei scheiterte freilich nicht erst durch ihr Verbot im Jahre
1956, sondern durch ihre Politik, deren Ziel in der Übertragung des DDR-Modells auf
die Bundesrepublik Deutschland bestand. Im November 1951 beantragte die
Bundesrepublik das Verbot der neonazistischen Sozialistischen Reichspartei (SRP)
und der KPD wegen ihrer verfassungsfeindlichen Bestrebungen. Am 17. August
1956 entsprach das Bundesverfassungsgericht dem Verbotsantrag. Aufgrund dieses
14
Urteils kam es auch zu einem Verbot zahlreicher Umfeld- und Tarnorganisationen
der KPD sowie zu fast 10000 Verurteilungen durch westdeutsche Gerichte wegen
illegaler kommunistischer Betätigung. In Westberlin blieb die SED wegen des
Viermächtestatus der Stadt legal. Seit 1961 hieß die Partei »SED Westberlin« und
von 1969 bis zu ihrer Auflösung 1991 Sozialistische Einheitspartei Westberlins
(SEW).
Zwischen 1956 und 1968 agierte die KPD in der Bundesrepublik aus der Illegalität
heraus unter Anleitung ihres in die DDR ausgewichenen Führungskorps. Mit großem
Aufwand versuchte die illegale KPD, durch Propagandaschriften und einen eigenen
Radiosender (Deutscher Freiheitssender 904 und Deutscher Soldatensender) aus
der DDR in der politischen Sphäre Westdeutschlands wirksam zu bleiben. Die KPD
verfügte 1964 in Westdeutschland noch über etwa 7000 aktive Mitglieder. Die Zahl
der in den westdeutschen Grenzpostämtern beschlagnahmten kommunistischen
Agitationsschriften aus der DDR lag im gleichen Jahr bei 8,2 Millionen. Durch die
verdeckte Arbeit in der Bewegung gegen nukleare Aufrüstung (Kampagne gegen den
Atomtod) und mithilfe der von ihr beherrschten Deutschen Friedens Union (DFU)
blieb die illegale KPD in Westdeutschland verankert. In Kreisen der Linksintelligenz
verstärkten Mitglieder der illegalen KPD wie Ulrike Meinhof und Klaus Rainer Röhl
mit ihrer Zeitschrift konkret den Unmut gegen die Politik des »Adenauer-Regimes«.
Bezahlt und mit Enthüllungsmaterial versorgt wurde das Unternehmen bis Mitte der
Sechzigerjahre von der SED. Dann kam es zum Bruch zwischen den aufmüpfigen
Westlinken und ihren Kadergehorsam gewohnten SED-Betreuern aus Ostberlin. Auf
deren Hilfe und Diskretion konnte sich Ulrike Meinhof allerdings wenige Jahre später
als »kämpfende Kommunistin« der Roten Armee Fraktion (RAF) verlassen,
ungeachtet aller taktischen Differenzen über den richtigen Weg zum
kommunistischen Ziel.
Die Neue Linke
Ausgelöst durch die blutige Niederschlagung des ungarischen Freiheitsaufstands von
1956 durch sowjetische Truppen bildet sich zunächst in Großbritannien und
Frankreich, wenig später aber auch in Westdeutschland eine »Neue Linke«, die eine
von Moskau unabhängige marxistisch-sozialistische Perspektive in Westeuropa
anstrebt. In der Bundesrepublik avanciert in den Sechzigerjahren vor allem der
Sozialistische Deutsche Studentenbund (SDS) zum Kern einer Neuen Linken. Der
SDS - ursprünglich als Studentenorganisation der SPD gegründet - wurde 1961
wegen seines Festhaltens an einer marxistischen Systemkritik von seiner
Mutterpartei mit einem Unvereinbarkeitsbeschluss und dem Entzug der finanziellen
Mittel abgestraft. In der freischwebenden Studentenorganisation, deren
Mitgliedschaft sich nach der Trennung von der SPD bei etwa 800 Aktivisten
einpendelte, tummelten sich bald Vertreter aller möglichen sozialistischen und
kommunistischen Weltanschauungen. Im Kontext des jugendkulturellen Aufbruchs
und des Wertewandels radikalisierte sich der SDS seit Mitte der Sechzigerjahre von
einer sozialistisch-systemkritischen zu einer revolutionären Avantgardeorganisation,
15
die sich faktisch den Umsturz der politischen Verhältnisse in der Bundesrepublik
Deutschland auf die Fahnen schrieb. Die einflussreiche Münchner SDS-Gruppe
verbreitete im Frühjahr 1965 im gesamten Verband ein programmatisches
Thesenpapier, das dazu aufrief, »in Theorie und Praxis die Möglichkeiten und
Fähigkeiten der handelnden Subjekte voranzutreiben, sozialistische Demokratie als
Organisationsprinzip der proletarischen Revolution und der Diktatur des Proletariats
vorwegzunehmen«, es »nach innen und außen propagieren [und] ohne
Kompromisse zu verwirklichen suchen«. Der SDS habe als Teil der linken Bewegung
die im Grundsatzprogramm des DGB enthaltenen Strukturreformvorschläge zu
unterstützen, »soweit deren Verwirklichung die bürgerliche Gesellschaft als Ganzes
infrage stellt«. Im September 1966 begrüßte die Bundesdelegiertenkonferenz des
SDS in Frankfurt mehrheitlich die chinesische Kulturrevolution. In ihrer Resolution
bezeichneten die SDS-Delegierten Ausschreitungen der chinesischen Roten Garden
als »Randerscheinungen«, die aber verhinderten, dass die Revolution in der VR
China erlahme wie in der UdSSR und in Jugoslawien. Zum Sprecher der Radikalen
im SDS und bald auch zum Star in den westdeutschen Medien wurde der Berliner
Soziologiestudent Rudi Dutschke, der kurz vor dem Mauerbau aus der DDR nach
Westberlin geflüchtet war, weil er die Politik des SED-Regimes ablehnte.
Der SDS entwickelte sich 1967/68 zur wichtigsten Gruppierung in der westdeutschen
Studentenrevolte und in der Außerparlamentarischen Opposition (APO). Nach der
Erschießung eines gegen den Staatsbesuch des persischen Schahs
demonstrierenden Studenten in Westberlin durch einen Kriminalbeamten, der - wie
sich erst 2009 herausstellte - ein Agent des Staatssicherheitsdienstes der DDR war,
und nach dem Attentat eines rechtsradikalen Jugendlichen auf Rudi Dutschke griff
die Studentenrevolte auf weite Teile der westdeutschen Jugend über. Im Streit um
die Führung und die »richtige Linie« zerfiel der SDS kurz nach dem Höhepunkt der
68er−Ereignisse. Die Revolte mündete in unendliche Diskussionen über Reformoder Revolutionsprojekte, weit über 100 000 junge Männer und Frauen organisierten
sich im Verlauf der Siebzigerjahre in zahlreichen sich gegenseitig befehdenden
maoistischen, trotzkistischen und anarchistischen Revolutionsvereinen und Parteien.
Mindestens ebenso viele fanden auf dem linken Flügel der SPD eine neue politische
Heimat, aber auch in der 1968 neu gegründeten Deutschen Kommunistischen Partei
(DKP).
Die DKP und ihr Umfeld
Zur Gründung der DKP kam es auf Vermittlung der Kommunistischen Partei Italiens
(PCI) nach diskreten Vorabsprachen zwischen Vertrauten der Bundesregierung und
der SED im Jahr 1968. Die von der SED finanzierte und gesteuerte DKP verzichtete
programmatisch auf die Perspektive einer revolutionären Überwindung des
politischen Systems der Bundesrepublik. Das war der Preis ihrer Duldung durch die
Bundesregierung und die westdeutschen Verfassungsschutzorgane. Gleichwohl
blieb sie bis 1989 der Idee einer Umwandlung des westdeutschen politischen
Systems nach dem Vorbild der DDR verhaftet und auf die Finanzierung ihres
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Funktionärs- und Propagandaapparats durch die SED angewiesen. Die meisten
Spitzenfunktionäre der KPD kehrten 1968 aus der DDR in die Bundesrepublik zurück
und übernahmen Führungsaufgaben in der DKP. So auch Herbert Mies, DKPVorsitzender von 1973 bis 1990. Im Wandel des Zeitgeists nach dem Ende des
Kalten Krieges und im Zuge der vertraglichen Annäherung beider deutschen Staaten
gelangten die DKP und ihre Umfeldorganisationen bis Anfang der Achtzigerjahre zu
einigem Einfluss im westdeutschen Universitäts- und linken Gewerkschaftsmilieu
sowie in der Bewegung gegen die Stationierung der Pershing-II-Raketen Anfang der
Achtzigerjahre.
Im November 1970 begab sich sogar ein sozialdemokratischer Bundesverband unter
die Fittiche von DKP und SED. Die Delegiertenkonferenz des Sozialistischen
Hochschulbundes (SHB) verabschiedete in Koblenz eine Reihe von
programmatischen Entschließungen, die das für die Westarbeit zuständige SEDPolitbüromitglied Albert Norden für so bedeutend hielt, dass er davon das Politbüro in
Kenntnis setzte. Norden versah seine Mitteilung an die SED-Führung mit der
Bemerkung: »Erwähnen möchte ich, dass wir diese Beschlüsse des SHB in unserer
Presse nicht sehr hochgespielt haben und vorläufig auch nicht hochspielen werden,
um der rechten SPD-Führung dadurch keine Handhabe gegen die progressiven
Kräfte des SHB zu geben.« Die progressivsten Kräfte des SHB, die zum Teil bereits
auf marxistischen Positionen stünden, hätten derzeit den größten Einfluss in dem
2000 Mitglieder zählenden Verband.
Der SHB war zehn Jahre zuvor als antikommunistischer Widerpart gegen den
Sozialistischen Deutschen Studentenbund (SDS) gegründet worden. Am 23. Mai
1960 hatte der Parteivorstand der SPD »die ihm vorgelegte Grundsatzerklärung des
SHB zur Kenntnis« genommen, den SHB als sozialdemokratische Organisation
anerkannt und »die eindeutige Haltung des SHB zum Godesberger Programm sowie
die scharfe Abgrenzung zum Totalitarismus und seiner gegenwärtig gefährlichsten
Form, dem Kommunismus«, begrüßt.
Im November 1970 verabschiedete die Delegiertenkonferenz dieses
sozialdemokratischen Studentenbundes eine Entschließung zur Ostpolitik, in der der
SPD-Führung vorgeworfen wurde, sie sei nicht mehr nur objektiv, sondern auch
subjektiv »an der Sicherung des staatsmonopolistischen Herrschaftssystems
interessiert«. In der Entschließung wurde von der »Bundesrepublik als dem
vorgeschobenen Posten des Weltimperialismus« gesprochen und die Ostpolitik der
sozial-liberalen Regierung kritisiert, da sie den Alleinvertretungsanspruch immer noch
nicht aufgegeben habe.
Die Geschwindigkeit, mit der sich der Übergang des SHB vom sozialdemokratischen
in das realsozialistische Lager vollzog, überraschte selbst die Erwartungen der für die
Westarbeit verantwortlichen SED-Funktionäre. Im Juli 1970 traf eine Delegation des
»SHB-Bundeszentralrates« - wie sich der Vorstand des Verbands inzwischen nannte
- in Ostberlin mit Vertretern des FDJ-Zentralrates zusammen, die sich angesichts der
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raschen Annäherung des SHB an die kommunistische Weltanschauung überrascht
zeigten: »Die ursprünglich von uns erwartete größere Differenzierung in den
politischen Ansichten bestätigte sich nicht«, hieß es in einer zusammenfassenden
Bewertung des FDJ-Vorsitzenden Günther Jahn. In der Bewertung der Innenpolitik
der Bundesregierung habe es weitgehend Übereinstimmung gegeben. Zahlreiche
SHB-Mitglieder absolvierten seit 1971 in der DDR Schulungskurse zur »Ausbildung
in marxistischer Theorie«. Die SPD trennte sich 1972 vom SHB und untersagte ihm
jede weitere Tätigkeit unter sozialdemokratischem Namen. Der Verband benannte
sich daraufhin in Sozialistischer Hochschulbund Deutschlands um. 1989 löste der
SHB sich selbst auf. In den Siebzigerjahren beherrschten Bündnisse des SHB mit
dem Marxistischen Studentenbund (MSB) Spartakus der DKP viele westdeutsche
Studentenvertretungen und zeitweise auch den Verband Deutscher
Studentenschaften (VDS). Der MSB Spartakus hatte in seiner besten Zeit über 6000
Mitglieder; auch er löste sich nach dem Ende des SED-Regimes 1990 selbst auf.
Im Umfeld der DKP finanzierte die SED mit erheblichem Aufwand »fortschrittliche
Verlage«, 1972 befanden sich 21 Verlage in der Hand von DKP-Genossen. Einer der
einflussreichsten war der Verlag Marxistische Blätter, der zwischen 1969 und 1972
insgesamt 126 Titel herausbrachte, davon 91 DDR-Mitdrucke, Lizenzen oder
Manuskripte aus der DDR (einschließlich Sowjetunion) sowie die Zeitschrift
Marxistische Blätter. Durchaus von Bedeutung war auch der Pahl-Rugenstein Verlag.
Er brachte in der gleichen Zeit 41 Titel, davon sieben mithilfe von Verlagen bzw.
