Hans-Werner Sinn - CESifo Group Munich
Transcrição
Hans-Werner Sinn - CESifo Group Munich
HANS-WERNER SINN UND 25 JAHRE DEUTSCHE WIRTSCHAFTSPOLITIK HERAUSGEGEBEN VON GABRIEL FELBERMAYR | MEINHARD KNOCHE | LUDGER WÖßMANN HANS-WERNER SINN UND 25 JAHRE DEUTSCHE WIRTSCHAFTSPOLITIK HANS-WERNER SINN UND 25 JAHRE DEUTSCHE WIRTSCHAFTSPOLITIK Herausgegeben von Gabriel Felbermayr | Meinhard Knoche | Ludger Wößmann INHALT INHALT VORWORT10 4 1 VOM LINKEN ZUM LIBERALEN : Hans-Werner Sinn und die deutsche Wirtschaftspolitik 15 LUDGER WÖSSMANN : Einleitung 16 HORST SEEHOFER : Soziale Marktwirtschaft – ein Erfolgsmodell für Bayern und Deutschland 18 WOLFGANG CLEMENT : Ein Mahner aus Prinzip 20 REINHARD KARDINAL MARX : Leitbild Chancengerechtigkeit 22 ULRICH GRILLO : Der Ökonomie-Erklärer – von A wie Arbeitsmarkt bis Z wie Zuwanderung 24 ROLAND BERGER : Hans-Werner Sinn: Volkswirt, Kommunikator, Manager 26 WOLFGANG FRANZ : Die Eiger-Nordwand und der Kombilohn: eine Reminiszenz 28 EDMUND PHELPS : Hans-Werner Sinn und Deutschlands natürliche Arbeitslosenrate 30 JAMES POTERBA : Rentenreform: Hans-Werners Forschung und politischer Einfluss 32 ASSAF RAZIN : Über den Jungen, den Politökonomen, den Unternehmer und den Freund 34 CARL CHRISTIAN VON WEIZSÄCKER : Hans-Werner Sinns Habilitationsschrift 36 ROLAND TICHY : Zwischen Sinn-Gap und Target-Falle gebofingert 38 KAI DIEKMANN : 25 Gründe, warum Hans-Werner Sinn als ifo-Präsident fehlen wird 41 2 KALTSTART : Hans-Werner Sinn und die Wiedervereinigung 47 MARCEL THUM : Einleitung 48 GEORG MILBRADT : Vereinigung ohne wirtschaftlichen Kompass 50 MARC BEISE : Der Trabi-Mann 52 MICHAEL C. BURDA : Die deutsche Wiedervereinigung als ökonomische Herausforderung54 HOLGER STELTZNER : Der Kaltstart von Professor Sinn 56 CHARLES B. BLANKART : Wahlkampfkosten 1990 58 KARL-HEINZ PAQUÉ : Deutsche Einheit im Modell 60 REINHOLD FESTGE : Ein absehbarer Niedergang – die ostdeutsche Industrie nach der Wiedervereinigung 62 GREGOR GYSI : Ein scharfsinniger Kopf und ein Marktradikaler außerirdischer Dimension64 HAROLD JAMES : Hans-Werner Sinn, Kassandra und die Lesbos-Regel des Aristoteles 66 3 GERONTOKRATIE : Hans-Werner Sinn und die Rentenreformen 71 NIKLAS POTRAFKE : Einleitung 72 AXEL BÖRSCH-SUPAN : Eltern und Kinder: Was uns im Innersten bewegt 74 FRIEDRICH BREYER : Wem dient Nachhaltigkeit in der Rentenfinanzierung? 76 PETER DIAMOND : Die Riester-Rente 78 DAVID E. WILDASIN : Hans-Werner Sinn: Ein Tribut an seine Beiträge zur Forschung in Volkswirtschaftslehre und Politik 80 URSULA ENGELEN-KEFER : Diskurs zu Demographie und Generationengerechtigkeit 82 RITA SÜSSMUTH : »Kinder kriegen die Leute immer« – oder? 84 BERND RAFFELHÜSCHEN : Was war, was ist, was kommt? 86 THIESS BÜTTNER : Positive externe Effekte der Erziehung und Ausbildung von Kindern 88 4 IST DEUTSCHLAND NOCH ZU RETTEN? Hans-Werner Sinn und die arbeits- und sozialpolitischen Reformen 93 HELMUT RAINER : Einleitung 94 WOLFGANG WIEGARD : HWS: »falscher Prophet« oder Ideengeber für die Agenda 2010? 96 PETER HARTZ : Die Langzeit- und Jugendarbeitslosigkeit ist in der sozialen Marktwirtschaft lösbar 100 PETER BIRCH SØRENSEN : Hans-Werner Sinns Blaupause für eine Arbeitsmarktreform und die skandinavische Alternative 102 INHALT DIETER HUNDT : Auf dem Erreichten nicht ausruhen, sondern Herausforderungen annehmen98 5 I NHALT 6 ALFRED GAFFAL : Mit »Sinn« und Verstand: Leidenschaftlicher Verteidiger der Sozialen Marktwirtschaft 104 JOACHIM MÖLLER : Reibeflächen: Hans-Werner Sinn und die Unvollkommenheit des Arbeitsmarktes 106 MATTHIAS WISSMANN : Wettbewerbsfähigkeit – der Schlüssel zum Erfolg 108 RONNIE SCHÖB : Für einen aktivierenden Sozialstaat 110 5 BASARÖKONOMIE : Hans-Werner Sinn und die Globalisierung 115 GABRIEL FELBERMAYR : Einleitung 116 PETER EGGER : Von Verlagerungs- und Exportweltmeistern 118 WILHELM KOHLER : Hans-Werner Sinns These des pathologischen Exportbooms 120 THOMAS FRICKE : Exportwunder in der Basarökonomie 122 MICHAEL HEISE : Die These der Basarökonomie: ein politischer Weckruf 124 RUPERT STADLER : Erfolg auf dem Basar 126 MANFRED WITTENSTEIN : Hans-Werner Sinn: Partykiller mit gutem Grund 128 ILSE AIGNER : Die Globalisierung als Erfolgsfaktor für Bayern 130 JOHN WHALLEY : Hans-Werner Sinn und die Globalisierung 132 JOHN PEET : Vom Freihandel 134 KARLHANS SAUERNHEIMER : Hans-Werner Sinn im Außenwirtschaftsausschuss 136 6 DAS GRÜNE PARADOXON : Hans-Werner Sinn und die Klima- und Energiepolitik 141 KAREN PITTEL : Einleitung 142 RICK VAN DER PLOEG : Die potenzielle Kontraproduktivität von Second-best-Maßnahmen in der Klimapolitik 144 NICHOLAS STERN : Hans-Werner Sinn, der Klimawandel und das grüne Paradoxon 146 CHRISTOPH M. SCHMIDT : Missionar der Rationalität: Hans-Werner Sinn und das »grüne Paradoxon« in der Energie- und Klimapolitik 148 MARTIN FAULSTICH : HWS und die Energiewende 150 OTTMAR EDENHOFER : Klimapolitik im Zeitalter der fossilen Energieträger 152 SIGMAR GABRIEL : Hans-Werner Sinn: Ein Ökonom und Treiber des politischen Diskurses154 JÜRGEN TRITTIN : Der grüne Sinn – ein Paradox? Zum Abschied eines aufrechten Neoliberalen156 PETER-ALEXANDER WACKER : Paradox: der Zickzack-Kurs ins nachfossile Zeitalter 158 7 KASINO-KAPITALISMUS : Hans-Werner Sinn und die Finanzarchitektur 163 OLIVER FALCK : Einleitung 164 CLEMENS FUEST : Kasino-Kapitalismus und Risiko als Produktionsfaktor – ein Abend in einem Restaurant in Paris 166 HORST KÖHLER : Wissen, um zu wirken 168 CLAUDIA M. BUCH : Hausordnung für das Kasino 170 AXEL A. WEBER : Nachhaltigkeit statt Kasino 172 KAI A. KONRAD : Wirtschaftspolitik in der Finanzkrise 176 JAN-EGBERT STURM : Die Finanzkrise 2008: Folge und Spiegelbild von Fehlanreizen im Bankensektor 178 FRANK WESTERMANN : Wie aus Forschung Politikberatung wird: Die Vorgeschichte zum Kasino-Kapitalismus 180 MARTIN WOLF : Hans-Werner Sinn zur globalen Finanzkrise 182 8 TARGET-FALLE : Hans-Werner Sinn und die Zukunft Europas 187 TIMO WOLLMERSHÄUSER : Einleitung 188 HELMUT SCHLESINGER : Vom Posten in der Bundesbankbilanz zur Target-Falle 190 MALTE FISCHER : Spektakuläre Aufklärungsarbeit 192 OTMAR ISSING : Die Target-Falle – viel Lärm um nichts? 194 KAI CARSTENSEN : Worte statt Akronyme – Hans-Werner Sinn und die Eurorettung 196 MARCEL FRATZSCHER : Target-Falle oder Fluchthilfe? 198 MARK SCHIERITZ : Zwischen allen Schubladen 200 PHILIP PLICKERT : Ein spätberufener Kritiker der Eurorettung 202 JÜRGEN STARK : Über Target und andere Fallen 204 JENS WEIDMANN : Die Währungsunion braucht ein stabiles Fundament 206 MARTIN FELDSTEIN : Hans-Werner Sinn und die Haushaltsdefizite 208 INHALT THEODOR WEIMER : HWS’ BLOOS-Ansatz: Wie bekommen wir nützliche Finanzintermediäre?174 7 GILLES SAINT-PAUL : Die Gefahr des Konsenses 210 DIETRICH MURSWIEK : Die EZB vor dem Bundesverfassungsgericht – Staatsanleihenkäufe, Target-Kredite und Hans-Werner Sinn 212 MARKUS SÖDER : Hans-Werner Sinn und die Zukunft der Wirtschafts- und Währungsunion214 WOLFGANG SCHÄUBLE : Ökonom, Kommunikator, Europäer – eine Bitte an Hans-Werner Sinn 216 9 DIE MIGRATIONSWELLE : Hans-Werner Sinn und die Zuwanderungsdebatte 221 PANU POUTVAARA : Einleitung 222 I NHALT KLAUS F. ZIMMERMANN : Migration: Empirische Evidenz und ökonomische Rationalität224 8 GIUSEPPE BERTOLA : Hans-Werner Sinns Herkunftsprinzip für Migration und Sozialstaat 226 JOACHIM HERRMANN : Asylmissbrauch stoppen – Zuwanderung steuern ! 228 OTTO SCHILY : »Wir sind am Beginn einer neuen Migrationswelle.« – Hans-Werner Sinn im Dezember 2013 230 SILKE ÜBELMESSER : Die Richtigen? ! 232 MARTIN WERDING : Spiel ohne Grenzen: Die Freizügigkeitsdebatte 234 HOLGER BONIN : »So wie die Zuwanderung läuft, läuft sie falsch.« 236 REINER KLINGHOLZ : Deutschland ist nicht Kanada 238 HERBERT BRÜCKER : Ist Migration ein Verlustgeschäft für den Staat? Eine kritische Würdigung 240 ECKHARD CORDES : Mit Karte und Kompass gegen den demographischen Wandel 242 10 IM DIENSTE DER PROFESSION : Hans-Werner Sinn als Motor des Wandels 247 MEINHARD KNOCHE : Einleitung 248 ROBERT SOLOW : Ein Musterbeispiel institutionellen Unternehmertums 250 HANS ZEHETMAIR : Ein Glücksgriff nicht nur für Bayern 252 BERND HUBER : Hans-Werner Sinn: Heiteres und Ernstes 254 AGNAR SANDMO : Führung durch Vorbild 256 ALFONS WEICHENRIEDER : Das CES als Baustein der Internationalisierung und Nachwuchsförderung 258 OTTO WIESHEU : Vom Elfenbeinturm in die Politikberatung 260 ROBERT HAVEMAN : Institutioneller Wandel und die unwiderstehliche Kraft 262 WILHELM SIMSON : Ein Turnaround ohnegleichen 264 GÜNTER VERHEUGEN : Die Eiche im Wald der Ökonomie 266 MONIKA SCHNITZER : Hans-Werner Sinn und sein Beitrag zur Internationalisierung des Forschungsstandorts Deutschland 268 ROBIN BOADWAY : Hans-Werner Sinns Vermächtnis für rationale Wirtschaftspolitik: Der Aufbau von Forschungsinstitutionen 270 BERT LOSSE : Abteilung Attacke: Hans-Werner Sinn und seine Gastbeiträge in der WirtschaftsWoche – eine persönliche Rückschau 272 ANHANG 279 BILDNACHWEISE 280 INHALT ULRICH WILHELM : Das hat er sich verdient – über die Medienmarke Hans-Werner Sinn 274 9 VORWORT VORWORT 10 Eine Ära neigt sich dem Ende zu : Die Amtszeiten von Hans-Werner Sinn als Professor an der Ludwig-Maximilians-Universität München (LMU) und Präsident des ifo Instituts enden am 31. März 2016. Über ein Vierteljahrhundert hinweg – davon 17 Jahre als ifo-Präsident – war er die meistgehörte und nach einhelliger Ökonomen-Meinung auch die einflussreichste Stimme der Wissenschaft in der wirtschaftspolitischen Debatte in Deutschland. Seine Emeritierung ist nicht nur eine persönliche Zäsur, sondern verändert auch das Gefüge der politikorientierten Wirtschaftsforschung in Deutschland; ein idealer Zeitpunkt, auf den wohl bedeutendsten Abschnitt des beruflichen Schaffens Hans-Werner Sinns zurückzublicken, der zugleich eine der spannendsten Phasen der wirtschaftspolitischen Entwicklung Deutschlands war. In diesem Buch kommen namhafte Zeitzeugen zu Wort, die in ihren beruflichen und gesellschaftlichen Funktionen insbesondere in Wirtschaft, Politik, Wissenschaft und Medien unmittelbar mit den wirtschaftspolitischen Aktivitäten Hans-Werner Sinns konfrontiert waren. In ihren Beiträgen setzen sie sich aus ihrer ganz persönlichen Sicht mit einzelnen Aspekten seines Schaffens auseinander. Das Ergebnis sind 111 Mosaiksteine, die sich in diesem Buch zu einem faszinierenden Gesamtbild einer persönlichen Karriere und zugleich einer wirtschaftsgeschichtlichen Epoche zusammenfügen; eine Tour d’Horizon der großen Streitthemen der jüngeren wirtschaftspolitischen Debatte und ein fulminanter Abriss über 25 Jahre deutsche Wirtschaftspolitik. Hans-Werner Sinn ist ein herausragender Wissenschaftler und begnadeter Kommunikator. Er nutzt diese Verbindung, um den Brückenschlag von der Wissenschaft in die öffentliche Debatte zu schaffen. »Ich möchte die volkswirtschaftliche Theorie für die Bevölkerung so in Worte kleiden, dass sie verstanden wird«, schrieb er Anfang 2015 auf seinem Twitter-Account. Als einer der auch international angesehensten in Deutschland wirkenden Ökonomen seiner Generation ist er nicht im Elfenbeinturm des Theoretikers geblieben. Er geht hinaus in die öffentlichen Debatten und Talkshows, schreibt Bestseller und Zeitungskolumnen zuhauf. Die thematischen Highlights sei esentlichen deckungsgleich mit den Höhepunkten der wirtnes öffentlichen Wirkens sind im W schaftspolitischen Debatte in den letzten 25 Jahren. Er hat alle wichtigen Themen der deutschen Wirtschaftspolitik umgehend aufgenommen, wenn er sie nicht selbst in die öffentliche Diskussion eingeführt hat – oft als »Weltverbesserer«, dem die Zukunft Deutschlands und Europas sehr am Herzen liegt. Neben seinem wissenschaftlichen und öffentlichen Wirken hat sich Hans-Werner Sinn als »Institution Builder« einen Namen gemacht. Er hat in München mit ifo, CESifo und CES eine Plattform für angewandte und politikorientierte wirtschaftswissenschaftliche Forschung und Diskus- München, im September 2015 Gabriel Felbermayr Meinhard Knoche Ludger Wößmann VORWORT sion aufgebaut, die in Europa ihresgleichen sucht. Dieses Forum spiegelt seine persönliche Ausrichtung an höchsten wissenschaftlichen Ansprüchen und seine Weltoffenheit wider. Die Öffnung hin zum internationalen wissenschaftlichen Wettbewerb hat er auch in seiner Zeit als Vorsitzender des traditionsreichen Vereins für Socialpolitik, der Vereinigung der Ökonomen im deutschsprachigen Raum, für die deutsche Volkswirtschaftslehre insgesamt vorangetrieben. Unsere Zeitreise beginnt mit Hans-Werner Sinns Beitrag zur Debatte zur wirtschaftlichen Wiedervereinigung. Das 1991 erschienene Buch Kaltstart war der Startschuss für Hans-Werner Sinns öffentlich breit sichtbaren Auftritt. Ab der Übernahme der ifo-Präsidentschaft 1999 kamen prägende Beiträge zur arbeits- und sozialpolitischen Debatte, zur Renten- und zur Migrationsde batte, zur Globalisierungsdebatte, zur Energiepolitik und nicht zuletzt zur Finanz-, Banken- und Eurokrise und zur Zukunft Europas hinzu. Viele dieser Beiträge sind Gegenstand seiner Bestseller Ist Deutschland noch zu retten?, Basarökonomie, Das grüne Paradoxon, Kasino-Kapitalismus und Target-Falle, die unsere Zeitreise strukturieren. Das Buch ist ein Gemeinschaftswerk, in das sich viele Personen in außerordentlich engagierter Weise eingebracht haben. Das sind zuallererst die Autoren : Sie sind die Hauptakteure, die mit ihren Beiträgen die Grundlage für dieses Buch gelegt haben. Ihnen sind wir zu besonderem Dank verpflichtet. Das gilt vor allem auch für die Leiter der Forschungsbereiche des ifo Instituts und der ifo-Niederlassung Dresden, die die einzelnen Kapitel dieses Buchs betreut und die Einleitungen geschrieben haben. Ein besonderer Dank gilt auch der Gesellschaft zur Förderung der wirtschafts wissenschaftlichen Forschung (Freunde des ifo Instituts) und ihrem Vorsitzenden Roland Berger, die die Kosten der Produktion dieses Buchs mit einer großzügigen Spende vollständig finanziert und es uns damit ermöglicht haben, das Buch herauszugeben. Auch ohne die tatkräftige und fachkundige Unterstützung durch Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter des ifo Instituts und des Verlags hätte das Buch nicht erscheinen können. Die organisatorische Hauptlast lag bei Thomas Steinwachs, der das Projektmanagement bestens im Griff hatte. Ihm danken wir ebenso herzlich wie Marga Jennewein, die alle Beiträge professionell redigiert hat. Dank gebührt auch Romy Bonitz, die uns bei der Auswahl der Fotos unterstützt hat, den ifo-Wissenschaftlern, die die Texte der englischsprachigen Autoren übersetzt haben, sowie Petra Hoffmann und Denise Jäkel vom Hanser Verlag, die bei der Gestaltung des Buchs stets ein offenes Ohr für unsere Anliegen hatten. Dieses Buch richtet sich an alle, die sich mit dem öffentlichen Wirken Hans-Werner Sinns und der Wirtschaftspolitik der letzten 25 Jahre auseinandersetzen möchten. Es ist zugleich unser Dank an Hans-Werner Sinn für sein so fruchtbringendes Wirken am ifo Institut und die Anerkennung seines unermüdlichen Einsatzes für die ökonomische und politische Zukunft Deutschlands und Europas. Wir verbinden diese Anerkennung mit der Hoffnung, dass sein Wirken Ansporn für die jüngere Ökonomengeneration ist, sich ebenfalls für das Gemeinwohl einzusetzen und beherzt wissenschaftliche Vernunft in die öffentlichen Politikdebatten einzubringen. 11 HWS beim ifo Branchen-Dialog 2008 in für ihn nicht untypischer Pose und mit ernster Miene: Es ging um die Finanzkrise. ifo-Vorstandsmitglied Meinhard Knoche, ifo-Verwaltungsratsvor sitzender Peter-Alexander Wacker und HWS in der Jahresversammlung des ifo Instituts 2015. Der damalige tschechische Staatspräsident Václav Klaus und der ehemalige Bundesfinanzminister Theo Waigel bei der ifo Jahres versammlung 2004 in München. 12 HWS mit dem damaligen räsidenten der Europäischen P Zentralbank, Jean-Claude Trichet, anlässlich der ifo Jahresver sammlung 2006. HWS verteidigt die »Schwarze Null« bei Maybrit Illner im ZDF (mit Katja Kipping, Ulrich Grillo, Maybrit Illner, Volker Kauder und Susanne Schmidt) am 17. Oktober 2014. Ein in Deutschland bekanntes Gesicht: HWS vor dem Eingang des ifo Instituts. 13 WirtschaftsWoche, 23.12.2011 1 VOM LINKEN ZUM LIBERALEN: Hans-Werner Sinn und die deutsche Wirtschaftspolitik Ludger Wößmann EINLEITUNG Vom Linken zum Liberalen: Hans-Werner Sinn und die deutsche Wirtschaftspolitik Ludger Wößmann leitet das ifo Zentrum für Bildungsökonomik und ist Professor für Volkswirtschaftslehre an der Ludwig-Maximilians-Universität München. Seit über zwölf Jahren arbeitet er mit HWS am ifo Institut. Er erforscht die Ursachen von langfristigem Wohlstand und von Bildungs leistungen. Vom Linken zum Liberalen HWS hat immer damit kokettiert, dass er ei- 16 gentlich ein Linker ist. Er war in einer sozialistischen Jugendgruppe und wie sein Vater in der SPD. Das war zwar dann schon während des Studiums unter den 68ern vorbei. Aber den eigentlich als Schimpfnamen gedachten Begriff des »Kathedersozialisten« – so wurden die Nationalökonomen bezeichnet, die die Bismarck’ schen Sozialreformen gedanklich vorbereiteten – hat er sich auch später gerne angehängt. Ohne Zweifel ist er ein »missionarischer« Wissenschaftler, der die Lebensverhältnisse für alle verbessern möchte. Aber in der wissenschaft lichen Auseinandersetzung mit diesem Ziel ist in ihm offenbar bald die Erkenntnis gereift, dass die Freiheit wettbewerblicher Märkte dafür oft ein nicht zu ersetzendes Mittel ist. Und so wird er zumeist als Liberaler wahrgenommen. Dieses Buch beginnt mit dem Kaltstart, seinem öffentlichen »Coming out« im Jahr 1991 – dem gleichen Jahr, in dem sein Münchner Cen- ter for Economic Studies gegründet wurde. Die Präsidentschaft des kriselnden ifo Instituts übernahm er 1999. Was folgte, waren die Öffnung für internationalen Austausch auf höchstem wissenschaftlichem Niveau mit Hilfe von CESifo, die unzweifelhafte Ausrichtung des ifo an internationalen wissenschaftlichen Standards – und die Einmischung in jegliche nur denkbare wichtige wirtschaftspolitische De batte. Im Jahr 2003 entdeckte HWS mit Ist Deutschland noch zu retten? dann endgültig das populärwissenschaftliche Buch als das Medium, mit dem er gleichzeitig dröge wissenschaftliche Erkenntnis in die öffentliche De batte transportieren und in der Öffentlichkeit omnipräsent sein kann. Seitdem hat er Best seller an Bestseller gereiht, wie es kein anderer Ökonom vermocht hätte. Spätestens mit der Evaluierung 2005 bestand kein Zweifel mehr, dass das ifo mit seiner Radikalkur die Kehrtwende geschafft hatte. Weder im wissenschaftlichen Wettbewerb noch in der Einer Rückkehr zur Trennung von Theorie und Politik kann er nichts abgewinnen : »Theorie lose Politik ist genauso nutzlos wie Theorie ohne Politikimplikationen.« Aber auch ein Zweiklang aus Theorie und ökonometrischer Empirie ist ihm nicht genug, da der modernen Volkswirtschaftslehre allzu oft die Institutionenkenntnis abgeht. Für HWS besteht »seriöse Volkswirtschaftslehre in einem gleichgewich tigen Dreiklang von Theorie, Institutionen lehre und Ökonometrie, um der Wirtschaftspolitik mit fundierten Empfehlungen dienen zu können«. Wer ihn kennt, weiß, dass HWS nur umso besser wird, je mehr Gegenwind er bekommt. Wurde er für die Target-Salden zunächst verschrien, so machte ihn das nur noch fester – bis am Ende selbst die Bundesbank bereit war, das Thema zu problematisieren. Wenn HWS einmal eine Sache durchdrungen hat und sich ihrer sicher ist, lässt er sich von seinem Weg nicht mehr abbringen. Ihm ist dafür Sturheit vor geworfen worden – wider bessere Argumente auf dem eigenen Standpunkt zu beharren. Ich glaube nicht, dass man HWS diese Eigenschaft nachsagen kann. Aber einen Dickkopf – ja, den haben wir Westfalen schon. Um in der poli tischen Diskussion Bestand haben zu können, benötigt man Durchhaltevermögen – eben einen Dickkopf. Trotz Dickkopfs ist HWS die akademische Freiheit immer heilig – auch die der anderen. In meinen nun schon über zwölf Jahren am ifo hat er mir nicht einmal gesagt, was ich tun oder lassen, sagen oder nicht sagen soll. Als Wissenschaftler hat er sich selbst auch nie einer Par teilinie oder Ideologie unterordnen können. Darum lässt er sich in der schlichten Eindimen sionalität von links und rechts auch gar nicht einordnen. Nur wenn es um Bevormundung oder Freiheit geht, lässt er keinen Zweifel offen : Da ist er eben doch ein Liberaler. Vom Linken zum Liberalen: Hans-Werner Sinn und die deutsche Wirtschaftspolitik wirtschaftspolitischen Debatte konnte es jemand mit ihm aufnehmen. Und wenn man der Einschätzung zweier ehemaliger Vorsitzender der »Wirtschaftsweisen«, Wolfgang Wiegard und Wolfgang Franz, folgen darf, »war und ist [HWS] sicherlich der innovativste und einflussreichste Ökonom der letzten zwei oder drei Jahrzehnte in Deutschland«. Aber wofür stand – und steht – HWS in der wirtschaftspolitischen Debatte ? Sosehr Öffentlichkeit und Gegner es auch meinen wollen : Ein blinder Marktfanatiker ist HWS keineswegs. Eigentlich ganz im Gegenteil : Immer ging es ihm darum aufzustöbern, wo Märkte versagen, um dann zu analysieren, wie staatliche Eingriffe das Ergebnis verbessern können. Wenn überhaupt ist HWS also ein Staatsfanatiker. In seinem Innersten ist er immer der klassische Finanzwissenschaftler geblieben, der die Rolle des Staates in der Wirtschaft analysiert. Wenn ihm Kollegen Gläubigkeit an einen wohlmeinenden Staat vorwarfen, konnte ihn das nicht anfechten : Gerade weil Staat wie Markt versagen können, ist er überzeugt, dass es Aufgabe der Wissenschaft ist, die Stimme der Vernunft in die öffentliche Debatte zu bringen – trotz aller Beratungsresistenz der Politik. Auch als er sich ab Mitte der 1990er Jahre mit dem Präsidenten des Kieler Instituts für Weltwirtschaft Horst Siebert (full disclosure : mein Doktorvater) über die Chancen der Globali sierung freundschaftlich stritt, betonte HWS die Gefahren des Systemwettbewerbs : Eben weil der Staat dazu da ist zu korrigieren, wo Märkte versagen, könne Marktversagen im Wettbewerb der Staaten durch die Hintertür wieder Einzug halten. Der wirtschaftspolitische Pragmatismus des HWS spiegelt sich auch in einem methodischen Pragmatismus wider. Im Methodenstreit der deutschen Ökonomenzunft Ende der 2000er Jahre konnte er sich keiner Seite anschließen. 17 Horst Seehofer SOZIALE MARKT WIRTSCHAFT – EIN ERFOLGSMODELL FÜR BAYERN UND DEUTSCHLAND Vom Linken zum Liberalen Horst Seehofer wurde 1980 in den Bundestag gewählt und wurde dann Staatssekretär, Bundesminister für Gesundheit und Bundesminister für Ernährung, Landwirtschaft und Ver braucherschutz. Seit 2008 ist er Parteivorsitzender der CSU und Bayerischer Ministerpräsident. 18 Infolge der größten Wirtschafts- und Finanzkri se nach dem Zweiten Weltkrieg war allen klar : Der Laissez-faire-Kapitalismus ist gescheitert. Der Markt ist kein moralfreier Raum. Statt dem schnellen Geld durch Spekulation hinterher zulaufen, müssen wir uns wieder viel mehr auf unser Erfolgsmodell »Soziale Marktwirtschaft« besinnen. Uns in Bayern kam dabei eine besondere Verantwortung zu. Die Idee der Sozialen Marktwirtschaft wurde im Freistaat geboren. Ihr Vater, der Fürther Ludwig Erhard, hat als Bayerischer Wirtschaftsminister 1945/46 die Grundlagen für den einzigartigen Aufstieg unseres Landes in den letzten Jahrzehnten gelegt. Damals wie heute gilt : Freiheit, Eigentum und Wettbewerb sind das Fundament für wirtschaftlichen Erfolg und soziale Sicherheit. Verantwortung und Haftung sind untrennbar. Nur ein starker Staat hat die Kraft und die Mittel für den Schutz der Schwachen und die Garan tien für einen fairen Wettbewerb. Nur dort, wo Wohlstand auf Eigentum und Leistung grün- det, ist gerechte Teilhabe möglich. Deshalb habe ich 2009 die Kommission »Zukunft So ziale Marktwirtschaft« berufen. Als Präsident des ifo Instituts München und einer der an gesehensten Wirtschaftsprofessoren Deutschlands durfte Hans-Werner Sinn nicht fehlen. Leidenschaftlich in der Sache, messerscharf in der Analyse, wenn nötig auch unbequem – so habe ich den Ludwig-Erhard-Preisträger für publizistik kennen und schätzen Wirtschafts gelernt. Heute sind sich die Experten im In- und Ausland einig : Unser wirtschaftlicher Aufschwung der letzten Jahre ist »made in Germany«. Unsere Unternehmerinnen und Unternehmer, deutscher Erfindergeist, die soziale Mobilität in unserem Land, die berufliche Bildung – all das ist inzwischen Vorbild. Mit der Sozialen Marktwirtschaft haben wir Deutschen einen erfolgreichen Gegenentwurf zur Planwirtschaft, zum chinesischen Staatskapitalismus und zum angelsächsischen Marktkapitalismus. füllen. Wir brauchen einen starken Staat, der denen hilft, die sich selbst nicht helfen können. Genauso aber gilt : Es gibt keinen Wohlstand ohne Anstrengung. Ohne Leistungsträger fehlen unserem Sozialstaat die Muskeln. Auch das hat Hans-Werner Sinn immer deutlich gemacht. Wir müssen vor allem einen Weg finden, wie wir in einer älter werdenden Gesellschaft un seren sozialen Wohlstand erwirtschaften können. Hinzu kommt, dass wir in der globalisierten Welt des 21. Jahrhunderts mit den jungen, ehrgeizigen Gesellschaften aus Asien, Lateinamerika und Osteuropa konkurrieren. Wir brauchen den Biss, die innere Einstellung, den Hunger auf Erfolg. Nur unser Innovationsvorsprung garantiert uns auch in Zukunft Wohlstand für alle durch nachhaltiges Wachstum. Wir stehen in einem Wettbewerb der Mentalitäten. Entscheidend ist die Lebenseinstellung jedes Einzelnen. Wir brauchen eine neue Gründerzeit. Derzeit kann sich nur jeder vierte Deutsche die Selbständigkeit vorstellen. Hier müssen wir gegensteuern, denn wirklich Neues schaffen nur mutige Menschen. Lust auf Ent decken, Spaß am Wettbewerb, die Sehnsucht nach einem erfüllten Leben, das auf eigener Leistung gründet – wer die Zukunft mitgestalten will, der braucht diese positive Einstellung. Das ist eine Frage der geistigen, ethischen und psychologischen Grundausrüstung. Und das ist am Ende auch eine Kulturfrage des gesellschaftlichen Klimas. Ganz im Sinne Ludwig Erhards und der Sozialen Marktwirtschaft ist in Bayern der Un ternehmer Vorbild, nicht Feindbild. Eigen verantwortung, Leistungswille und Pioniergeist haben unser Land stark und sozial gemacht. Das soll weiterhin so bleiben. Mit einer Persönlichkeit wie Hans-Werner Sinn haben wir auch in Zukunft einen leidenschaftlichen Verfechter der Sozialen Marktwirtschaft an unserer Seite. Vom Linken zum Liberalen: Hans-Werner Sinn und die deutsche Wirtschaftspolitik Ludwig Erhard hat es auf den Punkt gebracht : Die Arbeit ist und bleibt die Grundlage des Wohlstands. Daran hat sich bis heute nichts geändert. Uns in Bayern geht es gut, weil die allermeisten Menschen in Lohn und Brot stehen. Uns geht es gut, weil das gesellschaftliche Klima stimmt, weil bayerische Unternehmen Motor für ganz Deutschland sind. Mit Blick auf Europa sage ich : Wir fordern von den anderen Ländern nur das, was wir selbst geleistet haben und immer noch leisten. Das Grundprinzip christlicher Sozialpolitik im 21. Jahrhundert lautet : Aktivieren statt alimentieren. Der Versorgungsstaat schwächt die ak tive Bürgergesellschaft. Selbstorganisation und Eigenverantwortung bleiben auf der Strecke. Wir müssen die Ordnungsprinzipien Solidarität und Subsidiarität wieder in ein vernünftiges Verhältnis bringen. Das gilt besonders für die hochverschuldeten Länder in der Europäischen Union. Ludwig Erhard steht für feste Prinzipien, die Einhaltung der Gesetze und eine straffe Ordnungs politik. Für uns in Bayern war daher immer klar : Finanzielle Hilfe kann es nur gegen klare Reformzusagen geben. Hans-Werner Sinn hat stets mit großem Nachdruck vor der Entkoppelung von politischer Entscheidungsfreiheit und finanzieller Verantwortung gewarnt, wie sie durch die Vergemeinschaftung der Staatsschulden entsteht. Sein großes Verdienst ist das unermüdliche Engagement, mit dem er den Bürgern komplexe Sachverhalte in klarer Sprache deutlich macht. In zahlreichen Büchern, Beiträgen und Interviews hat HansWerner Sinn wie kein Zweiter das Verständnis der Menschen für Wirtschafts- und Finanzfragen gefördert. Ein kraftvoller und handlungsfähiger Staat lebt von einer aktiven Bürgergesellschaft. Der Staat kann und soll nicht alles leisten. Aber der Staat muss seine Kernaufgaben verlässlich er- 19 Wolfgang Clement EIN MAHNER AUS PRINZIP Vom Linken zum Liberalen Wolfgang Clement war von 1998 bis 2002 Ministerpräsident des Landes Nordrhein-Westfalen und von 2002 bis 2005 Bundesminister für Wirtschaft und Arbeit. Er ist Vorsitzender im Kuratorium der Initiative Neue Soziale Marktwirt schaft. 20 Unter den wenigen bekannten deutschen Ökonomen ist er der Bekannteste. In der Rangliste der Frankfurter Allgemeinen Zeitung vom Jahr 2014 ist er auch der Einflussreichste. Aber seine Prominenz macht ihn, zumal unter Zunftgenossen, fast zwangsläufig auch zum Angefeindetsten. Das Handelsblatt beispielsweise attackierte ihn breitseitig als »falschen Propheten« und widmete ihm einen von fünf Ökonomen befeuerten Streitreport. Seine prononcierten Meinungsäußerungen haben fürwahr schon viele in Wissenschaft und Politik in Wallung gebracht. Ja, er kann auch Populismus. Aber ich mag seine Klarsicht und seine Klarsprache, auch wenn ich ihm nicht auf jedem Schritt und Tritt zu folgen vermag. Ich habe an etlichen seiner Publikationen Maß genommen. Es hat meinem Wahrnehmungs- und Urteilsvermögen fürwahr nicht geschadet. Schon früh, als hierzulande noch viele von der »New Economy« träumten, trat er bereits für ein Umsteuern in der Arbeitsmarkt- und Sozialpolitik in. Im Jahr 2003 waren auch wir endlich so weit. Gerhard Schröder verkündete die »Agenda 2010«, die man später – als die Erfolge am Arbeitsmarkt unübersehbar wur den – als bedeutendstes Reformpaket seit Jahrzehnten bezeichnen sollte. Doch damals war Hans-Werner Sinn noch nicht zufrieden. Seine Kritik war punktgenau und nie unbegründet. Sie verlangte mehr – und sie war in meiner Wahrnehmung eine starke Hilfe gegen politische Ermattung und Mutlosigkeit. Hans-Werner Sinn ist ein Ordnungspolitiker. Ein Neoliberaler, wie »man« heute idiotischerweise sagt, um solchermaßen Etikettierte politisch ins Abseits stellen zu können. Er ist, so sagt er selbst, ein Ordoliberaler im Sinne Erhards und Euckens. Und Leute dieser Denkungsart brauchen wir – jedenfalls wenn wir uns weiterhin auf dem Boden der Sozialen Marktwirtschaft bewegen wollen : in Deutschland, wo man manchmal zweifeln mag, dass dies noch der Fall sei. Und in Europa, wo wir – gen früherer Jahre. Doch seit dieses Instrumentarium mit der Währungsunion entfiel und sich das Kapital von den Krisenstaaten abwandte, hat die Europäische Zentralbank Tür und Tor bis hin zum totalen Quantitative Eas ing immer weiter geöffnet, aber zunächst den Zentralbanken der betreffenden Länder die Möglichkeit gegeben, den Defizitausgleich durch Drucken und Verteilen neuen Geldes zu finanzieren. Wenn Hans-Werner Sinn diese »Target-Kredite« offenlegte und als »Rettungsschirm vor dem offiziellen Rettungsschirm« kennzeichnete, hatte er Recht. Es war eine Finanzierung an den Parlamenten vorbei. Letztlich auch eine »Gemeinschaftshaftung durch die Hintertür«, vor der Sinn nicht müde wird zu warnen. Den stärksten Unmut hatte der ifo-Chef aber schon 2012 auf sich gezogen, als er gemeinsam mit einigen Gefährten gegen eine Vergemeinschaftung der Bankenschulden in der Euro region zu Felde zog. Doch hätte es Warner wie ihn nicht gegeben – wäre es überhaupt zu einer Bankenunion mit Restrukturierungsfonds und einer vielleicht irgendwann einmal hinreichenden Einlagensicherung gekommen ? Es darf gezweifelt werden. Wir dürfen uns an prinzipienfesten Ökonomen wie Hans-Werner Sinn freuen, die die europäische Wirtschafts-, Finanz- und Geldpolitik auf deren selten geraden Pfaden kritisch begleiten. Das lässt trotz und alledem immer noch hoffen. Doch es wird bestimmt noch etliche Jahre kosten, ehe wir sicher wissen, ob das Projekt Europa mitsamt gemeinsamer Währung überhaupt – und wenn, mit allen Teilnehmern – ins Ziel kommt. Vom Linken zum Liberalen: Hans-Werner Sinn und die deutsche Wirtschaftspolitik wenn wir es denn je verwirklichen – noch lange nicht so weit sind. Hans-Werner Sinn formuliert fachliche Maßstäbe, die nur Stupide gleichgültig lassen. Sie geben Orientierungen, die eine Gesellschaft braucht, um ihren Weg einigermaßen sicheren Fußes gehen zu können. Man nehme nur die europäische Schuldenkrise. Nur wenige Ökonomen haben sich so wie er in fast jede der bis heute tobenden Schlachten geworfen. Und das ist auch gut so ! Oder stimmte es etwa nicht, dass der europä ische Stabilitätsmechanismus zu einer Schwächung des Euro und zur Gefährdung des europäischen Einigungswerkes führt ? Es ist doch fast schon Allgemeingut, dass der Verzicht auf die »Politische Union« vor Ingangsetzung der Währungsunion am Anfang aller heutigen Probleme steht und dass der bis in diese Tage immer weicher gespülte Stabilitätspakt tat sächlich alles anderen als stabilisierend wirkt. Denn er entlastet die Regierungen der Krisenstaaten vom Handlungsdruck zu Konsolidierung und strukturellen Reformen und lädt so zu weiteren Sünden wider die ökonomische Vernunft ein. Die entsprechenden Auseinandersetzungen zwischen dem Norden und dem Süden Europas haben längst eine politisch destabilisierende Wirkung auf die Europäische Union. Wir befinden uns mitten in der Zerreißprobe, in der Lebenswirklichkeit europäischer Politik ziemlich genau zwischen »Grexit« und »Brexit«. Es ist doch ebenso zutreffend, dass die Leistungsbilanzdefizite der Krisenländer am Anfang unserer Schuldenkrise stehen. Dass sie zeitweise über ihre Verhältnisse leben konnten, verdankten diese Länder diversen Abwertun- 21 Reinhard Kardinal Marx LEITBILD CHANCENGERECHTIGKEIT Vom Linken zum Liberalen Reinhard Kardinal Marx ist Erz bischof von München und Freising, Mitglied der Kardinalsgruppe zur Beratung von Papst Franziskus in der Leitung der Weltkirche, Koordinator des Päpstlichen Rates für die wirtschaftlichen Angelegenheiten, Präsident der ComECE und Vor sitzender der Deutschen Bischofs konferenz. 22 Blickt man auf die politischen Debatten seit der Wiedervereinigung zurück, nimmt vor allem die Reformbedürftigkeit des deutschen Sozialstaats breiten Raum ein. Einer der maßgeblichen Impulsgeber dieser öffentlichen Diskus sion war Hans-Werner Sinn. Ich erinnere nur an seinen Bestseller Ist Deutschland noch zu retten? aus dem Jahr 2003 mit seinem kämp ferischen Appell zur Notwendigkeit einer umfassenden Wirtschafts- und Sozialreform. Die Frage der gerechten Gestaltung der Gesellschaft bleibt auch in Zukunft von großer Aktualität. Denn die prägenden Prozesse der Pluralisierung und Individualisierung, der Rationalisierung und Globalisierung schreiten weiter voran. In einer Zeit zunehmender Vielfalt der Lebensläufe sowie wachsender Flexibilität und Mobilität erwarten die Menschen, dass der Sozialstaat ihnen Sicherheit und Rücken deckung bietet. Gleichzeitig verlangen die Globalisierung ebenso wie der technologische Fortschritt dringend nach Anpassungen und neuen Antworten – ist doch beispielsweise mit dem internationalen Wettbewerbsdruck oder der fortschreitenden Digitalisierung ein tiefgreifender Strukturwandel verbunden. Darüber hinaus werden auch die finanziellen Spielräume aufgrund von Staatsdefiziten, demographischem Wandel und erforderlichen Maßnahmen zum Klima- und Umweltschutz immer enger. Das Gefühl der Beschleunigung des Lebens und die Verunsicherung der Menschen angesichts steigender Komplexität werden daher eher zu- als abnehmen. Dies macht eine verlässliche soziale Absicherung notwendiger denn je, vor allem weil es gilt, eine Schwächung des gesellschaftlichen Zusammenhalts zu verhindern. Denn die Reformen des Sozialstaats und die oft stark zugespitzte öffentliche Diskussion über Sozialleistungen und Zumutbarkeitsregelungen rufen vielfach Ängste und Abwehr verhalten hervor : Während die Betroffenen den Abbau sozialer Leistungen sowie zunehmende Ausgrenzung und Ohnmacht fürchten, Qualifizierung entstanden sind. Eine gute Ausbildung und die Fähigkeit, das eigene Leben in die Hand zu nehmen, sind aber nicht nur für die Beschäftigungschancen auf dem Arbeitsmarkt entscheidend, sondern auch wesentliche Voraussetzungen einer stabilen Erwerbs- und Lebensbiographie. Alle Menschen müssen die Chance erhalten, ihre Begabungen und Fähigkeiten zu entwickeln. Nur so sind sie in der Lage, sich selbst zu entfalten und ihren individuellen Beitrag für die Gesellschaft zu leisten. Das Bemühen um die Verbesserung der Chancengerechtigkeit darf nicht darüber hinwegtäuschen, dass ein gewisses Maß an Ungleichheit zu einer freien Gesellschaft gehört. Ungleichheit ist nicht automatisch ungerecht, sondern sie ist Ausdruck unterschiedlicher Potenziale und Befähigungen der Menschen. Umso wichtiger ist deshalb die Verpflichtung, jedem Einzelnen wirkliche Chancen zur persönlichen Freiheitsentfaltung zu eröffnen. Wird dies glaubhaft vermittelt, dann gefährdet die zunehmende Differenzierung der Gesellschaft auch deren Zusammenhalt nicht. Wenn die Zusage »Chancen für alle« den Menschen Wege zur Teilhabe, zum sozialen Aufstieg und zum Wohlstand ermöglicht, wird nicht nur das Selbstvertrauen des Einzelnen gestärkt, sondern auch das Vertrauen in die Gesellschaft und in das System sozialer Sicherheit. So trägt eine am Leitbild der Chancen gerechtigkeit ausgestaltete Gesellschaft auch zur Zukunftsfähigkeit unseres Landes bei. Ich denke, dass Hans-Werner Sinn vieles teilt, was wir als Bischöfe in diesem Programm für eine erneuerte Soziale Marktwirtschaft formuliert haben. Gerne denke ich an alle Be gegnungen mit ihm und die offenen, auch kontroversen Diskussionen über Schulden, Kasino-Kapitalismus oder Ordoliberalismus : Es ist eine Freude und Herausforderung zugleich. Vom Linken zum Liberalen: Hans-Werner Sinn und die deutsche Wirtschaftspolitik schwindet die Solidarität der Bessergestellten mit denjenigen, die Hilfe und Unterstützung brauchen. Daher muss die Politik neben der Debatte über die klassische soziale Sicherung auch eine Diskussion über Inklusion und Exklusion führen. Es geht um den Menschen und seine Teilhabe am gesellschaftlichen Leben. Der akti vierende Sozialstaat setzt bei der Befähigung zu einem möglichst selbstbestimmten und eigenverantwortlichen Leben und bei der Bereitschaft zu aktiver gesellschaftlicher Teilnahme an. Er greift damit das Freiheitsverständnis der Menschen in der modernen, pluralen und in dividualistischen Gesellschaft auf. Er versucht Handlungsspielräume zu stärken und trägt so dazu bei, die sozialen Sicherungssysteme krisenfester und damit zukunftsfähiger zu machen. Die Kommission für gesellschaftliche und soziale Fragen der Deutschen Bischofskon ferenz hat in einem 2011 veröffentlichten Im pulstext das Leitbild einer »chancengerechten Gesellschaft« in den Mittelpunkt ihrer Über legungen zur Erneuerung unseres Sozial- und Wirtschaftsmodells gestellt. Die Chancengerechtigkeit zielt darauf, dem Risiko sozialer Ausgrenzung entschiedener und nachhaltiger zu begegnen. Jedem Menschen in unserer Gesellschaft muss die tatsächliche Chance eröffnet werden, aktiv am gesellschaftlichen Leben teilzuhaben. Deshalb müssen die Ausgeschlossenen und an den Rand Gedrängten ins Zentrum der Aufmerksamkeit gerückt werden. Denn niemand darf abgeschrieben werden. Dies gilt auch für Menschen mit besonderen Armuts risiken wie Langzeitarbeitslose, Alleinerziehende oder Menschen mit Migrationshintergrund. Zur Eröffnung sozialer Chancen bedarf es zunächst einer guten Bildung und Erziehung. Kein Sozialsystem kann die Nachteile ausgleichen, die durch unzureichende Bildung und 23 Ulrich Grillo DER ÖKONOMIE-ERKLÄRER – VON A WIE ARBEITSMARKT BIS Z WIE ZUWANDERUNG Vom Linken zum Liberalen Ulrich Grillo ist seit 2013 Präsident des Bundesverbands der Deutschen Industrie (BDI). Seit 2004 ist er Vorsitzender des Vorstands der Grillo-Werke AG; bis 2012 war er Präsident der Wirtschaftsver einigung Metalle. 24 Hans-Werner Sinn beherrscht das ABC der Wirtschaftspolitik seit Jahrzehnten wie kaum ein anderer deutscher Ökonom : von A wie Arbeitsmarkt oder »Aktivierende Sozialhilfe« über B wie Basarökonomie bis Z wie Zuwan derung. Er hat kein wichtiges wirtschaftspoli tisches Thema ausgelassen. Und wenn es noch kein Thema war, dann hat er es zu einem gemacht, Stichwort Target-Salden. Das ist sein Verdienst. Hans-Werner Sinn ist ein unermüdlicher »Ökonomie-Erklärer«. Einer, der keine Angst davor hat anzuecken. Er war sich nie zu schade, seine provokanten Positionen in Talkshows zu vertreten; ohne Rücksicht darauf, dass er in der Öffentlichkeit zum Teil heftige Kritik erntete. Er hat über eine Zeitspanne gewirkt, in die nicht nur die deutsche Wiedervereinigung fiel, sondern in der sich auch der strukturelle Wandel weltweit beschleunigt und die internatio nale Arbeitsteilung im Zuge der Globalisierung intensiviert haben. Und in der das Wirtschafts- wachstum über weite Strecken eher schwach, der Reformstau in Deutschland hoch war. Die Zeit des »kranken Mannes in Europa«, wie es der Economist Anfang der 2000er Jahre formuliert hat, liegt noch nicht so weit zurück – auch wenn die positive wirtschaftliche Entwicklung im Nachgang zur Finanz- und Wirtschaftskrise 2008/2009 dies fast vergessen macht. Bei vielen Themen war der Bundesverband der Deutschen Industrie mit Hans-Werner Sinn einig, etwa bei der Unterstützung der Reformen der Agenda 2010 : Er hielt sie für richtig, aber nicht für ausreichend. Es gab aber auch Unterschiede. So haben wir für die Zukunft der deutschen Industrie nicht ganz so schwarzgesehen wie er in seinem Bild von der Basarökonomie : Er ging davon aus, dass die exportgetriebene Produktion der deutschen Industrie vorrangig im Ausland statt finden und sich industrielle Produktion am Standort Deutschland aufgrund hoher Kosten kaum mehr lohnen würde. Übrig wäre dann nen. In diesen Kontext gehört auch seine Forderung, eine »Aktivierende Sozialhilfe« einzuführen und den Niedriglohnsektor auszubauen. Letztlich haben ihm die Reformen der Agenda 2010 und ihre unbestritten positiven Wirkungen auf den deutschen Arbeitsmarkt Recht gegeben. Im Rahmen der jüngsten Finanz-, Wirtschafts- und Staatsschuldenkrise in Europa bleibt Hans-Werner Sinn ein Mahner, der uns auffordert, auch unbequemen Wahrheiten ins Auge zu sehen. So hat er oft betont, wie schwierig die wirtschaftspolitische Anpassung in einer Währungsunion ist. Zudem hat er die komplizierten Mechanismen der Finanzierung von Leistungsbilanzdefiziten in Ländern des Euro raums aufgezeigt. Die Stabilisierung der Währungsunion ist von überragendem Interesse für die deutsche Industrie : Wir wollen den Euro und die Europäische Union. Auch wenn die aufstrebenden Schwellenländer als Handelspartner der deutschen Industrie in den Jahrzehnten enorm an Bedeutung gewonnen haben, so bleibt Europa doch der Heimatmarkt des Industrielandes Deutschland. Industrie mit Zukunft – das geht nur in einem zukunftsfähigen und starken Europa. Klar ist aber auch : Um dieses Ziel zu erreichen, sind Reformen unumgänglich. Man könnte das ganze Alphabet durchdeklinieren. Und würde zu jedem Buchstaben ein Thema finden, das der Ökonomie-Erklärer geprägt hat. Das würde aber den Rahmen des Beitrags sprengen. Bleibt also nur noch, HansWerner Sinn für die Zukunft alles Gute zu wünschen – und zu hoffen, dass sich der scharfsinnige und scharfzüngige Denker auch weiter in die öffentliche Diskussion einmischen und sich nicht auf sein Altenteil zurückziehen wird. Vom Linken zum Liberalen: Hans-Werner Sinn und die deutsche Wirtschaftspolitik nur noch die »Basarökonomie«, also vor allem der Vertrieb. Es stimmt zwar, dass die deutsche Industrie ihre Wertschöpfungsketten weltweit aufgestellt hat und für ihre Exportprodukte auch viele Vorleistungen importiert. Damit hat sie aber ihre internationale Wettbewerbsfähigkeit kontinuierlich verbessert. Deutschland verfügt auch heute noch über eine starke industrielle Basis. So ist der Anteil der Industrie an der Wertschöpfung über die Jahre weitgehend stabil geblieben – er liegt immer noch bei über 20 %, während er andernorts deutlich gesunken ist. Nach wie vor beschäftigt die deutsche Industrie etwa 7,5 Millionen Menschen in Deutschland. Bezieht man die unternehmensnahen Dienstleister mit ein, liegen die Zahlen noch höher. Allerdings haben wir angesichts ungelöster Probleme wie der Energiewende oder angesichts der Herausforderungen aus Digitalisierung und Vernetzung, kurz Industrie 4.0, keine Garantie dafür, dass dies auch in Zukunft so bleibt. Hans-Werner Sinn hat sich in einem Vortrag bei der Stiftung Schloss Neuhardenberg 2003 einmal selbst als »Kathedersozialisten« bezeichnet. Mit diesem Begriff wurden deutsche Professoren der Nationalökonomie im 19. Jahrhundert kritisiert, die sich angesichts der schwierigen sozialen Lage der Arbeiter in der Sozialpolitik engagierten und die Reformen Bismarcks vorbereiteten. Sie gründeten 1873 den Verein für Socialpolitik, dessen Vorsitzender Hans-Werner Sinn von 1997 bis 2000 war. Doch bei aller Kritik, die er über die Jahre am aus seiner Sicht ausufernden Sozialstaat übte, hatte er stets auch eines im Blick : das Gemeinwohl. Aus seiner Sicht waren Einschnitte notwendig, um das Ganze erhalten zu kön- 25 Roland Berger HANS-WERNER SINN: VOLKSWIRT, KOMMUNIKATOR, MANAGER Vom Linken zum Liberalen Roland Berger ist Gründer und Honorary Chairman von Roland Berger Strategy Consultants. Darüber hinaus ist er Mitglied verschiedener Aufsichts- und Beiräte von nationalen und interna tionalen Unternehmen, Stiftungen und Organisationen sowie Vor sitzender der ifo-Freundesgesellschaft. 26 Hans-Werner Sinn ist ohne Zweifel der einflussreichste deutsche Ökonom unserer Zeit. Das ist nicht nur mein subjektiver Eindruck aus vielen Gesprächen mit Politikern, Wirtschaftsführern und Unternehmern, sondern wird auch von zahlreichen Rankings bestätigt : Das F. A. Z.-Ranking der einflussreichsten Wirt schaftsforscher setzte ihn 2014 auf Platz 1, ebenso eine Umfrage unter Bundestagsabgeordneten und ihren Mitarbeitern im Jahr zuvor. 2012 nannte Bloomberg ihn als einzigen Deutschen in einer Liste der 50 weltweit wichtigsten Persönlichkeiten der Wirtschaft. Diese Liste ließe sich beliebig fortsetzen, was ich dem Leser ersparen möchte. Hans-Werner Sinn ist offensichtlich dreierlei : ein exzellenter Volkswirt, der akademisch weit über die Grenzen Deutschlands hinaus bekannt ist und respektiert wird. Ein brillanter und meinungsstarker Kommunikator, der keine Auseinandersetzung scheut, wenn er mit den Ergebnissen seiner Forschung zum öffentlichen Diskurs beitragen kann. Und, last but not least, ein erfolgreicher Manager, der das ifo Institut in einer Krisen situation übernahm und zum führenden deutschen Wirtschaftsforschungsinstitut entwickelt hat, was unter anderem das Handelsblatt-Ranking bestätigt. Aber der Reihe nach : Zunächst fußt HansWerner Sinns Erfolg natürlich auf herausragenden wissenschaftlichen Leistungen. Schon seine Promotion und Habilitation waren preisgekrönt. Es folgten Veröffentlichungen in allen wesentlichen Journals sowie vielbeachtete Bücher, prall gefüllt mit originärem Denken und stringenter, oft modelltheoretischer Argumentation. Dabei – und das macht die wissenschaftliche Leistung Hans-Werner Sinns noch beeindruckender – arbeitete er nicht etwa in einem eng abgesteckten Feld, sondern deckte von Besteuerung über die Konsequenzen der deutschen Wiedervereinigung bis hin zur Bankenregulierung und Klimapolitik so ziemlich alle wesentlichen ökonomischen, gesellschaft- gen Medienkampagnen, die im Laufe der Jahre gegen ihn gerichtet waren, ist ihm hoch anzurechnen und sicherlich auch durch seine tiefe Überzeugung geprägt, dass die Ergebnisse sauberer wissenschaftlicher Arbeit dem öffentlich Diskurs nur nützen können. Mit seiner akademischen Exzellenz und seiner Öffentlichkeitswirksamkeit war HansWerner Sinn im Übrigen ein Glücksfall für das ifo Institut, dessen Name für »Information und Forschung« steht, was Sinns Wirken in den letzten Jahrzehnten im Grunde perfekt beschreibt. Sinn übernahm das Institut im Februar 1999 in einer Krisensituation – mit Budgetlöchern und sinkenden wissenschaftlichen Leistungen. Durch wegweisende Entscheidungen – etwa indem er ermöglichte, dass ifo-Bereichsleiter Professuren an der LMU erhielten, oder indem er über die Zusammenarbeit mit dem Center for Economic Studies das ifo Institut erheblich internationalisierte – zog er hervorragendes wissenschaftliches Personal an und entwickelte es weiter. Nicht zuletzt dadurch machten Sinn und sein Vorstandskollege Meinhard Knoche das einstige »Sorgenkind« zu Deutschlands führendem Wirtschaftsforschungsinstitut, das mittlerweile auch international großes Renommee genießt. Zum Abschied in den Ruhestand müsste man Hans-Werner Sinn eigentlich wünschen, dass er nunmehr die Gelegenheit findet, mehr Zeit mit seiner Familie und mit den schönen Dingen des Lebens zu verbringen. Angesichts seiner wissenschaftlichen Leistungen und seines Wirkens für die res publica muss man allerdings einen Wunsch hinzufügen : nämlich dass er, bei aller verdienten Erholung, auch in Zukunft seine Stimme der ökonomischen Vernunft in den doch oft sehr irrationalen wirtschaftspolitischen Debatten erheben möge und dass wir noch viel von ihm hören werden. Vom Linken zum Liberalen: Hans-Werner Sinn und die deutsche Wirtschaftspolitik lichen und politischen Themen ab, meist bevor diese »populär« wurden. Die Vielfalt der Beiträge in diesem Buch ist Zeugnis der enormen Breite und Tiefe des Schaffens Sinns. Jedoch war für ihn die Wissenschaft nie Selbstzweck, denn er versteht die Ökonomie als Gesellschaftswissenschaft im Wortsinn : als eine Wissenschaft, die verschiedene Aspekte der Ge sellschaft untersucht, die aber auch in der Verantwortung steht, ihr ihre Ergebnisse zu gutekommen zu lassen. Daher hat Hans-Werner Sinn immer sichergestellt, dass seine wissenschaftlichen Arbeiten nicht nur in den Regalen von Experten landen, sondern in den Medien, in Landes- und Bundesregierungen, in den Zentralbanken und natürlich auch in der europäischen Politik diskutiert werden. So erscheint es undenkbar, dass die Problematik der Target-2-Salden in der Eurokrise ohne Sinn jemals so ins Rampenlicht gerückt wäre. In diesem Kontext fand auch die Bogenberger Erklärung im Jahr 2011, die im Wesentlichen auf der Strategiesitzung der Kuratoren der ifo-Freundesgesellschaft in Bogenberg, Obertaufkirchen, erarbeitet wurde, ein breites Medienecho. Die großen, wertvollen Debatten über die Wettbewerbsfähigkeit Deutschlands in den frühen 2000ern, über nachhaltige Rentenpolitik angesichts des demographischen Wandels, aber auch über das »grüne Paradoxon« verdanken wir ebenso Hans-Werner Sinn. Solcher Erfolg in der Öffentlichkeit hat zwei Voraussetzungen : einerseits Intuition für die »richtigen« Themen, die den Zeitgeist umtreiben, und andererseits die intellektuelle Kapazität, um zu diesen Themen etwas Neues und Konstruktives beizutragen. Beide hat Hans-Werner Sinn ohne Zweifel. Jemand, der die Aufgabe des Ökonomen so versteht, wie Sinn es tut, exponiert sich natürlich und stößt dabei nicht nur auf Begeisterung und Zustimmung. Seine Widerstandskraft ge- 27 Wolfgang Franz DIE EIGER-NORDWAND UND DER KOMBILOHN: EINE REMINISZENZ Vom Linken zum Liberalen Wolfgang Franz war bis zum Jahr 2013 Präsident des Zentrums für Europäische Wirtschaftsforschung (ZEW) und Vorsitzender des Sachverständigenrates zur Begutachtung der gesamtwirtschaftlichen Entwicklung. 2013 erhielt er das Bundesverdienstkreuz 1. Klasse. 28 Es ist erst rund 15 Jahre her, da galt Deutschland ökonomisch als der »kranke Mann Europas«. Die Ursachen der seinerzeitigen Misere waren Gegenstand zahlreicher Studien, Gutachten und Stellungnahmen unterschiedlicher Wissenschaftler und Institutionen. Eine besondere Aufmerksamkeit erlangte völlig zu Recht das im Jahr 2003 erschienene Buch von HansWerner Sinn mit der Titelfrage : Ist Deutschland noch zu retten? In mehreren Auflagen beschrieb das Buch in schonungsloser Offenheit die Reformnotwendigkeiten. Ein zweites Beispiel für eine fundierte, auf wissenschaftlicher Grundlage beruhende Analyse der Schwächen Deutschlands stellt das Jahresgutachten 2002 des Sachverständigenrates zur Begutachtung der gesamtwirtschaftlichen Entwicklung dar, welches mit Zwanzig Punkte für Beschäftigung und Wachstum betitelt war und ebenfalls häufig zitiert wurde. Der Titel gab sogar zu dem Kalauer Anlass, der Name »Agenda 2010« rühre daher, dass Bundeskanzler Schröder zehn jener zwanzig Punkte in die Agenda 2010 aufgenommen habe. Im Hinblick auf die Ursachenanalyse und die darauf basierenden Reformvorschläge wiesen beide Bücher beträchtliche Gemeinsamkeiten auf. Als eine der Hauptursachen iden tifizierten sie die beschäftigungsfeindlichen Schieflagen in den Systemen der sozialen Sicherung und im institutionellen Regelwerk des Arbeitsmarkts. Diese Sichtweise gab zu teilweise erbitterten Kontroversen Anlass. Zum einen wurde die Bedeutung dieser Defizite rundheraus bestritten. Etwas subtiler war dann zum anderen der Vorwurf, diese Fehlsteuerungen, so es sie denn überhaupt gebe, hätten sich, wenn überhaupt, nicht in dem Umfang verschärft, als dass sie die schubweise, treppenförmige Entwicklung der Arbeitslosigkeit in Westdeutschland der vorangegangenen beiden Dekaden hätten erklären können. Vielmehr mangele es stets an ausreichender gesamtwirtschaftlicher Nachfrage. Übersehen wurde bei dieser Argu- dererseits. Grob vereinfacht sahen beide Modelle eine Absenkung des Regelsatzes der Sozialhilfe und später des Arbeitslosengelds II und gleichzeitig großzügigere Hinzuverdienstmöglichkeiten vor. Anders formuliert, jeder konnte trotz der Absenkung des Regelsatzes das vorher bestehende Niveau der Unterstüt zungszahlungen wieder erreichen, aber musste dafür Arbeitsleistungen auf dem ersten Arbeitsmarkt erbringen oder, wenn es nicht anders möglich ist, auf dem zweiten Arbeitsmarkt. Die Reaktionen auf beide Vorschläge in der Öffentlichkeit und in der Politik waren, freundlich ausgedrückt, enttäuschend, teilweise verheerend. Einschlägig bekannte Medien thematisierten nahezu ausschließlich die Absenkung des Regelsatzes. Mitglieder des Sachverstän digenrates wie der Autor dieses Beitrags wurden in Interviews und Talkrunden regelmäßig als kaltschnäuzige »Neoliberale« geschmäht, die den beklagenswerten Hilfeempfängern, die dann auch noch publikumswirksam in der Fernsehsendung auftauchten, selbst noch die letzte Würde nähmen. Vor diesem Hintergrund ist es wenig verwunderlich, dass die Politik das Kombilohnmodell wie eine heiße Kartoffel fallen ließ, obwohl die Bundesregierung den Sachverständigenrat offiziell um die erwähnte Expertise gebeten hatte. Hans-Werner Sinn erging es mit der »Aktivierenden Sozialhilfe« ähnlich. So beklagt er in der achten Auflage seines zitierten Buches, die Reform des Arbeitslosengelds II sei nur »eine geringfügige Verbesserung des Anreizsystems mit erheblichen Inkonsistenzen, aber keine durchschlagende Reform«. Es spricht für ihn, dass er trotz solcher und anderer Rückschläge in seinen Anstrengungen, eine fundierte wirtschaftspolitische Beratung zu erbringen, nicht nachgelassen hat. Vom Linken zum Liberalen: Hans-Werner Sinn und die deutsche Wirtschaftspolitik mentation der Sperrklinkeneffekt der angesprochenen Bremsklötze. Im Aufschwung mögen die Beschäftigungshemmnisse weniger lähmend wirken, aber im Abschwung verhindern sie die notwendige Flexibilität, um wieder auf einen stabilen Beschäftigungspfad zu gelangen. Im Mittelpunkt der Analysen von HansWerner Sinn und des Sachverständigenrates standen der Sozialstaat und hier insbesondere das System der Lohnersatzleistungen, also das Arbeitslosengeld und die seinerzeitige Arbeitslosenhilfe und Sozialhilfe, später das Arbeits losengeld II. Das Hauptproblem bestand darin, dass eigenes Arbeitseinkommen, von gering fügigen Hinzuverdienstmöglichkeiten abgesehen, in weiten Bereichen eins zu eins auf die Hilfen angerechnet (»Transferentzugsrate«), also mit einem Steuersatz von 100 % belegt wurde. Niemand arbeitet bei einem Steuersatz von 100 %, also waren die Arbeitsanreize praktisch null. Hans-Werner Sinn hat dieses Problem mit dem »Michel vor der Eiger-Nordwand« veranschaulicht. Damit sich eigene Arbeitsleistungen der Empfänger solcher Unterstützungszahlungen trotz der Transferentzugsraten in höheren Nettoeinkommen niederschlagen, bedürfe es Arbeitsleistungen in einem Ausmaß, welches für viele Personen so unüberwindlich sei wie das Erklimmen der Eiger-Nordwand bis zur Oberkante, ab der sich Arbeit wieder lohne. »Lohnersatzleistungen als Jobkiller«, prangerte Hans-Werner Sinn dies scharf an. Zu ähnlichen Schlussfolgerungen gelangte der Sachverständigenrat. Beide entwickelten unabhängig voneinander Lösungsvorschläge, die indes sehr starke Gemeinsamkeiten aufwiesen, nämlich der Sachverständigenrat das »zielgerichtete Kombilohnmodell« in einer Expertise im Jahr 2006 einerseits und HansWerner Sinn die »Aktivierende Sozialhilfe« an- 29 Edmund Phelps HANS-WERNER SINN UND DEUTSCHLANDS NATÜRLICHE ARBEITSLOSENRATE Vom Linken zum Liberalen Edmund Phelps ist Wirtschafts nobelpreisträger 2006, Direktor des Center on Capitalism and Society an der Columbia University, Dekan der New Huadu Business School und Autor von Mass Flour ishing: How Grassroots Innovation Created Jobs, Challenge and Change (Princeton Univ. Press 2013). 30 Durch mehrere Aufenthalte in Deutschland begann ich, mich mit dem Land verbunden zu fühlen. Trotz des beeindruckenden Wieder aufbaus in der Nachkriegszeit verspürte ich bei manchen Ökonomen Besorgnis darüber, welche Richtung die politische Ökonomie des Landes einschlug. In einer Unterhaltung um 1975 sprach Herbert Giersch, damals Präsident des Kieler Instituts für Weltwirtschaft, über die Kosten des in Deutschland entstehenden Korporatismus, und in einer Unterhaltung um 1990 drückte Heinz König, der ehemalige Direktor des ZEW in Mannheim, seine Sorgen über die Entwicklungen der Corporate Governance aus. Jetzt ist die nächste Generation – in der unser Geehrter mittendrin ist (und ich am älteren Ende) – für die Warnungen verantwortlich. Hans-Werner Sinn – das kann man sicher sagen – hat mehr als jeder Ökonom seiner Generation getan, um die Frage nach der Zukunft Europas aufzuwerfen. Ich persönlich fand das nicht überraschend. Ich traf ihn zum ersten Mal, ich glaube 1983, in Mannheim, wo er eine Vorlesung hielt und ich ein Lehrbuch fertigstellte. Er fiel mir als der klügste und treff sicherste der deutschen Ökonomen auf. Das nächste Mal begegneten wir uns im Dezember 2002 auf einer Konferenz am ifo Institut, wo er Präsident und ich der Keynote Speaker war. Ich erinnere mich gut an den Abend mit ihm und seiner bezaubernden Frau Gerlinde, an dem wir den Münchner Christkindlmarkt besuchten und uns beim Abendessen darüber austauschten, was Deutschland fehlt. Als ich dann einen Partner suchte, der mit mir und meinem Center on Capitalism and Society 2006 eine Konferenz zur Frage, woran Europa leidet, organisiert, war klar, dass Professor Sinn und sein ifo Institut die Richtigen sind. Die Veranstaltung im Sommer in Venedig war wohl die erste große Tagung, die sich mit dem in zahlreichen Daten angedeuteten Rückgang der Wirtschaftsleistung in Kontinental europa auseinandersetzte. Soweit ich weiß, 2000 – 2004 gesunken ist, stieg sie 2005 – 2009 wieder auf 81,20 % und 2010 – 2012 sogar auf 83,60 %. Die Wahrheit könnte sein, dass die, die ihren Job verloren, eine Zeitlang durch den Schock erschüttert waren, doch die meisten weiter nach einem Job suchten und so im Arbeitskräftepotenzial blieben. Neue Arbeitgeber fanden allmählich die richtigen Lösungen, so dass sich die Beschäftigung erholte. Die »na türliche Rate« lebt ! Und Schröders Reformen von 2004 könnten die natürliche verbesserte Beschäftigung auf ein Niveau über das von 1990 – 1994 gehoben haben. Doch die Welt entwickelt sich ständig weiter. Niemand hätte vorhersehen können, dass der Verlust der Wettbewerbsfähigkeit in Südeuropa zum Ende des letzten Jahrzehnts der deutschen Beschäftigung noch einmal Auftrieb geben würde – kurzfristig zumindest. Niemand kann sich sicher sein, dass Deutschlands neuer realer Wechselkurs langfristig nicht mit hö heren Preisaufschlägen, daraus resultierend weniger Inlandsverkäufen und somit letztlich niedrigerer Beschäftigung endet. Und niemand kann sich sicher sein, dass Schröders Reformen diese neue Phase überleben werden. Sinn könnte der sein, der zuletzt lacht. Ich habe von Sinns These gelernt. Wir müssen uns fragen, ob sich der auffällige Auszug der Amerikaner aus der Erwerbsbeteiligung als dauerhaft erweist – unterstützt durch Regierungsprogramme –, oder ob die übrig gebliebene Dynamik der amerikanischen Wirtschaft stark genug ist, alle Menschen, die ihren Job während der Finanzkrise verloren haben, aufzunehmen. Fraglich ist auch, ob die griechische Wirtschaft die Dynamik – schwach wie sie ist – haben wird, die vielen Leute, die ihren Job in der Krise verloren haben, in Beschäftigung zu bringen. Die Wissenschaft schreitet durch das Zusammenspiel der Ideen vieler Köpfe voran. Vom Linken zum Liberalen: Hans-Werner Sinn und die deutsche Wirtschaftspolitik wurde hier zum ersten Mal diskutiert, dass das Problem ein »Mangel an Dynamik« war, der zu einer Innovationsgeschwindigkeit führte, die neben der schnellen Innovation der glänzenden Jahrzehnte des Kontinents verblasste. Die Teilnehmer suchten ausgiebig die Gründe für den Verlust an Dynamik – nicht nur bei Marktkräften wie Alterung, Institutionen wie Cor porate Governance und Wirtschaftspolitiken wie der Besteuerung und Wohlfahrtsprogrammen. Auch die ökonomische Kultur wurde in Betracht gezogen : Wurden die Werte, die die lange Epoche der Innovation in Deutschland und Frankreich im 19. Jahrhundert entfachten, durch andere, für Innovationen schädliche Werte verdrängt ? Natürlich gab es nur wenige eindeutige Schlussfolgerungen, geschweige denn Einigkeit unter den Teilnehmern. Dennoch stellten diese Konferenz und das daraus entstandene Buch, Perspectives on the Perform ance of the Continental Economies, einen Wendepunkte für viele Teilnehmer dar – Professor Sinn und mich eingeschlossen. In seinem Beitrag konzentriert sich Sinn auf das Zusammenspiel zweier Kräfte : die Globa lisierung und der Wohlfahrtsstaat. Seine These ist, dass die Beschäftigung in Vollzeitäquivalenten im Verarbeitenden Gewerbe in Deutschland von 1995 bis 2005 um 1,21 Millionen gesunken ist. Wo sind sie geblieben ? Sie »gingen in den Wohlfahrtsstaat, in staatlich finanzierte Arbeitslosigkeit« (S. 419). Deutsche Leser wissen, dass dies ein Thema in seinem Bestseller Ist Deutschland noch zu retten? ist. Auf der Konferenz scheute er sich noch, auf dieses Buch zu verweisen. (Ich erfuhr erst von dem Buch, als er es mir in der englischen Version von 2007 zuschickte.) Hatte er Recht ? Die Wahrheit ist schwer zu ermitteln. Während die Beschäftigungsquote der männlichen Bevölkerung von 15 – 64 Jahren von 79,26 % in 1990 – 1994 auf 76,24 % in 31 James Poterba RENTENREFORM: HANS-WERNERS FORSCHUNG UND POLITISCHER EINFLUSS Vom Linken zum Liberalen James Poterba ist Mitsui Professor für Volkswirtschaftslehre am Massachusetts Institute of Technology sowie Präsident und CEO des National Bureau of Economic Research. Er hielt die Munich Lectures in Economics im Jahr 2003 zum Thema »Government Policy and Private Retirement Saving«. 32 Zwei der Kennzeichen von Hans-Werners langer und herausragender Forschungskarriere sind sein verblüffendes Geschick, die wichtigsten ungelösten Probleme der Wirtschaftspo litik zu identifizieren, und seine bemerkens werte Fähigkeit, neue und aufschlussreiche Analysen dieser Themen vorzulegen. Selbst bei Fragen, die schon viele vor ihm untersucht haben, ist es Hans-Werner gelungen, neue Perspektiven aufzuzeigen und kreative Lösungen anzubieten, womit er sowohl den akademischen Diskurs als auch die öffentliche Politikdebatte bereichert hat. Diese Talente werden durch seine Analyse der staatlichen Renten reform gut veranschaulicht – ein Thema, das in den späten 1990er Jahren seine Aufmerksamkeit auf sich zog. Hans-Werner fing zu einer Zeit an, das Rentensystem zu untersuchen, in der es immer klarer wurde, dass die gesetzliche Rente in Deutschland eine untragbare Entwicklung nahm. Die prognostizierten Steuersätze, die auf zukünftige Erwerbstätige zukommen würden, schienen unzumutbar. Was sollte getan werden ? Mit charakteristischer Klarheit und Einsicht stellte Hans-Werner fest, dass die zentrale Herausforderung das Ergebnis des demographischen Wandels war. Ein Rückgang des Bevölkerungswachstums in Deutschland, der sich in Prognosen einer im Verhältnis zur Zahl der aktiven Erwerbstätigen wachsenden Zahl der Älteren und der Personen im Ruhestand ausdrückte, war die wesentliche Quelle des langfristigen Drucks auf das Rentensystem. Hans-Werner kommunizierte diese Erkenntnis an politische Entscheidungsträger. Gleichzeitig gelang es ihm auf innovative Weise, die Analyse des staatlichen Rentensystems für die Forschungsgemeinschaft zu formulieren. Sein viel zitierter Aufsatz »Why a Funded Pension System is Useful and Why it is not Useful«, der 2000 in International Tax and Public Finance veröffentlicht wurde, entwickelte das Konzept der expliziten und impliziten und in vielen anderen Ländern anzuregen. Ihr Einfluss war jedoch nicht auf die Forschungsgemeinschaft beschränkt. Sie trug auch entscheidend zu den 2001 verabschiedeten bedeutenden Reformen des deutschen Rentensystems bei, den sogenannten »Riester-Reformen«. Die Änderungen, die weg vom umlagefinanzierten System führten und ein kapitalgedecktes Rentenkonto als Bestandteil der Altersversorgung einführten, waren im Geiste der Reformvorschläge, die Hans-Werner analysiert hatte. Diese Reformen waren wegbereitend. Zusammengenommen stärkten die deutschen Rentenreformen von 2001 und 2004 wesentlich die langfristige Tragfähigkeit des Rentensystems. Hans-Werner ist einer der vielseitigsten Öko nomen seiner Generation. Immer wieder hat er Leichtigkeit darin gezeigt, neue Konzepte und Instrumente für die Analyse von besonders drängenden Politikfragen zu meistern. Als das Problem der Finanzierung des Rentensystems ein zentrales Thema in der politischen Debatte wurde, richtete er die Aufmerksamkeit seiner Forschung darauf, die Ursache des Problems zu verstehen, obwohl das kein Thema seiner vorherigen Forschung war. Er schlug auch mögliche Lösungen vor. Sobald die Rentenreformen beschlossen waren, wandte sich Hans-Werners Forschung anderen dringlicheren Themen zu. Nur wenige Ökonomen haben zu so vielen verschiedenen Themen Einsichten und kons truktive Politikberatung geliefert, von der Besteuerung über Klima- und Energiepolitik, Ren ten, Migration, Geld- und Kreditpolitik bis zur Arbeitsmarktreform. Noch weniger Ökonomen schafften es, bahnbrechende Forschung durch zuführen und gleichzeitig Politikanalysen zu betreiben, die den politischen Prozess kons truktiv vorangebracht haben. Hans-Werner ist ein Mitglied dieser außergewöhnlichen G ruppe. Vom Linken zum Liberalen: Hans-Werner Sinn und die deutsche Wirtschaftspolitik Steuerlast in einem staatlichen Rentenprogramm. Er zeigte, dass ein Übergang von e inem umlagefinanzierten zu einem kapitalgedeckten Rentensystem ohne jegliche Änderung der Leistungen, die den vorhandenen Beitragszahlern zugesagt wurden, die Summe der Belastungen nicht ändern würde – ein zentraler Punkt, der bei Analysen von Politikreformen berücksichtigt werden musste. Hans-Werner beschränkte sich nicht auf konzeptionelle Diskussionen des Rentensystems. Zusammen mit anderen Forschern am CES entwickelte er ein Modell des deutschen Rentensystems, das Analysen ermöglichte, wie sich verschiedene Reformen, einschließlich ei nes vollständigen oder teilweisen Übergangs zu einem kapitalgedeckten System, auf die Tragfähigkeit des Systems und die Abgabenlast für verschiedene Generationen auswirken würden. Hans-Werner machte auch auf mögliche Reformen aufmerksam, die sich nicht direkt auf die gesetzliche Rente konzentrierten, die jedoch wichtige Auswirkungen auf das Rentensystem hätten. Er schlug zum Beispiel vor, die Abgaben- und Sozialleistungspolitik so zu ändern, dass höhere Fertilität begünstigt wird, etwa dadurch, dass die Beitragssätze zum Rentensystem von der Anzahl der Kinder abhängen. Er verwies auch auf die potenziell wichtige Rolle der Zuwanderungspolitik zur Bewältigung der langfristigen Herausforderungen der Rentenfinanzierung. Dadurch, dass er die Herausforderung im Rentensystem in einen größe ren ökonomischen Kontext einordnete, konnte Hans-Werner neue politische Optionen in den öffentlichen politischen Dialog einbringen. Die Forschung, die Hans-Werner in den späten 1990er Jahren durchführte, spielte eine Schlüsselrolle dabei, weiterführende Analysen der staatlichen Rentenreform in Deutschland 33 Assaf Razin ÜBER DEN JUNGEN, DEN POLITÖKONOMEN, DEN UNTERNEHMER UND DEN FREUND Vom Linken zum Liberalen Assaf Razin ist seit 2008 Emeritus der Tel Aviv University und war bis 2015 Friedman Professor of International Economics an der Cornell University, New York. Er war von 2005 bis 2009 Vorsitzender des Wissenschaftlichen Beirats am ifo Institut, dem er bis heute als Forschungsprofessor verbunden ist. 34 Für viele von uns