Institutionen der DDR heraus und monatlich die Blätter für deutsche und
internationale Politik sowie die Zeitschrift Kritischer Katholizismus. Die aus der DDR
1972 über DKP-Vertriebswege in die Bundesrepublik exportierten Bücher machten
12 Prozent des Buchexports der DDR aus.
K-Gruppen, Spontis, Trotzkisten und viele andere mehr
Wie erwähnt gehörten in den Siebzigerjahren etwa 100000 junge Westdeutsche zur
linksradikalen Fundamentalopposition. Sie bekämpften das politische System der
Bundesrepublik und wollten es durch ein wie auch immer geartetes sozialistisches
Gesellschaftsmodell ersetzen. Neben den eher anarchistisch orientierten »Spontis«,
die durch den späteren Außenminister Joschka Fischer von den Grünen in den
letzten Jahren noch einmal deutlich ins öffentliche Blickfeld gerieten, bildeten die
sogenannten K-Gruppen einen erratischen Block, von dem heute kaum noch
bekannt ist, wo er herkam und wohin er verschwunden ist. Nur verschämt, wenn
überhaupt, weisen Politiker der Grünen bisweilen auf ihre frühere Mitgliedschaft in
einer K-Gruppe hin. Dabei fand ein beträchtlicher Teil des K-Gruppenpotenzials
Anfang der Achtzigerjahre bei der Grünen Partei eine neue politische Heimat und
trug durch ihre langjährige Organisationserfahrung zum Gründungsschwung des
neuen Projekts bei. Eine repräsentative Untersuchung über die politische
Vorgeschichte grüner Amts- und Mandatsträger bezifferte 1987 ihren Herkunftsanteil
aus K-Gruppen auf 21 Prozent.
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Alle K-Gruppen, deren Funktionäre später mit den Bunten und Alternativen Listen in
die Grüne Partei gelangten, entstanden als Zerfallsprodukte der 68er−Bewegung in
den frühen Siebzigerjahren. Sie waren straff organisierte Kaderorganisationen, die
sich mehr oder weniger an der maoistischen Ideologie orientierten und die Hoffnung
hegten, in absehbarer Zeit als kommunistische Avantgarde die Führung der
deutschen Arbeiterklasse übernehmen zu können. Das gemeinsame Ziel der
untereinander zerstrittenen K-Sekten war die Ersetzung der bürgerlichdemokratischen Republik durch eine Diktatur des Proletariats. Die einflussreichsten
auch überregional aktiven K-Gruppen waren: die KPD/ML, der Kommunistische Bund
(KB), die KPD/AO (seit 1974 KPD), der Kommunistische Arbeiterbund Deutschlands
(KABD), der Arbeiterbund für den Wiederaufbau der KPD und die Marxistische
Gruppe. Um die meisten dieser kommunistischen Sekten gruppierten sich
Unterorganisationen, die »Bündnispartner« unter den Jugendlichen, Studenten und
Künstlern werben sollten.
Die an Mitgliedern stärkste und einflussreichste K-Gruppe war der 1973 gegründete
Kommunistische Bund Westdeutschlands (KBW), der Mitte 1976 nach seiner
internen Statistik 2611 Mitglieder hatte, die bundesweit in etwa 400 Zellen organisiert
waren. Zu zwei Dritteln bestand die Organisation aus Männern, das
Durchschnittsalter der Kader betrug 24 Jahre, zwölf Prozent der Mitgliedschaft waren
Arbeiter. Zum KBW gehörten außerdem die Kommunistischen Hochschulgruppen
(KHG) mit knapp 2000 Mitgliedern sowie Oberschülerorganisationen, eine
Gesellschaft zur Unterstützung der Volkskämpfe (GUV) und diverse
Solidaritätskomitees mit insgesamt weiteren 2000 KBW-Sympathisanten. Die
verkaufte Auflage des KBW-Wochenblatts Kommunistische Volkszeitung betrug
30000 Exemplare, wobei das Blatt wegen vieler Wohngemeinschafts- und
Kneipenabonnements rund 100 000 Leser erreichte. Bei den Bundestagswahlen von
1976 erhielt der KBW 21414 Stimmen, 1980 hingegen nur noch 12008. Die Führung
des KBW lag faktisch in den Händen einer kleinen Gruppe bezahlter Funktionäre. Sie
nannten sich »Ständiger Ausschuss« und wurden von einem Zentralen Komitees
(ZK) gewählt, dem 39 Mitglieder und zehn Kandidaten angehörten. An der Spitze des
ZK stand der Erste Sekretär. Von 1973 bis 1983 war das Hans-Gerhart »Joscha«
Schmierer, der 1968 dem Bundesvorstand des antiautoritären Sozialistischen
Deutschen Studentenbundes angehört hatte. Für Außenminister Joschka Fischer
arbeitete Schmierer zu Zeiten der rot-grünen Bundesregierung im Planungsstab des
Auswärtigen Amtes.
Den revolutionären Umsturz strebten ebenfalls die in den frühen Siebzigerjahren
aktiven trotzkistischen und rätekommunistischen Parteiorganisationen sowie eine
Unzahl von Autonomen- und Sponti-Basisgruppen an. Die wichtigsten von ihnen
waren die zur IV. Internationale gehörende Gruppe Internationaler Marxisten (GIM),
die Gruppe Spartacus, die Proletarisch Revolutionäre Parteiinitiative (PLPI), die
Ruhrkampagne sowie der Revolutionäre Kampf. Nahezu alle revolutionären
Miniparteien litten gegen Ende der Siebzigerjahre an einem starken
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Mitgliederschwund. Die meisten zerfielen oder lösten sich selbst auf, und der Großteil
ihrer ehemaligen Mitglieder kehrte in ein bürgerliches Leben zurück.
Als Zerfallsprodukte der Jugend- und Studentenrevolte von 1968 entstanden
verschiedene Untergrundorganisationen, die den bewaffneten Kampf gegen das
westdeutsche Gesellschaftssystem aufnahmen. Ihre Ideenwelt war von
kommunistischen und anarchistischen Theorien sowie von der revolutionären
Propaganda lateinamerikanischer Stadtguerillaorganisationen und der Black Panther
Party geprägt. In diesem Zusammenhang entstanden drei auch international
operierende westdeutsche Terrororganisationen: die RAF, die Bewegung 2. Juni und
die Revolutionären Zellen (RZ). Diese bewaffneten Kampfgruppen waren
Spätgeburten der Weltbürgerkriege des 20. Jahrhunderts. Die interessierten Dritten,
die den schießenden westdeutschen Kommunisten jahrelang das logistische
Hinterland sicherten, saßen an der Spitze einer regierenden kommunistischen Partei.
Das war die ostdeutsche Seite der Medaille. Ohne Unterstützung des Ministeriums
für Staatssicherheit hätte die erste Generation der RAF ihre Rückkehr aus den
palästinensischen Ausbildungslagern nach Westdeutschland gar nicht
bewerkstelligen können. Die Stasi gewährte den westdeutschen Terroristen bis in die
Achtzigerjahre hinein nicht nur verdeckte Ein- und Ausreisen, sie ermöglichte ihnen
nach Anschlägen via DDR die Flucht in Dritte-Welt-Länder, fälschte Pässe und gab
ihnen, wenn nötig, auch Reisegeld mit auf den Weg. RAF-Kämpfer absolvierten
sogar auf Übungsplätzen der Nationalen Volksarmee eine von Stasi-Ausbildern
angeleitete Schieß- und Sprengausbildung. Der international gesuchte Terrorist
Carlos (Ilich Ramírez Sµnchez) und Mitglieder seiner Gruppe hielten sich mehrfach
in der DDR auf und arbeiteten mit dem MfS zusammen. Im Vorfeld des
Bombenanschlags auf das Maison de France in Westberlin (1 Toter, 21 Verletzte)
erhielt das Mitglied der Carlos-Gruppe Johannes Weinrich auf Vermittlung der
syrischen Botschaft den vom MfS beschlagnahmten Sprengstoff zurück, mit dem das
Attentat am 25. August 1983 verübt wurde. Weinrich wurde 2001 von einem Berliner
Gericht wegen des Bombenanschlags zu lebenslanger Haft und der Leiter der
»Terrorabwehr« des MfS, Helmut Voigt, als Beihelfer zu einer vierjährigen Haftstrafe
verurteilt.
Die RAF und der DDR-Staatssicherheitsdienst waren in vielerlei Hinsicht Brüder im
Geiste. Stasi-Minister Erich Mielke sorgte als klammheimlicher RAF-Sympathisant
fast zwanzig Jahre lang für eine verdeckte deutsch-deutsche Waffenbrüderschaft,
ohne die aus der RAF nie das geworden wäre, was sie in den Siebziger- und
Achtzigerjahren war. Erich Mielkes wohlwollendes Interesse an der RAF und anderen
Untergrundorganisationen speiste sich aus eigener Lebenserfahrung. Nicht nur, dass
er als Jungkommunist auf dem Berliner Bülowplatz zwei sozialdemokratische
Polizeibeamte erschoss, er und seine Umgebung teilten neben der Weltsicht auch
den Hass der Linksterroristen auf die bürgerliche Demokratie und vor allem die Idee
der historisch notwendigen Gewaltausübung gegen alle, die der schönen neuen Welt
des Kommunismus im Wege standen. Mehr als 70 Menschen starben in dem von der
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RAF, der Bewegung 2. Juni und den RZ gegen das »westdeutsche
Schweinesystem« entfesselten Krieg, davon 33 aufseiten der Terroristen.
Einer Allensbach-Umfrage zufolge sympathisierte 1972 jeder vierte Westdeutsche
unter dreißig mit der RAF. Die im Gefängnis einsitzenden Führungskräfte der ersten
Generation um Ulrike Meinhof und Andreas Baader wurden von bekannten
Linksanwälten verteidigt, die mit ihren damaligen öffentlichen Propagandareden der
zweiten und dritten Terroristengeneration Argumente für den unversöhnlichen Kampf
gegen Staat und Justiz an die Hand gaben. Mancher, der damals das Feuer schürte,
gehörte am Ende des 20. Jahrhunderts zur Prominenz der Berliner Republik,
Journalisten, Abgeordnete und Minister inklusive. Die Geschichte des westdeutschen
Terrorismus endete bald nach dem Untergang des SED-Regimes. Der zeitliche
Kontext war kein Zufall.
Der Kommunismus an der Macht in der SBZ/DDR von 1945 bis
1989/1990
Kommunistische Nachkriegsplanungen
Führende KPD-Funktionäre wurden unmittelbar nach der Teheraner Konferenz damit
beauftragt, Konzeptionen für die politische Gestaltung Nachkriegsdeutschlands zu
entwerfen. Diese Kommunisten, die das Moskauer Exil und den stalinistischen Gulag
überlebt hatten, waren in vielfacher Weise gebrochen und hatten sehr oft ein von
tiefem Misstrauen und Zynismus geprägtes Menschen- und Gesellschaftsbild
verinnerlicht.
Auf Weisung von Georgi Dimitrow, dem ehemaligen Generalsekretär der Komintern,
entwickelte die Moskauer KPD ein Konzept zur Bildung eines »Blocks der
kämpferischen Demokratie«. Unter Führung der Kommunistischen Partei sollte ein
Bündnis mit Sozialdemokraten, aber auch mit bürgerlichen Kräften die Macht im
besiegten Nachkriegsdeutschland übernehmen. Bei der Verwirklichung der Idee
einer Einheitspartei von Kommunisten und Sozialdemokraten müsse bei der
Zusammenarbeit mit der SPD, die man wenige Jahre zuvor noch als
sozialfaschistisch bezeichnet hatte, darauf geachtet werden, dass der
»Sozialdemokratismus« in der anzustrebenden Einheitspartei keine Rolle spiele. Die
wichtigsten führenden Positionen sollten die sogenannten Moskau-Kader
übernehmen.
Ende April 1945 flog die Rote Armee ausgewählte deutsche Kommunisten nach
Deutschland, damit sie die Machtübernahme im Nachkriegsdeutschland konkret
vorbereiten konnten. Eine herausragende Rolle nahm dabei Walter Ulbricht ein, der
die Maxime für die Machtübernahme vorgab: »Es muss demokratisch aussehen,
aber wir müssen alles in der Hand behalten.«
21
Sowjetische Besatzungsherrschaft
Die oberste Macht lag jedoch in den Händen der sowjetischen Besatzungsbehörde,
der »Sowjetischen Militäradministration in Deutschland« (SMAD). Innerhalb kürzester
Zeit baute sie ein Befehls- und Kontrollnetz auf, das alle Bereiche des politischen
und gesellschaftlichen Lebens in der SBZ umfasste.
Von 1945 bis 1950 unterhielten sowjetische Behörden in ehemaligen
Konzentrationslagern, Kriegsgefangenenlagern oder Strafanstalten zehn
Speziallager (u. a. Buchenwald, Berlin-Hohenschönhausen, Bautzen und
Sachsenhausen), in die etwa 150000 bis 180 000 Personen eingewiesen wurden.
Über 40000 Menschen kamen zu Tode, viele von ihnen verhungerten.
Die Zahl der von sowjetischen Militärtribunalen unter der Beschuldigung von NSVerbrechen Verurteilten liegt bei etwa 40000 bis 50000. In vielen Fällen basierte die
Anklage ausschließlich auf einem »Geständnis« der Inhaftierten, das häufig mit
physischer oder psychischer Folter erpresst wurde. Die Urteilssprüche und hohen
Strafen waren zumeist mit der Konfiszierung von Hab und Gut verbunden. Bis Ende
1947 wurden mehr als 20000 Menschen in die Sowjetunion verschleppt und dort in
Zwangslager verbracht oder hingerichtet. Auch in der SBZ vollstreckten sowjetische
Besatzungstruppen zahlreiche Todesurteile.