ist »das Leben – zumindest im Tagesgeschäft – eher eine Abfolge von Aufgaben als eine Kaskade von Inspirationen, eine Erfahrung, die mehr in Wiederholung statt in Offenbarung besteht. Es geht darum, die Arbeit gut zu machen und Anerkennung selbst im Profanen zu finden« (Roger Cohen). Nicht so bei HansWerner Sinn ! Er findet Anerkennung beileibe nicht in den profanen und sich wiederholenden Aufgaben. Für mich war HWS über die letzten 30 Jahre hinweg eine Quelle der Inspiration. Am meisten beeindruckte mich, wie er fast im Alleingang bürokratische Erstarrungen der Wissenschaft in Deutschland aufgebrochen hat. Der junge Hans-Werner Sinn In seiner Dissertation an der Universität Mannheim befasste sich HWS mit ökonomischen Entscheidungen unter Unsicherheit. Als Nebenprodukt der axiomatischen Analyse der Entscheidungstheorie wandte er sich der mehr politikorientierten Analyse von Entscheidungen bei begrenzter Haftung zu. Das geschah parallel zu den wegweisenden Ansätzen von Stiglitz und Weiss; unabhängig von ihnen entwickelte er ähnliche Ideen. Anschließend wandte er die Ergebnisse seiner Arbeiten über die beschränkte Haftung auf die Theorie der Bankenregulierung an. In seinen späteren Arbeiten setzte er sich mit der stimulierenden Wirkung der beschleunigten Abschreibung und der Besteuerung des einkommens auf die intertemporale, Kapital nale und intersektorale Allokation internatio auseinander. Diese Forschung ist der Goldstandard auf dem Gebiet der öffentlichen Finanzen und hob ihn direkt in die Champions League der politikorientierten Ökonomen. HWS trug auch zur wissenschaftlichen Auseinandersetzung mit dem deutschen Rentensystem bei und zeigte, dass die niedrigen Renditen aus der gesetzlichen Rentenversicherung keine wirklichen Effizienznachteile im Vergleich zu einer kapitalmarktfinanzierten Pen sionsversicherung haben. handels ignorieren. In seinem Buch Das grüne Paradoxon begründet er die Notwendigkeit der Einbeziehung aller Länder der Welt in ein PostKyoto-Emissionshandelssystem. Hans-Werner Sinns Einstieg in das akademische Unternehmertum Ich lernte HWS in Kiel auf einer Konferenz zur Kapitaleinkommensbesteuerung kennen und erkannte in ihm sofort einen aufsteigenden Stern am akademischen Himmel : leidenschaftlich in ökonomischen Fragen streitend und clever. Er lud mich an das CES ein, damals noch ein Startup-Unternehmen. Die deutschen Hochschulen waren damals vom Rest der Welt isoliert. HWS erkannte, dass eine solche Isolation wissenschaftliche Stagna tion züchtet. Ihm gefiel nicht, was er vorfand, und er war entschlossen, die deutsche Wissenschaft zu modernisieren. Zweieinhalb Jahrzehnte später ist die deutsche akademische Szene dank der Pionierarbeit Hans-Werners und einiger anderer nicht mehr wiederzuerkennen : Graduiertenprogramme im US-Stil, Forschungsseminare, junge Fakultätsmitglieder, die in Top-Journals publizieren, und anderes mehr. HWS übernahm die Präsidentschaft des ifo, krempelte es um und ergriff so manche Initia tive : Er rekrutierte erstklassige politikorientierte Ökonomen, schrieb europaweit relevante Politikbeiträge und gründete CESifo, das sich zu einem europa weiten Forschungszentrum entwickelte. Hans-Werner Sinn, ein Freund Hans-Werner und Gerlinde sind ein gewichtiger Grund, warum ich immer gerne nach München komme. Sie laden mich in ihr reizendes Haus ein und wir sprechen – oft mit anderen Gästen – über vertrauliche Themen der Politik debatte. Die Sinns sind wunderbare Gastgeber ! Ich schätze ihre Freundschaft sehr. Vom Linken zum Liberalen: Hans-Werner Sinn und die deutsche Wirtschaftspolitik Hans-Werner Sinns Positionen in der Wirtschaftspolitik Im Jahr 2003 sah HWS die Attraktivität Deutschlands als Investitionsstandort durch zu hohe Arbeitskosten gefährdet und forderte Strukturreformen auf dem Arbeitsmarkt. Dazu zählten Öffnungsklauseln in den Tarifverträgen, die Abschaffung des gesetzlichen Kündigungsschutzes und längere Arbeitszeiten ohne Lohnausgleich. Er kritisierte auch die negativen Auswirkungen des deutschen Lohnersatzsystems auf die Beschäftigung. Dazu entwickelte er 2002 das alternative Modell der Aktivierenden Sozialhilfe. Seine Politikempfehlungen beeinflussten die Agenda 2010. Sinn hat die deutsche Wirtschaft eine »Basar ökonomie« genannt, weil der ausländische Anteil an der deutschen Industrieproduktion auf dem Vormarsch ist. Sein Argument ist, dass Deutschland zu stark auf den Export und die Endphase der Produktion gesetzt hat. Das führe zu einem pathologischen Exportboom. Laut HWS wurzelt die globale Krise von 2008 im Missbrauch der Haftungsbeschränkungen durch die US-Investmentbanken. Der zu geringe Eigenkapitalbedarf verführte die Finanztreuhänder zum Glücksspiel. Ähnlich führte das Fehlen der persönlichen Haftung der Hauseigentümer zu deren überzogener Risikobereitschaft und verursachte so die Immobilienblase in den USA. Was die Reformen in Deutschland betrifft, verlangte HWS deutlich höhere Anforderungen an die Eigenkapitalausstattung, mehr Ausgewogenheit in den Offshore-Aktivitäten und eine Rückkehr zu den Rechnungslegungsvorschriften des Niederstwertprinzips des deutschen Handelsgesetzbuches (HGB). Auf Basis seiner wissenschaftlichen Arbeiten zum grünen Paradoxon kritisierte HWS, dass die Grünen ihre Umweltschutzpolitik mit ungeeigneten Mitteln verfolgen und die ökonomischen Gesetze des europäischen Emissions- 35 Carl Christian von Weizsäcker HANS-WERNER SINNS HABILITATIONSSCHRIFT Vom Linken zum Liberalen Carl Christian von Weizsäcker ist Senior Research Fellow am Max-Planck-Institut zur Erforschung von Gemeinschaftsgütern mit den Forschungsgebieten Welfare Economics, Globale Makropolitik, Kapitaltheorie und Industrieökonomik. Von 1965 bis 2003 war er Professor für VWL, zuletzt an der Universität zu Köln. 36 Meine erste intensivere Befassung mit HansWerner Sinns wirtschaftstheoretischem und wirtschaftspolitischem Wirken war die Lektüre und Besprechung seiner Habilitationsschrift, die als Buch unter dem Titel Kapitaleinkommensbesteuerung 1985 bei Mohr-Siebeck erschien. Sinn baut in dieser Arbeit auf der neoklassischen Theorie des optimalen Wachstums auf, in der man sich insbesondere auch mit den fiskalischen Instrumenten einer Einflussnahme auf den Wachstumsprozess auseinandergesetzt hatte. Was aber bis dahin fehlte, war eine genaue Analyse der unterschiedlichen Steuern auf unterschiedliche Formen der Kapitaleinkommen wie Zinsen für Darlehen, ein behaltene und ausgeschüttete Gewinne auf Eigenkapital, auf Kursgewinne etc. sowie der verschiedenen Abschreibungsregeln bei der Gewinnermittlung. Das große Verdienst von Sinns Arbeit war es, dass sie hier eine detaillierte Wirkungstheorie dieser verschiedenen Besteuerungsinstrumente enthielt. Der Rahmen war ein makroökonomisches Einsektorenmodell mit den Produktionsfak toren Arbeit und Kapital in der Tradition des Solow-Ansatzes. Das repräsentative Unternehmen und der repräsentative Haushalt wurden als intertemporaler Maximierer einer Bestandsgröße »Gegenwartswert aller künftigen Gewinne« und einer Bestandsgröße »Nutzenintegral« dargestellt. Verwendet wurden die Methoden der intertemporalen Maximierung, wie zum Beispiel die dynamische Programmierung. Indem dieser Rahmen möglichst einfach modelliert wurde, konnte Sinn dann mit umso mehr Detail die Wirkungen der Handvoll von Besteuerungsinstrumenten untersuchen. Die Ergebnisse dieser wohl mehrere Jahre beanspruchenden Arbeit waren zum Teil überraschend. Sie konnten aber gewisse in den Jahrzehnten zuvor beobachtete Trends in der Unternehmensfinanzierung gut erklären, so insbeson dere den starken Trend in Richtung steigender Fremdfinanzierung. dem Sinn’schen Modell des repräsentativen Haushalts, weil er aus ihm ableitete, dass es gar keine »dynamische Ineffizienz« geben kann, bei der »zu viel« investiert wird. Denn damit wäre die auch von mir entdeckte Phelps’sche »Goldene Regel der Akkumulation« unerheblich geworden. Der Gleichgewichtszins liegt im Sinn’schen Modell immer oberhalb der Wachstumsrate. Ich habe dies jedoch in der Besprechung des Buches nicht moniert, da dies wie ein »pro domo«-Argument hätte erscheinen können. Die Ungleichung Zins > Wachstumsrate ist dann nicht mehr durchgängig gültig, wenn man im intertemporalen Optimierungsmodell des repräsentativen Haushalts die Vorsorge für den Ruhestand mitberücksichtigt. Heute, 30 Jahre später, wird niemand mehr ernsthaft leugnen können, dass die Einbeziehung des Ruhestands in den intertemporalen Kalkül des repräsentativen Haushalts unverzichtbar ist. Und die späteren eindrucksvollen Beiträge Hans-Werner Sinns zu den Problemen der gesetzlichen Rentenversicherung zeigen, dass auch er von dem diesbezüglichen Manko seines Modells Abstand genommen hat. In der Zwischenzeit hat sich die Welt stark verändert. Seit Jahren beobachtet man einen steigenden Grad der Selbstfinanzierung der Unternehmen. Und ich denke, auch HansWerner Sinn wird aus seiner damaligen Ana lyse andere Schlüsse für die Wirtschaftspolitik ziehen als damals. Sein beeindruckendes Œuvre seither hat ihn zum heute führenden akademischen Begleiter und Kommentator der Wirtschaftspolitik gemacht. Vom Linken zum Liberalen: Hans-Werner Sinn und die deutsche Wirtschaftspolitik Ich war von der Lektüre dieses Werks beeindruckt, da es mit höchster analytischer Kom petenz geschrieben war; es war klar, dass der Autor damit im deutschsprachigen Raum einen Platz in der ersten Reihe der Wirtschaftstheorie erringen werde. So war der Autor denn auch zum Zeitpunkt der Veröffentlichung des Buches schon zum Ordinarius an der Univer sität München berufen worden. Ich war damals sehr darauf aus, Hans-Werner Sinn als Kollegen an die Universität Bern zu holen. Aber München war schneller als Bern. Andererseits irritierten mich manche Er gebnisse von Sinns Analyse. So widersprach es meiner Intuition, wenn Sinn zum Beispiel modellmäßig zeigen konnte, dass eine Senkung der Zinsbesteuerung, kompensiert durch eine erhöhte Besteuerung von Eigenkapital, das Wachstum stimulieren würde. Ich war damals als Gründungsmitglied des Kronberger Kreises gerade damit beschäftigt, für eine steuerliche Besserstellung von Eigenkapital zu kämpfen. Aus dieser Irritation heraus entstand meine kritische Besprechung des Sinn’schen Werks in der Zeitschrift für die gesamte Staatswissenschaft. Die Kritik lief darauf hinaus, dass das Rahmenmodell nur die Faktoren Arbeit und Kapital enthielt. Es fehlt in diesem Modell der Unternehmer, der bereit ist, Risiken einzu gehen. Was bei der Antwort auf die Frage nach der optimalen Besteuerung von Eigenkapital erforderlich ist, ist eine Modellierung des unternehmerischen Risikos und seines Ver hältnisses zum gesamtwirtschaftlichen Wachs tumsprozess. Ferner war ich auch nicht einverstanden mit 37 Roland Tichy ZWISCHEN SINN-GAP UND TARGET-FALLE GEBOFINGERT Vom Linken zum Liberalen Roland Tichy war von 1983 bis 1985 Mitarbeiter im Planungsstab des Bundeskanzleramtes. Später leitete er renommierte Wirtschaftsmagazine, zuletzt die WirtschaftsWoche. Er ist Vorsitzen der der Ludwig-Erhard-Stiftung. Tichy ist Gründer und Heraus geber des Online-Magazins www.TichysEinblick.de. 38 Warum eigentlich trägt Professor Dr. HansWerner Sinn einen so exzentrischen Bart ? Wenn Sie jetzt schmunzeln oder verärgert die Stirn in Falten legen, haben Sie schon die Antwort parat. Form follows function, und die Funktion ist Steigerung der Durchschlagskraft der wissenschaftlichen Darbietung. Die Kraft des Arguments ist das eine; die Durchschlagskraft ergibt sich mit Hilfe der Inszenierung. Die Umsetzung der Kraft des Arguments zur Durchschlagskraft in der öffentlichen Debatte ergibt sich nach einem Algorithmus, dessen Darstellung ich lieber Einstein oder Google überlasse. Das Phänomen Sinn jedenfalls erschließt sich sonst einem durchschnittlichen VWLer nicht. Aber vielleicht gibt es auch gar keinen eineindeutigen Zusammenhang, und es ist eine Kunst. Jedenfalls ist dies eine Kunst, die in der deutschen Volkswirtschaftslehre kaum verbreitet ist und in ihrer Häufung nur bei Sinn zu beobachten ist. Vielleicht ist das Vorkommen an Durch- schlagskraft auch nicht vermehrbar und damit eine limitationale Ressource. Sollte dies so sein, ist es um die Volkswirtschaftslehre in Deutschland in den nächsten Jahren eher schlecht bestellt. Sie hätte dann nichts mehr zu sagen. Denn Professor Sinn hat dieses Land ordentlich in Schwung gehalten. Es hat ja mit einer Art »Kaltstart« angefangen; der doch schon alle Merkmale des Sinn’ schen Wirkens in aller Kraft und Herrlichkeit vorführt : Inhaltlich gesehen ist es die schiere ökonomische Vernunft. Diese stemmt sich gegen politische Entscheidungen, hinterfragt sie und zweifelt sie an. Sinns Thesen sind eingängig, weil argumentativ brillant vorgetragen, gut begründet und belegt, das Säulendiagramm ist seine schärfste Waffe. Sinns Vortragsgranate bewegt die Herzen und Köpfe der Menschen, durchbricht die bleierne Unaufmerksamkeitswand mit einem rhetorischen Überschallknall, saust durch die Eingangskörbchen der Politik, die papierenen Ablagen der Bürokratie und ra- drei Schritt voraus sind, und das Noch-nichtsSpüren als Beweis nimmt, dass es diese Wände gar nicht gibt. Und manchmal dreht der träge Wal der Politik ja doch bei, wenn ihn Käpt’n Ahabs Wurfspieß kitzelt – und arbeits- und sozialpolitische Reformen entfalten eine Wirksamkeit, die dem Gesagten Recht gibt. Aber da ist der Ansager schon weiter, und Käpt’n Ahab hängt schon einem anderen weißen Wal an der Finne : etwa der Klima- und Energiepolitik. Diese reagiert ja auf die eigene Unvernunft damit, dass sie ihre ursprünglich genannten Ziele (Ökologie, Ökonomie, Klima, Nachhaltigkeit) einfach mit einer Art umgekehrtem Zaubertrick wieder im Zylinder verschwinden lässt, aus dem sie sie gerade hervorimaginiert hat. Zwischen Recht haben und Recht kriegen liegt der Sinn-Gap, und dessen Breite wie Tiefe sind durch die Zahl der dort versenkten öffentlichen Mittel gestaltbar; damit gewinnt zunächst immer die politische Unvernunft. Besonders gut beobachtbar war dies an der Target-Falle. Diese konnte der Verfasser besonders gut beobachten. Da lag uns nun also eine Aussage eines früheren Bundesbankpräsidenten über das rätselhafte Verschwinden ungeheurer Milliardenbeträge im Buchungssystem der Zentralbanken vor. Ehrlich gesagt : Es hat niemand verstanden. Anfragen an Bundesbank und Europäische Zentralbank blieben wochenlang unbeantwortet und mündeten schließlich in langen Texten, deren kryptischer Sinn verschlüsselt blieb. Nur so viel war klar : Es handelt sich offenkundig um eine Ungeheuerlichkeit, wenn auch eine unerklärliche. Professor Sinn sprang kopfüber in die Verständnislücke, und innerhalb kürzester Zeit feuerte er ganze Salven auf die Eurorettungspolitik ab; am Höhepunkt sogar ein umfangreiches Buch, das keine Frage mehr offen lässt. Nun kennen wir also die Target-Falle, auch wenn sie bewusst ka- Vom Linken zum Liberalen: Hans-Werner Sinn und die deutsche Wirtschaftspolitik schelnden Zeitungsspalten; irrlichtert durch die Tagesschau, um schließlich an der gusseisernen Außenhaut des deutschen politischen Systems abzuprallen und mit einem Röcheln zu verenden wie eine feuchte Silvesterrakete. Nun mögen Sie denken : Was für eine Herabwürdigung – und das in einer Festschrift ! Nein, so ist es nicht gedacht. Denn das sind die ehernen Rahmenbedingungen, in denen Sinn wirkt. Deutschland hat sich abgewandt von der ökonomischen Realität. Die Schere öffnet sich zwischen ökonomischer und politischer Realität. Das macht Sinn so unverzichtbar : Es gibt ja noch einige, die marktwirtschaftliche Prinzipien betonen und für ökonomische Rationalität werben. Aber deren Argumente werden schon kurz hinter dem Schreibtisch der Vorzimmerdame gebofingert und weggefratzschert. Das strahlende Feuerwerk der hellen Vernunft am sozialdemokratischen Abendhimmel der Umverteilung und des Untergangs der Sonne der Vernunft am fernen Horizont des Tales von BIP – diese Erleuchtung verdanken wir den Papiergranatwerfern, Sinn und dem nach außen verborgenen Wirken seiner Ehefrau. Denn ohne sie und ihre Klugheit, Weisheit und Führung ergäbe dies alles keinen Sinn. Doch dieses Thema verlangt nach einer eigenen Behandlung und nicht nach einem Nebensatz. Oder ist es ganz anders – wird nur der bestraft, der zu früh kommt ? Die Prognosen des Kaltstarts, die mittlerweile 20-jährige, subventionsgepflegte Stagnation in den Beitrittsländern sind ja bittere Realität und nur deshalb nicht besonders verhaltensauffällig, weil sich die kritisierten Verhaltensmuster in weiten Teilen Westdeutschlands fortsetzen. Besser wird es dadurch aber nicht. Die Gerontokratie bestätigt sich eindrucksvoll in der GroKo und ihrer Rentenpolitik, die dabei ist, mit dem Kopf gegen demographische Wände zu rennen, und sich damit tröstet, dass diese Wände ja noch 39 Vom Linken zum Liberalen schiert wird, wie es eben bei großen Fallen so üblich ist. So einer wie Sinn ist lästig. So einer hat Feinde. Nicht zu wenige; und das ehrt ihn : Viel Feind, viel Ehr. Es war ja amüsant zu beobachten, wie das Handelsblatt in seiner EZB-Willfährigkeit ein ganzes Erschießungspeloton unter dem Kommando seines Miet-Professors antreten ließ, um Sinns Thesen zu zerfetzen. Es blieb nicht viel übrig. Vom Peloton, seinem Professor und einem versuchten wissenschaftlichen Rufmord, was ja allein schon die Größe Sinns zeigt. 40 Und nun ? Wer wagt es, sich seinen Bart umzuschnallen, Rittersmann oder Knapp ? Wer wagt es, die Rolle des Kritikers anzunehmen und gegen den Sog des Mainstreams anzupaddeln ? Eine Lücke öffnet sich. Aber vielleicht ist die Zukunft nicht hoffnungslos. Eine Lücke ist dazu da, aus ihr heraus zu schreiben, zu argumentieren und weiter zu wirken. Altersgrenzen sind was für Bismarck, nichts für moderne Männer. Kai Diekmann Kai Diekmann ist seit 2011 Chef redakteur bei der BILD-Zeitung sowie Herausgeber von BILD und BILD am SONNTAG. Seit 2008 ist er Gesamtherausgeber der BILDGruppe und seit November 2013 Herausgeber der B. Z. 1. Wäre BILD eine Uni – Hans-Werner Sinn wäre ihr Rektor. Er ist der etwas andere Professor. Der Volksprofessor, der so spricht, dass die Menschen auf der Straße ihn verstehen. Nicht, weil seine Gedanken so einfach wären. Im Gegenteil. Er beherrscht die hohe Kunst, komplizierteste Sachverhalte nachvollziehbar zu erklären. Er spricht nicht in Rätseln. Er spricht in Bildern. 2. Er sah das Griechen-Drama kommen, als andere die Augen schlossen. Früh warnte Hans-Werner Sinn vor einer Staatspleite Griechenlands. Er erklärte, warum immer neue Rettungsmilliarden dem Land nicht helfen werden. Mahnte, dass Deutschland einen Großteil der Kredite nicht wieder sehen wird. 3. Tabus sind für ihn nicht tabu. Arbeitszeiten wie vor 30 Jahren ? Für Sinn ein Weg, um Deutschland international im Wett- bewerb halten zu können. Würden die Deutschen 42 statt 38 Stunden arbeiten, wäre es weniger Zeit im Job als bei den Briten – aber mehr Lohn in der Tasche. Eine Überlegung wert, oder ? 4. Er lässt nicht locker, wenn sich andere vertrösten lassen. Ausdauer ist die Tochter der Kraft, heißt es. Mit unerschütterlicher Geduld weist Hans-Werner Sinn immer wieder auf Fehlentwicklungen hin. Kostprobe : »Die EZB betreibt in Griechenland eine Konkursverschleppung zulasten der Steuerzahler in Europa.« 5. Sein Ansporn ist das Entzaubern angeblicher Polit-Wahrheiten. »Alternativlos« ? Diesen Begriff gibt es für Hans-Werner Sinn nicht. Sinn erklärte früh : »Der Austritt aus dem Euro wäre das kleinere Übel.« Vom Linken zum Liberalen: Hans-Werner Sinn und die deutsche Wirtschaftspolitik 25 GRÜNDE, WARUM HANS-WERNER SINN ALS IFO-PRÄSIDENT FEHLEN WIRD 41 6. Er ist Kompass für ein ganzes Land. Ist es Reform oder nur Reförmchen ? GigantenGesetz oder nur Gicksi-Gacksi ? Wer Einordnung sucht, wird Hans-Werner Sinn fragen. 7. Er kann austeilen . . . 8. . . . aber auch einstecken. Er lächelt über Worte wie »Prof. Un-Sinn«. Es ist okay für ihn, wenn nicht jeder seiner Meinung ist. Wichtiger für ihn ist, dass seine Ar gumente diskutiert werden – im Land. Nicht im Elfenbeinturm der Wissenschaft. 9. Es geht ihm um die Sache, nicht um sich. Hans-Werner Sinn : »Zorn erfüllt mich, wenn ich sehe, wie die Zeit nutzlos verstreicht und wir nicht vorankommen, wie Deutschland weiter absackt und dem Zustand näher kommt, wo es als ein Land der kinderlosen Greise seine Kraft verliert und sich schicksalsergeben aus der Geschichte verabschiedet.« Vom Linken zum Liberalen 10. Er sagt, was richtig ist. Nicht, was jeder richtig findet. Große Männer stehen zu ihrer Haltung auch bei großer Kritik. Längere Arbeitszeiten, lockerer Kündigungsschutz, Kürzen von Sozialleistungen – in TV-Shows absolute Applaus-Killer. Für Sinn dennoch absolut notwendig. 42 11. Er hat den Spaß nicht verloren, immer neue Debatten anzustoßen. Ein Vierteljahrhundert mit Sinn und Verstand : Kein deutscher Ökonom hat es besser verstanden, politische und ökonomische Debatten anzustoßen. Seine Bücher sind Standardwerke, seine Theorien Meilensteine. 12. Er hat den Blick nach vorne. Klima-Wahn, Zuwanderung, europäischer Schulden-Sumpf : Hans-Werner Sinn wies im- mer wieder frühzeitig – und lange vor anderen – auf Probleme und Fehlentwicklungen hin. 13. Er denkt nicht im Klein-Klein des Berliner Polit-Betriebs. Mindestlohn von 8 Euro ? Oder 8,50 Euro ? Solche Debatten, mit großem Engagement von Politikern geführt, nimmt Sinn bestenfalls zur Kenntnis. Für ihn geht es um Grundsatzfragen : Schafft ein flächendeckender Mindestlohn neue Jobs ? Oder vernichtet er Arbeitsplätze ? Seine Antwort ist eindeutig. 14. Er ist seine eigene Marke. Wie Mercedes-Benz. Wie viele Ökonomen (er)kennen die Deutschen auf der Straße ? Sehen Sie . . . 15. Er geht den harten Weg, nicht den leichten. Mit seiner Warnung vor der Milliarden-Bombe (Target-Saldo) in der Bundesbank-Bilanz löste Sinn eine Welle der Empörung in der Euro- Debatte aus. Für ihn : keine leichte Zeit. Für ihn : egal. 16. Er denkt pragmatisch. Nicht dogmatisch. Was schafft neue Jobs ? Was hilft Arbeitslosen bei der Rückkehr ins Berufsleben ? Hans-Werner Sinn entwickelte das Modell, Langzeitarbeitslose bei der Aufnahme niedrig bezahlter Jobs mit Lohnzuschüssen zu unterstützen. Sein Credo : »Es muss weniger staatliches Geld fürs Nichtstun geben und mehr fürs Mitmachen.« 17. Er lässt sich von Fakten leiten. Nicht von Vorurteilen verleiten. Der Atomausstieg war ein Fehler, die Energiewende führe »ins Nichts« ! Klartext von HansWerner Sinn gegen Öko-Romantik und AKWPhobie. 19. Für ihn ist sozial, was Arbeit schafft – nicht, was sich sozial nennt. »Die Gewerkschaften haben ihre Verhandlungsvollmacht benutzt, um Lohnkartelle gegenüber den Arbeitgebern durchzusetzen. Durch das Erzwingen nicht marktgerechter Löhne haben sie Arbeitslosigkeit erzeugt. Ein Unternehmen muss die Preise und Löhne von Konkurrenten unterbieten dürfen, wenn die Belegschaft dies will«, sagte Sinn 2004. 20. Er baut Brücken, keine Mauern. Sinn ist für Einwanderung, für Integration. »Ohne Zuwanderer kollabiert das Rentensystem in 20 Jahren.« Sinn prognostiziert, dass Deutschland in den nächsten 20 Jahren bis zu 32 Millionen Zuwanderer braucht, um die Rente zu stabilisieren. 21. Er ist fair zu den Schwachen, aber verachtet die Faulen. »So sollten arbeitsfähige Personen, die nicht arbeiten, ein Drittel weniger Sozialhilfe bekommen und Geringverdiener, die einen Job annehmen, mehr Geld bekommen.« 22. Er ist Überzeugungstäter. Das Neue fasziniert ihn, das Unbekannte reizt ihn ! So wie bei den Recherchen zu den TargetMilliarden. »Am Anfang hatte ich ja auch nur diese Zahl und wusste nicht so recht, was sie bedeutet. Die Bundesbank sagte mir, das seien irrelevante Salden. Aber das hat mich nicht beruhigt.« Deshalb fragte er andere Finanzexperten : »Jeder wusste ein bisschen was. Ich musste mir das Bild zusammenpuzzeln. Das war richtige Detektiv-Arbeit.« Und machte Sinn weltberühmt. 23. Er traut den Menschen mehr zu als der Staat. Für Hans-Werner Sinn wissen die Menschen selbst am besten, was gut für sie ist – und nicht der Staat. Jeder solle selbst entscheiden, ob er bis 70 arbeiten möchte und kann. Nicht der Staat. 24. Er ist radikal, nicht ratlos. Das alte Rentensystem muss weg, freie Kitas müssen her. Er will einen Kinder-Bonus bei Steuer und Rente. Es muss krachen im Geldbeutel, nicht nur zischen. 25. Er ist so weise, dass er seinen Bart völlig zu Recht trägt. Vom Linken zum Liberalen: Hans-Werner Sinn und die deutsche Wirtschaftspolitik 18. Die Number One für ihn ist der Steuer zahler. Nicht der Staat. »Es ist richtig und wichtig, dass der Staat we niger Schulden macht. Es ist aber falsch, dafür den Bürger durch neue und höhere Steuern zur Kasse zu bitten.« 43 HWS mit den Nobelpreisträgern James Mirrlees (links) und James J. Heckmann (rechts) am 25. April 2008 bei einer Konferenz in München anlässlich seines 60. Geburtstages. HWS überreicht den früheren Vor sitzenden des Wissenschaftlichen Beirates des ifo Instituts (von links nach rechts ) Robert Haveman und Assaf Razin die Urkunden über deren Ehren mitgliedschaft im ifo Institut (2013). HWS beim Start der von Minister- präsident Horst Seehofer im Jahr 2009 ins Leben gerufenen Kommission »Zukunft Soziale Marktwirtschaft«: ( von links nach rechts ) Reinhard Kardinal Marx, Harald Strötgen, Frieder C. Löhrer, HWS, Stephan Götzl, Horst Seehofer, Ann-Kristin A chleitner, Manfred Schoch und Hagen Pfundner. 44 HWS mit Roland Tichy (links) und René Obermann (rechts) anlässlich der ifo-Konferenz »Gestärkt aus der Krise – Wachstumspotenziale von Bildung, Innovation und IKTInfrastruktur« (22. April 2009). Der damalige Bundeswirtschaftsminister Wolfgang Clement schaut am 18. Februar 2004 auf den EEAGBericht zur wirtschaftlichen Lage Europas, den HWS in der Bundespressekonferenz in Berlin zeigt. Der damalige Bundespräsident Horst Köhler bei seinem Besuch des ifo Instituts am 5. August 2008 mit den ifo-Bereichsleitern ( von arstensen, links nach rechts ) Kai C Thiess Büttner, Peter Egger und Ludger Wößmann. 45 WirtschaftsWoche, 02.08.2010 2 KALTSTART: Hans-Werner Sinn und die Wiedervereinigung Marcel Thum EINLEITUNG Kaltstart: Hans-Werner Sinn und die Wiedervereinigung Kaltstart Marcel Thum ist Professor für Finanzwissenschaft an der TU Dresden und leitet die Nieder lassung Dresden des ifo Instituts. Er hat bei HWS an der LudwigMaximilians-Universität München promoviert und habilitiert. Kurz nach der deutschen Wiederver einigung wurde er Mitarbeiter am Lehrstuhl von HWS. 48 »Mein lieber Mann, die deutsche Einheit ist viel zu wichtig, um sie den Politikern und Lobby isten in Bonn zu überlassen. Jetzt kannst du dich nicht hinter Formeln und Tabellen für eine Fachzeitschrift verstecken.« So oder so ähnlich hätte die Geschichte des Kaltstarts beginnen können. Denn die Überschrift dieses Kapitels ist irreführend. Richtigerweise müsste sie heißen : »Gerlinde, Hans-Werner und die Wiedervereinigung«. Gerlinde Sinn war nicht nur Ko-Autorin des »Coming out«, wie das mein Kollege Ludger Wößmann in der Ein leitung genannt hat. Sie war auch eine treibende Kraft, wenn es darum ging, die Erkenntnisse der Volkswirtschaftslehre zum Thema Wiedervereinigung in die öffentliche Diskussion zu tragen. Gerade wegen dieser akademischen Aufbruchsstimmung in wirtschaftspolitisches Neuland denke ich gern an die Entstehungszeit des Kaltstarts zurück. Etwas Besseres konnte einem angehenden Doktoranden eigentlich gar nicht passieren. Statt sich in den Verzweigungen von längst ausgetretenen Modellpfaden zu verlieren, ging es jetzt darum, grundlegende Erkenntnisse aus der volkswirtschaftlichen Theorie auf ein reales und drängendes wirtschaftspolitisches Problem vor der eigenen Haustür anzuwenden. Genau das haben Gerlinde und Hans-Werner Sinn dann mit großem Enthusiasmus getan, der auch uns als Doktoranden ansteckte und inspirierte. Die Debatten über den besten Weg zur ökonomischen Einheit begannen im Studenten seminar und waren beim Abendessen noch lange nicht beendet. Neben dem üblichen akademischen Seminar zu Allokationsproblemen im Versicherungsmarkt oder zur Ressourcenökonomik gab es jetzt eben auch ein Seminar zu den ökonomischen Fragen der deutschen Einheit. Hans-Werner Sinn brachte den Studenten nahe, wie man ökonomische Theorie nutzen kann, um Klarheit in die für uns alle damals verwirrende Diskussion zu bringen, und nomischen Mechanik vereinbar war. Der »Sozialpakt für den Aufschwung« sah vor, dass die Löhne auf niedrigem Niveau eingefroren wurden, dass die Treuhand über Joint Ventures mit privaten Investoren die Firmen mit neuem Kapital und Know-how versorgte und dass die Ostdeutschen zum Ausgleich für die Lohnzurückhaltung Anteilsrechte an den neugeschaffenen Betrieben bekämen. Ich verkürze hier ein wenig, schließlich sollen Sie das Buch noch selbst lesen – die Lektüre lohnt noch immer. Der wesentliche Punkt ist, dass mit diesem Vorschlag der Lohn seine Funktion als Knappheitspreis im Arbeitsmarkt behalten und die Ostdeutschen eine Anfangsausstattung an Vermögen bekommen hätten. Wie die Geschichte ausging, wissen Sie : Die Politik wollte lieber den Lohn als Verteilungsinstrument benutzen. Das führte zu Massenarbeitslosigkeit, machte die Ostbetriebe wertlos und vernichtete so das Vermögen, das sonst den Ostdeutschen zugestanden hätte. Das Buch wurde damals sowohl in der Fachwelt als auch in den Zeitungen überaus positiv besprochen. Wolfram Engels bezeichnete es in der WirtschaftsWoche als »die einzig gründ liche Analyse«. Und der Economist lobte : »This is much the best book on the subject so far – and no subject in applied economics is more interesting or important.« Selbstverständlich versuchten auch einige, die Politikvorschläge als »praktisch wertlos« (Spiegel) und die Prognosen als zu pessimistisch beiseite zu schieben. Diese Kritik ist verpufft. Die Entwicklung in den neuen Ländern hinkt sogar noch hinter dem her, was damals als pessimistisch galt. Wenn man Gerlinde und Hans-Werner Sinn überhaupt etwas vorwerfen kann, dann dass sie unverbesserliche, aber wunderbar enthusiastische Optimisten sind, was die Kraft klarer ökonomischer Argumente betrifft. Kaltstart: Hans-Werner Sinn und die Wiedervereinigung wie man Lobby-PR von soliden ökonomischen Argumenten unterscheidet. Und die Debatte ging weiter, wenn – wie nach Gründung des Center for Economic Studies (CES) sehr häufig – die internationalen Gastforscher bei Sinns zum Abendessen eingeladen waren. An einem besonders denkwürdigen Abend wurde die Nachspeise von der Nachricht unterbrochen, dass sich der Bundestag für Berlin als Hauptstadt entschieden hatte, und die Diskussion flammte von neuem auf. Die erste Auflage des Kaltstarts kam Ende 1991 heraus und ging mit dem von der KohlRegierung eingeschlagenen wirtschaftspolitischen Weg hart ins Gericht. Erstens würde der Vorrang der Restitution, also der Rückgabe an Alteigentümer, den Transformationsprozess auf Jahre unnötig blockieren. Zweitens musste der Versuch, den Kapitalstock einer ganzen Volkswirtschaft auf einmal zu verkaufen, schon deshalb scheitern, weil der Erwerb nur aus dem sehr kleinen Strom von Ersparnissen erfolgen konnte. Und drittens – und das ist wahrscheinlich der wichtigste Punkt – würde der Versuch, die Löhne als Produktivitätspeitsche zu nutzen, Arbeitslosigkeit erzeugen und zu einer Stagnation in der ostdeutschen Entwicklung führen. Jeder einzelne dieser Kritikpunkte hat sich als absolut berechtigt herausgestellt. Die ökonomisch fundierte Analyse war messerscharf. Gerlinde und Hans-Werner Sinn führten im Kaltstart dem Leser die Konsequenzen klar vor Augen, die sich aus einer Fortführung der eingeschlagenen Politik ergeben würden. Die Hoffnung war natürlich, dass sich die Politik der Regierung bewegen würde. Und es gab Alternativen. Gerlinde und Hans-Werner Sinn selbst hatten in ihrem Buch eine gang bare Transformationsstrategie ausgearbeitet, die eine »organische Systemtransformation« ermöglichte und – anders als die Politik der Regierung – mit den Grundgesetzen der öko- 49 Georg Milbradt VEREINIGUNG OHNE WIRTSCHAFTLICHEN KOMPASS Kaltstart Georg Milbradt war von 1990 bis 2001 Finanzminister und von 2002 bis 2008 Ministerpräsident des Freistaats Sachsen. Er lehrt an der TU Dresden und ist stellvertretender Vorsitzender des Unabhängigen Beirats des Stabilitätsrats sowie Chairman of the Board des Forum of Federations, Ottawa. 