Neben ehemaligen Nazis wurden auch Sozialdemokraten und bürgerlich gesinnte
Personen, die sich dem kommunistischen Regime widersetzten oder denunziert
worden waren, in die Speziallager gebracht und zum Teil verurteilt. Manche
Personen saßen zum zweiten Mal in dem gleichen KZ - erst unter den
Nationalsozialisten und jetzt unter den Kommunisten.
SMAD und die als »Russenpartei« verschriene KPD stießen bei der ostdeutschen
Bevölkerung nicht auf Sympathie, da es beim Einmarsch der Roten Armee zu
massenhaften Plünderungen, Vergewaltigungen und Morden an der Zivilbevölkerung
gekommen war.
Sozialistische Umgestaltung
Nach der Schließung der Banken und der Beschlagnahme ihrer Aktiva im Juli 1945
wurde die wirtschaftliche Umgestaltung mit der Verstaatlichung des Bankenwesens
und der Großindustrie fortgesetzt. Der Anteil der verstaatlichten Betriebe an der
Produktionsleistung in der SBZ betrug 1948 etwa 60 Prozent. Die Konfiszierungen
erfolgten unter der Parole »Enteignung der Kriegsverbrecher«. Ebenso schnell und
systematisch geschah die Umgestaltung der Landwirtschaft. Begleitet von
aufwendigen Propagandakampagnen läuteten SMAD und KPD im September 1945
die Bodenreform ein. Mithilfe einer entschädigungslosen Enteignung unter der
Losung »Junkerland in Bauernhand« erhielten über 500 000 anspruchsberechtigte
private Personen ein kleines Stück Land. Insgesamt erfolgten mehr als 10 000
Enteignungen, darunter ca. 4000 mit weniger als den ursprünglich vorgesehenen
1200 ha.
22
Mit der Umgestaltung von Wirtschaft und Landwirtschaft ging die Vertreibung der
alten Eliten einher; an ihre Stelle traten nun Begünstigte des neuen Systems, von
denen sich die KPD/SED eine treue Gefolgschaft oder zumindest Loyalität versprach.
Die soziale Neustrukturierung der Gesellschaft erfolgte unter dem Deckmantel der
Entnazifizierung. Allerdings erwuchsen hieraus auch besondere Probleme, waren
doch viele Neubauern und vor allem die meisten ökonomischen Führungskader nicht
hinreichend oder überhaupt nicht für ihre Aufgabe qualifiziert.
Da Stalin das gesamte Deutschland in den eigenen Macht- bzw. Einflussbereich
einbeziehen wollte, ließ die Besatzungsbehörde entgegen dem sowjetischen Vorbild
mehrere Parteien zu. Gleichzeitig entstanden zentralistische Verwaltungsstrukturen,
mit denen die sozialistische Umgestaltung abgesichert wurde. Dabei ließ die SMAD
keine Eigenständigkeiten der Parteien und Institutionen zu. Als »Aushängeschild«
diente dabei die KPD/SPD, die als direkter Befehlsempfänger und Begünstigter
gegenüber den anderen Parteien einen Sonderstatus einnahm.
Die anfangs zugelassenen vier Parteien - neben KPD und SPD die CDU und als
liberale Partei die LDPD - mussten in einem Block zusammenarbeiten. Diese
Blockpolitik war faktisch nur »Camouflage« und diente der Steuerung des
Parteiensystems im kommunistischen Interesse. Illusionen der beiden bürgerlichen
Parteien, in dem »Block« aufgrund des Konsensprinzips eigene Positionen
durchsetzen oder kommunistische Forderungen wenigstens abschwächen zu
können, zerplatzten recht bald. KPD und SPD traten per Vorabsprache den
bürgerlichen Parteien geschlossen gegenüber. Hinzu kam die Überwachung aller
Parteiaktivitäten durch sowjetische Geheimdienste.
Die Gründung der SED und ihr Herrschaftsanspruch
Hatten sich anfangs die Kommunisten einer von führenden ostdeutschen
Sozialdemokraten angestrebten Vereinigung widersetzt, um den Aufbau ihres
eigenen Apparates und ihre gesellschaftliche Verankerung nicht zu gefährden,
mussten sie nach den für sie negativen Ergebnissen der Wahlen in Ungarn und
Österreich auf Druck der Sowjetunion eine Verschmelzung mit der Sozialdemokratie
anstreben. Die Vereinigung wurde schließlich im April 1946 auch gegen Widerstände
in der ostdeutschen Sozialdemokratie und gegen den entschiedenen Widerspruch
der West-SPD vollzogen. Aus Sicht der Vereinigungsgegner vollzog sich die SEDGründung als Zwangsvereinigung. Gleichwohl erlagen viele Sozialdemokraten der
Illusion, in der neuen Einheitspartei den Kurs zumindest mitbestimmen zu können.
Tatsächlich aber dominierten die Führungskader der KPD die neue Partei von Beginn
an. Ehemalige Sozialdemokraten mussten sich an kommunistische Gepflogenheiten
anpassen oder standen in Gefahr, aus der Partei hinausgesäubert oder sogar
verhaftet zu werden.
Die Sozialistische Einheitspartei war, auch wenn sie dies erst zwei Jahre später
offiziell verkündete, eine genuin kommunistische Partei, welche die Gründung eines
eigenen Staates von Beginn an fest im Blick hatte. Eine mögliche Wiedervereinigung
23
mit dem Westen strebte sie durch eine revolutionäre Umwälzung in den anderen
deutschen Zonen an. In der Vorbereitung der Übernahme des Staates durch die SED
warnte der ehemalige Sozialdemokrat und spätere erste Ministerpräsident der DDR,
Otto Grotewohl, schon 1948 davor, nur den alten bürgerlichen Staat zu restaurieren.
In dem »neuen Staat« reiche es nicht, die Schaltstellen mit SED-Genossen zu
besetzen. Jeder zukünftige Staatsbedienstete müsse wissen, »dass seine Aufgabe
darin besteht, bei der Partei zu stehen, in der Partei zu stehen und für die Partei zu
stehen«. Ehemalige Sozialdemokraten hatten also schnell gelernt, worum es den
deutschen Kommunisten ging: um die Zerstörung des bürgerlichen Staates und den
Aufbau einer »sozialistischen Demokratie«, die politisch durch die »Diktatur des
Proletariats« und ökonomisch durch die Verstaatlichung der Produktionsmittel
gekennzeichnet war.
Die Gründung des SED-Staates
Nachdem sich im Laufe des Jahres 1947 die Auseinandersetzungen zwischen den
»Verbündeten wider Willen« der ehemaligen »Anti-Hitler-Koalition« verschärft hatten
und die Westalliierten die Gründung eines »Weststaates« forcierten, konnte auch die
SED die Gründung ihres Staates konkret vorbereiten. Am 7. Oktober 1949 wurde auf
Weisung Stalins die DDR gegründet. Auf eine Legitimation durch Wahlen hatte die
SED vorsichtshalber verzichtet. Ein Jahr später durfte die DDR-Bevölkerung per
»Einheitsliste«, auf der neben SED, CDU und LDPD zwei weitere Parteien - die
NDPD und die Bauernpartei - sowie einige Massenorganisationen vertreten waren,
die Abgeordneten der »Volkskammer« wählen. Da die Verteilung der Sitze vorher
festgelegt wurde, war die Wahl eine Farce. Dennoch fälschte die SED alle
Abstimmungen und erreichte so immer fast 100 Prozent der Stimmen.
Unmittelbar nach der Staatsgründung setzte die Kommunistische Partei in Absprache
mit der »Sowjetischen Kontrollkommission« (SKK) - der Nachfolgerin der SMAD strukturelle Veränderungen in Staat und Gesellschaft nach dem Vorbild des
sowjetischen Systems durch. Neben der Ausrichtung der Mitgliedschaft auf die
Parteispitze durch Säuberungen und Disziplinierungen festigte die Staatspartei ihre
Macht durch die bedingungslose Unterordnung von Blockparteien und
Massenorganisationen unter ihren Primat. Widerstrebende oder auch nur zögerliche
Politiker aus CDU und LDPD wurden gemaßregelt, abgesetzt, inhaftiert oder zur
Flucht in den Westen getrieben. Den Massenorganisationen wies die SED neben der
legitimatorischen Rolle verstärkt Funktionen bei der Durchsetzung von
Staatsaufgaben zu; sie mutierten damit faktisch zu einem verlängerten Arm von
Partei und Staat. Die politische Gleichschaltung war Anfang der Fünfzigerjahre
endgültig abgeschlossen.
Nach der Staatsgründung wurde Realität, was die Parteiführung schon im
Frühsommer 1948 bei der offiziellen Verwandlung der SED in eine marxistischleninistische Kader- und Massenpartei formuliert hatte: »Die führende Rolle der
Partei bedingt […] dass alle Parteileitungen die Fähigkeit erwerben, den Staat, die
24
Länder, Kreise und Gemeinden, die Betriebe, die Industrie, die Landwirtschaft, die
Schule, das kulturelle Leben usw., das alles zu verwalten und zu führen.« Nach
dieser Auffassung stand Parteiloyalität über Staatsloyalität. Die DDR kann daher mit
Fug und Recht als SED-Staat gekennzeichnet werden.
Entnazifizierung und Integration ehemaliger Nazis
Die Entnazifizierung erfolgte in der SBZ/DDR umfassender als in den Westzonen und
der Bundesrepublik. Nach Schätzungen wurden insgesamt etwa eine halbe Million
Nationalsozialisten, darunter vier Fünftel aller Richter und mehr als die Hälfte der
Lehrer, ihrer bisherigen beruflichen Positionen enthoben bzw. nicht wiedereingestellt.
Die SED nutzte allerdings die Entnazifizierung auch zur Entlassung missliebigen
Personals aus Wirtschaft und Staat; an dessen Stelle sie eigene Kader platzierte.
Daneben verhalf sie vornehmlich solchen ehemaligen NSDAP-Mitgliedern, die in
sowjetischer Kriegsgefangenschaft der nationalsozialistischen Ideologie
abgeschworen hatten, zu einer zum Teil steilen Karriere.
Ehemalige Nationalsozialisten, die sich nun der Sache der Arbeiterklasse und ihrer
Avantgarde widmeten, konnten in der SED, in den Ministerien und auch in den
meisten Berufen rasch wieder Karriere machen.
Auf Weisung der sowjetischen Seite gründete die SED 1948 eine von ihr gelenkte
Partei - die NDPD -, in der ehemalige kleine Parteigenossen der NSDAP organisiert
werden sollten. Viele ehemalige Mitglieder der NSDAP und ihrer
Massenorganisationen traten jedoch lieber in die SED ein, weil ihnen hier bessere
soziale Aufstiegsmöglichkeiten eröffnet wurden. Sie verhielten sich besonders
diszipliniert und waren von den wiederholten Säuberungen innerhalb der Partei
deutlich weniger betroffen als ehemalige Sozialdemokraten.
Nach ihrem eigenen Selbstverständnis hatte die SED den »Faschismus«, wie sie den
Nationalsozialismus nannte, durch Bodenreform, Enteignungen und kommunistische
Erziehung mit der Wurzel ausgerottet. Dennoch hatte die Partei vor allem in den
Achtzigerjahren sogar ein von ihr geleugnetes Problem mit jugendlichen Neonazis,
die sie als »Rowdies« verharmloste.
Antizionismus und Antisemitismus im SED-Staat
Für die SED war der Nationalsozialismus vor allem durch seinen Antikommunismus
geprägt. Die rassenideologischen Grundlagen des Nationalsozialismus und die
Vernichtung der Juden kamen in der Darstellung des NS-Regimes nur am Rande
vor. Zwar wurden nach ihrer Lesart Juden ebenso wie Kommunisten verfolgt, aber da
nur Letztere gegen den Faschismus gekämpft hatten, wurden sie dementsprechend
materiell belohnt. Vor diesem Hintergrund lehnte die SED eine »Wiedergutmachung«
an den Staat Israel ab und hatte keine Hemmungen, zum Teil unter Rückgriff auf
antisemitische Stereotype des Nationalsozialismus »antizionistische« Hetzparolen zu
verbreiten.
25
Erste deutliche antijüdische Aktivitäten der SED begannen bereits Anfang der
Fünfzigerjahre vor dem Hintergrund massiver Judenverfolgungen in der Sowjetunion
und anderen osteuropäischen Staaten. Nach dem Ausbruch des Sechs-Tage-Kriegs
im Nahen Osten 1967 verschärfte die SED ihre Hetze gegen Israel und die Juden.
Israel sei der Brückenkopf des»Weltimperialismus«, finanziert von internationalen
Bankenkonsortien. Selbst vor einer plumpen Analogie zwischen Israel und dem NSRegime schreckte die SED nicht zurück. So berichtete ihre Nachrichtenagentur ADN
zum Beispiel 1978: »Israel hat von Nazi-Deutschland gelernt« und begehe einen
»Völkermord« an den Palästinensern, »die Juden - als Opfer - wurden zu Henkern«.
Die Rolle der Stasi
Da sich die SED nicht auf eine Mehrheit der ostdeutschen Bevölkerung stützen
konnte, musste sie auf Weisung und unter Kontrolle der sowjetischen
Besatzungsmacht zur Sicherung ihrer Macht schon frühzeitig eigene
Sicherheitsapparate in der SBZ aufbauen. Neben einem parteiinternen
Spitzelapparat standen spezielle (politische) Kommissariate innerhalb der
Kriminalpolizei - die sogenannten K5 - als erste Institutionen für den Aufbau
repressiver Strukturen zur Verfügung, die 1950 institutionell zum Ministerium für
Staatssicherheit (MfS) führten. Dieses Ministerium hatte 1950 erst 2700
hauptamtliche Mitarbeiter. Ihre Zahl wuchs von etwa 30000 Mitte der Sechzigerjahre
und gut 70 000 Ende der Siebzigerjahre auf über 90000 im letzten Jahr der DDR.
Hinzu kamen 1989 noch einmal ca. 174 000 Inoffizielle Mitarbeiter (IM), die ihre
Mitmenschen bespitzelten. Damit gab es in der DDR auf 62 Einwohner einen
Mitarbeiter der Stasi, eine Relation, die weltweit ihresgleichen sucht.
Hauptamtliche und Inoffizielle Mitarbeiter der Stasi sollten den SED-Staat vor dem
Einfluss »feindlich-negativer Personen« und ihrer »feindlich-negativen Handlungen«
schützen. Zum »Feind« wurde jeder erklärt, der Kritik am Sozialismus oder der
kommunistischen Partei und ihrer Funktionäre äußerte. Ging die Stasi gemeinsam
mit anderen Sicherheitskräften bis weit in die Sechzigerjahre hinein mit zum Teil
brachialen Mitteln gegen politisch Andersdenkende vor, änderte sich die Strategie im
Zuge der Entspannungspolitik und der Beobachtung durch Westmedien. Nun sollte
der tatsächliche oder potenzielle Klassenfeind möglichst flächendeckend überwacht
und kontrolliert werden.
Das MfS beobachtete nicht nur »feindlich-negative Kräfte«, indem es im
Zusammenwirken mit anderen Institutionen deren Leben und Verhalten vom Beruf
bis zur Intimsphäre mit allen zur Verfügung stehenden Mitteln im wahrsten Sinne des
Wortes ausschnüffelte, sondern entwickelte auch Maßnahmepläne, welche die
»Zersetzung« - die »Zersplitterung, Lähmung, Desorganisierung und Isolierung
feindlich-negativer Kräfte« auf konspirativer Basis - bestimmter Personen zum Ziel
hatten. Der Betroffene sollte am Arbeitsplatz und in seinen persönlichen
Beziehungen isoliert und diskreditiert, persönlich verunsichert und sogar kriminalisiert
werden. Das MfS stützte sich dabei auf Erkenntnisse der »operativen Psychologie«.
26
Die hieraus entwickelten Methoden sollten die Persönlichkeitsstruktur der
Betroffenen zerstören, indem u. a. »Personen des Vertrauens (Familie, Freunde)«
als IM zum Einsatz gebracht wurden.
Mit der Aufstellung sogenannter »Kampfgruppen der Arbeiterklasse« in allen großen
Betrieben und Verwaltungen seit dem Frühjahr 1953 schuf sich die SED-Führung
zusätzliche bewaffnete Formationen, die im Falle eines Bürgerkriegs gegen
Aufständische und im Kriegsfall zur »Heimatverteidigung« eingesetzt werden sollten.
Die in der Tradition der proletarischen Hundertschaften und des RoteFrontkämpferbundes der KPD stehenden paramilitärischen Einheiten erlebten bei der
Abriegelung der DDR ab dem 13. August 1961 ihren ersten (und einzigen) großen
Einsatz.
Per Direktive ordnete das MfS im Jahr 1967 die flächendeckende Inhaftierung
politisch Andersdenkender im Falle innerer Unruhen oder bei einem äußeren
Spannungsfall an. Hierzu sollten Isolierungslager errichtet werden, um potenzielle
Staatsfeinde einsperren zu können. Die Stasi ging Ende der Achtzigerjahre von ca.
86000 Personen aus, die dem SED-Staat feindlich gegenüberstanden. Von ihnen
sollten im Spannungsfall ca. 3000 inhaftiert und etwa 11000 in Isolierungslagern
untergebracht werden.
Unter Einsatz der Justiz, die von der SED als »Waffe im Klassenkampf« benutzt
wurde, konnten politisch unliebsame Personen ohnehin jederzeit verurteilt werden.
Die Zahl der wegen »politischer Delikte« in der DDR verurteilten Personen dürfte bei
etwa 250000 Personen liegen.
Das MfS war kein Staat im Staate, sondern »Schild und Schwert« der Partei, das mit
seiner Tätigkeit die Macht der Partei sichern sollte. Bis zum Ende der DDR blieb die
Tätigkeit dieses Organs allerdings mit nur vagen Formulierungen umschrieben,
sodass die Bevölkerung die Machtfülle des MfS nur ahnen konnte.
Die Kirchenpolitik der SED
Obschon in der Verfassung die »volle Glaubens- und Gewissensfreiheit« und die
»ungestörte Religionsausübung« verankert waren, versuchte die SED, den Einfluss
der institutionell selbstständigen Kirchen und der Religion zurückzudrängen. In den
Fünfzigerjahren ging die Partei vor allem gegen die »Jungen Gemeinden« vor, die
aus ihrer Sicht »illegale Agenten- und Spionageorganisation(en)« waren. Viele junge
Christen wurden wegen ihres Glaubens verfolgt, eingesperrt oder zur Flucht
gezwungen.
Obschon sich die Partei Ende der Siebzigerjahre mit den evangelischen Kirchen
verständigte (»Kirche im Sozialismus«), hatte sie die Einschränkung und
Kanalisierung kirchlicher Aktivitäten sowie die Entchristianisierung der Gesellschaft
zum Ziel, denn ein religiöses Leben widersprach dem weltanschaulichen
Totalitätsanspruch des Marxismus-Leninismus. Die Zahl der Kirchenmitglieder ging
27
von etwa 15 Millionen auf rund vier Millionen Menschen zurück. An die Stelle der
Konfirmation trat die von der SED zwar nicht erfundene, aber mit kommunistischen
Inhalten und Zielen inszenierte »Jugendweihe«.
Vom bürgerlichen zum sozialistischen Bildungsprivileg
Da die KPD/SED davon ausging, dass der »neue Mensch« insbesondere durch die
Prägung junger Menschen zu erreichen sei, legte sie von Beginn an großen Wert auf
Strukturen und Inhalte von kollektiver Erziehung und Bildung.
Vorrangiges Ziel der kommunistischen Bildungsreform war die Brechung des
»bürgerlichen Bildungsprivilegs«. An die Stelle des alten, institutionell differenzierten
Schulsystems trat eine einheitliche achtjährige gemeinsame Schule für alle Kinder,
gefolgt von einer vierstufigen Ober- bzw. dreistufigen Berufsschule. Lehrer, die
Mitglieder der NSDAP waren oder eine bürgerliche Herkunft aufwiesen, wurden
zumeist entlassen. In Schnellkursen ausgebildete Neulehrer sollten vor allem eine
»antifaschistische Erziehung« gewährleisten. Ähnlich fundamental bauten SMAD und
SED die Hochschulen um, indem sie nicht nur NS-belastete, sondern auch viele
bürgerlich-konservative Professoren, die sich dem kommunistischen Diktat nicht
beugten, entließen.
Nach dem Verständnis der SED hatten die Hochschulen die Ausbildung einer neuen
sozialen und politischen Elite zu gewährleisten. Die Universitäten öffneten sich für
jüngere Berufstätige ohne Abitur, und der Arbeiteranteil an den Studierenden wurde
zumindest bis in die Siebzigerjahre hinein durch Zulassungsquoten erhöht. Neben
der fachlichen Wissensvermittlung wurde mit dem Pflichtfach Marxismus-Leninismus
für Studenten aller Fachrichtungen Einfluss auf deren ideologische Schulung
genommen.
Nach der Neubesetzung der vakant gewordenen Positionen im Bildungssystem und
in den akademischen Berufen wurde der Anteil von Abiturienten und Studenten
drastisch reduziert. In den Achtzigerjahren studierten etwa 13 Prozent eines
Jahrgangs - unter ihnen nur noch ein geringer Anteil Arbeiterkinder. Die in den
Fünfziger- und Sechzigerjahren in entsprechende Positionen aufgestiegene
sozialistische Intelligenz sorgte nun für die akademischen Ehren ihrer Nachkommen.
Das bürgerliche Bildungsprivileg wurde zum Bildungsprivileg von Kindern
sozialistischer Eltern.
Marxistisch-leninistische Moral und Ethik
Wie andere kommunistische Parteien auch, rechtfertigte die SED ihren
Herrschaftsanspruch mit der »wissenschaftlichen Weltanschauung« des MarxismusLeninismus. Hieraus leitete sie für sich ein universelles Wahrheits- und
Erklärungsmonopol ab. Der im Marxismus-Leninismus verankerte historische
Determinismus deutete den Fortgang der Geschichte als eine gesetzmäßige
Entwicklung zum Sozialismus/Kommunismus. Der Marxismus-Leninismus kann als
»politische Religion mit geschlossener Kirche und unumstößlichem Dogma«
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(Bracher) verstanden werden, die ihren Anhängern stete Gewissheit gab, auf der
richtigen Seite zu stehen, sie aber andererseits unweigerlich in Widersprüche und
Konflikte mit der eigenen gesellschaftlichen Realität führte. Den MarxismusLeninismus ergänzte der als Mythos kultivierte Antifaschismus, der nach marxistischleninistischer Lesart den diktatorischen Kern der sozialistischen Gesellschaft
verhüllen sollte und als Feinderklärung gegenüber den Westmächten und der
Bundesrepublik diente. So wurde die Mauer als »antifaschistischer Schutzwall«
bezeichnet.
Die Parteiführung beanspruchte ein ideologisches Interpretations- und
Wertemonopol. Ziel war die soziale und politische Homogenisierung der Gesellschaft
und die Durchsetzung eines neuen gesellschaftlichen Wertesystems mittels einer
»Diktatur über die Bedürfnisse« (Agnes Heller).
Gemäß ihrer marxistisch-leninistischen Ideologie entwickelte die SED Prinzipien
einer sozialistischen Moral und Ethik, die an die Stelle christlicher Werte treten
sollten. Walter Ulbricht formulierte 1958 »Zehn Gebote der neuen sozialistischen
Sittlichkeit«. Im Vordergrund standen die internationale Solidarität und die
bedingungslose Unterstützung des Sozialismus. In Artikel 2 heißt es: »Du sollst dein
Vaterland lieben und stets bereit sein, deine ganze Kraft und Fähigkeit für die
Verteidigung der Arbeiter-und-Bauern-Macht einzusetzen.« Die Achtung der Familie
nahm dagegen einen nachgeordneten Rang ein.
Auf diese Gebote folgte im letzten SED-Programm von 1976 das Konzept der
»sozialistischen Lebensweise«. Die hier formulierten sozialistischen Werte und
Normen sollten der »allseitigen Entwicklung der Fähigkeiten und Talente der
Persönlichkeit zum Wohle des Einzelnen und der ganzen sozialistischen
Gesellschaft« dienen. Zur parteikonformen Einordnung des Individuums in die
Gesellschaft wurden besonders Schulen und Betriebe genutzt, welche die Bürger zu
kollektivem Denken und Verhalten erziehen sollten.
Da das ideologisierte Werte- und Normensystem im Lebensalltag faktisch nicht zu
erfüllen war, erwuchs der Parteiführung ein weites und willkürlich zu handhabendes
Feld zur Disziplinierung der Bevölkerung sowie der eigenen Parteimitglieder. Sie
definierte jede Abweichung zwischen ideologischer Vorgabe und tatsächlicher
Lebenspraxis als ein Problem der »Bewusstseinsbildung«. Nicht Ideologie und Politik
hatten sich an der Realität zu orientieren, die Menschen sollten vielmehr umgekehrt
dazu gebracht werden, der verordneten Ideologie zu entsprechen. In welchem Maße
der Marxismus-Leninismus tatsächlich handlungsanleitend wirkte oder aber zur
Leerformel degenerierte, lässt sich kaum nachvollziehen, da beide Realitäten - die
ideologisch konstruierte und die reale - in den Augen der Akteure verschwammen
und eine hierdurch bedingte »Schizophrenie« bei vielen Menschen Teil der
Lebenswirklichkeit wurde.
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Das Verhältnis von Individuum und totalitärem Machtanspruch lässt sich nicht einfach
entziffern. Selbst wenn das Individuum sich in totalitären Systemen so weit wie
möglich der offiziellen Politik und dem äußeren Druck zu entziehen sucht, bleibt es
doch gefangen. Seine Einordnung in das Gefüge totalitärer Herrschaft führt nicht nur
zu gehorsamem Verhalten und passiver Unterordnung, sondern auch zu einer kaum
auflösbaren Verstrickung von Herrschenden und Untertanen.
Die soziale Basis des SED-Staates
Die totalitäre Herrschaft als institutionalisierte und verfestigte Macht gründete nicht
nur auf Gewalt oder Gewaltandrohung, sondern überdies auf der Zustimmung
privilegierter Gruppen von Funktionären sowie auf der Passivität einer Mehrheit der
Bevölkerung. Durch die Vertreibung der alten bürgerlichen Eliten aus Politik,
Wirtschaft und Kultur ermöglichte die Kommunistische Partei vielen loyalen
Anhängern einen mit vielfältigen Privilegien verbundenen sozialen Aufstieg. Die SEDFührung konnte unter dem Schutz der sowjetischen Besatzungsmacht ihre
Herrschaft über vier Jahrzehnte nicht zuletzt deshalb aufrechterhalten und den
Schein von Stabilität erzeugen, weil sie sich auf eine ihr loyal ergebene Schicht von
Funktionären in Partei, Staat und Gesellschaft stützen konnte. Als systemtragende
Kraft im engeren Sinne kann der Funktionärskörper von ca. 1,2 Millionen Personen
bezeichnet werden.