50 Die Wiedervereinigung hatte mich im November 1990 nach Sachsen gebracht, wo ich als Finanzminister eine neue Steuerverwaltung aufbauen und die Staatsfinanzen auf eine nachhaltige Basis stellen sollte. Für beide Aufgabenbereiche war es unabdingbar, sich Gedanken zu machen, mit welcher wirtschaftlichen Entwicklung zu rechnen war und welche wirtschafts politische Strategie Sachsen anstreben sollte. Zwar lag die wirtschaftspolitische Verantwortung überwiegend beim Bund, der die Gesetzgebungskompetenz über die Steuerpolitik und die wirtschaftlichen Rahmenbedingungen besaß und mit den Mitteln des Aufbaus Ost und der Treuhand über wirksame Instrumente zur Gestaltung des wirtschaftlichen Transforma tionsprozesses verfügte. Allerdings hatten die wirtschafts- und finanzpolitischen Vorstellungen, die dem Einigungsvertrag zugrunde lagen, mit der Realität nur wenig zu tun. Die damals oft gebrauchten Vokabeln »Liquiditätshilfe« und »Anschubfinanzierungen« machten deutlich, dass viele Akteure den Transformationsprozess als ein kurzfristiges Intermezzo ansahen. Man glaubte, mit der Übernahme des bewährten westdeutschen po li tischen, rechtlichen, wirtschaftlichen und finanzpolitischen Systems sowie der D-Mark im Osten eine Dynamik (wie nach der Währungsreform 1948 im Westen) auszulösen, die den Osten schnell an das Westniveau heranführen würde. Der Osten sei nicht arm, aber kurzfristig noch nicht liquide. Der Westen müsste dem Osten nur einen Schubs geben, vielleicht auch zwei. Das würde ausreichen. Die fiskalischen Belastungen für den Westen seien gering, da durch die hohen Vermögenswerte der alten DDR, die sich der Bund durch den Einigungsvertrag gesichert hatte, mittelfristig die anfängliche Belastung deutlich abnehmen würde. Die Finanzierung der ostdeutschen Länder und Gemeinden wurde durch eine Art Finanzausgleich sichergestellt, der allerdings auf der Geberseite (Bund und Länder) über Sinns Buch an wichtige Entscheidungsträger oder diskutierte mit ihnen darüber. Der Erfolg war niederschmetternd. In Sachsen beschränkten wir uns dann darauf, soweit wir Einfluss auf die Lohnpolitik hatten, die Anpassung zu bremsen, um negative Effekte zu verringern. Größere Erfolge waren aber nicht zu erzielen. Die hohe Lohndynamik war nicht mehr zu stoppen. In den westdeutschen Wirtschafts- und Gewerkschaftskreisen fürchtete man nämlich, nicht zu Unrecht, eine Lohnkonkurrenz des Ostens und einen Lohndruck auf die westdeutsche Wirtschaft, den man auf jeden Fall verhindern wollte. Die schnelle Lohnanpassung wurde deshalb begrüßt, da sie die Kaufkraft im Osten für westdeutsche Produkte erhöhte, aber die Lasten der Arbeitslosigkeit auf den Staat verlagern konnte. Übersehen wurde allerdings, dass sich der Staat das Geld durch Steuer- und Beitragserhöhungen zurückholen und die Kosten wie ein Bumerang zurückkommen würden. Viele, die es besser hätten wissen können, konnten sich mit Sinns Thesen nicht anfreunden. Sie hätten den politischen Mainstream verlassen, einen Irrtum eingestehen und der Bevölkerung die wahren Dimensionen vor Augen führen müssen. Davor schreckten sie zurück. Die Konsequenzen einer hohen Arbeitslosigkeit und einer geringeren gesamtdeutschen Wachstumsrate nahm man hin, sie wurden nur nach und nach deutlich und nicht der Lohn politik zugerechnet. Erst mit der von Sinn angestoßenen Diskussion über die Aktivierende Sozialhilfe und durch die Agenda 2010 wurden einige Fehlentwicklungen korrigiert – für den Osten aber 15 Jahre zu spät. So wurde Kaltstart zwar mit erfreulich h ohen Stückzahlen verkauft, hatte aber kaum Auswirkungen auf die deutsche Politik. Die Übersetzungen in mehrere Sprachen, darunter Chinesisch und Koreanisch, zeigen aber, dass sich Sinns Analyse im Ausland großer Beachtung erfreut. Kaltstart: Hans-Werner Sinn und die Wiedervereinigung Kredit finanziert wurde, um eine Belastung der öffentlichen Haushalte West zu vermeiden. Schnell platzten die Illusionen. Nach der Einführung der D-Mark befand sich die ostdeutsche Industrie im freien Fall. Der Wert des DDR-Vermögens rutschte ins Negative, die Forderungen des Bankensystems an die Unternehmen und die Wohnungswirtschaft erwiesen sich als wertlos. Man hatte die DDR viel zu reich gerechnet ! In dieser Situation veröffentlichte Hans-Werner Sinn mit seiner Frau Gerlinde Anfang 1991 das Buch Kaltstart, in dem sie eine schonungslose Analyse der DDR-Wirtschaft vornahmen und die volkswirtschaftlichen Konsequenzen der schnellen Lohnanpassung offenlegten : Entwertung des vorhandenen Kapitalstocks, sehr teurer Anpassungspfad durch weitgehenden Kapitalneuaufbau, chronische Massenarbeitslosigkeit. Ihr Alternativkonzept war kurz zusammengefasst : Subventionierung der Arbeitseinkommen, um eine produktivitätsorientierte Lohnpolitik zu ermöglichen und gleichzeitig eine schnellere Anpassung an das westliche Wohlstandsniveau zu erreichen; dadurch Stabilisierung der Beschäftigung; Privatisierung des vorhandenen Wirtschaftsvermögens an die Bevölkerung. Hans-Werner schenkte mir ein Buchexem plar. Die Lektüre überzeugte mich, dass wir in der Politik auf dem falschen Weg waren. Ich hatte zwar schon in den ersten Regierungs wochen eine schockartige Konfrontation mit der ökonomischen Wirklichkeit hinter mir, die ein ungutes Bauchgefühl hinterließ, aber noch keinen Gesamtüberblick. Leider wurde das Buch in den politischen Kreisen kaum zur Kenntnis genommen. Ein Teil der politischen Klasse hat keine großen wirtschaftswissenschaftlichen Kenntnisse und vertraute auf die »bewährten« Instrumente westdeutscher Krisenpolitik. Ich verschenkte damals 51 Marc Beise DER TRABI-MANN Kaltstart Marc Beise leitet seit 2007 die Wirtschaftsredaktion der Süddeut schen Zeitung. Gemeinsam mit Hans-Werner Sinn verantwortet und moderiert er die »Münchner Seminare«, eine traditionsreiche Vortragsveranstaltung von ifo und Süddeutscher Zeitung. 52 Die Öffentlichkeit kennt Hans-Werner Sinn dozierend im schwarzen Dreiteiler am Pult oder im Talkshow-Sessel. Sie kennt ihn als Theoretiker mit klarer Meinung, die er gern apodiktisch vorträgt, was ihm bei manchen Gegnern den Ruf eingetragen hat, ein kalter und gefühlloser Ökonom zu sein. Wer ihm näher kommt, erlebt, dass der private Sinn charmant sein kann, witzig und überraschend. Wer weiß zum Beispiel, dass der langjährige Präsident des ifo Instituts, dem zahlreiche In signien der Macht einschließlich eines Audi- A8-Dienstwagens zur Verfügung stehen, einmal ein stolzer Trabi-Besitzer war ? Man hätte es vielleicht ahnen können beim Blick auf das Cover der dtv-Taschenbuchausgabe des ersten Sinn’schen Bestsellers, Kaltstart : Dort sieht man einen hellblauen Trabi im Schnee, der Starthilfe von einem weißen Mercedes bekommt, und man sieht ein junges Paar, das sich an den Autos abmüht; es sind die Autoren selbst. Kaltstart ist das einzige Buch, das das Ökonomenehepaar Gerlinde und HansWerner Sinn gemeinsam geschrieben hat. In einem Interview mit der Süddeutschen Zeitung im Herbst 2015, 25 Jahre nach der Wiederver einigung, haben sie sich daran in rührender Art und Weise erinnert. Ein Gemeinschaftswerk war das damals. So gemeinsam, dass das Ehepaar sich heute nicht mehr darauf einigen kann, wer denn damals die Idee hatte, die Transformation der DDRWirtschaft in die westliche Marktwirtschaft zu analysieren. Sicher ist : Der junge Münchner Ordinarius Sinn war auf USA-Gastreise, in Stanford und später auch in Princeton, und fand sich dort permanent der Frage ausgesetzt : Was passiert da in Deutschland ? Da sammelte seine Frau zu Hause Informationen, alles, was sie finden konnte, und sandte sie ihrem Mann per Fax nach Kalifornien, stapelweise, wochenlang. Sinn gab sein Wissen weiter, er durfte sogar beim Sachverständigenrat des US-Präsidenten vortragen, befragt unter anderem von nicht funktionierten. Die Arbeiter konnten mitbestimmen, das sah gut aus, aber sie verhinderten, dass neue Arbeiter eingestellt wurden. Auch die Fragilität des ostdeutschen Wirtschaftssystems wurde Sinn zunehmend bewusst. Man konnte ja bei jedem Besuch in der DDR mit Händen greifen, dass die Statistiken der angeblich bedeutenden Wirtschaftsnation dreist gefälscht waren. Als dann alles zusammenbrach, als eine neue Ordnung für ein völlig heruntergewirtschaftetes System gesucht wurde, fand der Ökonom Sinn seine Berufung. Bis dahin hatte er theoretisch gearbeitet, wie die meisten Forscher, jetzt war der Sozialwissenschaftler gefragt, der Praktiker. Sinn gab Rat, aber er wurde nicht gehört. Die Währungsumstellung 1 : 1 trug er mit, aber die Angleichung der Löhne hielt und hält er für einen schweren Fehler. Die DDR-Löhne waren auf 30 % des Westniveaus, mehr war die Arbeit nicht wert. Wäre es so geblieben bis zum Abschluss der Privatisierung, dann wäre das ein starkes Ar gument gewesen für Ausländer, vorzugsweise aus Fernost, in Ostdeutschland zu investieren. Dass es so nicht kam, dafür macht Sinn die Tarifparteien verantwortlich : Die Gewerkschaf ten wollten keine Konkurrenz für ihre westdeutschen Mitglieder und die Arbeitgeber keine Konkurrenz in ihrem Hinterhof. All das wird akribisch und wissenschaftlich aufgearbeitet in Kaltstart. Den Trabi vom Titelbild, um darauf zurückzukommen, hatten sich die Autoren in München ausgeborgt. Als Hans-Werner Sinn ihn persönlich zurückbrachte, fragte er den Eigentümer, wie viel dieser denn gezahlt habe. Der konterte : »Wollen Sie ihn denn kaufen ?« Warum nicht, dachte Sinn. Und kam so zu einem Trabi, der viele Jahre in der Familie seinen Dienst tat, blaue Wolken aus dem Auspuff inklusive. Kaltstart: Hans-Werner Sinn und die Wiedervereinigung Paul Samuelson, dem ersten amerikanischen Wirtschaftsnobelpreisträger – und alle wollten ganz genau wissen : Wie machen die Deutschen das mit der Vereinigung ? Was wird aus den Löhnen in Ostdeutschland, die nicht durch Produktivität gedeckt sind ? Dann gab es noch ein anderes Thema, das den selbstbewussten Ökonomen auf dem falschen Fuß erwischte : die Privatisierung der volkseigenen Betriebe. Albert O. Hirschman, der berühmte Soziologe, der in der Weimarer Republik Mitglied der Sozialistischen Arbeiterjugend gewesen war, bevor er vor den Nazis floh, fragte : Was ist jetzt mit den deutschen Junkern ? Kriegen die ihr Land zurück ? Sinn war blank, das Thema war ihm noch nicht untergekommen : »Ich hatte nichts Sinnvolles zu sagen.« Diese beiden Fragen – Löhne und Privatisierung – haben später das Buch Kaltstart maßgeblich beeinflusst. Ein Buch, ein Thema, das für Hans-Werner Sinn eine ganz besondere, eine biographische Bedeutung hat. Den Mauerbau erlebte er »live« mit. Der West-Jugendliche war mit seinen Eltern auf Verwandtenbesuch in Ost-Berlin. Am 12. August 1961 fuhren sie durchs Brandenburger Tor, nachmittags wollten sie zurück, da war das Tor schon zu, überall lag der gerollte Stacheldraht. Deshalb, weiß Hans-Werner Sinn, »ist der 12. August der Tag des Mauerbaus, nicht der 13., wie es heute immer heißt.« Das ist wieder Sinn, der Akkurate. Der, der alles besser weiß. Und auch noch Recht hat; das mag man ja nicht so gern. Als Studenten, das kann sich auch nicht jeder vorstellen, haben die Sinns den dritten Weg gesucht zwischen Kapitalismus und Sozialismus. Als junger Wissenschaftler in Mannheim, in den 1970er Jahren war das, ist Sinn mit dem Seminar nach Sarajevo gereist, 36 Stunden mit dem Zug, um von Arbeitern selbstverwaltete Betriebe zu besuchen. Aber er begriff bald, dass die Ideale aus der Studentenzeit in der Praxis 53 Michael C. Burda DIE DEUTSCHE WIEDERVEREINIGUNG ALS ÖKONOMISCHE HERAUSFORDERUNG Kaltstart Michael C. Burda, US-amerikanischer Staatsbürger, hat seit 1993 den Lehrstuhl für Wirtschafts theorie an der Humboldt-Univer sität zu Berlin inne. Seit 1990 liegt sein Forschungsschwerpunkt, neben der Makroökonomie und der Arbeitsmarktökonomik, bei der volkswirtschaftlichen Integ ration Europas. 54 Trotz der allgemeinen Stimmung des Überschwangs und Übermuts nach der Wende hat Hans-Werner Sinn eine eher nüchterne Frage bemüht : »Wie können 17 Millionen Bürger der ehemaligen DDR den Lebensstandard der alten Bundesrepublik erreichen, ohne das Erfolgsmodell Deutschland zu gefährden ?« Aber nicht einmal Hans-Werner hätte die massive Her ausforderung vorhersehen können, die die deutsche Wiedervereinigung für die moderne Wirtschaftstheorie und den deutschen Wohlfahrtsstaat darstellen würde. Das mit seiner Frau Gerlinde verfasste Buch Kaltstart schilderte bereits 1991 diese Probleme mit Sorgfalt und Sachlichkeit. Sinns gingen zu Recht davon aus, dass die realwirtschaftlichen Fundamente für eine sofortige Konvergenz der Ost-West-Lebensstandards nicht gegeben waren. Ein politisch bestimmter 1 : 1-Umtauschkurs für die Ost-Mark ließ die Industrieproduktion innerhalb von zwei Jahren um zwei Drittel schrumpfen. Den stichhaltigen Beweis für die fehlende Wettbewerbsfähigkeit der ostdeutschen Wirtschaft lieferte George Akerlof bereits 1990 : Die vom DDR-Handelsministe rium errechneten »Richtkoeffizienten«, die den Wert der Exporte in Ost-Mark abbildeten, um eine Deutsche Mark zu erwerben, lagen im Schnitt bei 4,0. Folglich war kaum ein ostdeutsches Kombinat wettbewerbsfähig. Für den Aufbau marktfähiger Unternehmen mit produktiven Mitarbeitern brauchte die ostdeutsche Wirtschaft massive Transfers an Sachkapital und technischem Wissen. Sinns zeigten mehrere Nebenbedingungen auf, an denen die Transformation krankte. Die rasche Privatisierung der ostdeutschen Wirtschaft war unabdingbar; ein »dritter Weg« hätte zur Aufschiebung der nötigen Umstrukturierungen geführt und dadurch Dauertransfers verursacht. Die Überführung des ostdeutschen Kapitalstocks in Privatbesitz scheiterte gleichwohl am maroden Kapitalstock, an den starken Lohnerhöhungen und an der schwachen Ren- Umtauschkurses heruntergespielt. Ein günstigerer Wechselkurs hätte die ostdeutsche Industrie zwar kurzfristig vor dem Aus gerettet, die Migration aber verstärkt und überdies die unverzichtbare Umstrukturierung der Wirtschaft hinausgeschoben. Einen Aspekt der Wiedervereinigung hat Hans-Werner Sinn allerdings verkannt : Nicht die von ihm angeprangerten Gewerkschaften oder staatlichen Arbeitgeber, sondern die hohe Arbeitskräftemobilität stellte die wesentliche Begleitmusik dar. Die Ostdeutschen waren vom Schicksal der niedrigen Löhne und des »organischen Wachstums« befreit und hatten hohe Opportunitätskosten des Bleibens : die Einkommensmöglichkeiten im Westen. Im Vergleich war die Mobilität des Sachkapitals eher bescheiden. Die ungezügelte Abwanderung hätte zweifelsohne zur Umwandlung Ostdeutschlands in einen riesigen Nationalpark geführt und zwang die Politik zum Handeln. Die hohen Löhne waren eine unausweichliche Folge der liberalen Wirtschaftsordnung, die sich die Ostdeutschen unter den Nebenbedingungen der Wiedervereinigung selbst gewünscht hatten. Wie bei der Euroeinführung setzte sich das politische Primat gegen die ökonomische Räson durch. Wie kaum ein anderer hat Hans-Werner Sinn die deutsche Wiedervereinigung und die Integration der beiden Teile Deutschlands als ökonomisches und wirtschaftspolitisches Thema erkannt. Auch wenn die vollständige In tegration Ostdeutschlands ein Vierteljahrhundert nach der Wende noch ausbleibt, prägen Hans-Werner Sinns Botschaften die Diskus sion um den Übergang von der Plan- zur Marktwirtschaft. Mögliche Zukunftsprojekte wie die Wiedervereinigung Koreas oder der Umbau von planwirtschaftlich aufgestellten Ländern in Asien und Lateinamerika würden sehr von s einer Analyse der deutschen Erfahrungen profitieren. Kaltstart: Hans-Werner Sinn und die Wiedervereinigung tabilität der zu privatisierenden Betriebe. Letztere war deutlich an den geringen Privatisierungserlösen abzulesen. Dennoch wurde die Transformation maßgeblich durch die Ansprüche der ostdeutschen Bevölkerung bestimmt. Die neuen Bundesbürger hatten die Freiheit, ihren Wohn- und Wirkungsort selbst zu wählen, und machten von dieser Option stark Gebrauch. Junge, gut ausgebildete und ambitionierte Mitarbeiter verließen ihre Firmen, die wiederum gezwungen wurden, die Löhne zu erhöhen und die Rentabilität neuer Investitionen zu schmälern. Die Gewerkschaften haben diese Forderungen vorangetrieben. Ohne Widerstand der Arbeitgeberseite stieg der Durchschnittslohn in den Jahren nach der Wiedervereinigung auf 75 – 85 % des Westniveaus. Das Ehepaar Sinn hat mit finanzwissenschaftlicher Stringenz mehrere wirtschaftspo litische Vorschläge unterbreitet, die leider zu häufig von westdeutschen Partikularinteressen abgelehnt wurden. Um die Effekte der realen Abwertung abzufedern, brachten Sinns einen befristeten Mehrwertsteuererlass ins Spiel. Um die auf unvollständige Märkte zurückzufüh renden Liquiditätsengpässe aufzuheben, befürworteten sie verschiedene Privatisierungsmodelle, die die Eigentümerrechte direkt in die Hände der Ostdeutschen gegeben hätten. Versteigerungen mit internationalen Bietern hätten zu marktgerechteren Preisen geführt; die Streuung von Staatsbesitz unter die Bevölkerung – vor allem Wohneigentum – hätte den Augenschein der Ausplünderung vermieden. Während sich Sinns stark für Subventionen für beschäf tigungsfreundliche Anlageninvestitionen aussprachen, entschied sich die Bundesregierung stattdessen für einen massiven Ausbau der Steuersubventionen für Bauinvestitionen, was den Bausektor aufblähte und die Verteilungsproblematik zwischen Ost und West verschärfte. Folgerichtig haben Sinns die Rolle des 1 : 1- 55 Holger Steltzner DER KALTSTART VON PROFESSOR SINN Kaltstart Holger Steltzner ist seit 2002 einer der Herausgeber der Frank furter Allgemeinen Zeitung. Nach Banklehre, Wirtschafts- und Jurastudium, Mitarbeit im Familien unternehmen und im Investmentbanking der UBS wechselte er 1993 in die Finanzredaktion der F. A. Z. und wurde sechs Jahre später Ressortleiter. 56 Es gibt wenig, was Hans-Werner Sinn zum Heulen bringen kann. »Der Fall der Mauer«, sagt er, war das einzige politische Ereignis in seinem Leben, zu dem ihm tatsächlich die Tränen kamen. Ausgerechnet ihm, der mit seiner Frau 1991 das Buch Kaltstart schrieb, eine schonungslose Abrechnung mit den wirtschafts politischen Fehlern der Wiedervereinigung Deutschlands. Wie alle anderen haben die beiden Ökonomen damals auch gefeiert. Dann aber schnell dieses Buch geschrieben, mit großer Begeisterung, wie Gerlinde Sinn sagt. Ihr Buch wurde eine Bestandsaufnahme und ein Kompendium ökonomischer Empfehlungen, in der Hoffnung, die Politiker würden sie hören. »Natürlich wollten wir Einfluss nehmen«, sagt Hans-Werner Sinn, der sich selbst schon mal als Sozialingenieur bezeichnet, der Spielregeln erdenkt, damit sich Menschen zum eigenen Nutzen und zum Wohle aller verhalten. Als Volkswirt habe man schließlich ein gewisses Sendungsbewusstsein. Die Sinns wür- den das Buch heute genauso wieder schreiben. Denn vieles hat sich bewahrheitet : die prognostizierte Deindustrialisierung, die Abwan derung, die drastische Entwertung des Volksvermögens. »Vor allem die Entwertung des Potenzials der Menschen durch die hohen Löhne«, fügt Gerlinde Sinn an, die immer auch den Menschen im Blick hat. Von allen Büchern, die sich mit den ökonomischen Folgen der deutschen Einheit befassen, hat Kaltstart in der Fachwelt die beste Aufnahme gefunden. Das Werk über die verfehlte Wirtschaftspolitik dieser Zeit, die Hans-Werner Sinn als »Konkursabwicklung mit Sozialplan« bezeichnete, begründet seinen Ruf in der Öffentlichkeit als scharfzüngiger Ökonom und wichtiger Ratgeber der Politik. So gesehen war das Buch auch ein »Kaltstart von Professor Sinn«. Wenn die Autoren ein Vierteljahrhundert später Bilanz ziehen, ist die politische Vereinigung Deutschlands gelungen, die wirtschaftliche nicht. Eine Konvergenz gibt es nur ren werden, und die Treuhandbetriebe sollten mit interessierten Investoren aus dem In- und Ausland Joint Ventures gründen, um so die Belegschaften möglichst rasch in eine moderne Arbeitswelt zu überführen und mit neuen Produkten und Maschinen auszustatten. »Viele Treuhandbetriebe wären dann werthaltig gewesen, und man hätte der ostdeutschen Bevölkerung verbriefte Anteilsrechte zum Ausgleich für einen etwas langsameren Lohnanstieg zuteilen können. Doch als die Politik unsere Vorschläge zur Kenntnis nahm, hat sie nur noch mehr Gas gegeben«, bilanzieren die Sinns traurig. Die Joint Ventures entstanden stattdessen in Tschechien, Ungarn und der Slowakei. Die Treuhandanstalt scheiterte, drei Viertel der ihr anvertrauten Arbeitsplätze gingen verloren. Später gestand Helmut Kohl, der Kanzler der Einheit, wenigstens ein, die Wettbewerbsfähigkeit der DDR-Wirtschaft überschätzt zu haben, um dann zu ergänzen, dass es aus politischen Gründen keine Alternative gegeben habe. »Das Primat der Politik gegenüber den ökonomischen Gesetzen führte bei der Vereinigungspolitik zu den absehbaren Problemen. Jetzt wollen viele die Dinge schönreden. Aber wo endet ein Land, das nicht einmal in der Lage ist, die Realität zu erkennen ?« Diese Frage stellt Hans-Werner Sinn heute auch für Europa. Wieder bezweifelt er, dass Politiker die wirtschaftliche Tragweite ihrer Entscheidungen voll verstehen. »Sie sind dabei, die Fehler zu wiederholen, die Deutschland nach der Wiedervereinigung gemacht hat. Die Haltung, das werde sich schon einpendeln, nannte man Primat der Politik. Aber nichts pendelte sich ein – im Gegenteil.« Dasselbe hört man heute in der Eurokrise – Griechenland lässt grüßen. Doch Hans-Werner Sinn und die verfehlte Eurorettungspolitik ist eine andere Geschichte. Kaltstart: Hans-Werner Sinn und die Wiedervereinigung bei den Reallöhnen und Haushaltseinkommen, die zwischen 85 und 90 % des Westniveaus liegen. Die realen gesetzlichen Renten liegen im Osten bei weit mehr als 100 %. Ein Ergebnis der Transferunion ist auch, dass das privat erzeugte Bruttoinlandsprodukt pro Einwohner in den neuen Bundesländern bei gerade einmal zwei Drittel des westdeutschen Niveaus liegt. Rund 1,6 Billionen Euro sind in den Osten geflossen, schätzt das ifo Institut. Noch heute liegen die Nettotransfers in die neuen Länder bei rund 60 Milliarden Euro im Jahr. Das Geld floss in Sozialtransfers, einen aufgeblähten Staatssektor und in konsumtive Infrastruktur. Viele ostdeutsche Städte wurden wieder Schmuckstücke. Doch ein sich selbst tragender Aufschwung kam bis heute nicht in Gang. Die neuen Bundesländer wuchsen nicht schneller als die alten, von Konvergenz keine Spur. Der Kardinalfehler war, dass die Politik in der Wiedervereinigung eine ökonomische Grundregel auf den Kopf gestellt hat. Will man eine Marktwirtschaft aufbauen, darf man in das freie Spiel der Preise und Löhne nicht eingreifen, weil es zentrale Lenkungsfunktionen erfüllt. Die Politik hatte jedoch zugelassen, dass westdeutsche Konkurrenten (Arbeitgeber und Gewerkschaften) in den Treuhandfirmen marktferne Lohnsteigerungen durchgesetzt haben. Indem die ostdeutschen Löhne schnell auf westdeutsches Tarifniveau gehievt wurden, schützte der Westen die eigenen Arbeitsplätze und verschreckte Investoren. Die Treuhand anstalt schaute zu, und es gab keinen ostdeutschen Unternehmer, der sich gegen diese Entwertung des Kapitals wehren konnte. Das Ökonomenehepaar Sinn hatte 1991 eine Alternative beschrieben. Danach sollten die Löhne nach der 1 : 1-Umstellung der Währung bis zum Abschluss der Privatisierung eingefro- 57 Charles B. Blankart WAHLKAMPFKOSTEN 1990 Kaltstart Charles B. Blankart ist ifo-Forschungsprofessor, Seniorprofessor an der Humboldt-Universität zu Berlin, Ständiger Gastprofessor an der Universität Luzern und lehrt an der Bucerius Law School in Hamburg. Er ist Autor zahlreicher Aufsätze sowie des Buches Öffent liche Finanzen in der Demokratie. 58 Die Freundschaft mit Hans-Werner Sinn begann mit einer Trennung. Hans-Werner kam 1984 nach München, und ich erhielt zum Wintersemester 1985/86 einen Ruf von München an die Technische Universität in Berlin, damals noch Berlin-West. Der Oktober 1985 bescherte den Berlinern sonnige Herbsttage. Frühmorgens ging die Sonne im Osten auf. Sie grüßte : »Guten Morgen, Genosse Staatsratsvorsitzender. Ich wünsche Ihnen einen guten Tag.« Um die Mittagszeit stand die Sonne weit oben am Himmel. Sie sagte : »Mahlzeit, Herr Staatsratsvorsitzender. Ich wünsche Ihnen einen guten Appetit. Heute gibt es Kaliningrader Klopse mit Rotkraut, wie gestern.« Am Abend stand die Sonne schon tief am Himmel. Sie sagte : »Guten Abend, Herr Staatsratsvorsitzender : Ich hau jetzt ab in den Westen !« Das war die deutsche Teilung vor 1989. Jeder Ostdeutsche hatte einen stummen Begleiter, den Wessi, neben sich, der ihm zuflüsterte : »Die gute Seife, die du suchst, gibt’s nur im Westen.« Dann verabschiedete sich die Sonne. Sie musste noch zum Bahnhof Zoo, um dort für morgen ihre West-Mark im Verhältnis 1 : 5 in Ost-Mark umzutauschen. »Nicht zur Ausfuhr bestimmt«, stand auf dem Zettel. Als die Mauer fiel und sich 1990 die Einheit Deutschlands abzeichnete, waren die Tage der Wechselstube am Bahnhof Zoo gezählt. Es soll te ja nur noch die D-Mark geben. Doch zu welchem Kurs ? Bislang durfte die DDR-Export industrie 5 OM (Ost-Mark) ausgeben, um dafür 1 DM zu erwirtschaften. Nicht zufällig galt dieser Kurs auch am Bahnhof Zoo. Damit anerkannte die DDR Jevons’ Gesetz des einen Preises. Die ökonomische Logik hinderte die Bundesregierung nicht daran, Jevons’ Gesetz zu missachten, als sie sich Anfang 1990 dazu anschickte, die Währungsunion vorzubereiten. Hierfür sollte der »Primat der Politik« gelten ! Da tauchte in der Diskussion plötzlich die Formel 1 OM = 1 DM auf. Sie verbreitete sich in Windeseile und übte eine magische Kraft aus. Mahnungen der nen Betrag von 100 000 Euro, also insgesamt 1,7 Billionen Euro, ausschütten können und hätte dabei die tatsächlichen Wiedervereinigungskosten von 2 Billionen Euro inkl. 80 Mrd. Euro für die Infrastruktur im Osten nicht erreicht. Doch Kohl zog es vor, die Löhne und Gehälter im Osten hoch anzusetzen, was die Kosten vervielfachte. Mit dieser Politik übertraf er die historisch einmaligen Wahlkampfkosten von 852 589 Gulden, die Kaiser Karl V. im Jahr 1520 für seine Kaiserwahl aufwendete, umgerechnet um das 105-Fache. Die Überlegung von Einmalzahlungen führt zu Gerlindes und Hans-Werners Buch Kaltstart (1991). Auch sie empfehlen, die Währungs umstellung mit den Bestandsgrößen statt mit Stromgrößen vorzunehmen. Ihr Plan sieht vor, den ostdeutschen Arbeitern bei der Währungsumstellung Realkapitalanteile aus der ostdeutschen Industrie zu geben, wenn diese dafür auf Lohnforderungen verzichten. Sie schreiben : »Der Kern des Paktes besteht in der Verlagerung des Verteilungsproblems von den Faktorpreisen auf die Erstausstattungen« (S. VIII). Leider fand der Sinn-Plan nicht die Gnade der Tarifpartner. Ein Blick auf Westdeutschland erklärt auch warum : Franz Steinkühler und seine westdeutsche IG Metall fürchteten die Konkurrenz der Metaller aus dem Osten. Die Wettbewerbsfähigkeit des Ostens sollte durch hohe Kostenbarrieren (raising rival’s costs) auf Sparflamme gehalten werden. So setzte Steinkühler in den Tarifverhandlungen von 1990 50 % mehr Lohn für jeden Ost-Metaller durch. Damit kumulierte sich die durch die Währungsunion verursachte und durch die Gewerkschaft erzwungene Lohnsteigerung auf zusammen 650 % (nämlich 400 % durch die Parität von 1 : 1 und 50 % durch die IG-Metall). Die Rechnung ging auf : Die Bundestagswahl wurde gewonnen, und die Konkurrenz aus den neuen Bundesländern wurde verhindert. Kaltstart: Hans-Werner Sinn und die Wiedervereinigung Ökonomen verhallten wirkungslos. Ihnen blieb nur noch die Möglichkeit, ihre Ansicht durch die Presse zu dokumentieren, damit es nicht dereinst heißt : Die Politik entschied sich so, weil die Ökonomen schwiegen. Daher veröffentlichte ich am 12. März 1990 einen kurzen Aufsatz in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung mit dem Titel : »Aufwertung der Ost-Mark um 400 % ?« In der Tat steckt zwischen den beiden Kursen von 1 : 5 und 1 : 1 eine Spanne von 400 %. Bundeskanzler Helmut Kohl antwortete mir in einem Brief, man müsse den Menschen im Osten eine Chance geben, obwohl er diese mit dem Kurs von 1 : 1 verunmöglichte. Doch Kohls Argumentation hatte einen politisch-ökonomisch richtigen Punkt. Zwar hätte jeder Kurs niedriger als 1 : 1 in Ostdeutschland Arbeitsplätze gerettet. Ein solcher aber gefährdete Kohls Mehrheit in der Bundestagswahl vom 2. Dezember 1990. Kohl erkannte, dass er für einen Wahlsieg am 2. Dezember den Ostdeutschen zum 1. Juli 1990 (dem Tag der Währungsumstellung) einen unmittelbaren Kaufkraftzuwachs gewähren musste. Hätte Kohl diese Kaufrauschpolitik nicht verfolgt, so hätte die Opposition die Enttäuschung in der Be völkerung aufgegriffen und damit vielleicht die Wahl gewonnen. Hätte Kohl einen Ökonomen gefragt : »Wie erzeuge ich zu geringstmöglichen Kosten einen Kaufrausch ?«, so hätte dieser empfohlen : Gewähren Sie Einmalzahlungen. Die kosten weniger als laufende Zahlungen. Kohl hätte sich das vielleicht gemerkt. Er wäre bei Geldver mögen großzügig und bei Löhnen und Gehältern zurückhaltend gewesen. Tatsächlich ging Kohl gerade umgekehrt vor. Löhne und Gehälter wurden 1 : 1 umgestellt, Geldvermögen (jenseits einer Mindestsumme) im Verhältnis 1 : 2. Da hätte Kohl viel großzügiger sein können. Er hätte jedem der 17 Millionen Ostdeutschen ei- 59 Karl-Heinz Paqué DEUTSCHE EINHEIT IM MODELL Kaltstart Karl-Heinz Paqué ist Volkswirt und Dekan der Fakultät für Wirtschafswissenschaft der Otto-vonGuericke-Universität Magdeburg. Er war von 2002 bis 2006 Finanzminister des Landes Sachsen- Anhalt. Er ist Autor des Buches Die Bilanz. Eine wirtschaftliche Analyse der Deutschen Einheit, München 2009. 60 Kaltstart – so der geniale Titel des Buches, das Hans-Werner Sinn mit seiner Frau Gerlinde im August 1991 veröffentlichte. Thema : volkswirtschaftliche Aspekte der deutschen Vereinigung, wie es im Untertitel hieß. Das Buch machte Hans-Werner Sinn schlagartig berühmt, weit über die Fachgrenzen hinaus. Dies hatte zwei Gründe, einen sachlichen und einen politischen. Der sachliche Grund lag in der Qualität der professionellen Analyse. Erstmalig legte ein Ökonom eine Studie vor, die den wirtschaftlichen Teil der Deutschen Einheit, den sogenannten Aufbau Ost, um fassend untersuchte, und zwar in all seinen wichtigsten Dimensionen : von der Erblast der Planwirtschaft über die Währungsunion, die Tarifpolitik und die Privatisierung des Kapitalbestandes durch die Treuhandanstalt bis hin zum Entwurf alternativer Strategien. Ein grandioses Buch : gespickt mit Fakten und Deutungen in einem neoklassischen Modellrahmen, packend geschrieben und trotz der zum Teil spröden Materie auch für den interessierten Laien durchaus zugänglich. Der zweite Grund für den Erfolg des Buches lag in seiner politischen Brisanz. Kaltstart lieferte eine überaus scharfe Kritik an der Wirtschaftspolitik der deutschen Wiedervereinigung, und zwar nicht in irgendwelchen wenig aufregenden technischen Details der Gestaltung, sondern im Kern. Im Vorwort der zweiten Auflage des Buches, datiert 1. Juli 1992, sprechen die Autoren von »einer utopischen Grundkonzeption der Wirtschaftspolitik, die elementare Regeln der Volkswirtschaftslehre missachtet hat«, und sie bezeichnen ihr Buch als einen »Appell an die wirtschaftspolitischen Entscheidungsträger, das Steuer noch einmal herumzureißen«. Kurzum : ein gnadenloser Verriss der Politik. Kein Wunder also, dass die Öffentlichkeit in hohem Maße aufmerksam wurde. Was war die Kritik, die Hans-Werner Sinn bis heute unverändert aufrechterhalten hat ? Sie auch kein frühes deutliches Signal, wer künftig beschäftigt bliebe und wer arbeitslos würde. Stattdessen auf breiter Front zunehmender politischer Druck in Richtung Dauersubventionen für den Betrieb total veralteter Maschinenparks sowie die Herstellung unverkäuflicher Produkte. Und im Falle der Verteilung von Anteilsscheinen, wie sie Sinn forderte, auch noch verbunden mit deren Wertverfall und damit weit verbreiteter Frustration in der Bevölkerung – statt Jubel über realisiertes Volkseigentum ! Wahrlich ein marktwirtschaftliches Horrorbild, abschreckend genug für die Politik und die Treuhandanstalt, um auf die schnelle und pragmatische Veräußerung zu setzen, und zwar an branchenkundige Investoren und nicht an global tätige anonyme Beteiligungsfonds, wie es im Kaltstart empfohlen wurde. Ähnlich realitätsfern war Sinns Vorschlag, im Osten die Löhne der unmittelbaren Nachwendezeit (etwa ein Drittel des Westens) einfach beizubehalten. Würden Fachkräfte mit gleicher Sprache und Kultur sowie fast gleichwertiger Ausbildung wirklich motiviert im Osten weiterarbeiten, wenn sie wenige Kilo meter westlich das Dreifache an Einkommen erzielen konnten ? Tatsächlich pendelte sich das industrielle Lohnniveau im Zuge der Privatisierung – und zumeist außertariflich – sehr schnell bei zwei Drittel des Westniveaus ein : höher als Sinns präferierte Lösung, aber auch weit von der ursprünglich deklarierten OstWest-Lohnangleichung entfernt. Wahrscheinlich war genau dies der vernünftige Mittelweg zwischen betrieblicher Notwendigkeit und Bereitschaft zur Mobilität. Fazit : Das Buch Kaltstart lieferte eine Benchmark der Theorie, intellektuell anregend und gesellschaftlich provokant. Auf die Richtung der Politik und den Gang der Wirtschaftsgeschichte hatte es dagegen keinerlei Einfluss – aus guten Gründen. Kaltstart: Hans-Werner Sinn und die Wiedervereinigung betrifft im Wesentlichen zwei Punkte : die Privatisierung und die Tarifpolitik. Die Privatisierung, so Sinn, lief viel zu schnell und über hastet. Sie sprengte die Aufnahmefähigkeit des Kapitalmarkts und zerstörte somit wertvolles Vermögen – auf Kosten der ehemaligen DDRBürger, denen eigentlich die Verkaufserlöse aus »ihren« ehemaligen volkseigenen Betrieben zustanden, eine krasse Verschwendung und Ungerechtigkeit. Was die Tarifpolitik betrifft, verschlechterte die früh avisierte Ost-WestLohnangleichung der staatlich alimentierten Treuhandanstalt die ohnehin schwierige wirtschaftliche Ertragslage der Unternehmen; sie ruinierte deren Chancen auf Wettbewerbs fähigkeit und rentable Veräußerung. Sinns Lösungsvorschläge : zeitliches Strecken der Veräußerung und Rücknahme der Pläne zur Lohnangleichung. Waren Sinns Kritik berechtigt und seine Lösungsvorschläge zielführend ? Dies ist bis heute umstritten geblieben – kaum verwunderlich in einer Welt, in der ein kontrafaktisches historisches Experiment nicht möglich ist. Ein faires Urteil darüber lässt sich am ehesten bilden, wenn man auf die uralte Dichotomie zwischen Theorie und Praxis zurückgreift : Theorie als durch einfache Annahmen gestütztes Gedankengebäude, die Politik dagegen als die Kunst des Möglichen in einer komplexen Realität. In dieser Dichotomie stand und steht Sinn auf der Seite der Theorie, die Politik auf der Seite der Wirklichkeit. Besonders deutlich wird dies bei Sinns harscher Kritik an der Privatisierung. Viele Beobachter und Entscheidungsträger sahen damals die Hauptgefahr in einer Verschleppung des Prozesses, die zur Perspektivlosigkeit der Belegschaften geführt hätte : keine frühzeitig klaren Geschäftsmodelle und Investitionspläne, keine früh erkennbaren neuen Produktpaletten mit langfristigen Chancen im Weltmarkt, 61 Reinhold Festge EIN ABSEHBARER NIEDERGANG – DIE OSTDEUTSCHE INDUSTRIE NACH DER WIEDERVEREINIGUNG Kaltstart Reinhold Festge ist persönlich haftender Gesellschafter der Haver & Boecker OHG. Er ist seit 2013 Präsident des Verbands Deutscher Maschinen- und Anlagenbau (VDMA) und seit 2014 Vizepräsi dent des Bundesverbands der Deutschen Industrie (BDI). 