Die SED startete unmittelbar nach ihrer Gründung mit etwa 1,3 Millionen Mitgliedern,
wobei etwa 680 000 zuvor in der SPD und etwa 620 000 in der KPD organisiert
waren. Nach dem Bau der Mauer stieg die Zahl der SED-Mitglieder stetig an und
erreichte mit gut 2,3 Millionen 1987/88 ihren Höhepunkt. Als die Mauer fiel,
verzeichnete die SED noch über zwei Millionen Mitglieder, danach setzte ein
deutlicher Massenaustritt ein. Allein in den drei Monaten von November 1989 bis
zum Januar 1990 verließen knapp eine Million Personen die Partei. Bis zum 3.
Oktober 1990 folgten ihnen eine weitere knappe Million, sodass die inzwischen in
PDS umbenannte ehemalige Staatspartei anfangs knapp 300 000 Mitglieder hatte.
Diese Entwicklung deutet darauf hin, dass die Mehrzahl der SED-Mitglieder nicht aus
Überzeugung, sondern aus Opportunismus, sprich: aus Karrieregründen, der Partei
beigetreten war.
Volkserhebung gegen den Kommunismus
Die Masse der Bevölkerung tat sich schwer, die Politik der kommunistischen
Machthaber zu akzeptieren. Als die Parteiführung 1952/53 unter der Parole »Aufbau
des Sozialismus« die noch vorhandenen wirtschaftlichen und sozialen Überreste
einer nicht-sozialistischen Gesellschaft beseitigen wollte und selbstständigen Bauern
und kleinen Handel- und Gewerbetreibenden extrem hohe Abgaben aufbürdete, um
sie zur Aufgabe ihrer Selbstständigkeit zu zwingen, und zudem die
Arbeitsproduktivität durch höhere Arbeitsnormen gesteigert werden sollte, machte
sich Volkes Unmut lautstark Luft. Zwar nahm die SED-Führung die meisten
Beschlüsse auf Weisung der Sowjetunion wieder zurück, hielt jedoch an der
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Normerhöhung fest, weil sie offenbar bei den Arbeitern Einsicht hierfür erwartete.
Damit war das Fass übergelaufen: Große Teile der Bevölkerung erhoben sich im Juni
1953 gegen die SED-Diktatur. Nur die Ausrufung des Ausnahmezustands und der
Einsatz sowjetischer Panzer und Truppen rettete die kommunistische Partei vor dem
Sturz ihres Regimes. Die Demonstranten -das viel beschworene »Volk« -führten der
SED vor Augen, dass sie weder nennenswerten Rückhalt in der Bevölkerung besaß
noch in der Lage war, einen breiten Volksaufstand mit eigenen Mitteln
niederzuhalten. Der 17. Juni 1953 offenbarte, dass der Sozialismus keine
lebenswerte Perspektive für eine breite Mehrheit darstellte.
Die Demonstranten forderten die Rücknahme der Normerhöhung, weitere soziale
Verbesserungen, aber auch den Rücktritt von Walter Ulbricht, freie Wahlen und die
Vereinigung Deutschlands. Die Erhebung hatte Spontancharakter, nur in wenigen
Städten gab es einen organisatorischen Hintergrund.
Nach der schnellen Niederschlagung des Aufstands durch die Rote Armee wurden
etwa 15000 Personen festgenommen, von denen viele zu langjährigen Haftstrafen
verurteilt wurden. Zuvor waren schon mehrere am Volksaufstand Beteiligte
standrechtlich erschossen worden. Die geradezu traumatisierte SED-Führung
reagierte auf die Volkserhebung, die sie als Werk des Westens, als »faschistischen
Putsch« wertete, mit dem flächendeckenden Aufbau weiterer Repressionsapparate
und einer umfassenden Militarisierung der Gesellschaft.
Ausbleibende Entstalinisierung
Die »Abrechnung« Chruschtschows mit Stalin 1956 und die nachfolgende
»Entstalinisierung« in der Sowjetunion und verschiedenen Satellitenstaaten fanden in
der DDR keinen Widerhall. Im Gegenteil: Walter Ulbricht nutzte die Volkserhebungen
in Polen und Ungarn und ihre brutale Niederschlagung erneut geschickt zur
Ausschaltung innerparteilicher Konkurrenten.
Zur Verhinderung möglicher Unruhen im Kultur- und Wissenschaftsbereich verhängte
die von der SED gesteuerte Justiz nicht nur gegen prominente Angeklagte hohe
Strafen, sondern verfolgte auch weniger bekannte Andersdenkende und Abweichler
mit großer Entschlossenheit. Der überzeugte Marxist-Leninist Wolfgang Harich, der
einen besonderen Weg zum Sozialismus forderte, aber am Machtmonopol der
Kommunistischen Partei nicht rütteln wollte, wurde zu einer mehrjährigen
Freiheitsstrafe verurteilt. Er nahm sie dankend an und durfte bei der Inszenierung
und Zelebrierung des Rituals kommunistischer Parteisäuberung in seiner Selbstkritik
ausführen: »[…] Ich möchte einen Dank abstatten, und zwar an die Staatssicherheit
der DDR […] und ich habe da die Feststellung gemacht, sie sind sehr korrekt und
anständig […] Ich war nämlich nicht mehr aufzuhalten […] Ich war ein politisch
durchgebranntes Pferd, das mit Zurufen nicht mehr aufzuhalten war […] Wenn man
mich nicht festgenommen hätte, dann wäre ich heute nicht reif für die zehn Jahre, die
der Herr Generalstaatsanwalt beantragt hat, sondern für den Galgen, und deshalb
sage ich der Staatssicherheit dafür, für deren Wachsamkeit, meinen Dank.«
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Walter Ulbricht beobachtete auch das Verhalten der MfS-Spitze immer mit
äußerstem Argwohn, denn hier witterte er potenzielle Konkurrenten. So wies er nach
dem Volksaufstand eine wesentliche Schuld dem Minister für Staatssicherheit,
Wilhelm Zaisser, zu, was zu dessen Amtsenthebung und zum Ausschluss aus
Politbüro und ZK und später aus der Partei führte. Auch sein Nachfolger, Ernst
Wollweber, wurde einige Jahre später entmachtet und aus dem ZK ausgeschlossen.
Ihm folgte Erich Mielke, der sein Amt mit unerbittlicher Härte bis zum Ende der
Honecker-Ära ausübte.
Das Ende der Fluchtbewegung durch den Mauerbau
In völliger Verkennung der wirtschaftlichen Realität verkündete Ulbricht 1958, die
DDR werde binnen weniger Jahre das Wohlstandsniveau der Bundesrepublik
erreichen und diese sogar überholen. Mit diesem propagandistischen Paukenschlag
folgte Ulbricht der Devise Chruschtschows, der im Zeichen des Systemwettbewerbs
die USA wirtschaftlich zu überholen trachtete. Aber er erntete mit dieser kühnen
Forderung selbst posthum nur Hohn und Spott, da sich der wirtschaftliche Abstand
zur Bundesrepublik bis zum Ende der DDR unter Schwankungen kontinuierlich
vergrößerte.
Die Fluchtwelle erreichte Anfang der Sechzigerjahre einen neuen Höhepunkt. Im
Jahre 1960 flüchteten etwa 200 000 Personen in die Bundesrepublik und im ersten
Halbjahr 1961 weitere knapp 140 000. Die seit 1960 dramatisch ansteigende Zahl
der Verfahren wegen »Hetze und Staatsverleumdung« signalisierte die wachsende
Unzufriedenheit der Bevölkerung mit der SED-Politik.
Auf Drängen der SED-Spitze, die das Ende ihres Staates oder zumindest einen
wirtschaftlichen Kollaps mit unabsehbaren Folgen vorhersah, gab die sowjetische
Führung grünes Licht für die Abriegelung der DDR und den Bau der Berliner Mauer
ab dem 13. August 1961. Hierdurch war das Fortbestehen der DDR vorerst
gesichert; eine Garantie für den wirtschaftlichen und sozialen Aufschwung war damit
freilich nicht verbunden. Mit der Existenz der Mauer blieb die Bevölkerung der
Staatspartei allerdings weitgehend ausgeliefert. Ob sie wollte oder nicht, sie musste
sich - zumal sich die Erinnerung an die brutale Niederschlagung des Volksaufstands
tief im Gedächtnis verankert hatte - mit dem kommunistischen System arrangieren.
Nach neuesten Schätzungen verließen zwischen der Gründung der DDR und dem
Fall der Mauer knapp fünf Millionen Menschen die DDR Richtung in Westen,
umgekehrt kam gut eine halbe Million in die DDR, unter ihnen viele Rückkehrer. Die
seit 1961 installierten Grenzanlagen wurden von etwa 40 000 Menschen
überwunden, unter ihnen gut 5000 in Berlin. Wie wichtig der kommunistische
deutsche Teilstaat für das sowjetische Imperium war, verdeutlichte der
stellvertretende sowjetische Ministerpräsident Mikojan kurz vor dem Mauerbau der
SED-Spitze: »Die DDR ist ein solcher Staat, sie ist der westliche Vorposten des
sozialistischen Lagers […] Wenn der Sozialismus in der DDR nicht siegt, wenn der
32
Kommunismus sich nicht hier als überlegen und lebensfähig erweist, dann haben wir
nicht gesiegt.«
Das Grenzregime
Schon lange vor dem Mauerbau wurden Menschen erschossen, die aus der
SBZ/DDR in den Westen fliehen wollten. Am 1. Dezember 1946 befahl die SMAD die
Aufstellung einer Grenzpolizei. Nach dem Mauerbau stieg ihre Personalstärke auf
über 50000 Personen. Ihnen zur Seite standen knapp 7500 freiwillige Helfer, die vor
allem die Aufgabe hatten, potenzielle Republikflüchtlinge zu denunzieren.
Der Schusswaffengebrauch nach der Abriegelung der DDR wurde in einer
Lagebesprechung eines von Erich Honecker geleiteten Stabes im September 1961
präzisiert. Honecker, damals ZK-Sekretär für Sicherheit, führte aus: »Gegen Verräter
und Grenzverletzer ist die Schusswaffe anzuwenden. Es sind solche Maßnahmen zu
treffen, dass Verbrecher in der 100−Meter−Sperrzone gestellt werden können.
Beobachtungs- und Schussfeld ist in der Sperrzone zu schaffen.« Hiermit war der
Schießbefehl förmlich gegeben, der in den nachfolgenden Jahren durch
verschiedene Befehle und Gesetze präzisiert wurde. Erhalten blieb die Aufforderung,
Grenzdurchbrüche auch mit Waffengebrauch zu verhindern. Die Grenzsoldaten
wurden in der Regel vor Antritt ihres Dienstes mündlich »vergattert«, auf Flüchtlinge
zu schießen. Bei besonderen Ereignissen, zum Beispiel während der Zeit des
Honecker-Besuchs in der Bundesrepublik, wurde der Schießbefehl aufgehoben. Am
12. November 1989 gab Verteidigungsminister Heinz Keßler die offizielle Aufhebung
des »Gebrauchs oder Einsatzes von Schusswaffen« an der Grenze bekannt.
Der kurze Frühling der Hoffnungen
Im Schatten der Mauer glaubten die SED-Führung, aber auch große Teile der ihr
sympathisierend-kritisch verbundenen Intelligenz, eine Reform des Sozialismus mit
mehr Wohlstand und weniger Gängelung durchführen zu können. Eine
Wirtschaftsreform mit einer gewissen Dezentralisierung von Planungs- und
Lenkungskompetenzen, die mehr Produktivitätspotenzial freisetzen würde, sollte die
Voraussetzungen hierfür schaffen. Doch kaum in Gang gebracht, wurde das »Neue
Ökonomische System der Planung und Leitung der Volkswirtschaft« (NÖSPL) schon
wieder eingeschränkt und einige Jahre später endgültig beerdigt. Eine Betonriege
von SED-Funktionären um den späteren Generalsekretär Erich Honecker befürchtete
eine Aufwertung der wirtschaftlichen und technischen Intelligenz zu ihren Lasten.
Auch in anderen Bereichen wurden zaghafte Reformversuche und Lockerungen
schnell wieder eingeschränkt. 1965 endete der kurze realsozialistische Frühling in
Wirtschaft und Kultur, bevor er sich überhaupt hatte entfalten können; eine neue
Eiszeit brach an.
Knapp drei Jahre später fühlten sich die Hardliner in der SED durch die Ereignisse in
der Tschechoslowakei bestätigt. Hier hatte die KP-Führung den eingeschlagenen
Weg der Reformen über die Wirtschaft hinaus auf die Gesellschaft ausgedehnt und
33
die Konturen eines »demokratischen Sozialismus« entstehen lassen. Die SEDFührung befürchtete, der Klassenfeind könne den Realsozialismus gleichsam auf
leisen Sohlen unterminieren. Die gewaltsame Niederschlagung des »Prager
Frühlings« war aus ihrer Sicht nur konsequent. Sympathiekundgebungen in der DDR
für die tschechoslowakischen Reformkommunisten hielten SED und MfS unter
Kontrolle, wiewohl sichtbar wurde, dass es auch in der DDR gerade bei jungen
Menschen Sympathien für diese Option gab. Obschon die DDR - entgegen ihrer
eigenen Behauptung - militärisch an der Intervention nicht beteiligt war, hatte die
Parteiführung bei Beratungen der Warschauer-Pakt-Staaten auf eine schnelle
militärische Lösung gedrängt. Mit der gleichen Entschiedenheit plädierte sie 1980/81
für einen Einmarsch in Polen, wo mit der Entstehung und Ausbreitung der
Solidarnosz die Freiheitsbewegung im sowjetischen Block das spätere Ende des
Imperiums einläutete. Hier verzichtete die Sowjetunion auf eine militärische Lösung,
weil die polnische KP-Führung selbst den Ausnahmezustand ausrief.
Von Walter Ulbricht zu Erich Honecker
Walter Ulbricht, der seit 1945 die politischen Fäden in der SBZ/DDR mehr oder
weniger intensiv gezogen hatte, fiel 1971 einer Intrige seines politischen Ziehsohns
Erich Honecker zum Opfer. Ihm wurde vorgeworfen, einen eigenmächtigen und von
der Sowjetunion abweichenden Kurs anzustreben, obwohl der alternde Diktator trotz
mancher Eigenmächtigkeiten letztlich immer dem Kurs der sowjetischen
Führungsmacht gefolgt war. Gleichwohl gelang es Honecker, die Mehrheit der SEDFührung gegen Ulbricht auf seine Seite zu ziehen und die Zustimmung Breschnews
für den Sturz Ulbrichts zu erlangen.
Der neue Erste Sekretär Honecker führte sich mit dem raschen, endgültigen Abbruch
der Wirtschaftsreform, einer stärkeren Einbindung seines Landes in das sowjetische
Imperium sowie mit einer sozialpolitischen Offensive (Einheit von Wirtschafts- und
Sozialpolitik) und einer begrenzten und kontrollierten kulturpolitischen Lockerung in
das oberste Amt der DDR ein.
Im Zuge der Entspannungspolitik zwischen den USA und der Sowjetunion und der
neuen Ostpolitik des 1969 in der Bundesrepublik zum Kanzler gewählten
Sozialdemokraten Willy Brandt erreichte Honecker, was die SED seit 1949 erhofft
hatte: die internationale Anerkennung. Hierfür musste sie jedoch den Preis der
zumindest formalen Akzeptanz international verbindlicher Bürger- und
Menschenrechte zahlen. Als Konsequenz der damit verbundenen Beobachtung
durch die Weltöffentlichkeit modifizierte die SED-Führung ihr Sicherheitssystem. An
die Stelle ebenso offener wie willkürlicher Repressionen trat nun die bis zu ihrem
Ende flächendeckend ausgebaute Überwachung und präventive Unterdrückung
potenziell oppositionellen Verhaltens. Parallel hierzu verstärkte die Partei ihre
Bemühungen, die Bevölkerung durch einen Ausbau der Sozialpolitik an sich zu
binden. Über die Dualität von Versorgung und Überwachung sollte der SED-Staat
stabilisiert werden.
34
Auf sowjetischen Druck hatte die SED-Führung innerdeutsche Verträge abschließen
müssen, die den weltweiten Entspannungsprozess flankieren sollten. Der
Sowjetunion ging es vor allen Dingen um einen generellen Gewaltverzicht und die
Festschreibung der Nachkriegsgrenzen. Dies stürzte die DDR in ein Dilemma –
einerseits war sie nun als Staat auch von der Bundesrepublik anerkannt,
andererseits sprach Willy Brandt von Sonderbeziehungen bzw. von zwei deutschen
Staaten und dem Fortbestand einer gemeinsamen Nation. Dies stellte aus Sicht der
SED-Führung ihre Existenz zumindest potenziell infrage. In ihrer Verfassung von
1968 bezeichnete sich die DDR zwar als »sozialistischer Staat deutscher Nation«,
aber bereits zwei Jahre später entwarf Walter Ulbricht die Konstruktion von der DDR
als einem »sozialistischen deutschen Nationalstaat«, in dem die »sozialistische
Nation« heranreife. Diese völkerrechtlich absurde Konstruktion einer auf die
Gesellschaftsordnung bezogenen Nation fand unter Honecker Eingang in offizielle
Verlautbarungen. Die SED bezeichnete die DDR fortan als sozialistische Nation und
gestand ihrer Bevölkerung nur noch die »deutsche Nationalität« zu. Mit einer groß
angelegten Kampagne versuchte die Parteiführung, die Bevölkerung davon zu
überzeugen, dass eine »Vereinigung zwischen unserem sozialistischen Vaterland
und der monopolkapitalistischen Bundesrepublik unmöglich« sei.
Primat der Sozialpolitik
Die SED-Führung war sich der Grenzen ihrer ideologischen und wirtschaftlichen
Politik gerade mit Blick auf den anderen deutschen Teilstaat bewusst. Der
Sozialismus sollte nun auf dem Feld der Sozialpolitik, die es eigentlich im
Sozialismus aufgrund vermeintlich fehlender sozialer Probleme nicht geben dürfte,
seine Überlegenheit beweisen. Doch auch dieses Konzept scheiterte, da das soziale
Netz zwar umfassend gespannt war -allerdings auf einem vergleichsweise niedrigen
Niveau. Dennoch überstiegen selbst die dürftigen sozialpolitischen Leistungen die
Wirtschaftskraft, sodass ausbleibende Investitionen und der wirtschaftliche
Niedergang auch eine Folge dieser Politik waren. Indem sich der Sozialismus auf
Sozialpolitik reduzierte, war ihm zugleich jede Utopie und idealistische
Anziehungskraft genommen.
Die in den Siebzigerjahren aufgrund verbesserter Konsummöglichkeiten in der
Bevölkerung aufkeimende Hoffnung, den Wohlstand weiter steigern zu können,
erwies sich als Trugschluss. Die Folgen der explosionsartig steigenden Rohölpreise
erreichten mit einiger Verspätung auch die von entsprechenden Lieferungen aus der
Sowjetunion abhängige DDR. Sie konnte das ohnehin bescheidene
Wohlstandsniveau nur durch eine wachsende Verschuldung im westlichen Ausland,
vor allem in der Bundesrepublik, sichern.
Die in einem gigantischen Kraftakt als Folge der Kürzung von Rohöllieferungen
erfolgte Umstellung der Energieversorgung der gesamten Wirtschaft auf Braunkohle
mit katastrophalen ökologischen Folgen und das ehrgeizige und hoch
subventionierte Mikroelektronikprogramm sowie zwei durch den bayerischen
35
Ministerpräsidenten Franz Josef Strauß vermittelte Milliardenkredite 1983/84 konnten
hieran auch nichts mehr ändern.
Der Sozialismus in den Farben der DDR
Mit der Ausbürgerung des widerspenstigen Liedermachers und kommunistischen
Regimekritikers Wolf Biermann 1976 verspielte die SED die Unterstützung vieler
Literaten und Künstler, die ihr in zumindest distanzierter Form verbunden waren.
Erneut signalisierte die Parteiführung, dass sie nicht einmal eine
innerkommunistische Diskussion zulassen würde.
Als Gorbatschow zur Rettung des sowjetischen Sozialismus eine Öffnung des
Systems und Reformen propagierte, widersetzte sich die SED vehement und sprach
von einem »Sozialismus in den Farben der DDR«, was freilich nichts weiter
bedeutete als die Fortsetzung des alten dogmatischen und repressiven Kurses.
Dieser reale Sozialismus hatte weder eine soziale noch eine politische Basis, sodass
der SED-Staat erneut in ein unauflösbares Dilemma stürzte: Öffnete er sich für
Reformen, waren die Folgen nicht kalkulierbar; verschloss er sich - wie geschehen -,
erzeugte er bis weit in seine Anhängerschaft hinein Resignation und Missmut.
Tatsächlich beschleunigte sich der ideologische Niedergang. Nicht wenige in der
zweiten und dritten Reihe der Partei hatten auf eine Modernisierung des Sozialismus
gehofft und wurden nun durch die Starrsinnigkeit der Politbüro-Gerontokraten
enttäuscht. Ihre Zukunftsgewissheit verschwand ebenso wie ihre Bereitschaft zur
aktiven Verteidigung dieses Sozialismus, wie sich schon kurze Zeit später zeigen
sollte.
Im Laufe des Jahres 1989 überstürzten sich die Ereignisse: Die Reformen in der
Sowjetunion und in anderen realsozialistischen Ländern zeigten spürbare Wirkung in
der DDR. Die SED sah sich zu einer doppelten Abgrenzungspolitik gegenüber der
eigenen Führungsmacht Sowjetunion auf der einen sowie der Bundesrepublik auf der
anderen Seite gezwungen. Die im Sommer einsetzende Massenflucht vor allem über
Ungarn und die im Herbst nachfolgenden Massendemonstrationen legten die Nerven
der SED-Führung blank. Auch der Sturz Honeckers und die Inthronisierung von Egon
Krenz und Hans Modrow als Nachfolger konnten an der Situation nichts mehr
ändern. Den Niedergang des Sozialismus konnten weder Ochs noch Esel aufhalten.
Der Sturz der SED-Diktatur und der Fall der Mauer
Der finale Todeskampf des SED-Staates begann mit der Fälschung der
Kommunalwahlen im Mai 1989, was von Oppositionellen öffentlich gemacht wurde.
In den nachfolgenden Monaten gründeten sich diverse Gruppen, welche die
kommunistischen Machthaber zu einem Dialog aufforderten. Vor allem das »Neue
Forum«, das eine Reform des Sozialismus forderte, zwang die SED-Führung
aufgrund der hohen Resonanz in der Bevölkerung zu einer Reaktion. Im Oktober
1989 kam es in Dresden zu ersten Gesprächen zwischen den Machthabern und der
Opposition. Am 9. Oktober demonstrierten in Leipzig mehrere Zehntausend
36
Personen trotz des Risikos einer gewaltsamen Niederschlagung durch die
Sicherheitskräfte gegen die SED-Diktatur. Dies war der endgültige Durchbruch der
Opposition, die fortan in nahezu allen Städten ein Ende der kommunistischen
Herrschaft forderte.
Die programmatischen Aussagen der Oppositionsgruppen waren zumeist auf einen
reformierten und demokratischen Sozialismus ausgerichtet. Einigkeit herrschte unter
ihnen nur in Bezug auf die angestrebte Abschaffung des SED-Machtmonopols.
Als die Berliner Mauer am 9. November 1989 fiel und die Sowjetunion nicht sofort
militärisch intervenierte, war es um den SED-Staat geschehen. Die neue SEDFührungsriege, aber auch die sozialistischen Oppositionellen, ahnten, dass ohne
eine sozialistische Grundausrichtung die DDR keine Existenzberechtigung mehr
hatte. Auf den Demonstrationen wurde nun nicht mehr »Wir sind das Volk«, sondern
»Wir sind ein Volk« gerufen. In der »nationalen Frage« hatten sich SED und große
Teile der Opposition gleichermaßen von den Massen isoliert. Während sich die SED
jedoch auf den harten Kern der von ihr privilegierten Bevölkerungsteile verlassen
konnte, verloren die Oppositionsgruppen - wie die erste und einzige freie Wahl zur
DDR-Volkskammer 1990 zeigen sollte - sehr schnell ihren eben erst gewonnenen
Einfluss.
Der durch eine missverständliche Formulierung des Politbüro-Sprechers Günter
Schabowski und die hierauf folgende Behauptung von Westmedien, die Grenze
würde geöffnet, hervorgerufene schnelle und überraschende Fall der Mauer
beendete ein Grenzregime, das über mehrere Jahrzehnte die Unmenschlichkeit des
kommunistischen SED-Regimes symbolisierte. Die außerhalb von Berlin sogar durch
Selbstschussanlagen und Splitterminen gesicherte innerdeutsche Grenze kostete
mehrere Hundert Menschen das Leben - insgesamt wurden über Tausend Menschen
bei einem Fluchtversuch innerhalb oder außerhalb von Deutschland getötet -, fügte
Tausenden zum Teil schwerste Verletzungen zu und brachte Zehntausende hinter
Gitter. Zwischen 1964 und 1990 verkaufte die DDR insgesamt knapp 34000
verurteilte »Republikflüchtlinge« und andere politische Häftlinge an die
Bundesrepublik und erhielt hierfür insgesamt 3,4 Mrd. D-Mark.
Umsetzung und Grenzen des kommunistischen Machtanspruchs
Auch wenn Herrschaftsformen und -instrumente im Laufe der vierzigjährigen
Existenz des SED-Staates wechselten oder sich veränderten, verfestigte sich der
Herrschafts- und Gestaltungsanspruch der SED bis in das Jahr 1989 hinein. Die
nahezu vollständige Lenkung und Kontrolle von Staat und Gesellschaft durch die
Partei vollzog sich dabei auf folgenden Ebenen:
-
In der nach dem Prinzip des »demokratischen Zentralismus« aufgebauten
SED herrschten die Parteiführung und ihr zentraler Apparat über alle
Parteigliederungen, wobei nachgeordnete Instanzen die Beschlüsse der
Zentrale und der übergeordneten Gliederung in ihrem Bereich umzusetzen
37
hatten. Durch Bezugnahme auf den Marxismus-Leninismus erklärte sich die
Parteiführung zum Gralshüter von Wahrheit und
»gesellschaftswissenschaftlicher« Erkenntnis und entzog sich damit jeglicher
Kritik. Die Basis blieb einem strengen Kontroll- und Disziplinierungsregiment
unterworfen, sodass jede Forminnerparteilicher Kritik verhindert und
unterbunden wurde. Die Besetzung von Schlüsselpositionen in der Partei
erfolgte durch die engere Parteiführung, die sich zudem selbst rekrutierte.