62 Hans-Werner Sinn hat das, was mit dem Mauerfall 1989 in und mit der ostdeutschen Wirtschaft geschah, als »Kaltstart« bezeichnet. Aus heutiger Sicht und insbesondere mit Blick auf den Maschinen- und Anlagenbau hat er Recht. Und das, obwohl wir alle heiß waren auf das gemeinsame Deutschland und die damit verbundenen Chancen, insbesondere zur Osterweiterung. Aber unsere Wünsche, die am 10. November 1989 mit Tausenden bunten Luftballons voll Freude in den Himmel stiegen, platzten. Und das, obwohl die Ausgangslage in den neuen Bundesländern nicht schlecht war : qualifizierte Arbeiter und Angestellte, gerade in den tech nischen Berufen, hoher Investitionsbedarf und nicht zuletzt die enge Bindung an die sich öffnenden Märkte im Osten Europas. Märkte, die für uns im Westen zuvor nur mit Schwierig keiten erreichbar waren. Eine vielversprechende Basis, dachten wir. Aber der Osten, allen voran Russland, kaufte lieber direkt im Westen als in den neuen Bundesländern. Diese alten Märkte kannte man, und jetzt wollte man etwas Neues. Der Niedergang der industriellen Wertschöpfung im Osten Deutschlands war daher nicht aufzuhalten. Es gab bestimmt viele Fak toren für diesen Niedergang. Wesentlich waren dabei sicherlich die Überkapazitäten in den alten Bundesländern und auch weltweit. Wir konnten die Wünsche im europäischen Osten auch ohne neue Kapazitäten in den neuen Bundesländern erfüllen. Die Voraussetzungen waren also schwierig, und sie wurden nicht besser durch einige wirtschaftspolitische Fehlentscheidungen und Fehlentwicklungen, die dann rasch folgten. Gerlinde und Hans-Werner Sinn beschrieben sie schon sehr früh in ihrer vielbeachteten Veröffentlichung Kaltstart. Erschreckend kam hinzu, dass die Strukturen der Betriebe – in der ehemaligen DDR war der Maschinenbau überwiegend in Kombina- Andere Wirtschaftszweige – insbesondere die Konsumgüterindustrie – profitierten in den späteren Nachwendejahren auch von einem Revival ihrer Produkte. Die Präferenz für die traditionsreichen ostdeutschen Produkte stieg wieder. Dieser Effekt blieb im Maschinenbau jedoch leider aus. Erschwerend kam auch hinzu, dass sich die Rezession im westdeutschen Maschinenbau negativ auf die Risikobereitschaft der Banken und damit auf den Zugang zu Finanzierungsmöglichkeiten auch im Osten auswirkte. Kredite waren nur sehr restriktiv und dann auch nur mit hohen Risikozuschlägen zu erhalten. Die Wiedervereinigung war ein Experiment ohne Vorbereitung; ein Kaltstart eben. Für Ökonomen bieten die Wende- und Nachwendejahre einiges Anschauungsmaterial. Dass man es hätte besser machen können, wissen wir heute. Wir hätten es früher wissen können, wenn wir Hans-Werner Sinns Thesen nicht nur als wissenschaftliche Beiträge, sondern vielmehr als »Gebrauchsanweisung« verstanden hätten. Was folgte, ist bekannt : Die Wirtschafts leistung je Einwohner der neuen Länder erreichte zwar schon Mitte der 1990er Jahre etwa 65 % des Westniveaus; sie stagniert aber seit der Jahrtausendwende bei gut 70 %. Damit ist zumindest eine Prognose Hans-Werner Sinns : Er gehörte Anfang der nicht eingetreten 1990er Jahre zu den weniger optimistischen Ökonomen und sagte eine Angleichung der Wirtschaftsleistung je Einwohner »erst« für 20 Jahre später voraus. Hätte er doch auch hier Recht behalten ! Kaltstart: Hans-Werner Sinn und die Wiedervereinigung ten mit mehreren Tausend Mitarbeitern und über verschiedene Sektoren organisiert – dem deutschen Mittelstand fremd und nicht fassbar erschienen. Die komplizierte Arbeit der Treuhand tat das ihre dazu, um insbesondere die mittelständischen Maschinenbauer zögern zu lassen. Und wenn sie dann doch – oft aus sentimentalen Gründen – einen Teil eines Altbetriebes übernahmen, stellten sie sehr schnell fest, dass sie im wahrsten Sinne des Wortes einen Altbetrieb gekauft hatten : in alten Mauern, mit alten Maschinen, mit alten Produkten. Es mangelte an Wettbewerbsfähigkeit und Effi zienz. Diese Produktivitätslücke wurde dann durch die Tarifpolitik nicht schnell genug überwunden. Im Jahr 1992 wurde im ostdeutschen Maschinenbau bereits knapp die Hälfte des westdeutschen Stundenlohns gezahlt, der Umsatz pro Stunde erreichte aber erst ein Drittel des vergleichbaren westdeutschen Wertes. Zwei Jahre später lag der Stundenlohn bei 63 %, der Umsatz pro Stunde bei 49 % des Westniveaus. Die Lücke wurde zwar kleiner; sie blieb aber alles in allem viel größer, als es die wirtschaft liche Vernunft erlaubt hätte. Und so sind in zwischen viele der damaligen Unternehmen wieder vom Markt verschwunden. Hans-Werner Sinn hat diese Problematik und ihre langfristigen Folgen früh erkannt. Offensichtlich wurde der Niedergang schon wenige Jahre nach der Wiedervereinigung. Während die ostdeutsche Wirtschaft im Jahr 1990 noch etwa ein Fünftel zum Umsatz im gesamten Verarbeitenden Gewerbe Deutschlands beitrug, sank dieser Anteil bis 1994 auf lediglich ein Zehntel. Im ostdeutschen Maschinenbau betrug die Produktion im Jahr 1994 noch ein Viertel derjenigen im Jahr 1989. 63 Gregor Gysi EIN SCHARFSINNIGER KOPF UND EIN MARKTRADIKALER AUSSERIRDISCHER DIMENSION Kaltstart Gregor Gysi ist seit 2005 direkt gewählter Abgeordneter und Vorsitzender der Fraktion Die Linke im Deutschen Bundestag. Von 1990 bis 1993 war er Vorsitzender der Partei des Demokratischen Sozialismus (PDS) und der Abgeordnetengruppe im Deutschen Bundestag. Vor langer Zeit gehörte es zum gepflegten liberalen Standpunkt, für Erbschaften eine 100%ige Steuer zu fordern. Denn der unverdiente Reichtum gefährde das Leistungsprinzip und untergrabe die Freiheit einer Gesellschaft, meinte beispielsweise John Stuart Mill im 19. Jahr hundert. Anfang der 1970er Jahre, als erneut Grundfragen des Liberalismus gestellt wurden, schrieb Karl-Hermann Flach, der damalige Generalsekretär der FDP : »Der Kapitalismus als vermeintlich logische Folge des Liberalismus lastet auf ihm wie eine Hypothek. Die Befreiung des Liberalismus aus seiner Klassen gebundenheit und damit vom Kapitalismus ist daher die Voraussetzung seiner Zukunft.« Sind Liberale heute noch willens und fähig, solche radikalen Freiheitsgedanken auszusprechen ? In der Sphäre der Politik wohl nicht. Jedenfalls war in den vergangenen 25 Jahren nicht einmal ansatzweise zu hören, worin denn die Perspektiven eines zu Ende gedachten Individualismus bestehen müssten. Steuern runter, weniger Bürokratie, Vorfahrt für den Markt – das waren und sind die billigen Überbleibsel auf der Resterampe einer dahindämmernden politischen Strömung. Anders als die Politik, die immer von Rücksichten vielfältiger Art geprägt ist und selten klare Gedanken äußert, darf die Wissenschaft kein Blatt vor den Mund nehmen : sagen, was ist, und empfehlen, was sein soll. Dabei könnte den Ökonomen, die sich mehrheitlich einem individualistischen Menschenbild verpflichtet fühlen, die Aufgabe zufallen, den liberalen Standpunkt zeitgemäß und im Sinne des allgemeinen und dauerhaften, folglich nachhaltigen Wohls mit sachverständiger Substanz zu füllen. Wer, wenn nicht Hans-Werner Sinn, hätte diese Denkleistung vollbringen können ? Er ist scharfsinnig, eloquent und unabhängig. Wenn es ihm geboten erschien, hat er seine Stimme erhoben. Anfang der 1990er Jahre, als die ostdeutsche Wirtschaft rasant und flächendeckend kollabierte, verlangte Hans-Werner Sinn, haar- 64 Sinn_01_festschrift.indd 64 17.02.2016 12:42:16 für die Finanzmärkte gerade nicht gelten. Sie brauchen die hart regulierende und sichtbar gestaltende Hand des Staates. Das aber bedeutet : Man muss mächtigen Interessen auf die Füße treten und unbeirrt von den Einflüsterungen der Fonds- und Bankenwelt Gesetze erlassen, die nicht mehr erlauben, was als unproduktiv und unmoralisch erkannt worden ist. Gemessen an den geistigen Herausforderungen, die spätestens seit der Weltfinanzkrise auf der Tagesordnung stehen, fällt die Bilanz der deutschen Wirtschaftswissenschaft nach meinem Eindruck bescheiden aus. Während im angelsächsischen Orbit intensiv über grund legende Fehler des eigenen Tuns diskutiert wird, gefällt sich ein beträchtlicher Teil der deutschen Ökonomenszene in der selbst zu verantwortenden Isolation langweiliger Rechthaberei. Während aus Frankreich ein dickes und weltweit diskutiertes Werk über die zunehmende Ungleichheit kommt, verharren allzu viele deutsche Wirtschaftswissenschaftler im starren Gerüst ihrer schematischen Mo delle. Während Nobelpreisträger Joseph Stiglitz kollegial und im Sinne gemeinsamen Erkenntnisfortschritts mit Yanis Varoufakis diskutiert, ertönt aus so mancher deutscher Fakultät Begleitmusik für das Griechenland-Bashing. Angesichts dieser offenkundigen Mängel wünsche ich mir von Hans-Werner Sinn ein Werk, das nochmals die Grundlagen rein marktwirtschaftlichen Denkens kritisch überprüft und das eigene bisherige Schaffen nicht schont. Möge er die ruhigere Zeit dafür nutzen, im Geiste des ehrwürdigen Liberalismus neu zu formulieren, wie Wirtschaft nicht zum Vorteil unverdienter Privilegien, sondern zum Wohle der großen Mehrheit der Menschen und im Angesicht ökologischer Grenzen funktionieren sollte. Kaltstart: Hans-Werner Sinn und die Wiedervereinigung sträubende Fehler der Wirtschaftspolitik rasch zu beseitigen. Der Grundsatz »Rückgabe vor Entschädigung«, der für die Alteigentümer eine Bereicherungsparty und für Ostdeutschland ein lähmendes Investitionshemmnis war, müsse umgedreht werden, meinte Sinn und war damit ganz nah an der PDS-Position in jener Zeit. Ebenso treffend war seine Kritik am Doppelmotto der Treuhandanstalt. Wer nur die Alternative »schnell privatisieren oder schnell liquidieren« kennt, der zerstört auch die Betriebe, die mit etwas längerem Atem gute Überlebenschancen gehabt hätten. Nicht zuletzt war die finanzielle Bilanz der Treuhandanstalt wegen ihres absurd hohen Veräußerungstempos so schlecht. Unter diesem Druck könne man nur schlechte Preise erzielen, meinte damals HansWerner Sinn völlig zu Recht. In krassem Gegensatz zu den Anfangsjahren der deutschen Einheit, als die Neuartigkeit der auftretenden Probleme zumindest bei einigen kreativen Ökonomen unkonventionelles Denken förderte, erschien mir später Professor Sinn wie ein Marktradikaler außerirdischer Dimension. Präzise zu errechnen, um wie viel das Lohnniveau fallen müsse, um Vollbeschäftigung zu erreichen – dieser Versuch, den Arbeitsmarkt wie einen Kartoffelmarkt zu betrachten –, war aus meiner Sicht von Anfang an zum Scheitern verurteilt. Die Zeit nach dem großen Crash von 2008 hat in Südeuropa und anderswo gezeigt, wie katastrophal die Folgen sind, wenn man über drastische Lohnsenkungen aus Krisen herauskommen will. Als falsch erwiesen hat sich der Glaube an die segensreichen Wirkungen des freien Spiels von Angebot und Nachfrage auch auf einem anderen zentralen Feld. Liberalisieren, deregulieren und die Marktkräfte wirken lassen – das sollte, wie heute eigentlich jeder wissen müsste, 65 Harold James HANS-WERNER SINN, KASSANDRA UND DIE LESBOS-REGEL DES ARISTOTELES Kaltstart Harold James ist Claude and Lore Kelly Professor für Europäische Studien an der Princeton Univer sity. Er ist Autor des Buches Making the European Monetary Union (2012). 2004 erhielt er den Helmut-Schmidt-Preis für Wirtschaftsgeschichte, 2005 den Ludwig-Erhard-Preis für Wirtschaftspublizistik. 66 Hans-Werner Sinn ist der mit Abstand einflussreichste deutsche Ökonom der vergangenen 25 Jahre, und es ist eine Freude, seinen substanziellen positiven Einfluss auf den wirtschaftswissenschaftlichen Diskurs und die Politik in Deutschland zu würdigen. Er hat in vielen Bereichen herausragende Beiträge geleistet – insbesondere zu den Kosten der deutschen Wiedervereinigung in den 1990er Jahren, zu der deutschen Wirtschafts- und Industriestruktur, zum Versuch der Reduktion von CO2Emissionen und erst kürzlich zu den Kosten der Europäischen Währungsunion. Seine Herangehensweise beruht auf soliden ökonomischen Gedankengängen und folglich auf der rigorosen Anwendung logischer Prinzipien. Oft allerdings erscheint er als leibhaftige Kassandra, die Prophetin, deren Warnungen nicht ernst genommen werden. Zum Teil ist dies der Tatsache geschuldet, dass die Logik der Kassandra naturgemäß den Ökonomen zufällt : Deren Aufgabe ist es, einen glaubhaften vereinfachten Analyserahmen zu schaffen, der die Identifikation eines zentralen Problems ermöglicht. Im Fall Hans-Werner Sinns besteht dieser Analyserahmen in der Berechnung von impliziten Zahlungsverpflichtungen und oftmals auch in der Analyse der Logik kumulativer Transferzahlungen, häufig mit dem Ergebnis der Aufdeckung einer »Falle«. Deutschland wurde in der Vergangenheit durch verschiedene Entscheidungen in die Falle gelockt; in Bezug auf Lohnsetzungsprozesse, in Bezug auf die ehemalige DDR oder durch die Ankündigung von CO2-Zielen. Oder durch das Target-2-System zum Ausgleich von Zahlungsbilanzen innerhalb der Eurozone, wo durch deren Kernländer in eine Falle geraten sind, in der sie kontinuierlich fiskalische Transfers leisten müssen, um den Wert ihrer Forderungen zu erhalten. Fallen zu identifizieren ist von Natur aus unbeliebt – aus politischer wie aus intellektueller Sicht –, denn aus ihnen auszubrechen scheint eines drohenden Kollapses des Finanzsystems das Vertrauen in eine Lage zurückgewonnen werden könnte, die jederzeit in ein schlechtes Gleichgewicht umkippen konnte. Die Fixierung auf ein einzelnes großes Problem – zusammengefasst in einem umfang reichen Statement – übt oftmals weniger Einfluss auf die Politik aus als die Diskussion und Präsentation einer Reihe von Optionen. Debatte und Diskussion leben von der sorgfältigen Betrachtung der Unterschiede vielfältiger Lösungsansätze. Hans-Werner Sinn denkt richtigerweise über sichere Regelwerke zur Eindämmung von moralischem Fehlverhalten und zur Durchsetzung des Verantwortungsprinzips nach. In dieser Hinsicht übernimmt er die Kernaussage der deutschen ordoliberalen Tradition, obwohl er grundsätzlich ein pragmatischer Denker ist. Hier liegt jedoch ein altes Problem, das bereits Aristoteles benannte. In der Nikomachischen Ethik legt er die Logik der dehnbaren Regel dar. Er betrachtet sie analog zur Blei-(anstatt zur Eisen-)Regel, die die Bildhauer von Lesbos nutzten : »Wenn also das Gesetz eine allgemeine Bestimmung trifft, ein einzelner Fall aber vorkommt, auf den die allgemeine Bestimmung nicht passt, dann ist es ganz angemessen, da wo der Gesetzgeber versagt und mit der allgemeinen Bestimmung dieser Art den besonderen Fall nicht getroffen hat, das von ihm Übersehene zu ergänzen durch einen Spruch, wie ihn der Gesetzgeber selbst fällen würde, wenn er zugegen wäre, und wie er die Bestimmung getroffen haben würde, wenn er den Fall vorausgesehen hätte.« Es kann gut sein, dass achtsame Verhandlung nachhaltiger Flexibi lität – Aristoteles’ Lesbos-Regel – nicht in eine Falle führt, sondern einen Ausweg aus Situationen bietet, die entstehen, wenn einst geschaffene Regeln zu rigide geworden sind. Kaltstart: Hans-Werner Sinn und die Wiedervereinigung radikale Maßnahmen zu erfordern. Politiker bevorzugen, sich durchzuwinden, und tendieren dazu, harte Entscheidungen zu vermeiden, die zwangsläufig zum Verlust eines Teils ihrer Wählerschaft führen. In der akademischen Sphäre begegnen Politologen Auftritten von Kassandra tendenziell mit Ablehnung. Wenn überhaupt, tendieren sie zur Rolle des Dr. Pangloss und glauben, dass alles nur zu unserem Besten ist, in der besten aller möglichen Welten. Oder, um es mit Hegel zu sagen, dass die Äußerung des Wirklichen das Wirkliche selbst ist. Auch aus historischer Sicht ist die Erfolgs bilanz von Ökonomen, denen es gelungen ist, zahlreiche Mitstreiter zu einer öffentlichen Stellungnahme über etablierte Ansichten der Disziplin zu bewegen, eher bescheiden. Der wohl bekannteste Fall ist der Aufruf von 1028 USÖkonomen gegen den Smoot-Hawley-Zoll im Jahr 1930. Dieser schaffte es zwar auf die Agenda des Kongresses, hatte aber keinen sichtbaren Einfluss auf die Politik. Kein ernstzunehmender Ökonom würde die Glaubhaftigkeit der grundlegenden Argumente für freien Handel in Zweifel ziehen. Aber im Rückblick herrscht unter Wirtschaftshistorikern Konsens, dass der Zoll nicht für die Ausbreitung der Großen Depression verantwortlich gemacht werden sollte. Weitere berühmte Erklärungen kollektiven ökonomischen Wissens, wie der Brief 364 britischer Ökonomen an die London Times, in dem sie Margaret Thatchers Deflations- und Austeritätspolitik verdammen, wirken retro spektiv fragwürdig. In der Tat haben einige der Unterzeichner eingestanden, dass der Wechsel zu einem deflationären Regime genau das war, was das Vereinigte Königreich damals brauchte. Die Appelle von 160 bzw. 172 deutschen Ökonomen gegen die europäischen Rettungsmaßnamen im Jahr 2012 geben ein ähnliches Bild ab : Logisch korrekt dargestellt, aber ir relevant in Bezug auf die Frage, wie angesichts 67 Berlin 1999: Konferenz 10 Jahre deutsche Wiedervereinigung. HWS mit ( von links nach rechts ) Karel Dyba, Kurt Vogler-Ludwig, Georg Milbradt und Rüdiger Dornbusch. Der ehemalige sächsische Ministerpräsident Georg Milbradt im Februar 2014 bei einer Tagung des ifo Instituts in München. Michael Burda und der GossenPreisträger Georg Nöldeke beim Empfang im Festsaal des Alten Rathauses in München, Jahres tagung des Vereins für Socialpolitik, Oktober 2007. 68 Die ifo-Bereichsleiter ( von links nach rechts ) Niklas Potrafke, Helmut Rainer, Oliver Falck, Ludger Wößmann, Gabriel Felbermayr, Karen Pittel, Panu Poutvaara und Timo Wollmershäuser. HWS mit dem ehemaligen polnischen Finanzminister, Vizepremier und Zentralbankchef Leszek Balcerowicz bei einem Münchner Seminar der CESifo-Gruppe und der Süddeutschen Zeitung im Juli 2015. HWS mit Horst Teltschik ( links ) und dem damaligen tschechischen Staatspräsidenten Václav Klaus ( Mitte ) beim Munich Economic Summit 2003 im Foyer des Hotels Bayerischer Hof. 69 WirtschaftsWoche, 29.04.2004 3 GERONTOKRATIE: Hans-Werner Sinn und die Rentenreformen Niklas Potrafke EINLEITUNG Gerontokratie: Hans-Werner Sinn und die Rentenreformen Gerontokratie Niklas Potrafke ist Professor für Volkswirtschaftslehre, insb. Finanzwissenschaft an der Ludwig-Maximilians-Universität München und leitet das ifo Zentrum für öffent liche Finanzen und politische Ökonomie. 72 In den Medien wird oft behauptet, dass in Deutschland nun die Alten herrschen. Auf einen Rentner kommen gegenwärtig weniger als drei Menschen im erwerbsfähigen Alter. Rentner beteiligen sich besonders rege an Wahlen, und ihre Wünsche haben im politischen Prozess großes Gewicht. Ökonomen verwenden für diese Altenherrschaft gern den Fachbegriff Gerontokratie. Eine Abkehr von der Gerontokratie ist nicht abzusehen. Im Gegenteil : Durch den demographischen Wandel werden in Zukunft immer weniger junge Menschen immer mehr alte Menschen finanzieren müssen. Für das Rentenversicherungssystem ist das ein Problem. Die gesetzliche Rentenversicherung funktioniert nach dem Umlagesystem (ULV), d. h., die heute ausgezahlten Renten werden – von den steuerfinanzierten Bundeszuschüssen abgesehen – aus den heute eingezahlten Bei trägen der Erwerbstätigen bezahlt. In den 1990er Jahren hat in Deutschland deshalb eine Debatte zu einer Reform des eutschen Rentenversicherungssystems einged setzt. Wesentliches Element dieser Debatte war, inwieweit von dem ULV zu einem Kapital deckungsverfahren (KDV) übergegangen werden sollte bzw. ob dies überhaupt möglich wäre. Beim KDV legt jeder Bürger während der Erwerbsphase Erspartes beiseite und legt es am Kapitalmarkt an. Das KDV ist dem ULV vorzuziehen, wenn die Rendite des KDV, der Kapitalmarktzins, größer als die Rendite des ULV, die Wachstumsrate der Lohnsumme (die Summe aus der Wachstumsrate der Bevölkerung und der Löhne), ist. Weil Kapitalmarktrenditen über viele Jahre größer als die Wachstumsrate der Lohnsumme waren, hatte das KDV viele Befürworter. Ein Übergang vom ULV zum KDV hätte jedoch verlangt, dass die heute junge Generation nicht nur ihre eigene Rente selbst anspart, sondern darüber hinaus die Renten der alten Generation bezahlt. Schließlich hat die alte Generation in der Erwerbsphase Beiträge ins ULV eingezahlt, aber die ebenfalls beschlossene Möglichkeit des vorzeitigen Renteneintritts ohne Abschläge im Alter von 63 Jahren bei Vorliegen von 45 Ver sicherungsjahren als verfehlt betrachtet, weil sie ausschließlich den Betroffenen und nicht dem System zugutekommt. Als Student im Hauptstudium an der Humboldt-Universität zu Berlin bin ich auf den politisch-ökonomischen Aufsatz »Pensions and the path to gerontocracy in Germany« von Silke Übelmesser und HWS aufmerksam geworden. Zwar macht der demographische Wandel Reformen, die die Nachhaltigkeit des Rentenversicherungssystems sichern, notwendig. Doch ist davon auszugehen, dass der immer älter werdende wahlentscheidende Wähler (Medianwähler) Rentenreformen ablehnt, die zu weniger Transfers von den Jungen zu den Alten führen. Der Aufsatz von Übelmesser und HWS, publiziert 2002 im European Journal of Political Economy, hat bei mir Spuren hinter lassen. Meine Diplomarbeit schrieb ich über intergenerationelle Umverteilung in der deutschen Rentenversicherung. Mein Interesse für politisch-ökonomische Fragen war geweckt. Das Modell von Übelmesser und HWS sagt die Gerontokratie für nach dem Jahr 2016 voraus. Viele Leser werden sich damals gefragt haben, warum ausgerechnet nach 2016 die Alten in Deutschland herrschen sollten. Schließlich war HWS beim Publizieren des Aufsatzes 2002 noch nicht der Superstar, der er im Laufe seiner ifo-Präsidentschaft wurde, und seine Treffge nauigkeit mag nicht für jedermann offensichtlich gewesen sein. Deutschland fragt sich, was HWS als Pensionär wohl machen wird. Still halten ? Wohl weniger. Der Grund für die Gerontokratie in Deutschland nach 2016 ist folglich ganz offensichtlich : HWS geht in Pension. Nun herrschen wirklich die Alten. Gerontokratie: Hans-Werner Sinn und die Rentenreformen eben noch nicht selbst für die eigene Rente gezahlt, wie es das KDV vorsieht. Hans-Werner Sinn hat sich Ende der 1990er Jahre in diese Debatte eingeschaltet. Einen vollständigen Übergang vom ULV zum KDV hat er abgelehnt und vielmehr Reformszena rien befürwortet, die Mängel des ULV ausbessern und Elemente des KDV integrieren. 1998 hat der Wissenschaftliche Beirat beim Bun desministerium für Wirtschaft ein Gutachten vorgelegt, das eine grundlegende Reform der Rentenversicherung aufzeigt. Bei diesem Gutachten war HWS federführend. Die Vorschläge beinhalteten z. B. eine Sparförderung für eine kapitalgedeckte Zusatzrente, wie sie dann auch bei der nächsten Rentenreform der rot-grünen Bundesregierung umgesetzt worden ist (Riester-Rente). Als ebenso unabdingbar wurde eine Verlängerung der Lebensarbeitszeit gefordert. Die Simulationen im Gutachten beruhten auf den ersten Versionen des CESifo Pension Models, das seinerzeit Marcel Thum einführte und Martin Werding in den Folgejahren weiterentwickelte. HWS hat früh angeregt, das Großziehen von Kindern im gesetzlichen Rentenversicherungssystem zu berücksichtigen. Die Idee : Wer Kinder hat, trägt zum Selbsterhalt des umlage finanzierten Rentenversicherungssystems bei. HWS und Martin Werding haben vorgeschlagen, dass Rentner mit weniger als drei Kindern Abschläge bei der Rente in Kauf nehmen müssen. Diese Kinderkomponente hat HWS seit Jahr und Tag befürwortet. Dem ist er auch treu geblieben, als die große Koalition Ende 2013 beschlossen hat, eine »Mütterrente« einzuführen. HWS’ Sicht der Dinge war klar : Die Mütterrente ist sinnvoll, weil sie das Großziehen von Kindern belohnt, wodurch im Umlagesystem die Rente der zukünftigen Generationen gesichert wird. Im Gegensatz dazu hat HWS 73 Axel Börsch-Supan ELTERN UND KINDER: WAS UNS IM INNERSTEN BEWEGT Gerontokratie Axel Börsch-Supan ist Direktor des Munich Center for the Economics of Aging im Max-Planck-Institut für Sozialrecht und Sozialpolitik und Professor for the Economics of Aging an der TU München. Er ist Mitglied der Nationalen, Berlin-Brandenburgischen und Österreichischen Akademie der Wissenschaften. 74 Was sind die großen Themen dieser Welt ? Was verbindet Thomas Mann, Hans-Werner Sinn und, in aller Bescheidenheit, diesen Autor ? Sex, Kinder und das liebe Geld, da besteht kein Zweifel, stehen ganz oben auf der Liste. Wofür Thomas Mann seitenlange Sätze in vielen Büchern gebraucht hat, lässt sich kaum in den 5500 Zeichen kondensieren, die ich zur Ver fügung habe. Halten wir also fokussierend fest : Sex, Kinder und das liebe Geld dominieren auch die Themen Gerontokratie und Rentenpolitik, die Hans-Werner und mich das Leben lang begleitet und im Innersten bewegt haben. Zutiefst teilen wir die zugrunde liegende Wertvorstellung : Eine Gesellschaft ohne Kinder ist zukunftslos, so wie eine Gesellschaft ohne die Weisheit des Alters richtungslos wird. Auf die Kombination kommt es an : Eltern und Kinder bilden gemeinsam das Fundament unserer Gesellschaft. Hans-Werner Sinn hat in einem die Gemüter bewegenden Zeitungsartikel (F. A. Z., 8. Juni 2005, S. 41) für die Einführung der Kinder rente, d. h. eine nach der Kinderzahl gestaf felte Rentenleistung, plädiert. Zur Motivation schreibt er : »Die drei klassischen Motive für Kinder sind Sex, Kinderliebe und Alterssicherung. Die Medizin hat den Sex abgekoppelt, Bismarck die Alterssicherung. Nur noch die Kinderliebe blieb übrig, aber offenkundig reicht sie nicht aus, die für den Erhalt der Bevölkerung und die Sicherung der Renten hinreichende Kinderzahl zu gewährleisten.« Hans-Werner Sinn und ich sind uns einig : Aus ökonomischer Sicht gibt es viele und gute Gründe, eine »hinreichende Kinderzahl« zu fördern. Erstens stehen die Jüngeren für Ver änderung und Innovation. Zweitens fangen die Jüngeren mit ihrem Leben neu an und helfen damit ganz banal dem Strukturwandel, weil sie nicht erst in einen aufstrebenden Wirtschaftssektor wechseln müssen. Drittens sind wir darauf angewiesen, dass Kinder die Lasten tragen, die ihnen ihre Eltern aufgebürdet haben, weil S. 153 – 158). In der Kurzfassung des ifo Schnelldienstes (28/2000, S. 20) heißt es : »Die Verschiebung der Altersverteilung macht es immer schwieriger, die Rentenansprüche zu befriedigen, und sie verringert das Stimmgewicht der Jungen im demokratischen Entscheidungs prozess.« Zum Glück scheint die Sorge vor einem »Krieg der Generationen« (L. C. Thurow, 1996 : »The birth of a revolutionary class«. New York Times Magazine, 19. Mai, S. 46 – 47) oder einem »Aufstand der Alten« (ZDF 2007) zumindest derzeit unbegründet zu sein. Börsch-Supan, Heller und Reil-Held (2011 : »Is Intergenerational Cohesion Falling Apart in Old Europe ?«. Public Policy and Aging Report, 21, 4, S. 17– 21) setzen die Altersstruktur europäischer Regionen (d. h. Bundesländer, Provinzen oder Bezirke) in Relation zu einer großen Zahl von Indikatoren intergenerativen Zusammenhalts wie beispielsweise Stärke von familiären Beziehungen, außerfamiliäre Bindungen, Werte und politische Vorlieben, die im European Social Survey (ESS) und im Survey of Health, Ageing and Retirement in Europe (SHARE) erfasst wurden. Von den 22 untersuchten Dimensionen waren nur acht konform mit der Gerontokratie-Hypothese, während 16 das Gegenteil aufzeigten. Der generationsübergreifende Zusammenhalt hängt also nicht systematisch von der Altersstruktur ab. Viele Aspekte des Zusammenhalts fallen in älteren Gesellschaften sogar stärker aus, und die Grundprämisse der rein egoistischen politischen Präferenzen wird ausdrücklich falsifiziert, wie mehrere Indikatoren zeigen. Noch ist das Denken im Familienzusammenhang also groß. Das sind gute Nachrichten für alle, die Hans-Werner Sinns Wertvorstellungen teilen, dass eine Gesellschaft durch den Zusammenhalt der Generationen gestärkt wird und dass Eltern und Kinder gemeinsam das Fundament unserer Gesellschaft bilden. Gerontokratie: Hans-Werner Sinn und die Rentenreformen sie nicht nachhaltig genug gewirtschaftet haben. Kinder müssen den Großteil der expliziten und impliziten Schulden abtragen, die durch die vielen Umlageverfahren unserer Gesellschaft entstanden sind : Staatsschuld, Rentenversprechen, Versprechen der Kranken- und Pflegeversicherung, die Umlagen im Steuer system und die vielen als natürlich aufgefassten Umlagen, die sich in unserer Gesellschaft eingebürgert haben wie die noch vielerorts erhältlichen Seniorenermäßigungen. Eltern mit Kindern müssen daher auf Kosten der Personen, die keine Kinder haben, unterstützt werden, weil Kinder der Gesamtgesellschaft zu mehr Wohlstand verhelfen, was auch den Kinderlosen zugutekommt, die keine Kindererziehungskosten tragen müssen. Ob aber eine nach der Kinderzahl gestaffelte Rente das richtige Instrument ist ? Hier sind sich Sinn und ich uneinig. Weil das komplexe Gewebe der Gesamtgesellschaft Umlagen beinhaltet, die auf Kinder bauen, ist der Ausgleich m. E. eine gesamtgesellschaftliche Aufgabe, die im allgemeinen Steuersystem anzusiedeln ist, nicht in der Rentenversicherung. Auch überzeugt die unterstellte Kausalität nicht. Auslöser des Geburtenrückgangs ist der wirtschaftliche Wohlstand und nicht die Rentenversicherung. Gegenbeispiele sind Länder wie Korea, Singapur oder Taiwan, die reich geworden sind, ohne dass sie eine Rentenversicherung eingeführt haben, und deren Geburtenrate dennoch dramatisch sank. Umgekehrt weisen viele Länder mit umlagefinanzierter Rentenversicherung hohe Geburtenraten auf, etwa Frankreich, Schweden oder die USA. Rentenpolitik ist eng verbunden mit der Furcht vor Gerontokratie. Auch hier hat Hans-Werner Sinn wichtige Beiträge geliefert (H. W. Sinn und S. Übelmesser, 2002 : »Pen sions and the path to gerontocracy in Germany«. European Journal of Political Economy, 19, 75 Friedrich Breyer WEM DIENT NACHHALTIGKEIT IN DER RENTENFINANZIERUNG? Gerontokratie Friedrich Breyer lehrt Wirtschaftspolitik an der Universität Konstanz, ist seit 2000 Mitglied des Wissenschaftlichen Beirats beim Bundesministerium für Wirtschaft und Energie (BMWi) und war 2012 Vorsitzender der Deutschen Gesellschaft für Gesundheitsökonomie. 76 Das deutsche Rentensystem ist nicht nachhaltig finanziert : Nach 2030 wird der Beitragssatz zur gesetzlichen Rentenversicherung deutlich über die im Gesetz erlaubten 22 % steigen, während das Rentenniveau unter die Grenze von 43 % absinken wird. Wer sind dann die Dum: die junge Generation, deren Beiträge men schneller steigen werden, oder die alte Generation, die ihre Ansprüche auf ein auskömmliches Rentenniveau nicht mehr durchsetzen kann ? Wem also dient es, wenn wir heute Reformen vornehmen, die die Nachhaltigkeit stärken ? Hans-Werner Sinn und Silke Übelmesser haben darauf in ihrem viel zitierten Aufsatz »Pensions and the path to gerontocracy« (European Journal of Political Economy, 19, 2002) eine ebenso klare wie einleuchtende Antwort ge geben : Da schon nach 2016 die Rentner gemeinsam mit den rentennahen Jahrgängen die Mehrheit der wahlberechtigten Bürger bilden werden, sind Kürzungen des Rentenniveaus im Parlament dann nicht mehr durchsetzbar (The- se 1). Wenn wir die Reformen für mehr Nachhaltigkeit dagegen bereits heute beschließen, solange es noch möglich ist, schützen wir die zukünftigen jungen Generationen vor Überforderung durch untragbare Beiträge (These 2). So plausibel diese Überlegung zu sein scheint, leidet sie doch unter zwei Denkfehlern. Den Fehler in These 2 haben die Autoren selbst in ihrer Schlussbemerkung erkannt : Selbst wenn die notwendigen Reformen vor Ende 2016 durchgeführt würden, was hinderte spätere, von Rentnern dominierte Parlamente daran, diese wieder rückgängig zu machen ? Insofern ist das Fazit aus dem Artikel sehr pessimistisch : Solange unsere Geburtenraten so niedrig sind, mutiert unser politisches System irgendwann bis auf weiteres zu einer Gerontokratie, und die bedeutet, dass die Alten die Jungen ungehemmt ausbeuten werden. Dass auch These 1 auf einem Denkfehler beruht, legte ich mit Klaus Stolte in dem Auf satz »Demographic Change, Endogenous Labor Ein Jahr vor der Bundestagswahl 2009 wurde eine Stufe der »Riester-Treppe«, d. h. eine gesetzlich vorgeschriebene Kürzung der jähr lichen Rentenanpassung um 1 Prozentpunkt, ausgesetzt und auf das Jahr 2012 verschoben. Damit wurde eine Rentenreform von 2001 schon sieben Jahre später teilweise rückgängig gemacht, um die 20 Millionen Rentner in der Wählerschaft der damals regierenden Großen Koalition gewogen zu machen. Ebenso wurde 2014 durch die Einführung der »abschlagsfreien Rente mit 63« die sieben Jahre zuvor verabschiedete schrittweise Anpassung der Regelaltersgrenze auf 67 Jahre abgeschwächt – wieder von einer Großen Koalition. Schließlich wurde 2014 auch noch die Zahl der Mütterjahre für vor 1992 geborene Kinder von eins auf zwei erhöht und damit die Renten vieler Frauen erhöht. Sind diese Beobachtungen als Bestätigung oder als Widerlegung der Thesen von Sinn und Übelmesser zu werten ? Ich meine, sie zeigen zweierlei : 1. Einmal beschlossene Rentenreformen können auch wieder zurückgenommen werden, was These 2 widerspricht. 2.Mit zunehmendem Gewicht der Rentner in der Wählerschaft wird eine rentnerfreund lichere Politik gemacht – im Einklang mit These 1. In beiden Fällen lagen aber günstige konjunkturelle Situationen vor, so dass der Beitragssatz nicht erhöht werden musste. Die Wahlgeschenke an die Rentner waren also scheinbar »kostenlos«. Ein echter Test von These 1 wird erst um 2040 herum möglich sein, wenn die Budgetrestriktion der Rentenversicherung entweder deutliche Beitragssteigerungen oder drastische Rentenkürzungen erfordert. Ich wünsche ! Hans-Werner (und mir) ein langes Leben Dann werden wir noch erfahren, wer letztlich Recht behalten hat. Gerontokratie: Hans-Werner Sinn und die Rentenreformen Supply and the Political Feasibility of Pension Reform« (Journal of Population Economics, 14, 2001) dar : Selbst in einer perfekten Geronto kratie, in der nur Rentner wählen, besitzt die Erwerbsgeneration andere Mittel als das Stimmrecht an der Wahlurne, um ihre Interessen durchzusetzen. Sie reichen von einem Rückzug in die Selbständigkeit (solange Sozialabgaben lohnbezogen erhoben werden) über politisch motivierte Streiks bis hin zur Auswanderung. Sogar eine Rentnergeneration, die mit der gesamten politischen Macht ausgestattet ist, wird diese so einsetzen, dass sie die maximalen Sozialleistungen für sich erzielt. Dies bedeutet jedoch, dass nicht der maximale Beitragssatz gewählt wird, sondern der, der das Beitragsaufkommen maximiert, und dabei müssen Anreizwirkungen und Abgabenwiderstände beachtet werden. Sinkt in einer solchen Situation die Fertilität (und steigt damit der Rentnerquotient) permanent, so steigt zwar der optimale Beitragssatz, aber nicht genug, um das Rentenniveau konstant zu halten (ebenda, S. 419). Sinkt die Fertilität nur vorübergehend, so bleibt der Beitragssatz stabil und nur das Rentenniveau sinkt ! Aus dieser Überlegung folgt, dass nicht (nur) die jungen, sondern zumindest auch die alten Generationen den Schaden haben, wenn die Finanzierung des Sozialsystems nicht nachhaltig ist. Deren gesetzlich verankerte Leistungsansprüche würden dann wegen mangelnder Finanzierbarkeit zurückgeschraubt, so wie bereits in den Rentenreformen zwischen 2001 und 2007 zuvor bestehende Leistungsversprechen zurückgenommen wurden. Folglich sind es gerade die heutigen Beitragszahler und morgigen Rentner, die von Reformen zur Stärkung der Nachhaltigkeit der Finanzierung profitieren. Wie bei allen Streitfragen kann auch hier nur die Empirie entscheiden, welche Hypothese die richtige ist. Dazu liegen schon jetzt einige Beobachtungen vor : 77 Peter Diamond DIE RIESTER-RENTE Gerontokratie Peter Diamond ist Institute Professor Emeritus am MIT und Träger des Wirtschaftsnobelpreises des Jahres 2010. In seinen Publikationen bespricht er die Rentensysteme in Deutschland und vielen anderen Ländern. Sein aktuelles Buch (mit Nicholas Barr) hat den Titel Pension Reform: A Short Guide. 78 Ich möchte mich einem wichtigen Artikel aus Hans-Werner Sinns umfangreicher Analyse zur Altersvorsorge widmen : »Why a funded pension system is needed and why it is not needed« (International Tax and Public Finance, 7, 2000, S. 389 – 410). Die Zusammenfassung besagt : »Der Artikel kritisiert die Auffassung, dass das Umlageverfahren wirtschaftliche Ressourcen verschwendet. Ein Wechsel zu einem kapitalgedeckten System ist nicht zweckmäßig, obwohl es eine dauerhaft höhere Rendite verspricht. . . . Dennoch bietet die Einführung einer zusätzlichen kapitalgedeckten Rentenver sicherung die Möglichkeit, die gegenwärtige demographische Krise zu überwinden . . .