-
Der zentrale Parteiapparat der Kommunistischen Partei sowie seine
regionalen Gliederungen waren den staatlichen und gesellschaftlichen
Leitungs- und Abteilungsstrukturen vorgelagert. Der Parteiapparat leitete die
staatlichen und gesellschaftlichen Institutionen an und kontrollierte sie
gleichzeitig. Die Beschlüsse der Partei hatten für alle staatlichen Instanzen
und gesellschaftlichen Institutionen verbindlichen Charakter. Der Parteiapparat
konnte zu jeder Zeit korrigierend in den Ablauf staatlicher Politik eingreifen.
-
Durch die weitgehende Verstaatlichung der Wirtschaft verfügte die
Parteiführung unkontrolliert über alle ökonomischen Ressourcen des Landes.
Sie schuf hierüber Anreiz- und Sanktionsmechanismen, die dem Aufbau und
der Konsolidierung der sozialen Basis ihrer Macht dienten.
-
Die Besetzung aller wichtigen Leitungsfunktionen in Staat, Wirtschaft und
gesellschaftlichen Organisationen erfolgte nach einem Nomenklatursystem,
das der Partei einen direkten personellen Zugriff gestattete. Über die
Aufnahme in die oberste Funktions- und Machtelite der DDR bestimmte die
engere Parteiführung selbst. Ansonsten praktizierte die SED ihre
Kaderauswahl und -politik durch ein mehrstufiges und hierarchisiertes System,
in dem die jeweils zuständige Parteiinstanz immer die letzte Entscheidung traf.
-
In allen staatlichen Verwaltungen, wichtigen Betrieben, gesellschaftlichen
Institutionen etc. existierten Parteiorganisationen und -gruppen, deren Leitung
eine gesonderte Kontrollfunktion und zum Teil auch die direkte Führungsrolle
einnahm. Außerdem waren SED-Mitglieder nie zuerst ihrem Vorgesetzten zur
Loyalität verpflichtet, sondern immer vorrangig der Parteidisziplin unterworfen.
-
Durch ein umfassendes Berichts- und Informationswesen sowie die Arbeit des
MfS verschaffte sich die Parteiführung einen zusätzlichen Überblick, der ihr als
Grundlage für weitere Eingriffsmöglichkeiten diente.
Die Durchsetzung der Parteimacht konnte letztlich nur erfolgen, weil die SEDFührung über einen umfangreichen Sicherheits- bzw. Unterdrückungsapparat
verfügte - in den Achtzigerjahren waren ungefähr eine Dreiviertelmillion Menschen
haupt- oder nebenberuflich in diesem Bereich beschäftigt - und über die Verwendung
aller gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Ressourcen bestimmen konnte. Damit
38
besaß sie ein Anreiz- und Sanktionssystem, das unter den gegebenen Bedingungen
die Existenz der DDR bis 1989 sicherte.
Angesichts des beträchtlichen Repressionspotenzials blieben offener Widerstand
und Opposition von 1961 bis 1989 randständig, die Verweigerung trug zumindest in
der Breite eher Züge von Passivität und Doppelmoral. Die seit 1961 in ihrem Land
eingesperrte Bevölkerung arrangierte sich auf die eine oder andere Weise mit den
Verhältnissen. Da sie davon ausgehen musste, dass die Sowjetunion die DDR nicht
aus ihrem Machtbereich entlassen und der Westen weiterhin den Status quo
akzeptieren würde, gab es subjektiv gesehen ohnehin keine realistische Alternative
zum realen Sozialismus. Doch Ruhe und Stabilität erwiesen sich als trügerisch; in
dem Moment, als die Grenzen durchlässig wurden, entlud sich das über Jahrzehnte
aufgestaute Protest- und Enttäuschungspotenzial. Überrascht von der Wucht der
Ereignisse im Sommer/Herbst 1989 blieb den herrschenden Kommunisten nur der
überstürzte Rückzug und die Preisgabe der Macht, da sie sich nicht einmal mehr
ihrer Befehlsgewalt gegenüber den Repressionskräften sicher sein konnten.
Entlassen aus dem sowjetischen Imperium, konnte die DDR keine eigene Identität
entwickeln, zumal eine Fortsetzung des Sozialismus, auch eines modernisierten, für
die Mehrheit der Bevölkerung nicht attraktiv war. Die von der sowjetischen
Besatzungsmacht aufgezwungene und von der SED über Jahrzehnte
aufrechterhaltene Diktatur stieß mit dem Fall der Mauer an ihre Grenze: die
Sehnsucht der Menschen nach Freiheit und Wohlstand.
Die DDR als (spät)totalitärer SED-Staat
Der SED-Staat kannte weder Gewaltenteilung noch kulturellen, sozialen oder
politischen Pluralismus. In den letzten beiden Jahrzehnten verringerte sich die
Umsetzungskraft des totalitären Herrschafts- und Gestaltungsanspruchs. Der ihr von
den veränderten internationalen Rahmenbedingungen und der innerdeutschen
Systemkonkurrenz aufgezwungene Wechsel vom gewaltsamen totalitären System zu
einem spättotalitären Versorgungs- und Überwachungsstaat konnte jedoch
Niedergang und Untergang des SED-Staates nicht verhindern.
Die Machtpotenziale des kommunistischen Staates und der sie lenkenden und
kontrollierenden Partei - Gewaltapparat, ökonomische Verfügungs- und ideologische
Interpretationsmacht sowie die Loyalität der sozialistischen Dienstklasse - waren
erschöpft und seine Herrschaftsinstrumente ohne Gewaltandrohung wirkungslos,
sodass mit der Eroberung öffentlicher Räume durch die Demonstranten ein Ventil
geöffnet wurde, das die im Verborgenen gewachsenen Kräfte freisetzte. Diese zielten
zuerst auf den Sturz der kommunistischen Diktatur und sodann auf die schnelle
Wiedervereinigung.
Die DDR scheiterte letztlich an dem unaufhebbaren Widerspruch zwischen dem
totalitären Gestaltungs- und Machtwillen der SED-Führung und den unzureichenden
Entwicklungspotenzialen einer hiervon gefesselten und blockierten
Industriegesellschaft. Der totalitäre Kern der SED-Diktatur barg den Keim des
39
Niedergangs und Untergangs in sich; hieran konnten weder die sich wandelnden
Herrschaftsformen noch die Sozialpolitik etwas ändern.
(Post)kommunistische Strömungen im wiedervereinigten
Deutschland
Das kommunistische Experiment von 1945 bis 1990 in Deutschland scheiterte
nachhaltig und endgültig; gleichwohl musste das wiedervereinigte Deutschland das
kommunistische Erbe übernehmen.
Die umbenannte SED
Die SED entschloss sich nach dem Fall der Mauer nicht zur Auflösung ihrer Partei,
sondern nahm nur eine Umbenennung in SED-PDS vor. Der Namenszusatz
symbolisierte eher die Absicht zum Wandel als einen tatsächlichen Bruch mit der
Vergangenheit. An die Spitze der Partei rückten Gregor Gysi als Parteivorsitzender
und Hans Modrow als neuer Ministerpräsident.
Der Verzicht auf die Auflösung der alten und die Neugründung einer sozialistischkommunistischen Partei war in erster Linie den Besitzansprüchen der alten
Staatspartei geschuldet. Die Bezeichnung der SED−PDS in ihrem Statut als
marxistische Partei war lediglich ein Minimalkonsens, auf den sich die verschiedenen
Parteigruppierungen einigen konnten, denn die Zeit der ideologischen
Geschlossenheit war nun auch für diese ehedem dogmatisch-kommunistische Partei
vorbei.
Der Partei mit ihrem Ministerpräsidenten Modrow gelang es in den ihnen
verbliebenen wenigen Monaten an der Macht zwar nicht, die DDR zu retten, aber
immerhin begünstigte die letzte kommunistische Regierung die sie tragenden loyalen
Kräfte durch die Möglichkeit eines günstigen Grundstückserwerbs und schützte sie
durch die Reinigung ihrer Kaderakten. Dagegen nahm ihr Einfluss in der Bevölkerung
weiter ab. Bei den ersten und einzigen freien Wahlen zur Volkskammer im März
1990, zu denen die ehemalige kommunistische Staatspartei jetzt nur unter dem
Namen PDS mit einer entschiedenen Ablehnung einer schnellen Wiedervereinigung
und antiwestlichen Parolen antrat, erhielt sie bei einer Wahlbeteiligung von über 90
Prozent lediglich 16,4 Prozent der Stimmen. Diese knapp zwei Millionen Wähler, die
ihre Stimme der ehemaligen DDR-Staatspartei gaben, entsprechen in etwa der Zahl
der Personen, die den SED-Staat mehr oder weniger aktiv getragen haben.
Bei den ersten gesamtdeutschen Wahlen ging der Stimmenanteil der PDS in den
neuen Ländern auf gut 11 Prozent zurück, um bei den anschließenden
Bundestagswahlen wieder anzusteigen (1994: 19,8 Prozent; 1998: 21,6 Prozent).
1998 bei der Bundestagswahl übersprang die Partei sogar in ganz Deutschland
knapp die 5−Prozent−Hürde, um bei der nachfolgenden Wahl allerdings erneut
darunter zu bleiben.
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Der Durchbruch zu einer gesamtdeutschen Partei gelang der postkommunistischen
PDS bei der vorgezogenen Bundestagswahl 2005. Nach einem populistischen
Wahlkampf gegen die neuen Sozialgesetze der rot-grünen Koalition verbuchte sie mit
einer »offenen Liste«, auf der Vertreter der neugegründeten
linkssozialdemokratischen westlichen Partei (WASG) platziert wurden, beachtliche
8,7 Prozent (West: 4,9 Prozent; Ost: 25,3 Prozent) auf ihrem Stimmenkonto.
Am 16. Juni 2007 schlossen sich beide Parteien, die große ehemals diktatorische
aus dem Osten und die kleine ehemals an der SPD und den Gewerkschaften
orientierte, zusammen und nannten sich fortan Die Linke. Nach eigenen Angaben
hatte die neue Partei im Jahre 2008 gut 76000 Mitglieder, davon in den alten
Ländern knapp 26 000. Die ostdeutschen Mitglieder weisen einen hohen
Altersdurchschnitt auf; in ihrer überwiegenden Zahl waren sie bereits in der SED, und
arbeiteten im Partei- oder Staatsapparat, bei der NVA, dem MfS oder der
Volkspolizei.
Bei den Bundestagswahlen im Jahr 2009 konnte die Partei ihren Stimmenanteil auf
11,9 Prozent (West: 8,3 Prozent; Ost: 26,4 Prozent) steigern - ein Ergebnis, das
wahrscheinlich durch die Person Oskar Lafontaines begünstigt wurde, der als
ehemaliger SPD-Vorsitzender zur WASG übergetreten war und als Spitzenkandidat
zur Wahl stand.
Zwar verzichtete die Partei bisher auf die Verabschiedung eines Programms, gibt
sich aber in ihren »Eckpunkten« deutlich antikapitalistisch und stellt ausdrücklich die
Systemfrage. In einer Passage heißt es: »Die Demokratisierung der Wirtschaft«
erfordere, »die Verfügungsgewalt über alle Formen des Eigentums sozialen
Maßstäben unterzuordnen«. Der Sozialismus ist als politisches Ziel festgeschrieben.
Kommunistische Kräfte innerhalb der LINKEN
Die politisch-ideologischen Strömungen und Differenzen, die in der PDS zwischen
Kommunisten und Reformsozialisten bestanden, vergrößerten sich mit der
Ausweitung der Partei nach Westen. Zwar ging angesichts der Dominanz der beiden
Führungsfiguren Gysi und Lafontaine der Einfluss der »Kommunistischen Plattform«,
die nach wie vor ein Loblied auf die diktatorische DDR singt, zurück, dafür rückte
aber der Parteivorsitzende Lafontaine deutlicher nach »links«. In Annäherung an die
offen als Kommunisten agierenden Kräfte in der Partei forderte er einen »starken
Staat« und eine weitgehende staatliche Kontrolle von Schlüsselbereichen der
Wirtschaft.
Ihm gegenüber stehen reformerische Kräfte, die vor allem in einigen
Landesverbänden in den neuen Ländern und in Berlin einen gemäßigten
linkssozialdemokratischen Kurs postulieren. Anders als ihre innerparteilichen
Widersacher ziehen sie einen Schlussstrich unter einige negative Seiten der SEDDiktatur.
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Auf der orthodox-sozialistisch-kommunistischen Seite der Partei tummeln sich
weitere Gruppierungen wie die Antikapitalistische Linke und die Sozialistische Linke
mit Überschneidungen zu neokommunistischen Positionen. Insgesamt gehören
knapp 2100 Personen zu den aktiv und öffentlich auftretenden sozialistischkommunistischen Parteiströmungen .