« Sinn zeigt, dass ein Rentensystem dann nachhaltig ist, wenn der Gegenwartswert der Einzahlungen dem der Rentenauszahlungen entspricht. Das System wird dadurch finanziert, dass das Gros der Einzahlungen zu einem früheren anstatt zu einem späteren Zeitpunkt geschieht. Da die Rentenzahlungen an frühere Generationen über dem Wert ihrer Einzahlungen liegen, erhalten spätere Generationen eine Rente unterhalb ihres Einzahlungswertes. Sinn schlussfolgert, dass die Höhe der Kapitalrendite aus einer Verteilungsentscheidung folgt statt aus einer Ineffizienz des Umlageverfahrens. Sinn hält die Einführung einer zusätzlichen kapitalgedeckten Altersvorsorge für geeignet, um der Untragbarkeit des umlagefinanzierten Rentensystems zu begegnen. Auch hält er es für verteilungstechnisch richtig, der heutigen Generation, die weniger Kinder als ihre Eltern bekommt, höhere Rentenzahlungen abzufordern. In Sinns Worten : »In der gegenwärtigen demographischen Krise kann nur eine zusätzliche kapitalgedeckte Absicherung zur Entlastung des Rentensystems führen : Wo es an Human kapital fehlt, sind Kapitalgüter essentiell, um die Lücke zu schließen.« Sinn diskutiert das Risiko, dass Aktien Teil einer kapitalgedeckten Altersvorsorge sind : »Die bloße Tatsache, dass Aktien unter an Die Chilenen setzen auf stark beschränkten und regulierten Wettbewerb, was die Kosten verringert hat. Allerdings offenbaren die ex orbitant höheren Kosten in anderen Ländern, die dem chilenischen Vorbild gefolgt sind, wie wichtig eine professionelle Umsetzung ist. Historisch haben staatliche Fonds oftmals zu schlechten Ergebnissen in Entwicklungs ländern geführt. Bolivien war dem chilenischen Vorbild gefolgt, allerdings ohne Wahlmöglichkeiten für die Bürger. Dies führte zwar zu niedrigen Kosten, aber auch zu einem un befriedigenden Depotangebot. Im Gegensatz dazu ist das schwedische Rentensystem mit seiner zentralisierten Verwaltung kosteneffizient, gegen Pleiten abgesichert und bietet eine große Auswahl an unterschiedlichen Fonds. Insbesondere gibt es ein staatliches Grundmodell zu niedrigen Kosten und mit einem guten Lebenszeit-Portfolio, das über 98 % der Neueinsteiger anzieht. Das Rentensystem für Angestellte der USRegierung, TSP, lässt zwar wenig Wahlmöglichkeit, hat aber niedrige Gebühren und stellt nur geringe finanztechnische Anforderungen an seine über drei Millionen Kunden. Während solch ein System für ein ganzes Land sicherlich höhere Kosten verursachen würde, wäre es wohl dennoch eine viel günstigere Lösung als eine privatwirtschaftliche Alternative. Die Verwaltungskosten und die Qualität der Depots sind zentrale Fragen bei der Gestaltung einer kapitalgedeckten Altersvorsorge. Die Umsetzung ist hierbei entscheidend; das Beispiel Chile lehrt, dass es wichtig ist, Regeln zu modifizieren, die zu schlechten Resultaten geführt haben. Der Wettbewerb zwischen staatlichen und privaten Anbietern, wie er in Schweden und Chile praktiziert wird, erscheint ebenfalls nützlich. Es wäre ein Leichtes, die Riester-Rente für Arbeitnehmer zu verbessern. Gerontokratie: Hans-Werner Sinn und die Rentenreformen gemessener Berücksichtigung des volkswirtschaftlichen Risikos eine [voraussichtlich] höhere Rendite als Anleihen erzielen, heißt noch nicht, dass eine höhere Investition [in Aktien] zur Verbesserung der allgemeinen Wohlfahrt führt.« Ausschlaggebend sind die administra tiven Kosten der Depotverwaltung und das Risiko für die individuellen Portfolios. Ich betrachte nun drei Modelle der kapitalgedeckten Altersvorsorge. Im ersten Modell wird die Rentenversicherung von privaten Versicherungsanbietern übernommen, die allgemeine und einige spezielle Regeln zur Depotverwaltung einhalten müssen. Die deutsche RiesterRente und die amerikanischen IRA-Renten absicherungen entsprechen diesem Prinzip. Die zweite Möglichkeit besteht aus wenigen lizensierten Privatunternehmen unter strikter Regulierung des Staates, wie in Chile und anderen südamerikanischen Ländern. Drittens könnte der Staat die Depotverwaltung übernehmen. Eine Marktlösung mit mehreren privaten Anbietern ist teuer, und vielen Menschen fehlt das Fachwissen, um informierte Portfolio-Entscheidungen zu fällen. So wird oft die Bedeutung von Gebühren übersehen. Jedoch würde unter plausiblen Annahmen eine Verwaltungsgebühr von nur 1 % die Rente nach 40 Bei tragsjahren bereits um 20 % reduzieren. Berechnungen zeigen, dass die Riester-Rente im % der Lebenseinzahlungen Durchschnitt 12 kostet, aber mit hohen Schwankungen und ohne Transparenz. Die hohen Kosten für die amerikanischen IRA-Versicherungen sind bekannt, ohne dass bislang ein Lösungsansatz vorgeschlagen wurde. Das zweite Problem betrifft das fehlende Fachwissen der Bevölkerung in langfristigen Finanzfragen. Diese Situation wird oftmals von Finanzberatern verschärft, die aufgrund von Interessenskonflikten kaum Anreize haben, den Mangel an Informationen zu beheben. 79 David E. Wildasin HANS-WERNER SINN: EIN TRIBUT AN SEINE BEITRÄGE ZUR FORSCHUNG IN VOLKSW IRTSCHAFTSLEHRE UND POLITIK Gerontokratie David E. Wildasin, langjähriger CESifo Affiliate, ist Professor für Volkswirtschaftslehre und hält eine Stiftungsprofessur für öffentliche Finanzen an der University of Kentucky. Sein Hauptforschungsgebiet ist die öffentliche Ökonomie mit dem Fokus auf ö konomische Integration und Föderalismus. 80 Von seinen vielen Interessensgebieten und Beiträgen ist Hans-Werner Sinns Arbeit auf dem Gebiet der öffentlichen Finanzen vielleicht am bemerkenswertesten. Besonders seine Forschung zum Sozialstaat ist breitgefächert, tiefgreifend und politisch höchst relevant. So zum Beispiel seine Aufsätze »A Theory of the Welfare State« und »Social Insurance, Incentives, and Risk Taking«; diese Abhandlungen erläutern die Verteilungswirkungen der – oftmals lediglich als Umverteilungsinstrumente betrachteten – Sozialversicherung und des Steuersystems. Sie reduzieren zwar Anreize zu Lohnarbeit und Investitionen, fördern dafür aber Risikobereitschaft – insbesondere Unternehmertum, Investitionen in Humankapital und Innovation. Da es für den privaten Sektor schwierig bis unmöglich ist, Menschen gegen solche Risiken zu versichern, könnte der Sozial staat hier auf wichtige Weise sozial effiziente Risikoübernahme fördern. So wird eine dynamische, im Grundsatz marktgetriebene Volks- wirtschaft gestärkt. Allerdings beobachtet Sinn auch, dass die erfolgreiche Umsetzung einer solchen Politik unterminiert werden kann, wenn die finanziell erfolgreichen Hauptbeitragszahler dem System durch Migration entfliehen. Dies bringt mich zum nächsten Thema, denn Hans-Werner Sinn hat sich auch intensiv mit dem demographischen Wandel und dessen finanziellen Konsequenzen auseinandergesetzt. Die kritische Bedeutung von Migration, Fer tilität und Sterblichkeit für die öffentlichen Finanzen sollte mittlerweile offensichtlich sein. Aufgrund der anhaltend stark sinkenden Geburtenrate wohlhabender Länder altern deren Bevölkerungen rapide. Beständige Einkommensunterschiede, verbunden mit geringeren Barrieren zur ökonomischen Integration, führen zudem zu erhöhten Migrationsflüssen, besonders hin zu reicheren Ländern. Wenn nichts geschieht, werden sich diese Trends noch jahrzehntelang fortsetzen, zwangsläufig mit tief- der schrumpfenden arbeitenden Bevölkerung stetig erhöhen. Künftige Finanzierungskrisen könnten zumindest abgemildert werden, wenn Politiker notwendige und längst überfällige Reformen verabschieden könnten. Vielleicht ist das zu viel verlangt von den heutigen (zunehmend gerontokratischen) Demokratien – ein beängstigender Gedanke. Auf der ganzen Welt profitieren Forscher immens von Hans-Werner Sinns akademi schen Beiträgen zu fundamentalen Problemen der Wirtschaftspolitik. Dabei dürfen auch seine außerordentlichen Leistungen zugunsten der gesamten Disziplin nicht vernachlässigt werden, insbesondere seine Förderung des CESifo, einer Einrichtung, die weltweit Impulse für eine ergiebige Wirtschaftsforschung gesetzt und ihre Früchte der Politik sowie der breiten Öffentlichkeit zur Verfügung gestellt hat. Ich erinnere mich noch sehr gut an meinen ersten von vielen Besuchen des neu gegründeten CES im Jahr 1991, der in dem CES Working Paper Nr. 2 resultierte – in der erhabenen Gesellschaft von keiner Geringeren als Richard Musgraves Nr. 1 (mittlerweile gibt es über 5000 Working Papers) ! Der Besuch führte außerdem zu einer Forschungszusammenarbeit mit Dietmar Wellisch, damals aus Tübingen, zum Thema Umverteilung und Immigration, publiziert zuerst auf Englisch und später auf Deutsch in den ifo Studien – ein Beispiel des vielfältigen fruchtbaren Gedankenaustauschs, der von der CESifo-Gruppe gepflegt wurde. Ein Ökonom, der erfolgreich durch die umfassenden und manchmal turbulenten Strömungen der institutionellen Entwicklungen sowie der akademischen und politischen Forschung navigieren kann, hat Seltenheitswert. Mit großer Freude drücke ich daher meine Bewunderung und Dankbarkeit an Hans-Werner Sinn aus, in Anerkennung einer bemerkenswerten Laufbahn und fachlichen Leistung ! Gerontokratie: Hans-Werner Sinn und die Rentenreformen greifenden Auswirkungen auf die stark umverteilungsbasierten, extrem alters- sowie einkom mensabhängigen Steuersysteme reicher Länder. Sinn gehört hier zu einem kleinen Kreis von Ökonomen, die diese Entwicklung bereits seit über zwei Jahrzehnten aufmerksam verfolgen. Er war ein Vorreiter in der Diskussion der weitreichenden Folgen von Bevölkerungsalterung und ökonomischer Integration. Seit den 1990er Jahren verdeutlichen uns seine Abhandlungen nicht nur, wie scharfsinnig Sinn sich andeu tende politische Herausforderungen vorher gesehen hat, sondern auch, wie konstruktiv er unser Verständnis möglicher Optionen gefördert hat. Seine vor mehr als 15 Jahren verfassten Aufsätze zum deutschen Rentensystem zeigen, wie Reformen die Kosten des Erhalts eines solchen Systems so fair wie möglich verteilen können. Eine Möglichkeit ist die sofortige, vergleichsweise geringe Erhöhung der Beiträge. Alternativ dazu könnte mit einer verbindlichen, durch die Behörden überwachten privaten Vorsorge eine finanzielle Reserve aufgebaut werden, mit der künftige Rentenverbindlichkeiten bedient werden können. Letzteres ist dabei vorzuziehen, da man, so Sinn, die »Begierde«, mit der Politiker auf eine solche Reserve blicken würden, nicht übersehen dürfe : »Öffentliche Gelder sind eine große Versuchung.« Eine weise Bemerkung eines Politökonomen, der erkennt, wie imperfekte politische Prozesse die Wirtschaftspolitik unweigerlich prägen. Wir können nur hoffen, dass Politiker – und wichtiger, die Öffentlichkeit – sich diese Erkenntnisse zu Herzen nehmen, besser früher als später. Leider bleibt das Zeitfenster für Politikänderungen nicht ewig geöffnet. Wie in seiner neueren Forschung diskutiert, könnten alternde Gesellschaften zu Gerontokratien werden, in denen die Forderungen einer immer älter werdenden Empfängergesellschaft die Lasten 81 Ursula Engelen-Kefer DISKURS ZU DEMOGRAPHIE UND GENERATIONENGERECHTIGKEIT Gerontokratie Ursula Engelen-Kefer war von 1984 bis 1990 Vizepräsidentin der Bundesanstalt für Arbeit und von 1990 bis 2006 Stellvertretende Vorsitzende des DGB. Sie lehrt Beschäftigungspolitik an mehreren renommierten Hochschulen und leitet den Arbeitskreis Sozialversicherung im Sozialverband Deutschland (SoVD). 82 Mit großem Respekt habe ich während vieler Jahre als Stellvertretende Vorsitzende des DGB die Wirtschafts- und Finanzanalysen des ifo Instituts verfolgt – ebenso wie die eloquente öffentliche Darstellung seines Präsidenten Prof. Hans-Werner Sinn. Dabei bestanden die gravierenden Unterschiede der politischen Bewertung auf beiden Seiten – aber immer getragen von der Bereitschaft für den wissenschaftlichen und politischen Diskurs. Es war mir daher eine besondere Freude und Ehre, als HWS 2007 fragte, ob er mich als Mitglied des Verwaltungsrates des ifo Instituts vorschlagen könne. Seither habe ich einen noch umfassenderen Zugang vor allem auch zu den analytischen Arbeiten des ifo erhalten. Besonders schätze ich Sinns Darstellungen der eskalierenden Finanzkrisen, ihrer Hintergründe und ihrer dramatischen Folgen, auch für die Bundesbürger. Allerdings hatte ich lange Zeit Zweifel an der politischen Verantwortbarkeit seines schon frühzeitig propagierten »Grexit«. In jüngster Zeit bin ich dabei allerdings auch zunehmend unsicher geworden. Mit besonderem Interesse konnte ich verfolgen, dass es ifo gelingt, interessante und fähige Wissenschaftler aus aller Welt zu gewinnen und bei der eigenen Arbeit weit über den nationalen Tellerrand hinauszublicken. Dabei hat sich HWS auch immer als Person mit großem Erfolg eingebracht. In seiner Rede auf der letzten ifo Jahresversammlung am 12. Juni 2015, der letzten in seiner Amtszeit als Präsident, hat HWS keinen Zweifel an der Ablehnung der von den Gewerkschaften durchgesetzten Lohnsteigerungen in den neuen Bundesländern wie auch der Alternativlosigkeit der Renten- und Arbeitsmarktreformen von Gerhard Schröder und seiner Agenda 2010 gelassen. Im Vorfeld der langwierigen Auseinandersetzungen um den von »Schwarz-Rot« 2015 eingeführten gesetzlichen Mindestlohn von 8,50 Euro wurde HWS nicht müde, die seiner Meinung nach drohende Ver- derte, dass er die gesetzliche Altersrente einschränkte – eine Entwicklung, die HWS ebenso wie der vormalige »Rentenpapst« Prof. Bert Rürup als alternativlos ansah. Wie ich glaube, aus seinen jüngsten Äußerungen bei der ifo Jahresversammlung 2015 entnehmen zu können, ist allerdings auch bei HWS die Erkenntnis gereift, dass infolge der eskalierenden Finanzkrisen die Erwartungen an die kapitalgedeckte Alterssicherung nicht erfüllt werden können. Allerdings würde ich keinesfalls zu hoffen wagen, dass sich HWS meiner Auffassung anschließt, dass die gesetzliche umlagefinanzierte Altersrente trotz der dramatischen demographisch bedingten Zusatzbelastungen der jüngeren Generationen immer noch die bessere Alternative darstellt. Eine zukünftige Lösung könnte daher sein, dass zusätzliche eigene Rentenleistungen nicht in die private Kapitalanlage abgefordert werden, sondern deren Einzahlung in die gesetz liche Rentenversicherung erweitert und ge fördert werden sollte. Auch dies würde die jüngeren Generationen entlasten, ohne die Mehrheit der Arbeitnehmer den intransparenten und häufig überteuerten Alterssicherungsprodukten der privaten Finanzbranche aus zusetzen. Allerdings habe ich nach meinen jahrzehntelangen Erfahrungen und Erkenntnissen in der Sozialpolitik keine Illusionen, dass sich ein so »eingefleischter« Ökonom mit einer solch gewaltigen Innen- und Außenwirkung wie HWS in derartige »Niederungen« der Verteilungs- und Sozialpolitik begeben könnte. Es fehlte dann ja auch das Salz in der Suppe für den wissenschaftlichen wie politischen Diskurs. Ich bin sicher, dass HWS auch in Zukunft in Deutschland, Europa und weltweit ein bekannter und anerkannter Ökonom bleiben wird, der sich in die Wissenschaft und Politik einmischt. Gerontokratie: Hans-Werner Sinn und die Rentenreformen nichtung von Arbeitsplätzen in die Öffentlichkeit zu bringen. All dies hat er eindringlich in seinen umfassenden Publikationen belegt. Es wird nicht verwundern, dass uns gerade bei diesen Themen, die ich auch als jahrzehnte lange alternative Vorsitzende von Vorstand und später Verwaltungsrat der Bundesagentur für Arbeit verantwortlich vertreten habe, politische Welten trennen. In den letzten Jahren hat sich HWS einem weiteren Themenbereich zugewandt, den dramatischen Veränderungen in der Demographie und ihren wirtschaftlichen, sozialen und gesellschaftlichen Auswirkungen. Dabei gibt es unmittelbare Berührungspunkte mit meiner eigenen Neuorientierung nach Beendigung meines Mandats als Stellvertretende Vorsitzende des DGB 2006. Als Honorarprofessorin an der Hochschule der Bundesagentur für Arbeit (HdBA) mit verschiedenen Lehraufträgen, insbesondere an der Freien Universität Berlin, bin ich wieder dahin zurückgekehrt, wo ich meine Berufslaufbahn in der wissenschaftlichen Beratung der Politik vor jetzt viereinhalb Jahrzehnten einmal begonnen habe. Dabei befasse ich mich vor allem mit den drängender werdenden Problemen des Rückgangs und der Alterung von Bevölkerung und Erwerbstätigen. Auch hier gab es zwischen HWS und mir lange Zeit erhebliche Differenzen bei der Bewertung der Zukunft der sozialen Sicherungssysteme – vor allem der Rentenversicherung. Ich war und bin immer eine überzeugte Verfechterin der gesetzlichen umlagefinanzierten Altersrente, die immerhin die Schrecken von zwei Weltkriegen überdauert hat. Damit war ich auch als zeitweilige alter native Vorsitzende des Vorstandes der gesetz lichen Rentenversicherung eine entschiedene Gegnerin der Rentenreformen des damaligen Bundesarbeitsministers Walter Riester, der die private kapitalgedeckte Zusatzrente damit för- 83 Rita Süssmuth »KINDER KRIEGEN DIE LEUTE IMMER« – ODER? Gerontokratie Rita Süssmuth ist Politikerin und Wissenschaftlerin. Sie war von 1985 bis 1988 Bundesministerin für Familie, Frauen, Jugend und Gesundheit und von 1988 bis 1998 Präsidentin des Deutschen Bundestags. Sie ist heute Präsidentin des Konsortiums der TürkischDeutschen Universität (TDU) in Istanbul. 84 Was wäre die Welt nur ohne Altersversicherung ? Bis Ende des 19. Jahrhunderts war man darauf angewiesen, von seinen eigenen Kindern im Alter versorgt zu werden. Somit hieß es für die aktive Phase des Lebens : arbeiten, die eigenen Eltern versorgen und vor allem Kinder bekommen. Denn ohne Kinder keine Altersversorgung. Die Rentenversicherung überwand diesen über Jahrhunderte unumstößlichen Zusammenhang. Doch genau hierin besteht das Dilemma. Mit der ersten deutschen Sozialgesetzgebung legte Bismarck den Grundstein für die gesetzliche Rentenversicherung. Das Risiko, im Falle des langen Lebens nicht versorgt zu sein, wurde abgefedert, die direkte Abhängigkeit von den eigenen Nachkommen zwar gelockert, jedoch nicht aufgegeben. Dies geschah erst mit der Rentenreform 1957 unter Adenauer. Dessen Rentenreform geht auf ein Papier des Kölner Privatdozenten Wilfrid Schreiber zurück. Dieses sah vor, die Abhängigkeiten im Lebenszyklus in beide Richtungen zu lösen : Zum einen sollten Ältere nicht länger allein auf die eigenen Nachkommen angewiesen sein, zum anderen sollten aber auch Kinder von der Gesellschaft getragen werden. Die familiäre Solidarität sollte – ganz im Sinne einer Versicherung – in Form eines Generationenvertrages auf die ganze Breite der Gesellschaft übertragen werden. Die »Kindheits- und Jugendrente« wurde jedoch nicht verwirklicht. Adenauer schloss einen Zweigenerationenvertrag. Die Belastung der Kindererziehung blieb weiterhin bei den Eltern, obwohl das so geschaffene System auf Nachwuchs angewiesen war und ist. Unter dem Motto »Kinder kriegen die Leute immer« sah Adenauer keine Notwendigkeit, sich um Kinderwünsche zu sorgen. War damit ein gesundes System geschaffen worden ? Anfangs schien es zumindest so. Die erwerbstätige Generation war stark vertreten im Vergleich zu den finanzierungsbedürftigen beziehen. Dazu sollen kinderlose Familien geringere Ansprüche an die umlagefinanzierte Rente haben, dies jedoch durch privates Sparen kompensieren. So soll jeder, der in das Erwerbsleben eintritt, privat vorsorgen müssen. Wird ein Kind geboren, wird ein Teil der Ersparnis ausgeschüttet sowie ein Teil der weiteren Sparpflicht erlassen. Bei drei Kindern muss nicht mehr gespart werden. Die weggefallene private Vorsorge wird durch höhere umlage finanzierte Rentenansprüche kompensiert. Auf diese Weise würden die Lasten aus Kinder erziehung und Altersversorgung in der Gesellschaft wieder gerechter verteilt und die durch das Rentensystem verlorenen Anreize in der Familienplanung wiederhergestellt. Die Dringlichkeit von Rentenreformen ist jedoch nicht allein auf die drohenden Finanzierungsprobleme des Rentensystems zurückzuführen. Die alternde Gesellschaft selbst gibt aus politökonomischer Perspektive eine strenge Frist vor. Bereits im Jahr 2002 berechnete Hans-Werner Sinn zusammen mit Silke Übelmesser, dass die politischen Mehrheiten in Deutschland etwa Mitte dieses Jahrzehnts zugunsten der älteren Generation »kippen«. Dann nämlich stellen die Über-50-Jährigen die Mehrheit der Wähler. Diese Bevölkerungsgruppe wird – bezogen auf ihr Lebensein kommen – stärker von höheren Rentenaus zahlungen profitieren, als sie durch höhere Einzahlungen belastet wird. Reformen zuungunsten dieser Gruppe werden dann politisch nicht mehr durchsetzbar sein. Das Zeitfenster für Reformen beträgt – wenn überhaupt – nur noch einige wenige Jahre. Gerontokratie: Hans-Werner Sinn und die Rentenreformen Alten. Bis Mitte der 1960er Jahre dauerte der Babyboom an. Heute zeigt sich jedoch, dass das umfangreiche Rentensystem eine Zeit geringer Geburten einläutete. Schließlich war man nicht auf eigene Kinder angewiesen, sondern konnte einen Rentenanspruch gegenüber der nachfolgenden Generation geltend machen, der umso höher war, je mehr man verdient hatte. Bekamen Frauen in den 1950er Jahren durchschnittlich noch über zwei Kinder, sank diese Zahl ab 1970 rapide ab und verharrt seither bei etwa 1,4. In Kombination mit gestiegener Lebenserwartung hatten die Älteren somit ein immer höheres Gewicht in der Gesellschaft. Im Jahr 1970 mussten 100 Personen im Alter von 20 bis 64 lediglich 25 Personen im Rentenalter finanzieren. 2013 lag diese Zahl bereits bei 34, und für 2035 ist laut Angaben des Statistischen Bun desamtes (Bevölkerung Deutschlands bis 2060: 13. koordinierte Bevölkerungsvorausberechnung, 2015) aufgrund der Babyboomer mit etwa 55 Rentnern pro 100 Personen der mittleren Generation zu rechnen. Das niedrigere Ren tenniveau lässt sich zwar behandeln, jedoch nur zu Lasten eines höheren Beitragssatzes. Um die demographische Krise durch den Renteneintritt der Generation der Babyboomer abzufedern, gab Hans-Werner Sinn Ende der 1990er Jahre mit dem Wissenschaftlichen Beirat beim Bundesministerium für Wirtschaft die Empfehlung, auf ein teilkapitalgedecktes System umzustellen. Wenig später ergänzte Sinn diesen Vorschlag um einen konkreten Mechanismus, Fertilitätsanreize wiederherzustellen. Ähnlich wie in Schreibers Vorschlag will Sinn alle Generationen in das System ein- 85 Bernd Raffelhüschen WAS WAR, WAS IST, WAS KOMMT? Gerontokratie Bernd Raffelhüschen ist seit 1995 Professor für Finanzwissenschaft an der Universität Freiburg und seit 1994 Prof. II an der Universität Bergen, Norwegen. Er studierte in Kiel, Berlin und Aarhus Volkswirtschaftslehre und promovierte und habilitierte sich in diesem Fach an der Universität Kiel. 86 Als deutsche Politiker seriöse Wissenschaftler als demographische Katastrophentheoretiker und Bevölkerungsauguren abtaten und den Pillenknick für eine vorübergehende Sache hielten, war eigentlich schon längst bekannt : Der doppelte Alterungsprozess würde in – damals noch ferner – Zukunft dazu führen, dass immer mehr zukünftige Rentner immer länger von immer weniger zukünftigen Beitragszahlern versorgt werden müssen. Inzwischen werden Erkenntnisse wie diese fast gebetsmühlenartig in allen Medien rauf und runter geleiert. Tatsächlich ist die Aussage falsch ! Oder besser gesagt, eigentlich ist das Adjektiv falsch. »Zukünftig« sind nämlich weder die Rentner noch die Erwerbstätigen des nächsten Vierteljahrhunderts – sie sind alle schon da. Und genau deshalb ist der pilzförmige Aufbau der Bevölkerungsstruktur im Zeitraum 2030 – 2045 auch nicht etwas Zukünftiges, das unsicher ist und sein muss, sondern es handelt sich um eine »Reflexion der Vergangenheit«, die in der Zu- kunft liegt. Und die Vergangenheit hat eine ganz dumme Eigenschaft : Man kann sie nicht ändern ! Auch wenn es verwirrend klingt : Der zukünftige Alterungsprozess unserer Gesellschaft ist nicht etwas, was kommt, sondern etwas, was schon war, was also eigentlich schon gewesen ist, obwohl es noch kommt ! Und ändern kann man daran nichts mehr, weder »durch Kinder noch durch Inder«. Überspitzt ausgedrückt : Auch wenn der geneigte Leser nach Lektüre dieser Festschrift noch versuchen wollte, an seinen Reproduktionsziffern zu arbeiten, allein, es ist verlorene Liebesmüh’, die zu spät kommt. Und wer hat das alles nun verursacht ? Die Antwort ist relativ einfach zu geben : Es sind die Babyboomer und deren Nachkommen, also jene, die sich gegenwärtig im Alter 65 – befinden. In diesen Jahrgängen gibt es grob vereinfacht drei Gruppen : Ein Fünftel dieser Menschen verlässt die Welt kinderlos, ein weiteres Viertel hält eine Familie dann für komplett, fall der gut betuchte männliche Facharbeiter mit ununterbrochener Erwerbsbiographie. Aber zurück zur Mütterrente, die im Prinzip nicht falsch ist, auch wenn der Begriff zu revidieren wäre. Kinderrente im echten HWS-Sinn wäre das bessere Wort ! Sinnvoll ist nämlich nur ein umlagefinanziertes Steuer/TransferSystem, in das jeder einzahlt und auch jeder dafür Rentenansprüche erhält, also auch Beamte und Selbständige. Die entsprechenden Ein- und Auszahlungsströme wären dann für die gesetzliche Rentenversicherung quasi ein durchlaufender Posten. Über die relativen Größenordnungen sowie über das institutionelle Ineinandergreifen von familienpolitischem Steuer/Transfer-Mechanismus und beitragsfinanziertem Rentensystem muss natürlich noch trefflich gestritten werden. Allerdings dürften die individuellen Positionen in höchstem Maße mit der Kinderzahl korreliert sein. Damit würde dann die gesetzliche Rente für Kinderlose maximal bei etwa jenem Basisversorgungsniveau landen, das bereits durch die vergangenen Reformen beschlossen wurde. Nachhaltigkeitsfaktor und »Rente mit 67« würden ihnen ganz klar vermitteln : Sie müssen länger arbeiten für weniger Rente, und die Lebensstandardsicherung ist Sache ihrer privaten oder betrieblichen Alterssicherung. Dagegen werden die Renten jener, die den Generationenvertrag in all seinen Facetten erfüllt haben, durch die steuer finanzierten Transfers aufgestockt – natürlich für jedes Kind gleich, versteht sich. Dem Verursacherprinzip wäre damit ein großer Gefallen getan, allerdings nur, wenn das alles finanziert wird, ohne sich neu zu verschulden. Die neuen Schulden müssten sonst nämlich unsere wenigen Kinder bedienen – Kinderlose und deren nicht geborene Kinder zahlen wenig bis nichts. Gerontokratie: Hans-Werner Sinn und die Rentenreformen wenn zum Einzelkind der Hund hinzukommt, und nur gut die Hälfte funktioniert im Sinne der Generationenverträge und schafft ausreichend zukünftige Steuer- und Beitragszahler. Was diese dann später einzahlen, gehört allen und wird sozialisiert – die Kosten tragen die Familien, zwar nicht allein, aber doch zu weitaus größeren Teilen als die anderen. Trittbrettfahrer nennt man das ! Und genau hierin lag immer schon der Ansatzpunkt für Rentenreformen à la HWS, der immer wieder betonte, dass zumindest das Ausmaß dieser Sozialisierung unserer Kinder wieder auf ein vernünf tiges Maß zurückgefahren werden sollte. Das Vehikel dazu sind die von der Kinderzahl abhängigen Rentenansprüche. Für den renten politischen Puritaner ist dies ein rotes Tuch, denn in den Haushalt der Rentenversicherung gehören seiner Meinung nach keine familienpolitischen Leistungen – sonst würde man ja Beamte und Selbständige bei der Finanzierung nicht beteiligen. Schließlich sind sie in aller Regel keine Mitglieder der gesetzlichen Rentenversicherung. Darüber hinaus könnten Beamte wie auch Selbständige Kinder haben, die selbst rentenversicherungspflichtig werden, ohne dass die entsprechenden Transfers den Eltern zugutekämen. Paradebeispiel für eine solche, schlicht falsche familienpolitische Umverteilung ist die Erhöhung der Mütterrente für Kinder, die vor 1992 geboren wurden, durch das aktuelle Rentenreformpaket von Arbeitsmi nisterin Nahles. Überspitzt ausgedrückt verbeitragt sie das Taschengeld unserer Kinder zugunsten der Mütter ! Und auch die abschlagsfreie Rente mit 63 dürfte familienpolitisch eher in die falsche Richtung gehen. Davon profitierten nämlich nur die Jahrgänge 1952 – 1963 und darunter auch nicht die Frauen mit mehreren Kindern, die bekommen nämlich oft keine 45 Jahre zusammen. Nutznießer ist im Regel- 87 Thiess Büttner POSITIVE EXTERNE EFFEKTE DER ERZIEHUNG UND AUSBILDUNG VON KINDERN Gerontokratie Thiess Büttner ging nach der Promotion an der Uni Konstanz 1997 an das ZEW in Mannheim. 2004 wurde er an die LMU München berufen und leitete den Bereich »Öffentlicher Sektor« am ifo Institut. 2010 wechselte er an die FAU Erlangen-Nürnberg. Er ist Vorsitzender des Wissenschaft lichen Beirats beim BMF. 88 Im Vergleich zu anderen für die Wirtschafts politik bedeutsamen Entwicklungen ist die demographische Entwicklung zumindest abseits von Wanderungen gut zu prognostizieren. So ist seit langem bekannt, dass der Trend zu späteren Geburten, die längere Lebenserwartung und die geringe Zahl der Kinder Anpassungen im Rentensystem erfordern. Einer konsequenten Anpassung der Rentenversicherung an die voraussehbare Entwicklung hat sich die Politik immer wieder verweigert, und selbst mühsam erzielte Fortschritte werden mitunter konter kariert (für einen Überblick der Rentenreformen siehe Axel Börsch-Supan, »Lehren aus den Rentenreformen seit 1972«, Wirtschaftsdienst, 95, 2015, S. 16 – 21). Zugleich wird das umlage finanzierte Rentensystem auch mit Hinweis auf die geringe Rendite der Beiträge in diesem System kritisiert. Hans-Werner Sinn hat sich in einer Reihe von grundlegenden Beiträgen mit der Thematik der Rentenversicherung befasst. So beteilig- te er sich an der Debatte um den Wechsel von einem umlagefinanzierten zu einem kapital gedeckten System. In einer dieser Arbeiten betont er, wie auch andere deutschsprachige Autoren, dass der Renditevergleich zwischen kapitalgedeckten und umlagefinanzierten Rentenversicherungssystemen kein aussagefähiges Kriterium zur Beurteilung der Systeme ist (siehe Hans-Werner Sinn, »Why a funded pension system is useful and why it is not«, Internation al Tax and Public Finance, 7, 2000, S. 389 – 410). Auch wenn die Rentenbeiträge wegen der geringen Rendite zum Teil den Charakter einer Steuer haben, die sich auf die Leistungsbereitschaft der Arbeitnehmer negativ auswirkt, ist, wie Sinn zeigt, von einem Übergang auf ein kapitalgedecktes System keine Verbesserung zu erwarten. Die Finanzierungslast für die bereits erworbenen Rentenansprüche müsste schließlich anderweitig durch höhere Steuern gesichert werden. Die Problematik der umlagefinanzierten Ren liegt aber vor allem in dem Nachweis, dass die Entscheidung für Kinder und die Anstrengungen einer Familie im Rahmen der Kindererziehung in einem umlagefinanzierten Renten versicherungssystem positive externe Effekte auf die anderen Versicherten ausüben. Die Familien leisten mit anderen Worten mehr für das System als das, was in den Beitragszahlungen angerechnet wird. Die von Sinn propagierte kinderbezogene Rente ist vor diesem Hin tergrund konsequent, auch wenn dies mögli cherweise keine wesentlichen Effekte auf die Demographie hätte. Die im Rentensystem angelegte intergene rationale Umverteilung jedoch erschwert das Zustandekommen von geeigneten Reformen. In einer weiteren Arbeit zeigt Sinn, dass es im Zuge des demographischen Wandels immer schwerer werden dürfte, solche Reformen politisch durchzusetzen (siehe Hans-Werner Sinn und Silke Übelmesser, »Pensions and the path to gerontocracy in Germany«, European Journal of Political Economy, 19, 2002, S. 153 – 158). Auf der Basis der Vorausberechnungen des Statistischen Bundesamts zeigt diese Arbeit, dass der Medianwert des Lebensalters in der Wählerschaft immer weiter ansteigt und dass nach dem Jahr 2016 nur noch geringe Möglichkeiten bestehen, eine politische Mehrheit zugunsten einer fundamentalen Reform zu gewinnen. Es ist kurios, dass der Wechsel von HansWerner Sinn in den Ruhestand nun ausge rechnet in das Jahr fällt, für das er selbst den Wechsel Deutschlands zur Gerontokratie prognostiziert hat. So obliegt es nun anderen, auf Anpassungen im Rentensystem hinzuwirken. Hans-Werner Sinn hat die Problematik jedenfalls frühzeitig erkannt und so grundlegend analysiert, dass der nachfolgenden Generation die Vor- und Nachteile der Entscheidungsalternativen deutlicher geworden sind. Gerontokratie: Hans-Werner Sinn und die Rentenreformen t e ist demgegenüber bei Hans-Werner Sinn mit dem demographischen Wandel verbunden. Diese Thematik greift er insbesondere in einer 2004 erschienenen Arbeit auf (siehe HansWerner Sinn, »The pay-as-you-go pension system as fertility insurance and an enforcement device«, Journal of Public Economics, 88, 2004, S. 1335 – 1357). Sie geht historisch zutreffend von der Überlegung aus, dass die gesetzliche Rentenversicherung vor allem eine Versicherung der Älteren ist, die keine Kinder haben bzw. von den Kindern nicht ausreichend unterstützt werden. Wie auch bei anderen Versicherungen könnte es allerdings durch die Absiche rung zu Verhaltensänderungen kommen. In der stringenten ökonomischen Logik der Analyse schwinden die Anreize, Kinder in die Welt zu setzen und familiäre Anstrengungen zugunsten der Erziehung und Ausbildung der Kinder zu leisten. Zwar spielen keineswegs nur ökonomische Motive eine Rolle bei der Entscheidung, eine Familie zu gründen und sich um die Erziehung und Ausbildung der Kinder zu bemühen, und es lassen sich viele andere überzeugende Motive gerade auch für den Rückgang der Geburten anführen. Auch ist der empirische Nachweis wohlfahrtsstaatlicher Effekte auf familiäre Entscheidungen schwierig und die empirische Literatur zu diesen Effekten entsprechend schmal (siehe z. B. Vinzento Galasso, Roberta Gatti und Paola Profeta, »Investing for the old age, pensions, children, and savings«, International Tax and Public Finance, 16, 2009, S. 538 – 559). Die historische Forschung belegt indessen die Bedeutung des Vorsorgemotivs für die Fertilität (siehe z. B. Kristina Lilja und Dan Bäcklund, »To depend on one’s children or to depend on oneself : savings for old-age and children’s impact on wealth«, The History of the Family, 18, 2013, S. 510 – 532). Die Bedeutung des Sinn’schen Ergebnisses 89 HWS mit der langjährigen Stellvertretenden Vorsitzenden des DGB Ursula Engelen-Kefer und dem SPD-Politiker Joachim Poß bei der ifo Jahresversammlung 2010. Gruppenfoto: 90. Geburtstag von Richard Musgrave und zehn jähriges Jubiläum des von HWS ins Leben gerufenen Center for Economic Studies im November 2001. Krönender Abschluss des ifo-Betriebsausflugs 2014 im Garten der Familie Sinn. 90 HWS und der damalige Bayerische Ministerpräsident Edmund Stoiber in tiefer Diskussion beim Munich Economic Summit 2003. Nobelpreisträger Robert Solow spricht anlässlich der Amtsein führung von HWS als ifo-Präsident am 21. Juni 1999. HWS mit dem damaligen Minister- präsidenten Baden-Württem bergs Günther Oettinger beim Munich Economic Summit 2006 zur g lobalen Arbeitsteilung. 91 WirtschaftsWoche, 21.12.2009 4 IST DEUTSCHLAND NOCH ZU RETTEN? Hans-Werner Sinn und die arbeitsund sozialpolitischen Reformen Helmut Rainer EINLEITUNG Ist Deutschland noch zu retten ? Hans-Werner Sinn und die arbeits- und sozialpolitischen Reformen Helmut Rainer leitet das ifo Zentrum für Arbeitsmarktforschung und Familienökonomik und ist Professor für Volkwirtschaftslehre an der Ludwig-Maximilians- Universität München. Seine Forschungsschwerpunkte liegen in den Bereichen Familienökonomik und Bevölkerungsökonomik. Ist Deutschland noch zu retten? HWS stand am Fuße einer Felswand. Er war 94 spät dran gewesen, hatte sich von seinem Fahrer an einem Parkplatz absetzen lassen und wollte seine Mitarbeiter einholen, die sich auf dem jährlichen ifo-Betriebsausflug Richtung Gipfel aufgemacht hatten. Da er den Weg nicht kannte, hatte er zum Mobiltelefon gegriffen, einen engen Mitarbeiter angerufen und sich den Weg erklären lassen. Der genannte Weg war jedoch zu lang, deshalb hatte er sich entschieden, direttissimo zum Gipfel zu gehen. Noch vor zwei Stunden hatte er einem Journalisten die »Aktivierende Sozialhilfe«, das neue ifoReformkonzept, erklärt, ihm klargemacht, dass bei den derzeitigen Hinzuverdienstmöglichkeiten kein Anreiz für Langzeitarbeitslose bestand, eine Beschäftigung aufzunehmen. Die hohen Grenzsteuersätze von bis zu 100 % würden dies unmöglich machen. Verdeutlicht hatte er dies am Beispiel eines Bergsteigers, der vergeblich versucht, die Eiger-Nordwand zu erklimmen. Nun stand er selbst am Fuße einer Dieser Beitrag ist unter maßgeb licher Mitarbeit von Christian Holzner entstanden, der seit über 14 Jahren am ifo Institut arbeitet und den Lehrstuhl für Finanz wissenschaft an der Ludwig- Maximilians-Universität München vertritt. Felswand und musste erkennen, dass er diese nicht bezwingen konnte. Die Arbeitslosigkeit in Deutschland war seit dem ersten Ölpreisschock in den 1970er Jahren in Rezessionen stetig angestiegen, in Booms ging sie lediglich leicht zurück, nie hatte ein Aufschwung zu einem signifikanten Abbau der Arbeitslosigkeit geführt. Ende der 1990er Jahre stieg die Zahl der Arbeitslosen in Deutschland auf über 4 Millionen. Grund genug für HWS, nach Antritt seiner ifo-Präsidentschaft im Jahr 1999 die ifo-Arbeitsmarktgruppe auszubauen. Nachdem Gerhard Schröder in seiner ersten Amtsperiode lange untätig gewesen war, wuchs Anfang 2002 die Bereitschaft in der Politik, grundlegende Reformen in Angriff zu nehmen, und eine Expertenkommission unter der Leitung von Peter Hartz wurde beauftragt, Vorschläge zu erarbeiten. Mit seinem Gespür für den richtigen Zeitpunkt versammelte HWS noch im Februar 2002 eine Gruppe von ifoForschern, um ein eigenes Reformkonzept zu kommunalen Jobs bzw. Leiharbeitsfirmen zur Einkommenssicherung von arbeitswilligen Hilfebedürftigen nicht notwendig und nicht vorgesehen. HWS kritisierte die Hartz-IV-Reform als unzureichend und forderte weiterhin bessere Hinzuverdienstmöglichkeiten. Seine Kritik schien voll berechtigt zu sein, als die Zahl der Arbeitslosen im Jahr 2005 auf mehr als 5 Millionen kletterte. Im Laufe des Jahres 2006 begannen die Reformen jedoch zu greifen, und die Arbeitslosigkeit begann zu sinken. Im Jahr 2007 wurde dieser Trend deutlicher, die Kritik an den Hartz-IV-Gesetzen trat in den Hintergrund und wurde abgelöst von der Genugtuung über das Erreichte. Dies ging sogar so weit, dass HWS einmal sagte, dass »Hartz IV nicht nach Peter Hartz benannt sein sollte, sondern eigentlich ifo IV genannt werden müsste«. Als Deutschland die Finanzkrise 2008 und die anschließende große Rezession ohne Arbeitsmarktkrise überstand und die Zahl der Arbeitslosen unter 3 Millionen sank, da war allen klar, dass der »kranke Mann Europas« gerettet war. Als HWS im Jahr 2002 am Fuße der Felswand stand, wusste er natürlich noch nicht, welche Reformen dem deutschen Arbeitsmarkt bevorstehen würden und wie sich die deutsche Wirtschaft daraufhin entwickeln würde. HWS entschied sich damals, seinen Fahrer anzu rufen und sich zu dem Gasthof bringen zu lassen, an dem der ifo-Betriebsausflug mit einem Abendessen ausklingen sollte. Einige Mitarbeiter, die den Gipfel erreicht hatten, meinten, HWS hätte die Lage zu pessimistisch eingeschätzt. Er entgegnete jedoch : »Es sei wichtig, sich die Gefahren vor Augen zu führen und sich ihrer bewusst zu werden; lieber schätze er die Situation zu pessimistisch ein und drehe um, als blindlings darauflos zu klettern und abzustürzen.« Ist Deutschland noch zu retten? Hans-Werner Sinn und die arbeits- und sozialpolitischen Reformen erarbeiten. Das Ziel lautete, das ifo-Konzept rechtzeitig zu veröffentlichen, damit die Anregungen noch in die Hartz-Kommission einfließen konnten. Angesichts der extrem hohen Arbeitslosenrate unter Geringqualifizierten von über 20 % lautete die Diagnose, dass der Lohnabstand, insbesondere von Niedrigqualifizierten, zur Arbeitslosen- bzw. Sozialhilfe zu gering und die Transferentzugsraten bei Hinzuverdienst viel zu hoch waren, um den Empfängern von Arbeitslosen- bzw. Sozialhilfe einen Anreiz zu geben, nach Arbeit zu suchen bzw. eine solche anzunehmen. Mitte Mai 2002 präsentierte HWS das Konzept der »Aktivierenden Sozialhilfe« der Öffentlichkeit. Es sah vor, die Arbeitslosenlegen und hilfe und Sozialhilfe zusammenzu Jobzentren auf kommunaler Ebene zu schaffen. Um Transferempfänger zur aktiven Arbeits suche zu animieren, wurden bessere Hinzu verdienstmöglichkeiten bei einer gleichzeitigen Absenkung des Basissatzes vorgeschlagen. Um das Einkommensniveau der arbeitswilligen Hilfebedürftigen zu sichern, sollten Kommunen oder Leiharbeitsfirmen diejenigen beschäftigen, die in der kurzen Frist keine Arbeit finden würden. Bei Umsetzung der »Aktivierenden Sozialhilfe« sollte die Zahl der Arbeitslosen um 2 Millionen sinken. Als die HartzKommission im August 2002 ihren Bericht vorstellte, fanden sich darin fast alle diese Elemente wieder. 2003 veröffentlichte HWS das Buch Ist Deutschland noch zu retten?, in dem er die Notwenigkeit der vorgeschlagenen Reformen einer breiten Öffentlichkeit erklärte. Auch die Schröder-Regierung setzte viele der in der »Aktivierenden Sozialhilfe« vorgeschlagenen Elemente im Hartz-IV-Gesetz, das Anfang 2005 in Kraft trat, um. Die Hinzuverdienstmöglichkeiten wurden jedoch weniger großzügig ausgestaltet, da man den Basissatz nicht absenken wollte. Deshalb waren auch die 95 Wolfgang Wiegard HWS: »FALSCHER PROPHET« ODER IDEENGEBER FÜR DIE AGENDA 2010? Ist Deutschland noch zu retten? Wolfgang Wiegard war bis 2011 Professor für Volkswirtschaft in Regensburg und Tübingen. Seit 1990 gehört er dem Wissenschaftlichen Beirat beim BMF und seit 2003 der Bayerischen Akademie der Wissenschaften an. Von 2001 bis 2011 war er Mitglied und von 2002 bis 2005 Vorsitzender des Sachverständigenrates. 96 1. Prolog »Die Wirtschaft stagniert, die Hiobsbotschaften häufen sich. Monat für Monat gibt es neue Pleiterekorde, viele Unternehmen stecken in einer schweren Krise, die Arbeitslosigkeit nimmt immer bedrohlichere Ausmaße an … Deutschland ist der kranke Mann Europas, ist nur noch das Schlusslicht beim Wachstum …« Mit dieser Zustandsbeschreibung der deutschen Wirtschaft beginnt der Prolog (S. 13) in Hans-Werner Sinns legendärem, erstmals im Oktober 2003 veröffentlichtem Buch Ist Deutschland noch zu retten?. Als Medizin verabreicht HWS der kränkelnden deutschen Volkswirtschaft ein »6 + 1-Programm«, bestehend aus drei arbeitsmarktpolitischen, zwei sozialpolitischen Komponenten sowie einem Steuerreformvorschlag und einer Reformagenda für die neuen Bundesländer. Nach wenig mehr als einer Dekade fällt eine Bestandsaufnahme der deutschen Wirtschaft völlig anders aus : Deutschland ist seit einigen Jahren zur Wachstums- und Konjunkturlokomotive Europas geworden, die (harmonisierte) Arbeitslosenquote ist die niedrigste in der EU, die deutschen Unternehmen behaupten sich im internationalen Wettbewerb, die öffentlichen Haushalte weisen Finanzierungsüberschüsse aus. War oder ist HWS ein Schwarzmaler, ein »falscher Prophet« (Handelsblatt, 16. – 18. Januar 2015), ein »Prof. Propaganda« (SPIEGEL 29/ 2012) ? Im Gegenteil : Seine damaligen Analysen und Reformvorschläge haben mit dazu beigetragen, dass die Wirtschaftspolitik auf die desolate Lage reagiert und mutige Reformen implementiert hat. Dies gilt vor allem im Hinblick auf den Arbeitsmarkt und die Sozialpolitik. 2. Arbeitsmarkt- und sozialpolitische Reformen Arbeitsmärkte und Sozialpolitik stehen im Mittelpunkt der Sinn’schen Reformagenda für die Anfang bis Mitte des letzten Jahrzehnts dahin- mit soll rein umverteilungsbedingten Wanderungsanreizen begegnet werden, indem der Bezug bestimmter steuerfinanzierter Sozialleistungen während einer Übergangsfrist begrenzt wird. Der Wissenschaftliche Beirat beim Bundesministerium der Finanzen hat in seinem Gutachten »Freizügigkeit und soziale Sicherung« (2000) ganz ähnliche Überlegungen und Reformoptionen vorgestellt. Die Aktualität dieser Überlegungen zeigt sich im Übrigen in der im Zusammenhang mit dem angekündigten Referendum zur britischen EU-Mitgliedschaft aufgestellten Forderung von Premierminister David Cameron, Zuwanderer aus anderen EU-Ländern vorübergehend vom Bezug steuer finanzierter Sozialleistungen auszuschließen. Vorschläge zur Reform der Rentenversicherung (Kapitel 3) und für eine radikale Steuer reform rundeten das Programm für einen Neuanfang der deutschen Wirtschaft ab. Mit dem Konzept der »Dualen Einkommensteuer« sind dabei die Vorstellungen von HWS, ifo Institut und Sachverständigenrat über ein investitionsund wachstumsfreundliches Steuersystem einmal mehr nahezu deckungsgleich. 3. Epilog Mit einer Auflage von insgesamt über 110 000 Exemplaren, mit einer eigenen Fernsehreihe in BR Alpha und einer Hörbuch-Version mit einer Laufzeit von 15 : 30 Stunden gehört Ist Deutschland noch zu retten? zu den erfolgreichsten deutschsprachigen Wirtschaftsbüchern überhaupt. Der Einfluss auf wissenschaftliche Mitstreiter, etwa in den Beiräten oder im Sachverständigenrat, war enorm. Auch in der Wirtschaftspolitik hat die damalige Reformagenda tiefe Spuren hinterlassen, indem die Hartz-Reformen und die Agenda 2010 zentrale Ideen von HWS aufgenommen haben. Von derartigen Erfolgen kann man als Ökonom nur träumen. Ist Deutschland noch zu retten? Hans-Werner Sinn und die arbeits- und sozialpolitischen Reformen siechende deutsche Wirtschaft. Zu hohe Lohnkosten, ein rigider Kündigungsschutz, vor allem aber Fehlanreize im Lohnersatzsystem des deutschen Sozialstaats werden als Hauptgründe für die zu Beginn des Jahrtausends dramatisch hohe und zunehmende Arbeitslosigkeit in Deutschland identifiziert. Als Heilmittel werden zum einen die Forderung nach einer Senkung der Stundenlöhne über eine Verlängerung der Arbeitszeiten (ohne Lohnausgleich) sowie über flexible Öffnungsklauseln in den Tarifverträgen empfohlen. Derartige Öffnungsklauseln sind mittlerweile fester Bestandteil nahezu aller Tarifverträge. Zum anderen hat das ifo Institut als Reaktion auf die hohe Arbeitslosigkeit speziell unter Niedrigqualifizierten mit der »Aktivie renden Sozialhilfe« schon 2002 ein innovatives Reformkonzept vorgelegt. Sowohl der Wissenschaftliche Beirat beim Bundesministerium für Wirtschaft als auch der Sachverständigenrat – und damit zwei der wichtigsten Gremien des institutionalisierten wirtschaftswissenschaftlichen Sachverstands in Deutschland – haben diesen Vorschlag mit einigen Modifikationen übernommen und ergänzt. Die grundlegende Idee ist dabei ebenso einfach wie bestechend : Produk tivitätsbedingt niedrige Löhne werden durch staatliche Lohnzuschüsse aufgestockt, so dass gleichzeitig mehr Arbeitsplätze im Niedrigqualifikationssegment angeboten und Anreize zur Annahme einer entsprechenden Beschäftigung ausgeübt werden. Im Kern wurden diese Ideen mit der Agenda 2010 und der Hartz-IV-Gesetzgebung auch von der Politik aufgegriffen, allerdings nicht vollständig umgesetzt. Ebenfalls in der Schnittmenge von Arbeitsmarkt- und Sozialpolitik liegt der im Vorfeld der EU-Osterweiterung von HWS und Mit arbeitern des ifo Instituts ausgearbeitete Vorschlag einer »selektiv verzögerten Integration« von Zuwandernden aus EU-Ländern in die sozialen Sicherungssysteme der Gastländer. Da- 97 Dieter Hundt AUF DEM ERREICHTEN NICHT AUSRUHEN, SONDERN HERAUSFORDERUNGEN ANNEHMEN Ist Deutschland noch zu retten? Dieter Hundt war von 1996 bis 2013 Präsident der Bundesvereinigung der Deutschen Arbeitgeberverbände. Seit Januar 2008 amtiert er als Präsident der Deutschen Handelskammer in Österreich. 2010 wurde ihm von der Landes regierung Baden-Württemberg der Ehrentitel Professor verliehen. 98 Es ist über zehn Jahre her : »Kranker Mann Europas« – so urteilte das Ausland damals über Deutschland. Verkrustete Strukturen am Arbeitsmarkt, starres Besitzstandsdenken sowie zu hohe Steuern und Sozialabgaben produ zierten wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Stillstand und steigende Arbeitslosigkeit. Die wirtschaftliche Misere war auch eine soziale Misere. Über 5 Millionen Menschen hatten keine Arbeit – Tendenz steigend. An grundlegenden arbeits- und sozialpolitischen Reformen führte daher kein Weg vorbei. Diese verlangten allerdings Mut und Entschlossenheit. Dafür stand vor allem die Agenda 2010. Sie brachte die Wende zum Besseren. Besonders bedeutsam ist aus heutiger Sicht die damit geschaffene Flexibilität am Arbeitsmarkt – gepaart mit funktionierender Sozialpartnerschaft und verantwortungsvoller Tarifpolitik. Das ist gelungen und hat Wirtschaft und Gesellschaft in Deutschland neu belebt. Die Erfolge kamen mit Zeitverzögerung, sie sind aber längst deutlich messbar und vorzeigbar : Noch nie konnten so viele Menschen in Deutschland einer Erwerbstätigkeit nachgehen wie heute. In kaum einem anderen Land Europas sind anteilig so viele exzellent qualifizierte Frauen beschäftigt wie in Deutschland. Die Beschäftigung Älterer ist seit 2000 von 37 % auf 66 % gestiegen. Heute sind fast 4 Millionen Menschen mehr sozialversicherungspflichtig tätig als 2005. Die Zahl der Arbeitslosen ist in diesem Zeitraum um über ein Drittel gesunken, die der Langzeitarbeitslosen hat sich halbiert. Früher ging die Entwicklung in die entgegengesetzte Richtung. Die gesamte Nachkriegsgeschichte unseres Landes war geprägt durch eine ständig steigende Sockelarbeitslosigkeit. Zu den Schwächsten einer Gesellschaft zählen die dauerhaft von Erwerbsarbeit Ausgeschlossenen. Diese Gruppe wurde mit jedem Konjunkturzyklus größer. Erst die Agenda 2010 brach diesen unter sozialen Gesichtspunkten skandalösen Trend und kehrte ihn um : Lang- Professor Sinn hat für die Agenda 2010 intensiv geworben und sie mit seiner exzellenten ökonomischen Kompetenz immer eng begleitet. Das rechne ich ihm hoch an. Unser Land darf sich jedoch nicht auf dem Erreichten ausruhen, sondern muss sich weiterhin ständig veränderten Herausforderungen stellen. Es bleibt viel zu tun – sei es bei der weiteren Verbesserung der Arbeitsmarktchancen von Geringqualifizierten und Langzeitarbeitslosen, einer zeitgemäßen Gestaltung der Arbeitswelt, einer weiterhin dringend notwendigen Entbürokratisierung oder der Senkung der Arbeitskosten. Nicht minder bedeutsam ist die Bekämpfung des Fachkräftemangels, der uns vor wachsende Aufgaben stellt. Ihn nicht zu meistern hieße, hinter die Zeit vor der Agenda 2010 zurückzufallen. Deutschlands Kapital sind seine Fachkräfte. Umso mehr sehe ich mit Sorge, dass die Politik in der jüngsten Vergangenheit Entscheidungen getroffen hat, welche die Erfolge der Vergangenheit und die Lage auf dem Arbeitsmarkt gefährden. Dazu zählt vor allem die Einführung des gesetzlichen Mindestlohns oder die abschlagsfreie Rente mit 63. Professor Hans-Werner Sinn hat auch dies zu Recht moniert und immer wieder vor Risiken für den Arbeitsmarkt gewarnt. Wir dürfen die derzeit erfreu liche wirtschaftliche Lage in Deutschland nicht als gottgegeben betrachten, sondern müssen auf der Hut sein. Wir haben die Pflicht, über den Tellerrand zu schauen, an kommende Generationen zu denken und Sorge zu tragen, dass wir unseren mühsam erarbeiteten Status nicht nur be wahren, sondern unsere Wettbewerbsfähigkeit weiter und stetig steigern. Die Politik ist gut beraten, verstärkt in diesem »Sinn« zu handeln. Ist Deutschland noch zu retten? Hans-Werner Sinn und die arbeits- und sozialpolitischen Reformen zeitarbeitslose sowie nicht oder nur Gering qualifizierte haben seitdem deutlich bessere Chancen auf einen Einstieg in Arbeit und notwendige Qualifizierungsförderung. Unternehmen müssen sich heute blitzschnell auf plötzlich veränderte Marktgegebenheiten einstellen, wenn sie sich im harten Wettbewerb erfolgreich behaupten wollen. Für diese Anpassungsfähigkeit brauchen sie flexible Beschäftigungsformen – nicht massenhaft, aber in angemessenem Umfang. Auch das erkannten die Reformer der Agenda 2010. Zeitarbeit, Teilzeit, Befristungen, Minijobs wurden zu Recht bürokratisch entrümpelt. Nachweislich falsch ist es, wenn behauptet wird, sie verdrängten in großem Stil Normalarbeitsverhältnisse. Im Ge genteil : Gerade die flexiblen Erwerbsformen schaffen gesamtwirtschaftlich zusätzliche Beschäftigung. Wer den Eindruck erweckt, das Aufbrechen verkrusteter Strukturen produziere vor allem Verlierer, sendet fatalerweise das falsche Signal gerade in die Länder Europas, die heute gegen hohe Arbeitslosigkeit ankämpfen. Dies ist verantwortungslos gegenüber all den Ländern, die zu Reformen bereit sind und diese auch dringend benötigen. Die Erfahrung des letzten Jahrzehnts in Deutschland beweist : Der Turn around ist zu schaffen, auch wenn Reformen zweifelsohne teilweise schmerzhaft sind. Dafür steht die Agenda 2010, die nicht kopierbar ist, aber anderen Ländern Mut machen kann, den eigenen Weg zu notwendigen Strukturreformen beherzt zu gehen. Natürlich meldeten sich bei der Einführung der Agenda 2010 neben Befürwortern auch viele Kritiker zu Wort. Professor Hans-Werner Sinn gehört zu denjenigen, die frühzeitig die Notwendigkeit für Veränderungen erkannten und nicht müde wurden, diese einzufordern. 99 Peter Hartz DIE LANGZEIT- UND JUGENDARBEITSLOSIGKEIT IST IN DER SOZIALEN MARKT WIRTSCHAFT LÖSBAR Ist Deutschland noch zu retten? Peter Hartz, Diplom-Betriebswirt, war Vorstand und Arbeitsdirektor im Volkswagenkonzern und in der saarländischen Stahlindustrie. Er war Vorsitzender der Regierungskommission »Moderne Dienstleistungen am Arbeitsmarkt« und ist Stifter und Gründer der SHS Foundation für regionale Entwicklungen. 100 Hans-Werner Sinn schrieb in einem Beitrag Wie Deutschland zu retten wäre im Oktober 2005 : »Jeder muss nach seinen Fähigkeiten arbeiten, wenn er ein auskömmliches Einkommen erhalten will, und wer dabei nicht genug verdient, der bekommt vom Staat noch etwas hinzu. Das ist die neue Devise !« So kann man eine der Leitideen der Arbeitsmarktreform unter Bundeskanzler Gerhard Schröder erklären : Leistung auslösen – Sicherheit einlösen. Arbeit bedeutet für jeden Menschen, gebraucht zu werden, seine Würde und seine Selbstachtung nicht zu verlieren. Jeder Mensch braucht eine Perspektive für sich, seine Arbeit, sein Einkommen. Besteht diese Per spektive oder lässt sie sich entwickeln und gestalten, so wird man auch mit der temporären Zumutbarkeit neuer Entwicklungen ganz anders umgehen. Die Zumutbarkeit für die Aufnahme einer neuen Arbeit wurde in der Arbeitsmarktreform neu definiert und verschärft. Dies ist eine der Kernideen der Reform : Was ist für einen Arbeitslosen zumutbar ? Die Reformkommission hat dies nach geographischen, materiellen, funktionalen und sozialen Kriterien neu formuliert. Zum Beispiel : Kann einem jungen alleinstehenden Arbeitslosen hinsichtlich der Mobilität mehr zugemutet werden als einem Familienvater mit Kindern und einer kranken Frau ? In der neuen Zumutbarkeit ist ein Paradigmenwechsel enthalten. Bisher musste die Arbeitsagentur beweisen, dass die Arbeit für den Arbeitslosen zumutbar war. Nun gilt, dass der Arbeitslose beweisen muss, warum die abgelehnte Beschäftigung für ihn unzumutbar ist. Minijobs sind zumutbar und ein effizientes Flexibilisierungsinstrument der Wirtschaft. Ihre Einkommensmöglichkeiten sollten atmen mit der Absicherung einer menschenwürdigen Grundsicherung durch das Arbeitslosengeld II. style-Entwicklung für jedes (Sinus-)Milieu der Bevölkerung in Beschäftigung münden können. Rund 150 neue und entwickelbare Dienstleistungen wurden in die sieben folgenden Jobfamilien : Familien-Dienste, Nachhilfe, Zu Hause betreut, Gesundheit + Wohlgefühl, Natur + Garten, Kleinunternehmer-Dienste, Handgemacht, aggregiert. Sie bilden die Basis für eine Markterhebung im Umkreis des Lebensmittelpunktes der jobsuchenden Talente. Neue zusätzliche Arbeitsplätze entstehen – marktwirtschaftlich organisiert. Wenn ein Arbeitsloser sich selbst zum Projekt macht und die Selbständigkeit wagt – ein Minipreneur wird –, sollte er in der Startphase befristet in einer Staffelung unterstützt werden. Mit dem Minijob und als Aufstocker beginnt er und baut ihn aus zum Vollzeitjob mit Sozialver sicherung. Die volkswirtschaftlich vertretbare Grenze der Förderung könnte bis zur Höhe des »Aktiv-Passiv-Tausches« der Kosten seiner Arbeitslosigkeit und des ALG II gehen. Dank und Anerkennung gebühren Professor Hans-Werner Sinn. Ein neuer Horizont tut sich für ihn auf. Die Aufhebung der Altersgrenze und ein neu entwickeltes Arbeitszeitmodell für Longinos/Longinas. Die Hochaltrigen beginnen als Longino-Junior von 70 bis 75 Jahren, als Longino-Klassik von 76 bis 85 Jahren, als Longino-Senior von 86 bis 95 Jahren open end, das hinzugewonnene Lebensalter wertschöpfend oder altruistisch mit ihren Talenten neu zu leben. Schöne Perspektiven für ihn heute als Anwärter. Ist Deutschland noch zu retten? Hans-Werner Sinn und die arbeits- und sozialpolitischen Reformen Übrigens hatte die Kommission der Arbeitsmarktreform in diesem Zusammenhang schon 2002 einen durchschnittlichen Regelsatz in Höhe von 511,00 Euro vorgeschlagen, was dem damaligen Durchschnitt der Arbeitslosenhilfe entsprach. Seit der Arbeitsmarktreform sind nun mehr als zehn Jahre vergangen. Wissenschaft und Forschung haben sich gottlob stürmisch weiterentwickelt. Zwei neue Tools entstanden bei den Neuentwicklungen, die besonders viel versprechend sind : die Talentdiagnostik und der Beschäftigungsradar. Heute ist es mit Hilfe von Big Data und einer entwickelten Software möglich, die Talente jedes Menschen – und jeder Mensch hat Talente – aufzuspüren und in der Gesamtheit seiner Erfahrungen zu erfassen, was er damit noch machen kann, auch bei gebrochenen Lebensläufen. Dies ist besonders hilfreich für Langzeitarbeitslose und jugendliche Arbeitslose. Die Talentdiagnostik ermöglicht für diese Gruppen, in einem Matching-System zu erfahren, in welchem Ranking sie für einzelne Tätigkeiten geeignet sind – eine wirksame Unterstützung bei der Neuorientierung für eine Beschäftigung, insbesondere wenn bei der Dauer der Arbeitslosigkeit eine »erlernte Unsicherheit« durch Verhaltensänderung eingetreten ist. Wenn Sie die Talente kennen, wo ist nun der neue Job ? Wo entsteht er ? Mit Hilfe des neu entwickelten Beschäftigungsradars können wir nun bis auf Straßenebene eines Ortsteils herausfinden und messen, welche neuen Bedürfnisse und Dienstleistungen aufgrund der Life- 101 Peter Birch Sørensen HANS-WERNER SINNS BLAUPAUSE FÜR EINE ARBEITSMARKTREFORM UND DIE SKANDINAVISCHE ALTERNATIVE Ist Deutschland noch zu retten? Peter Birch Sørensen ist Professor für Volkswirtschaftslehre an der Universität Kopenhagen. Er war Vorsitzender des dänischen Sachverständigenrates, Chefvolkswirt der dänischen Zentralbank und diente in Regierungsausschüssen in Skandinavien. Zurzeit sitzt er dem dänischen Rat für Klimapolitik vor. 102 In seinem Bestseller Ist Deutschland noch zu retten? beschreibt Hans-Werner Sinn vier Wege, die ein Land gehen kann, um dem internationalen Niedriglohnwettbewerb zu entgegnen. Erstens, den deutsch-französischen Weg mit starken Gewerkschaften und hohen Sozialleistungen, die die Lohnverteilung stauchen und Arbeitsplätze vernichten, die sonst vorhanden wären. Zweitens, den britischen von Thatcher mit einer vollständigen Liberalisierung des Arbeitsmarktes, einer Bekämpfung der Gewerkschaften, einer höheren Lohnspreizung sowie einem Abbau des Sozialstaats. Drittens, den skandinavischen Weg einer Sozialpartnerschaft mit den Gewerkschaften, die die Arbeitsnachfrage hoch hält, indem denjenigen Arbeitsplätze im öffentlichen Dienst angeboten werden, die keine Beschäftigung in der Privatwirtschaft finden. Viertens, den amerikanischen Weg, einen freien Arbeitsmarkt durch Lohnzuschüsse zu ergänzen. Sinn bemerkte, dass das deutsch-französi- sche Modell bis dahin insofern erfolgreich war, als es Geringqualifizierten ein gewisses Lohnniveau erhielt, jedoch zu hoher Arbeitslosigkeit führte. (Er schrieb sein Buch, bevor die HartzReformen ihre Wirkung entfalteten.) Das britische und das amerikanische Modell waren zwar erfolgreicher bei der Schaffung neuer Arbeitsplätze. Sie produzierten aber auch eine große Gruppe von Erwerbsarmen, die trotz Lohnzuschüssen aufgrund ihrer niedrigen Löhne kein annehmbares Leben führen können. Das skandinavische Modell vermeidet Armut und hohe Arbeitslosigkeit, aber nach Sinns Ansicht nur, weil eine große Zahl wenig produktiver Arbeitsplätze im öffentlichen Dienst geschaffen wurde, die immer schwerer zu finanzieren ist. Vor diesem Hintergrund schlug Sinn eine Reform des Arbeitsmarktes nach amerikanischem Vorbild vor, aber mit großzügigeren Lohnzuschüssen, um den kontinentaleuropäischen Präferenzen gerecht zu werden. Er empfahl eine Schwächung der Gewerkschaftsmacht dass dies unter der Annahme von Skalenvor teilen und positiven Externalitäten Effizienz fördern kann. Zugegeben, eine Stauchung der Lohnver teilung macht es Geringqualifizierten schwerer, einen Job zu finden, und verringert die private Rendite auf Weiterbildung. Aber durch die erhöhten Qualifikationsanforderungen der Unternehmen und die Gefahr der Arbeitslosigkeit steigern relativ hohe Löhne auch den Anreiz, sich die geforderten Fähigkeiten anzueignen, die nötig sind, um einen Arbeitsplatz zu finden. Die skandinavischen Wohlfahrtsstaaten unterstützen daher die Erwachsenenbildung und die Weiterbildung Geringqualifizierter sehr. Es ist ein Fakt, dass die Arbeitslosigkeit unter geringqualifizierten Skandinaviern im internatio nalen Vergleich nicht hoch ist. Hans-Werner Sinn behauptet, dass die offi ziellen Statistiken für das Bruttoinlandsprodukt pro Kopf die relativ hohe Prosperität der skandinavischen Länder überzeichnen, da in anderen Ländern ein größerer Anteil von Aktivitäten wie der Kinderbetreuung und Altenpflege im inoffiziellen Haushaltssektor erbracht werden. Jedoch sind die staatlichen Einrichtungen für Kinder und ältere Menschen ein wichtiger Faktor für die hohe Frauenerwerbsquote in Skandinavien, die eine breite steuer liche Basis sicherstellt und die Finanzierung des Wohlfahrtsstaates ermöglicht. Das skandinavische Sozialmodell ist bei weitem nicht perfekt. Jedoch hat es bis heute einen hohen Beschäftigungsstand und eine geringe Ungleichheit ermöglicht. Beides ist verant wortungsvollem gewerkschaftlichem Verhalten, verschiedenen staatlichen Mechanismen der Risikoteilung sowie Arbeitsmarktreformen im Sinne von Hans-Werner Sinn zu verdanken. Skandinavien ist ein Stück in die von ihm vorgeschlagene Richtung gegangen, aber ohne das Kind mit dem Bade auszuschütten. Ist Deutschland noch zu retten? Hans-Werner Sinn und die arbeits- und sozialpolitischen Reformen durch eine dezentralere Lohnfindung und eine Lockerung des Kündigungsschutzes. Ein wei teres Element seines Reformpakets war das Konzept des ifo Instituts für eine Aktivierende Sozialhilfe. Sie beinhaltete eine Kürzung von Sozialleistungen in Kombination mit einem Lohnzuschuss für Geringverdiener, die einen Job finden. Ich bezweifle nicht, dass eine solche Arbeitsmarktreform in dem Sinne erfolgreich sein könnte, dass sie neue Arbeitsplätze für Geringqualifizierte schaffen würde. Ich fürchte aber, dass sie mehr Härten mit sich bringen würde für jene, die weiterhin arbeitslos blieben. Und obgleich das skandinavische Modell seine Schwächen hat, glaube ich, dass Sinns Beurteilung diesbezüglich zu negativ ist. Erstens wurde die anhaltend hohe Beschäf tigung in Skandinavien in der jüngsten Phase der Globalisierung nicht durch eine Ausdehnung des öffentlichen Sektors erreicht. Seit 1980 ist der Anteil der Staatsbediensteten an der Gesamtbeschäftigung nahezu konstant. Zweitens ist der öffentliche Sektor kein »Arbeitgeber der letzten Instanz« für Geringqualifizierte. Der Anteil der Staatsbediensteten mit höherer Bildung ist deutlich größer als irgendwo sonst in der OECD. Es sind überwiegend Fachkräfte wie Krankenschwestern und Lehrer. Drittens haben die starken Gewerkschaftsbündnisse ein hohes Maß an Koordination bei den Tarifverträgen ermöglicht, was einer Lohnzurückhaltung in Krisenzeiten Vorschub geleistet hat. Viertens kann die Stauchung der Lohnverteilung infolge großer Gewerkschaftsmacht dazu beitragen, dass hochproduktive Unternehmen zulasten geringproduktiver expandieren, da innerhalb der ersten Gruppe die Löhne unter der Arbeitsproduktivität liegen und innerhalb der zweiten darüber. Der verstorbene schwedische Ökonom Jonas Agell hat gezeigt, 103 Alfred Gaffal MIT »SINN« UND VERSTAND: LEIDENSCHAFTLICHER VERTEIDIGER DER SOZIALEN MARKT WIRTSCHAFT Ist Deutschland noch zu retten? Alfred Gaffal ist Präsident der vbw – Vereinigung der Bayerischen Wirtschaft e. V. sowie der bayerischen Metall- und Elektroarbeit geberverbände bayme vbm. Er war viele Jahre lang Vorsitzender der Geschäftsführung der Wolf GmbH. Seit 2011 steht er dem Aufsichtsrat des Unternehmens vor. 104 Bayern, Deutschland und Europa gehen durch bewegte Zeiten. Unser erfolgreiches System der Sozialen Marktwirtschaft wird mehr und mehr in Frage gestellt. Diese tiefgreifenden Prozesse haben Auswirkungen auf unsere gesamte Gesellschaft – spürbar in jeder Kommune genauso wie in der gesamten Europäischen Union, spürbar in jedem mittelständischen Unternehmen genauso wie bei einem »Global Player«. Positive wirtschaftliche Entwicklungen hängen in hohem Maße von Planungssicherheit und Vertrauen in die Handlungsfähigkeit der Politik ab. Reformen des Gemeinwesens und der Arbeitswelt sind angesichts des digitalen und gesellschaftlichen Wandels in den Industrienationen unausweichlich und müssen kraftvoll umgesetzt werden. Die zunehmende Emotionalisierung der dazu notwendigen öffentlichen De batten behindert oder verhindert oft wichtige Entscheidungen und zukunftsweisende Weichenstellungen. Sachliche Inhalte und fundierte Argumente treten davor oft in den Hintergrund. Gerade deshalb ist Hans-Werner Sinn ein herausragender Wissenschaftler, der mit dem ifo Institut einen großen Beitrag leistet, ökonomische Debatten zielführend zu versachlichen. Sein jahrzehntelanges akademisches Wirken in den Wirtschaftswissenschaften, seine exzellente Arbeit an der Spitze des ifo Instituts und seine persönliche Integrität haben ihn zu einer anerkannten Persönlichkeit über politische und gesellschaftliche Grenzen hinweg werden lassen. Das Hauptaugenmerk der vbw – Vereinigung der Bayerischen Wirtschaft e. V. liegt auf der Wahrung der Wettbewerbsfähigkeit der Unter nehmen in Bayern. Gerade vor dem Hintergrund der jüngsten politischen Entscheidungen, die diese Konkurrenzfähigkeit beeinträchtigen, war und ist es wohltuend, in Hans-Werner Sinn einen der einflussreichsten Wirtschaftsexper ten des Landes zu wesentlichen Fragen der Ausrichtung und Gestaltung der Wirtschaftspolitik an unserer Seite zu wissen. haltig. Seine Forderung, die Löhne an der realen Nachfrage nach einer bestimmten Arbeit zu orientieren, entspricht dabei einmal mehr der Ansicht der vbw. Nicht nur Sinns Beiträge zu aktuellen poli tischen Entwicklungen treffen nach Überzeugung der vbw ins Schwarze, sondern auch seine begründeten Warnungen vor den Folgen des demographischen Wandels. Politik reagiere meist erst, wenn das Kind schon in den Brunnen gefallen ist, so Sinn. Recht hat er : Die Bevölkerungsentwicklung in der Bundesrepublik stellt die Unternehmen zunehmend vor Probleme. Nicht zuletzt dank seiner Warnung hat die Politik das Thema in der letzten Dekade auf die politische Agenda gesetzt. Langfristig wird es elementarer arbeits-, bildungs- und sozialpolitischer Veränderungen bedürfen, um den Anforderungen der Arbeitswelt im 21. Jahrhundert gerecht zu werden und den Wohlstand der Nation zu sichern. Dabei werden auch die Digitalisierung unserer Lebens- und Arbeitswelt sowie die Frage, wie wir unser Zusammenleben innerhalb der Europäischen Union weiter gestalten, eine zentrale Rolle spielen. Hans-Werner Sinn versteht es wie kein Zweiter, den Finger in die Wunde zu legen. Seine pointierte Meinung polarisiert und hat bisher stets Anstoß zur Diskussion in Wirtschaft, Politik und Gesellschaft gegeben – Mission erfüllt ! Die vbw hat in ihm stets einen Streiter für das gemeinsame Anliegen gefunden : die erfolgreiche Gestaltung unseres Gemeinwesens auf Basis der Sozialen Marktwirtschaft. In diesem Sinne wünschen wir Hans-Werner Sinn für die Zukunft nur das Beste, in der Überzeugung, dass er weiter Sachwalter der Sozialen Marktwirtschaft bleibt. Seinem Nachfolger, Clemens Fuest, und dem ifo Institut wünschen wir, ihren großen ökonomischen Sachverstand gewinnbringend für unsere globale Wirtschaft einzubringen. Ist Deutschland noch zu retten? Hans-Werner Sinn und die arbeits- und sozialpolitischen Reformen Die große Koalition hat seit Beginn ihrer egislaturperiode vor rund zwei Jahren ReforL men angestoßen, die das Wirtschaftswachstum und damit den Wohlstand aller im Lande bedrohen. Die Rente mit 63 entzieht den Unternehmen Fachkräfte, ohne an anderer Stelle für Ausgleich zu sorgen. Das niedrigere Renteneintrittsalter erhöht den Mangel an gut ausgebildeten Arbeitnehmern drastisch und vollkommen ohne Not. Hans-Werner Sinn schaltete sich hier mit zukunftsgerichteten Vorschlägen ein, denen wir uns als Vertreter der bayerischen Wirtschaft vorbehaltslos anschließen können : Eine Flexibilisierung des Rentenalters würde dem einzelnen Arbeitnehmer die Selbstverantwortung zugestehen, die andere Bereiche des Lebens ohnehin einfordern. Zudem ließe sich eine übermäßige Belastung der Staatskasse verhindern, und es würde ein Beitrag zur Fachkräftesicherung geleistet. Die gleiche treffsichere Analyse hat Sinn in der emotional geführten Diskussion um die Einführung eines flächendeckenden gesetzlichen Mindestlohns geliefert : Auch hier wurde ohne Rücksicht auf realwirtschaftliche Umstände ein Wahlversprechen eingelöst. Verlierer dieser Neuregelung sind insbesondere Langzeitarbeitslose und Geringqualifizierte. Für sie erhöht der Mindestlohn die Hürden für den Eintritt in den Arbeitsmarkt, statt sie abzusenken. Professor Sinn verweist zudem treffend auf die gesamtgesellschaftlichen Probleme, die sich durch den Mindestlohn ergeben : Das künstliche Anheben des Lohnniveaus führt dazu, dass die mühsam aufgebaute internationale Wettbewerbsfähigkeit Deutschlands wieder sinkt. Es ist gerade das politisch initiierte Anschieben von wirtschaftlichen Prozessen, was Sinns zutiefst marktwirtschaftlicher Überzeugung entgegensteht. Zu Recht vertritt er diese Position auch gegenüber Kritikern nach- 105 Joachim Möller REIBEFLÄCHEN: HANS-WERNER SINN UND DIE UNVOLLKOMMENHEIT DES ARBEITSMARKTES Ist Deutschland noch zu retten? Joachim Möller ist Direktor des Instituts für Arbeitsmarkt- und Berufsforschung (IAB), der Forschungseinrichtung der Bundesagentur für Arbeit in Nürnberg, außerdem hat er den Lehrstuhl für Volkswirtschaftslehre an der Universität Regensburg inne. 106 Die Ökonomie als Wissenschaft kennt nicht die eine Wahrheit. Ökonomen sind Anwälte von Ideen. Und Hans-Werner Sinn ist zweifellos ein Staranwalt. Seine Plädoyers zwingen zur Präzisierung des eigenen Arguments, insbeson dere wenn es im Widerspruch zu seinen steht. Das ökonomische Prinzip und die Selbst regulation des Marktsystems über Wettbewerb, Preis- und Lohnmechanismen sind faszinierende Ideen, die seit 200 Jahren Ökonomen in ihren Bann ziehen. Dieses Prinzip bildet die Grundlage unseres Wirtschaftssystems und steht letztlich für seinen Erfolg. Bei den apotheotischen Ansätzen wird den wirtschaftlich Handelnden jedoch ein sehr weitgehendes Optimierungsverhalten unterstellt. Nutzen und Gewinne werden nicht nur momentan maximiert, sondern intertemporal. Dies bringt in der Theorie die beste aller Wirtschaftswelten hervor. Die real existierende Marktwirtschaft führt jedoch keineswegs immer und überall zu Ef fizienz und Leistungsgerechtigkeit, und sie trägt – wie wir in der Finanzkrise 2008/2009 erlebt haben – eine Krisentendenz in sich. Die Hochglanz-Modellwelt steht oft allzu sehr im Kontrast zur rauen Wirklichkeit, und die Logik der ungeregelten Marktmechanik ist vielfach alles andere als eine gesellschaftlich optimale Lösung. Ein Markt mit besonders ausgeprägten Unvollkommenheiten ist der Arbeitsmarkt. Hier bestehen hohe Transaktionskosten und Informationsdefizite. Kann man dennoch davon ausgehen, dass er grundsätzlich wie ein Wettbe werbsmarkt funktioniert ? Hans-Werner Sinns Sicht des Arbeitsmarktes unterstellt dies, und hier bieten sich meine größten Reibeflächen mit ihm. Die Beschäftigung wird nach seiner Denkweise so angepasst, dass der Lohn dem Wertgrenzprodukt entspricht. Wenn zum Beispiel durch Gewerkschaftsmacht oder durch einen Mindestlohn zu hohe Löhne festgelegt werden, verlieren die am wenigsten Produk tiven ihren Arbeitsplatz. Konsequenterweise deutlichen Beschäftigungseffekt gegeben. Herz stück der ursprünglichen Hartz-Reformen war es, alle Arbeitslosen billig an die Privatwirtschaft zu verleihen.