Solange ihr Kurs von Politikern bestimmt wird, die rot-rote oder rot-rot-grüne
Regierungskoalitionen anstreben, dürften die Anhänger kommunistischer Positionen
im Hintergrund bleiben. Gleichwohl kooperieren nicht wenige von ihnen mit
linksextremistischen Gruppen, sei es mit der »Roten Hilfe« oder mit der DKP. Eine
der maßgeblichen Kommunisten in der Partei, Sahra Wagenknecht, verteidigte gar
die Politik Stalins mit den Worten, er habe »nicht Niedergang und Verwesung,
sondern die Entwicklung eines um Jahrhunderte zurückgebliebenen Landes in eine
moderne Großmacht während eines weltgeschichtlich einzigartigen Zeitraumes«
bewirkt.
Obwohl diese Strömungen in der zahlenmäßigen Minderheit sind, sprechen sie mit
ihrer fundamentalistischen Kritik am wiedervereinigten Deutschland und an seiner
westlichen Gesellschaftsordnung und mit ihrem Lob der DDR vielen Mitgliedern der
Partei im Osten aus dem Herzen. In den neu aufgebauten westlichen
Landesverbänden tummeln sich zudem Sozialisten und Kommunisten
verschiedenster Couleur, die in einigen Landesverbänden die Mehrzahl der aktiven
Mitglieder stellen.
Ziele der (post)kommunistischen Partei
In ihren »programmatischen Eckpunkten« formuliert die Partei ein »strategisches
Dreieck«: Gesellschaftlicher Protest soll mit der Entwicklung von Reformalternativen
unter gegebenen Bedingungen verknüpft werden und dabei Wege aufzeigen, die
über die gegenwärtige Gesellschaft hinausweisen. Diese Vorstellungen erinnern an
das Konzept der »systemüberwindenden Reformen« der Jungsozialisten in den
Siebzigerjahren der alten Bundesrepublik. Je nachdem, welcher Aspekt betont wird,
können sich die verschiedenen Parteiströmungen in dieser Strategie wiederfinden:
Die kommunistischen Kräfte betonen den außerparlamentarischen Protest und die
Suche nach einer Systemalternative, die Reformkräfte dagegen das Aufzeigen von
immanenten Reformen, die das System zumindest modifizieren.
In ihren innenpolitischen Vorstellungen konzentrieren sich die Eckpunkte im
Wesentlichen auf den Ausbau des Sozialstaats und auf mehr Umverteilung.
Daneben geht es um die Zurückdrängung eines »entfesselten Kapitalismus« und
einer »neoliberalen Politik«. Ziel ist die Überwindung des Kapitalismus in Richtung
Sozialismus, wobei dessen Gestalt nicht weiter ausgeführt wird.
Der Freiheitsbegriff der Partei ist an den in der DDR von der SED vorgegebenen
(Freiheit ist die Einsicht in die Notwendigkeit) angelehnt und koppelt individuelle
42
Freiheit an soziale Gleichheit. Der Parteivorsitzende Lafontaine brachte dies auf die
abwegige Formel: »Freiheit durch Sozialismus«.
Die orthodox-kommunistische DKP
Die von der SED finanzierte und gelenkte (westdeutsche) DKP, die 1989/90 noch
etwa 40000 Mitglieder hatte, verzeichnete nach der Wiedervereinigung einen
drastischen Mitgliederrückgang. Ein Teil ihrer Mitglieder wanderte zur PDS ab;
andere zogen sich ganz aus dem politischen Leben zurück. Im Jahre 2008 hatte die
DKP noch 4200 Mitglieder mit einem Durchschnittsalter von 60 Jahren. Ihr
Parteivorsitzender Heinz Stehr bekräftigte auch 2008 die kommunistische
Ausrichtung der Partei: »Die Wichtigkeit der DKP besteht darin, dass sie den
wissenschaftlichen Sozialismus zur Grundlage ihrer Politik macht; dass sie - aus
meiner Sicht - die einzige Partei ist, die in ihrer Strategie und Taktik den
revolutionären Bruch anstrebt.« Die Partei sieht sich weiterhin in Kontinuität zu der
vom Bundesverfassungsgericht 1956 verbotenen KPD. Ihre Resonanz sowohl bei
außerparlamentarischen Aktivitäten als auch bei Wahlen ist jedoch äußerst gering.
Ohne die finanzielle und politische Unterstützung aus der DDR ist sie eine kleine
Sekte geworden.
Kleine kommunistische Gruppen
Neben diesen beiden Parteien - Die Linke und DKP -, die für das politische Erbe der
DDR stehen, existieren im wiedervereinigten Deutschland weitere kommunistische
Parteien und Strömungen. Von den diversen maoistischen Gruppierungen, die in der
alten Bundesrepublik gegründet wurden, ist nur noch die Marxistisch-Leninistische
Partei Deutschlands (MLPD) nennenswert. Ihre 2300 Mitglieder halten unverdrossen
an einer maoistisch-stalinistischen Ideologie fest und streben einen revolutionären
Umbruch an. »Es gibt keinen Weg zum Sozialismus ohne die Zerschlagung der
bürgerlichen Staatsmacht und die Errichtung der Diktatur des Proletariats.«
Aktivitäten dieser Partei sind öffentlich kaum wahrnehmbar, ihr Wahlergebnis
marginal.
Die trotzkistisch orientierte Linke agiert in Deutschland mit einer Vielzahl von zumeist
kleinen Sektionen internationaler Dachverbände, kleinen eigenständigen Gruppen,
aber auch innerhalb der Partei Die Linke. Die Zahl ihrer Aktivisten wird auf knapp
2000 geschätzt. Innerhalb der Linken arbeitet sie in der »Sozialistischen Linken« und
stellt zwei Mitglieder im Bundesvorstand. Ihren revolutionären Anspruch dokumentiert
sie mit den Worten: »Wir streiten für eine Orientierung auf Klassenkampf und den
Aufbau von Gegenmacht.« Die meisten trotzkistischen Gruppierungen vertreten die
Strategie des Entrismus, d. h. die gezielte Unterwanderung anderer –zumeist
größerer -linker Parteien, denen sie ihren programmatischen Stempel aufdrücken
wollen.
43
Gewaltbereite Linksextremisten
Von den geschätzten gut 30 000 Linksextremisten werden etwa 6300 Personen dem
gewaltbereiten Spektrum zugeordnet. Die Mehrzahl von ihnen versteht sich als
»Autonome«, die zumeist in größeren deutschen Städten gegen Faschismus,
Rassismus, Repression und Militarismus »kämpfen« und öffentlich über ihr
gewalttätiges Verhalten wahrgenommen werden. Sie liefern sich regelmäßig
Straßenschlachten mit der Polizei, zünden Autos an und sind -als Täter oder Opfer immer wieder an gewalttätigen Scharmützeln mit Rechtsextremisten beteiligt.
Die in kleinen Gruppen agierenden Autonomen verfügen über keine einheitlichen
politisch-ideologischen oder gar programmatischen Konzepte, ihre Gemeinsamkeit
resultiert aus einem generellen »Anti« gegen die Gesellschaftsordnung und einer
hohen Gewaltbereitschaft. In einem Papier heißt es: »Wir setzen unsere Hoffnung
auf Veränderung und nicht in den Staat, unsere Perspektive ist und bleibt die soziale
Revolution weltweit.«
Jährlicher »Höhepunkt« der Autonomen ist der 1. Mai in Berlin und Hamburg. Dort
toben sich die Aktivisten gemeinsam mit abenteuerlustigen Jugendlichen - viele aus
Immigrantenfamilien - mit dem Werfen von Steinen und Flaschen auf Polizisten und
unbeteiligte Zuschauer, dem Anzünden von Autos, Mülleimern u. ä. aus. Am 1. Mai
2009 verletzten gewalttätige Linksextremisten und ihre abenteuerlustigen Mitläufer in
Berlin 440 Polizisten zum Teil schwer.
Im Jahre 2008 verübten nach Angaben der Polizei Linksextremisten insgesamt 3124
Straftaten, darunter 701 Gewalttaten wie Körperverletzung, Landfriedensbruch und
Brandstiftung. Im gleichen Jahr wurden 342 Gewalttaten von Linksextremisten gegen
Rechtsextremisten registriert. Opfer von gewalttätigen Rechtsextremisten wurden
358 Linksextremisten. Ein Großteil der Gewalthandlungen von Extremisten geht also
auf innerextremistische Auseinandersetzungen zurück. Auch wenn Deutschland noch
weit von Weimarer Verhältnissen entfernt ist, als Kommunisten und
Nationalsozialisten sich häufig Straßenschlachten lieferten, nehmen in den letzten
Jahren gewaltsame Auseinandersetzungen zwischen Gruppen zu, die
(unterschiedlichen) totalitären Ideologien anhängen.
Eine weitere linksextremistische Organisation ist die »Rote Hilfe e.V.« (RH) mit
geschätzten 5000 Mitgliedern, die behauptet, in Deutschland würden Personen
wegen ihrer politischen Überzeugungen und Aktivitäten eingesperrt. Sie unterstützt
durch öffentliche Sympathiekundgebungen, Zuschüsse zu Anwalts- und
Prozesskosten und Kampagnen Linksextremisten, die angeklagt werden oder
inhaftiert sind. Ihr politisches Ziel ist die Freilassung aller politischen Gefangenen.
Die verschiedenen linksextremistischen Gruppen einschließlich der orthodoxkommunistischen, die sich wechselseitig beschimpfen und bekämpfen, halten in
ihrem Kampf gegen Faschismus, Rassismus, Militarismus, Globalisierung und
staatliche Repression zusammen. Sie kooperieren auf internationaler, vor allem
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europäischer Ebene mit Gruppen von Gleichgesinnten, so zum Beispiel bei diversen
Antiglobalisierungskampagnen.
(Post)kommunistische Medien
Nahezu alle größeren Gruppen geben Zeitungen heraus und sind mit
Selbstdarstellungen und Kampagnen im Internet aktiv. Die auflagenstärkste Zeitung
ist das Neue Deutschland (ND), das ebenso wie die SED den Untergang der DDR
überlebt hat. Die Zeitung, in der die verschiedenen Strömungen der LINKEN Gehör
finden, kämpft allerdings ums finanzielle Überleben, da ihre Auflage stetig zurückgeht
(von 1,1 Millionen Exemplaren Ende der Achtzigerjahre auf derzeit etwa 40 000
Exemplare).
Unter den geschätzten knapp 200 linksextremistischen Zeitungen, Zeitschriften und
sonstigen Publikationen nimmt die Tageszeitung junge Welt (jW) eine Sonderrolle
ein. Sie steht parteiübergreifend für das linksextremistische Spektrum und die DDRTrauergemeinde. Ihr Chefredakteur Arnold Schölzel arbeitete zu DDR-Zeiten als
Inoffizieller Mitarbeiter der Stasi und bespitzelte seine Studienkollegen. Wo immer
Kommunisten oder andere Linksextremisten in Deutschland oder der Welt
Gewalttaten verüben, können sie sich des mehr oder weniger direkten Beifalls der
jungen Welt gewiss sein.
Der fehlende antitotalitäre Konsens
Insgesamt betrachtet haben Kommunismus und Linksextremismus im
wiedervereinigten Deutschland lediglich eine schmale personelle Basis. Ihr Kampf
gegen Kapitalismus und die westliche Gesellschaftsordnung findet in der
Bevölkerung nur geringe Resonanz. Insofern versuchen die Gruppen, über populäre
Kampagnen gegen Rechtsextremismus oder Globalisierung ihren
Sympathisantenkreis und ihren Einfluss auf die öffentliche Meinung zu vergrößern. In
dem Maße, wie sich demokratische Gruppierungen auf Bündnisse mit ihnen
einlassen, wird die Trennlinie zwischen linksextremistischen und demokratischen
Aktivitäten und Zielen unscharf.
Der antitotalitäre Konsens, der in der alten Bundesrepublik seit den späten
Sechzigerjahren von der politischen Linken wegen seiner angeblichen
antikommunistischen Schlagseite aufgekündigt wurde, erlebte nach dem
Zusammenbruch der DDR und der Sowjetunion zwischenzeitlich eine gewisse
Renaissance, wird in den letzten Jahren aber im öffentlichen Diskurs auf
Antifaschismus bzw. Antirechtsextremismus reduziert. 20 Jahre nach dem Mauerfall
wird der Antikommunismus in öffentlichen Diskursen erneut diffamiert und sogar als
Verharmlosung von Rechtsextremismus und Nationalsozialismus dargestellt.
Tatsächlich aber ist der Antikommunismus in einer zivilen Gesellschaft eine
notwendige politische Tugend, wenn er in einem antitotalitären Konsens aufgeht.
Attraktivität und Verführungskraft einer kommunistischen Ideologie sind immer noch
gegeben, verspricht sie doch eine bessere Welt für nahezu alle Menschen: eine Welt
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ohne Unterdrückung oder Ausbeutung. Der reale Sozialismus/Kommunismus und
seine Verbrechen verblassen dagegen oder werden als historische Notwendigkeiten
verstanden. So landen nicht wenige Intellektuelle bei der Position des marxistischen
Philosophen Georg Lukacs, der alle Irrungen und Wirren der kommunistischen
Bewegung in Ungarn durchlebt hat und kurz vor seinem Tod schrieb: »Ich war immer
der Meinung, dass man selbst in der schlechtesten Form des Sozialismus besser
leben könne als in der besten Form des Kapitalismus.«
Kommunisten wähnen sich weiterhin im Besitz der»Wahrheit« und glauben an die
Befreiung der Menschheit. Tatsächlich legitimieren sie nur Unterdrückung und - was
vielleicht noch schlimmer wiegt - Entindividualisierung und Versklavung im Namen
einer seelenlosen Utopie.
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