« Dies wirkt aus heutiger Sicht eher wie eine bizarre Idee : Ein durch öffentliche Institutionen betriebenes Leiharbeitsgeschäft mit der Privatwirtschaft zu Niedriglöhnen (»30 % unter Tarif«) als Motor des Arbeitsmarktentwicklung. Tatsache ist, dass es ganz ohne dieses »Herzstück« der Reformen im Zeitraum 2005 bis 2008 zu einem Abbau der Arbeitslosigkeit um 40 % kam. Vieles, was Hans-Werner Sinn und sein ifo Institut entwickelt haben, ist bedenkenswert. So das Konzept einer Aktivierenden Sozialhilfe, das Elemente einer negativen Einkommensteuer aufnimmt. In Kombination mit einem kompromisslosen Workfare-Ansatz ist der Vorschlag allerdings aus meiner Sicht sozial politisch indiskutabel. Ein Mindestlohn ist Sinn zufolge »des Teufels« – durchaus konsequent, wenn der Arbeitsmarkt als Wettbewerbsmarkt gesehen wird. Tatsächlich führt diese Sicht aber zu einer eklatanten Fehleinschätzung seiner Beschäftigungswirkung. Die Einführung des flächen deckenden Mindestlohns in Deutschland hat sich bekanntlich weitgehend geräuschlos vollzogen, von einem massiven Beschäftigungs einbruch kann keine Rede sein. Hegel hat über die kantische Philosophie gesagt, sie habe zu große Zärtlichkeit für die Welt der Dinge und so den Widerspruch von ihr entfernt. Vielleicht hat Hans-Werner Sinn zu große Zärtlichkeit für die Welt des Marktes und so die Unvollkommenheiten von ihr entfernt. Er ist ein herausragender Ökonom und glänzender Rhetoriker, der bisweilen auch provoziert und polarisiert. Seine arbeitsmarktpoli tischen Positionen sind für mich jedoch wenig überzeugend. Ist Deutschland noch zu retten? Hans-Werner Sinn und die arbeits- und sozialpolitischen Reformen lautet Hans-Werner Sinns arbeitsmarktpolitisches Mantra, dass zu hohe Löhne und zu geringe Lohnspreizung die Wurzel jeder Unterbeschäftigungsmisere sind. Das beste Rezept gegen Arbeitslosigkeit sind Lohnsenkungen. Ein Mindestlohn ist kontraproduktiv, weil er es unmöglich macht, Personen mit niedriger Produktivität rentabel zu beschäftigen, und deshalb hohe Jobverluste nach sich zieht. In Deutschland setzte allerdings bereits Mitte der 1990er Jahre eine Lohnmoderation ein, und die Lohnspreizung nahm so stark wie in keinem anderen OECD-Land zu. Dennoch wollten sich Beschäftigungserfolge nicht einstellen. Waren die zum Teil einschneidenden Reallohneinbußen für viele Arbeitnehmer nicht genug ? Auch Jahre nach der Trendwende in der deutschen Lohnpolitik forderte HansWerner Sinn weitere Lohnsenkungen und plädierte für eine noch stärkere Ausweitung des Niedriglohnsektors, dessen soziale Akzeptanz durch einen staatlichen Lohnzuschuss erhöht werden sollte. Die Möglichkeit, dass auch Marktmacht auf der Unternehmensseite und andere Unvollkommenheiten eine Rolle spielen könnten, wird in dieser Sichtweise völlig ausgeblendet. Wenn aber der Arbeitsmarkt tatsächlich wie ein Wettbewerbsmarkt funktionierte, hätte es aufgrund der Lohnentwicklung schon ab Mitte der 1990er Jahre einen nennenswerten Beschäftigungszuwachs geben müssen. Interessanterweise gab es diesen aber erst nach den Arbeitsmarktreformen zehn Jahre später. Obwohl Hans-Werner Sinn für sich geistige Urheberschaft bei zentralen Elementen der Hartz-Reformen reklamiert, zweifelt er in einem Interview von 2005 an deren Beschäftigungserfolg. Ihm zufolge liegt dies am Fehlen einer zunächst vorgesehenen Komponente des Reformpakets : »Wenn das gemacht worden wäre, was Hartz wollte, dann hätte es einen 107 Matthias Wissmann WETTBEWERBSFÄHIGKEIT – DER SCHLÜSSEL ZUM ERFOLG Ist Deutschland noch zu retten? Matthias Wissmann ist Präsident des Verbands der Automobil industrie und BDI-Vizepräsident. Er studierte Jura, VWL und Politik. 1976 – 2007 war er Mitglied des Deutschen Bundestages. In den 1990er Jahren war er zunächst Bundesminister für Forschung und Technologie und dann Bundesminister für Verkehr. 108 Arbeitsplätze fallen nicht vom Himmel. Ebenso wenig können Beschäftigung und Wachstum einfach von staatlicher Ebene verordnet werden. Solche planwirtschaftlichen Konzepte haben sich stets als illusorisch erwiesen. Vielmehr gilt : Einzig und allein Unternehmen, die sich erfolgreich im internationalen Wettbewerb behaupten können, sind in der Lage, dauerhaft ein hohes Beschäftigungsniveau zu gewähr leisten. Diese Betriebe, gerade auch solche des Mittelstands, erwirtschaften erst die finanziellen Mittel, die die öffentliche Hand benötigt, um ein tragfähiges soziales Sicherungsnetz aufspannen zu können. Während diese Kausalität in verteilungspolitischen Diskussionen allzu gern vernachlässigt wird, ist sie für Hans-Werner Sinn der Ausgangspunkt seiner arbeits- und sozialpolitischen Forschung. Für ihn ist klar : Gegen die Kräfte der Globalisierung lässt sich keine erfolgreiche Politik bestreiten. Nostalgie und Schlaraffenländer sind ihm suspekt. Er beklagt nicht, dass der internationale Wettbewerb den Druck auf die industrielle Wertschöpfungs kette stetig erhöht, sondern er will Wege aufzeigen, wie sich die zahlreichen Vorteile und Chancen des globalen Handels nutzen lassen. Dabei lehrt er nicht aus den realitätsfernen Höhen des Elfenbeinturms, sondern er geht den ökonomischen Problemen der Praxis auf den Grund. Entsprechend intensiv widmet sich HansWerner Sinn während der Regierungszeit Schröders den Ursachen für die hohe deutsche Arbeitslosigkeit : Wie kann der arbeitsmarktpolitische Rahmen gestaltet werden, um neues Beschäftigungswachstum zu ermöglichen ? Wel chen Beitrag kann die Politik zur Wettbewerbsfähigkeit des Wirtschaftsstandorts leisten ? Wie kann der Kuchen insgesamt vergrößert werden, bevor die Stücke verteilt werden ? Seine Forschungsergebnisse sind wahrlich nicht bequem, zumal er sie stets pointiert zu präsentieren weiß : Ist Deutschland überhaupt Heute wissen wir : Hans-Werner Sinn hat eine klare und zutreffende Analyse für das deutsche Beschäftigungsproblem geliefert. Die strukturellen Reformen zugunsten von Flexibilität und Wettbewerbsfähigkeit waren zweifellos schmerzhaft, aber ebenso unausweichlich. Das belegt ein aktueller Blick in unsere euro päischen Nachbarländer. Hier haben sich die Arbeitskosten zuletzt ungebremst von der Produktivität entkoppelt – mit fatalen Auswir kungen auf die Wertschöpfung, wie die Produktionsstruktur der Automobilindustrie zeigt. Hierzulande konnte die inländische Produk tion von Pkw seit 2000 nicht nur stabil gehalten, sondern sogar leicht ausgebaut werden. Völlig anders dagegen das Bild in Italien : Hier brach die Inlandsproduktion von 1,4 Millionen Einheiten im Jahr 2000 auf 400 000 Fahrzeuge im Jahr 2014 ein. Ähnlich in Frankreich : Nach 2,9 Millionen Pkw 2000 nur noch 1,5 Millionen produzierte Einheiten 2014. Zum Vergleich : In der Slowakei wurden 2014 über 840 000 Autos gebaut – das sind mehr als doppelt so viele wie in Italien. Im Jahr 2000 lag das Produktions niveau in der Slowakei noch bei 180 000 Ein heiten. Die Beispiele der südeuropäischen Partnerländer und unsere eigene Erfahrung sollten uns Warnung genug sein. Klar ist : Europa kann wirtschaftlich nur eine Zukunft haben, wenn es seine Wettbewerbsfähigkeit stärkt. Auch Deutschland muss achtgeben. Denn die aktu ellen Wettbewerbsvorteile sind schneller verspielt als erarbeitet. Um in schlechten Zeiten auf eine Ernte zurückgreifen zu können, müssen wir in guten Zeiten die Saat in die Erde bringen. In diesem Sinne wird Hans-Werner Sinn hoffentlich weiterhin seine mahnende Stimme erheben – sein Sachverstand ist für unseren Industriestandort Gold wert. Ist Deutschland noch zu retten? Hans-Werner Sinn und die arbeits- und sozialpolitischen Reformen noch zu retten ? Als entscheidende Variable identifiziert er die Lohnkosten, die aus dem Ruder gelaufen sind. Die Tarifstrukturen sind starr, die staatliche Abgabenlast ist erdrückend. Um Produktionsverlagerungen ins Ausland zu verhindern, fordert er tiefgreifende Reformen. Er empfiehlt, den Kräften von Angebot und Nachfrage auf dem Arbeitsmarkt mehr Spielraum zu geben und negativen Anreizwirkungen des Sozialstaats gezielt entgegenzuwirken. Das Konzept der »Aktivierenden Sozialhilfe« ist zweifellos ein wichtiger Diskussionsbeitrag in der Zeit, in der sich die deutsche Arbeits losigkeit ihrem Rekordstand nähert. Natürlich erzeugen seine Rezepte politisch keine Beifallsstürme. Dennoch finden sie Gehör. So werden in der Agenda 2010 richtigerweise einige der reformpolitischen Überzeugungen Hans-Werner Sinns aufgegriffen. Der Arbeitsmarkt wird flexibilisiert und das Prinzip des »Förderns und Forderns« eingeführt. Das Resultat der Reformen kann sich sehen lassen : Deutschland hat mit einem gemeinsamen Kraftakt einen beschäftigungspolitischen Aufschwung erreicht, dem international eine große Aufmerksamkeit zuteilgeworden ist. Die lohnpolitische Zurückhaltung der Sozialpartner hat den Unternehmen die Luft zum Atmen verschafft, die ihnen auszugehen drohte. In der globalen Finanz- und Wirtschaftskrise haben die Entscheidungsträger erneut Seite an Seite gestanden. In den einzelnen Betrieben wurden innovative und vielfältige Flexibilitätsoptionen geschaffen, um die Beschäftigung zu stabilisieren. Die Kurzarbeiterregelung hat sich für die Stammbelegschaften in der Industrie als eine unverzichtbare Brücke erwiesen. Klug handelten die Unternehmen, die Kosten einsparten, zugleich aber nicht ihre Investitionen kürzten. So konnte Deutschland mit seinem starken industriellen Fundament gestärkt aus dem tiefen Konjunkturtal herausfahren. 109 Ronnie Schöb FÜR EINEN AKTIVIERENDEN SOZIALSTAAT Ist Deutschland noch zu retten? Ronnie Schöb war von 1989 bis 2000 Mitarbeiter von Hans-Werner Sinn und hat bei ihm promoviert und habilitiert. In arbeitsmarkt politischen Fragen war er sich mit Hans-Werner Sinn in der Ursachen analyse der Langzeitarbeitslosigkeit weitgehend einig, nicht jedoch bezüglich des besten Lösungs weges. 110 Wer scharf kritisiert, muss zeigen, wie es besser geht ! Deshalb beließen es Hans-Werner Sinn und seine Koautoren im Mai 2002 nicht dabei, zu analysieren, was die Arbeitslosenraten von Rezession zu Rezession immer weiter in die Höhe trieb und einen immer größeren Anteil gering produktiver Arbeitnehmer dauerhaft vom Arbeitsmarkt ausschloss. Vielmehr stellten sie gleichzeitig mit der Analyse der Ursachen einen sehr konkreten und detailliert ausgearbeiteten Vorschlag einer Aktivierenden Sozialhilfe der breiten Öffentlichkeit vor. Für Sinn war der Sozialstaat, so wie er sich vor den Hartz-Reformen präsentierte, Teil des Problems, denn die staatlich garantierte, bedarfsorientierte Grundsicherung sah vor, dass man nur Anspruch auf staatliche Hilfe hatte, wenn man nicht arbeitete. Ein solches System vernichtet damit alle Jobs, bei denen man weniger verdient, als man als Arbeitsloser an Arbeitslosenunterstützung erhalten konnte. Je großzügiger die Unterstützung für die Arbeits- losen ausfällt desto größer die Arbeitslosigkeit. Für Sinn tritt der Sozialstaat damit als Konkurrent der privaten Wirtschaft auf, weil er »ansprechende Löhne fürs Nichtstun auszahlt«. Da es in den privaten Unternehmen zu wenige Arbeitsplätze gab, die rentabel genug waren, um einem Vollzeitbeschäftigten einen existenzsichernden Lohn zu zahlen, waren die Unternehmen schlicht nicht mehr gegenüber dem Sozialstaat konkurrenzfähig. Einen Ausweg aus dieser Situation bietet ein Kombilohn, ein staatlicher Lohnkostenzuschuss, mit dem sich der Keil zwischen den Arbeitskosten für die Unternehmen und dem Nettoeinkommen für die Arbeitnehmer verringern lässt. Damit werden Unternehmen wieder konkurrenzfähiger gegenüber dem Sozialstaat und stellen wieder mehr Arbeitskräfte ein, ohne dass deshalb die Nettolöhne fallen müssen. Dieser Grundidee folgend wollte die Aktivierende Sozialhilfe den Sozialstaat in die Pflicht nehmen, die Lohnersatzleistungen durch Wissenschaftler des IAB von den Gegnern der Aktivierenden Sozialhilfe ungleich wohlwollender aufgenommen wurde. Dieser Vorschlag sah ein »abgabenfreies Grundeinkommen« bis zu einer Obergrenze von 750 Euro für Alleinstehende und 1300 Euro für Paare vor. Die Arbeitnehmer sollten damit »mehr Netto vom Brutto« bekommen, eine Formel, die sich in der Tat sehr gut vermarkten lässt. Dabei wurde in der Öffentlichkeit geflissentlich übersehen, dass ein Alleinstehender bei einem Arbeitseinkommen von nur 750 Euro weniger verdient, als ihm nach den Alg-II-Regelungen zusteht. Nimmt er jedoch das höhere ergänzende Alg II in Anspruch, dann dürfte er von den 750 Euro brutto gerade einmal 15 % behalten. Unter dem Strich kommt er dabei auf ein Nettoeinkommen, das geringer ist als bei der Aktivierenden Sozialhilfe. Tatsächlich zeigt ein Vergleich, dass die Niedriglohnbezieher bei diesem Vorschlag im gesamten sozialversicherungspflichtigen Niedriglohnbereich mit weniger Einkommen nach Hause gehen würden als bei der Aktivierenden Sozialhilfe. Die Vehemenz, mit der sich vor allem gewerkschaftsnahe Politiker für diesen Vorschlag ausgesprochen haben und sich gleichzeitig gegen den ifo-Vorschlag wehrten, kann vor diesem Hintergrund nur verwundern. Aber so läuft es manchmal in der Politik. Nachtrag : Mit der Einführung des Mindestlohns hat die Aktivierende Sozialhilfe ausgedient, denn durch Lohnergänzungsleistungen lassen sich die Bruttolöhne nicht mehr absenken und damit auch keine neuen Arbeitsplätze schaffen. So wie ich Hans-Werner Sinn kenne, ist dies Ansporn für ihn, sich mit neuen Vorschlägen dafür einzusetzen, den Sozialstaat auch in Zukunft dadurch zu stärken, dass knappe Ressourcen möglichst sinnvoll eingesetzt werden. Ökonomen sprechen in diesem Zusammenhang von Effizienz. Ist Deutschland noch zu retten? Hans-Werner Sinn und die arbeits- und sozialpolitischen Reformen Lohnergänzungsleistungen zu ersetzen. Nied rige Lohneinkommen sollten durch Lohnsubventionen aufgestockt werden. Im Gegenzug sollten die Regelleistungen abgesenkt werden. Die Verbindung von abgesenkter Regelleistung und Lohnsubvention stellt sicher, dass, wer Arbeit findet, bei der Aktivierenden Sozialhilfe in der Regel mehr Geld mit nach Hause nehmen dürfte, als es beispielsweise die heute geltenden Hartz-IV-Regelungen vorsehen. Wer keine Arbeit auf dem freien Markt findet, kann jedoch weiterhin ein existenzsicherndes Einkommen durch die Aufnahme einer Arbeit in einer kommunalen Beschäftigungsgesellschaft sicherstellen. Damit stellt er sich finanziell nicht schlechter als zuvor, muss jedoch eine Gegenleistung erbringen. Damit die Lohnergänzungsleistungen helfen, neue Arbeitsplätze zu schaffen, müssen jedoch die Bruttolöhne im Niedriglohnbereich deutlich fallen, denn nur dann sind Unternehmen bereit, mehr Arbeitskräfte einzustellen. Damit machte sich Sinn keine Freunde, selbst wenn er immer wieder betonte, dass dies keinesfalls zu einem Sozialabbau führen würde, da die Aktivierende Sozialhilfe sicherstellen würde, dass die Beschäftigten einen höheren Anteil ihres Bruttogehalts behalten dürften. Um die notwendigen Lohnsenkungen auf dem Arbeitsmarkt durchzusetzen, müsste, so Sinn, der Staat tariffreie Zonen erzwingen, sofern die Tarifparteien nicht mitziehen würden. Das war für die Gewerkschaften und viele Sozialdemokraten unannehmbar – der Vorschlag wurde als Kampfansage an die Arbeitnehmer ver standen und entsprechend heftig politisch bekämpft. Interessant dabei ist, dass der 2006 vorge legte Alternativvorschlag »Existenz sichernde Beschäftigung im Niedriglohnbereich« des Sachverständigen Peter Bofinger und mehrerer 111 HWS bei der Verleihung des Corine-Buchpreises im Jahr 2004 in München. Aufzeichnung einer Sendung der BR-alpha- Sendereihe »Ist Deutschland noch zu retten?« im Münchner Gasteig (Januar 2006). Zwei Finanzminister und Deutschlands führender Finanzwissenschaftler auf der ifo Jahres versammlung im Jahr 2007. 112 ( von links nach rechts ) Wolfgang Wiegard, Paul Kirchhof, N ikolaus Piper, Friedrich Merz und HWS auf der ifo Jahresversammlung 2004. ifo Branchen-Dialog 2010: Alle Kurven zeigen nach unten, doch ifo-Chef HWS bleibt guten Mutes. ( von links nach rechts ) Der Wirtschaftshistoriker Harold James aus Princeton, der langjährige irtschaftsweise Wolfgang W Wiegard und der ehemalige S ächsische Ministerpräsident Georg Milbradt auf der ifo Jahresversammlung 2015. 113 WirtschaftsWoche, 15.10.2012 5 BASARÖKONOMIE: Hans-Werner Sinn und die Globalisierung Gabriel Felbermayr EINLEITUNG Basarökonomie: Hans-Werner Sinn und die Globalisierung Basarökonomie Gabriel Felbermayr leitet das ifo Zentrum für Außenwirtschaft und ist Professor für Volkswirtschaftslehre an der Ludwig-Maximilians-Universität München. Er wurde vor fünf Jahren nach München berufen und forscht zu Fragen der Handelspolitik und zu den Arbeitsmarkteffekten der Globalisierung. 116 Deutschland am 25. Oktober 2004 : Das Titelblatt des Spiegel zieren ein rostiger Container und die Aufschrift Deutschland: Exportweltmeister (von Arbeitsplätzen). Die Titelstory greift ein scheinbares Paradox auf : Wie kann es sein, dass Deutschland mehr exportiert als jedes andere Land der Welt und andererseits unter einer Rekordarbeitslosigkeit von 5 Mil lionen Personen leidet sowie die rote Laterne beim Wirtschaftswachstum trägt ? Für Hans-Werner Sinn kein Widerspruch – ganz im Gegenteil. In seinem Buch Die Basar ökonomie. Deutschland: Exportweltmeister oder Schlusslicht? organisiert er seinen Angriff auf den selbstgefälligen Exportfetischismus vieler Zeitgenossen in zwei Wellen. Erstens, hohe und wachsende Exporte sind nicht zwangsläufig mit hoher heimischer Wohlfahrt und starkem Wirtschaftswachstum verbunden. So exportiert eine als »Basar« organisierte Volkswirtschaft Güter, deren wesentliche Bestandteile sie vorher importiert hat, ohne dass dabei maßgeblich Wertschöpfung in Form von Löhnen, Kapitalrenditen oder Steuern im Inland anfällt. Eine solche Entwicklung führt zu boomenden Exporten und einem stagnierenden Bruttoinlandsprodukt. Das scheinbare Paradox ist keines. Zweitens, auch Exportweltmeistertum und Rekordarbeitslosigkeit stehen in keinem Widerspruch. Hans-Werner Sinn zeigt, dass beide auf das deutsche Kernproblem zurückzuführen sind : zu hohe Löhne. Für viele Bundesbürger im Jahr 2004 ist diese These eine Provokation : Wenn die Löhne zu hoch seien, wie kann dann die deutsche Wirtschaft so wettbewerbsfähig sein, dass kein Land höhere Exporte aufweist ? Die Antwort folgt aus dem Standardmodell der Außenhandelstheorie. Das relativ kapitalreiche Deutschland exportiert kapital intensive Güter – Autos, Maschinen, Chemie – und importiert arbeitsintensive Güter. Löhne über dem markträumenden Niveau schaffen Arbeitslosigkeit, reduzieren die Beschäftigung und lassen Seit dem Erscheinen des Buches im Jahr 2005 hat sich Deutschland stark verändert : Das Kernproblem des vormals »kranken Mannes Europas« (Economist), starre und überhöhte Löhne, wurde mit den Hartz-Reformen überwunden. Dass es zu dieser Wende kam, hat auch mit Hans-Werner Sinns Gabe zur Provokation zu tun. Nur so wurden technische volkswirtschaftliche Argumente zum Gegenstand einer breiten wirtschaftspolitischen Debatte. Mit der Entzauberung Deutschlands als Exportwunderland nahm er der Politik und den Wählern die letzten Illusionen und ebnete den Weg für schmerzhafte Reformen, die die drohende Deindustrialisierung aufgehalten haben. Heute hat Deutschland nicht mehr die PolePosition in den Exportstatistiken inne. In den Wachstumsstatistiken hat sich das Land aber vorgeschoben : Seit den Weltmeisterjahren 2003 – 2008 hat sich das jährliche Wachstum von weniger als 1,5 % auf mehr als 2 % pro Jahr (seit 2010) beschleunigt. Die rote Laterne in dieser Statistik tragen nun andere. Das heißt aber noch lange nicht, dass alles gut ist am Geschäftsmodell BRD. Seit einigen Jahren ist Deutschland wieder Weltmeister : Kein Land der Welt hat einen höheren Leistungsbilanzüberschuss. Doch auch dies ist kein Anlass für Freudenfeiern. Im Gegenteil : Die Überschüsse sind kein Anzeichen von Stärke, sondern resultieren, wie auch der pathologische Exportboom, aus einer fehlgeleiteten Politik. Die Verzerrung der Zinsniveaus durch verschiedene Maßnahmen der Eurorettungspolitik leitet deutsche Ersparnis ins Ausland, wo sie für den Kauf deutscher Güter auf Pump verwendet wird. An der Werthaltigkeit vieler dieser Anlagen muss gezweifelt werden. Was es heute braucht, ist wieder eine entschlossene Reform. Diesmal hat aber Deutschland sein Schicksal nicht allein in der Hand. Denn es geht um die Reform der Eurozone. Basarökonomie: Hans-Werner Sinn und die Globalisierung das Land noch kapitalreicher erscheinen, als es ohnehin ist. Es spezialisiert sich notgedrungen noch mehr auf kapitalintensive Exportgüter. Diese pathologische Überspezialisierung geht einher mit mehr Exporten von Autos, Maschinen, Chemie. Und das alles wegen – und nicht trotz – überzogener Löhne. Die beiden Punkte stehen in einem engen Zusammenhang : Die zunehmende Kapital intensität der heimischen Produktion ist ja nur dadurch möglich, weil die Produktion arbeitsintensiver Zwischenprodukte ins Ausland verlagert wird und Deutschland mehr und mehr zu einer Basarökonomie wird. Für beide Phänomene sind zu hohe Löhne ursächlich. Vor allem der Begriff des Basars hat die Gemüter in Deutschland jahrelang erregt. Viele exportstarke Unternehmen fühlten sich angegriffen, weil sie ihre Hightech-Produkte semantisch in die Nähe von Ramsch und Trödel gerückt sahen. Hans-Werner Sinn in der Financial Times Deutschland (6. Mai 2005) : »In diesem Punkte bekenne ich freilich tiefe Reue und versichere, dass auch mir die deutschen Produkte sehr leid tun. Ich bitte für meine blas phemische Begriffswahl um Vergebung.« Was aber die Fakten angeht, so hat HansWerner Sinn ein wichtiges empirisches Phänomen erstmals belegt. Von 1995 bis heute ist der Anteil heimischer Wertschöpfung an den deutschen Exporten von circa 74 % auf 63 % abgesunken. Klar ist : Je höher der Anteil importierter Vorleistungen an den deutschen Exporten, umso weniger eignet sich die amtliche Exportstatistik als Gradmesser wirtschaftlicher Stärke. OECD und WTO haben dies erkannt und tragen dem Phänomen seit zwei Jahren mit einer eigens konstruierten Datenbank Rechnung. Und die aktuelle wissenschaftliche Forschung bemüht sich um ein besseres Verständnis des Wertschöpfungsgehaltes der internationalen Handelsströme. 117 Peter Egger VON VERLAGERUNGS- UND EXPORT WELTMEISTERN Basarökonomie Peter Egger ist Inhaber des Chair of Applied Economics: Innovation and Internationalization an der ETH Zürich. Er war zuvor CESifoProfessor für Ökonomie an der LMU München und Bereichsleiter am ifo Institut. Er promovierte an der Universität Linz und habili tierte an der Universität Innsbruck. 118 Das zunehmende Auseinanderklaffen von Brut toproduktionswerten und Wertschöpfung zieht das Interesse sowohl von Ökonomen als auch von Wirtschaftspolitikern seit etwa zwei De kaden auf sich. Es reflektiert die zunehmende Spaltung der Wertschöpfungskette und die steigende Arbeitsteilung. Seit der multilate ralen Handelsliberalisierung im Rahmen der Uruguay-Runde sowie aufgrund vielzähliger bilateraler Handelsliberalisierungen im Rahmen von präferentiellen Handelsabkommen findet die Suche nach größerer Effizienz der Produktion zunehmend Rückhalt im interna tional arbeitsteiligen Prozess. Die gestiegene Mobilität, nicht nur von Kapital, sondern auch von Arbeitskräften, erhöht den unternehme rischen Mehrwert, dieser konzentriert sich allerdings weniger denn je am Ort multinationaler Unternehmenszentralen oder dort, wo das Kerngeschäft von sogenannten Industrieländern – die nunmehr eigentlich Dienstleistungsländer heißen sollten – noch vor wenigen Jahrzehnten lag. Dieser Trend findet darin Ausdruck, dass zwar heimisch und insbesondere grenzüberschreitend gehandelte Bruttoproduktionswerte über das letzte Vierteljahrhundert stark stiegen, der dahinterstehende Zuwachs an Wertschöpfung aber wesentlich geringer war. Die OECD und die WTO gemeinsam widmen sich diesem Thema mit einer Initiative, die das Phänomen mit Daten untermauert (Trade in Value Added). Laut der entsprechenden Statistik wuchs die Wertschöpfung zwischen 1995 und 2005 bzw. 2010 im Export weltweit um 6,4 % bzw. 6,7 % pro Jahr. Für Deutschland lagen diese Zuwachsraten bei 5,0 % bzw. 4,9 % relativ niedriger. Deutschlands Zuwächse lagen auch unter denen der EU 15 mit 4,8 % bzw. 4,5 % knapp über und mit 5,2 % und 4,9 % knapp unter denen der EU 28 im Vergleichszeitraum. Große Gewinner des Wertschöpfungswettlaufs waren über die genannten Pe rioden Ostasien und Südamerika. Dort wurden lich stärker an Wertschöpfung gewann, als dies für die gesamte Wertschöpfung des Landes – gemessen am Bruttoinlandsprodukt – der Fall war. Die Reduktion des Wertschöpfungsanteils bei den Güterexporten wurde also durch den Zuwachs an Bruttoexporten mehr als kom pensiert. Der Zuwachs von 5,0 % bzw. 4,9 % an Wertschöpfungsexporten pro Jahr zwischen 1995 und 2005 bzw. 2010 wurde nicht durch einen gegenläufigen arbeitssparenden tech nischen Fortschritt vollständig kompensiert. Noch immer darf also gesagt werden, dass die Exportwirtschaft – und damit das Ausland – in Deutschland netto Arbeitsplätze schafft. Hans-Werner Sinns Diagnose basierte auf dem gleichzeitigen Auftreten von Exportboom und hoher Arbeitslosigkeit. Die vorhin genannten Zahlen legen nahe, dass Sinns Diagnose des Auseinanderklaffens von Bruttoproduktion und Wertschöpfung im Kern richtig ist, aber den Umstand des gleichzeitigen Zuwachses an Wertschöpfungsexporten und Arbeitslosigkeit nicht erklären kann. Für ein Verständnis der jüngeren Prozesse in Deutschland ist eine geographische Verortung des Exportbooms und der Arbeitslosigkeit hilfreich. Ersterer entstammte wie nach der Wende vor allem den alten Ländern, während Letztere überdurchschnittlich in den neuen Ländern entstand. Damit gründen simultaner Erfolg und Misserfolg des Landes zum Teil in der Koexistenz von (noch immer) relativ unproduk tiverem Arbeitsangebot in den neuen Ländern mit geringer Exportbeteiligung und relativ produktivem Arbeitsangebot in den alten Ländern mit hoher Exportbeteiligung, bei relativ ähnlichen Löhnen. Das deutsche Phänomen findet damit wohl mit der Zusammenführung zweier Sinn’scher Thesen eine bessere Erklärung als mit nur einer. Basarökonomie: Hans-Werner Sinn und die Globalisierung Wertschöpfungszuwächse im Export von 6,1 % bzw. 8,1 % (Ostasien) und von 13,9 % bzw. 14,7 % (Südamerika) erzielt. Zuwachsraten bei den Wertschöpfungsexporten spiegeln einerseits einen Konvergenzprozess im Pro-Kopf-Einkommen als auch Änderungen in der relativen Wertschöpfungsintensität wider. Daher gewährt ein Blick auf die Veränderungen der Wertschöpfungsanteile bei den Exporten im Vergleichszeitraum zusätzliche Einsichten. Für Deutschland sanken diese zwischen 1995 und 2005 bzw. 2010 um 6,5 bzw. 8,5 Prozentpunkte, während diese Anteile in der gesamten Welt um 4,7 bzw. 5,4 Prozentpunkte abnahmen. Deutschland verlor also stärker an Wertschöpfung am Export als der Rest der Welt. Die »Exportweltmeister« von ehedem – darunter insbesondere Deutschland – werden durch diesen Prozess zunehmend auch zu »Importweltmeistern«, und was vormals von heimischen Arbeitskräften verdient wurde, landet nun zunehmend in den Taschen der Mitbewerber in sogenannten Transitionsländern. HansWerner Sinn belegte dieses Phänomen mit den Begriffen »Basarökonomie« und »pathologischer Exportboom«. Trotz rekordverdächtiger Zuwächse bei den Bruttoexporten kann mit dem Wachstum ein Prozess der Aushöhlung der heimischen deutschen Wirtschaft durch Verlust an Wertschöpfung, Beschäftigung und Lohneinkommen einhergehen. Damit ist der Zusammenhang »mehr Export, mehr Beschäftigung« (bzw. »mehr Einkommen«) möglicherweise gebrochen. Freilich ist an dieser Stelle festzuhalten, dass Deutschlands Export an Wertschöpfung zwar als Anteil am Bruttoexport abgenommen, aber im Gesamtvolumen doch auch stark zugenommen hat, so dass weiterhin gilt, dass Deutschland durch den Güterexport jährlich wesent- 119 Wilhelm Kohler HANS-WERNER SINNS THESE DES PATHOLOGISCHEN EXPORTBOOMS Basarökonomie Wilhelm Kohler ist Professor für Internationale Wirtschaftsbeziehungen an der Eberhard Karls Universität Tübingen. Davor war er Professor an den Universitäten Linz und Essen. Seine Forschungsschwerpunkte sind die Theorie des internationalen Handels und der Migration sowie Europäische Integration. 120 Am 2. Juni 1999 titelte der Economist mit Blick auf Deutschland »The sick man of the euro«. Seit 1993 war Deutschland im Schnitt jährlich real um 0,8 Prozentpunkte weniger gewachsen als die anderen EU-15-Länder. Die Arbeits losenrate lag um 1,1 Prozentpunkte über den anderen EU-15-Ländern. Bis 2005 stieg der Abstand von 1,1 auf 4,43 Prozentpunkte; der Wachstumsrückstand stieg auf mehr als einen Prozentpunkt. Einzig die traditionelle Exportstärke schien Deutschland geblieben zu sein : Von 2000 bis 2005 waren die deutschen Exporte von Waren und Dienstleistungen im Durchschnitt jährlich um 7,4 % gewachsen, im Vergleich zu 5,1 % der anderen EU-15-Länder. Diese ungebrochene Exportstärke schien dagegenzusprechen, dass die enorme Zunahme der Arbeitslosigkeit in Deutschland etwas mit überhöhten Löhnen zu tun haben konnte. Man stand vor einem Rätsel : Der »kranke Mann« Deutschland, strotzend vor Wettbewerbsstärke im Export ? In dieser Situation meldete sich Hans-Werner Sinn mit einer provozierenden Hypothese zu Wort : Der Exportboom war, so Sinn, kein Zeichen deutscher Wettbewerbsstärke, sondern erklärbar als Teil der Pathologie des »kranken Mannes«. Der Boom selbst war gewissermaßen »pathologisch«; nicht ein Zeichen wirtschaft licher Stärke, sondern ein Symptom der Krankheit. Sinn trug die These des »pathologischen Exportbooms« als theoretischen Exkurs im Zusammenhang mit der Präsentation eines empirischen Befundes vor : Er hatte nachgewiesen, dass von dem 18%igen Zuwachs (1995 – 2003) des realen Produktionswertes der deutschen Industrie nur ein kleiner Teil (2 Prozentpunkte) Zuwachs heimischer Wertschöpfung darstellte, den größeren Teil machten gestiegene heimische bzw. ausländische Vorleistungen aus (7 bzw. 9 Prozentpunkte). Deutsche Firmen konzentrierten sich auf einen ständig kleiner werdenden Anteil der mit Industrieprodukten ver- Falle Deutschlands, kapitalintensive Güter exportiert, führt das dort zu einem Exportboom. Und dieser ist »pathologisch«, weil er ursächlich mit einem überhöhten Reallohn verbunden ist. Der zweite Punkt beinhaltet eine brisante wirtschaftspolitische Botschaft. In dem eben geschilderten Fall kommt es nämlich zu einem höchst merkwürdigen internationalen Austausch zwischen Ländern mit unterschiedlichen Arbeitsmarktinstitutionen. Das Land mit Lohnrigidität »exportiert« die damit implizierten Veränderungen der relativen Güterpreise, ja sogar den höheren Reallohn selbst, in Länder, die an sich gar keine Lohnstarrheit aufweisen. Und es »importiert« von diesen Ländern das damit verbundene weltweite Überangebot an Arbeit in Form von Arbeitslosigkeit. Die Preiswirkungen der Lohnstarrheit werden also internationalisiert, während der damit verbundene Mengeneffekt – das weltweite Überangebot an Arbeit – nationalisiert wird. Das Land mit der Reallohnstarrheit zieht die gesamte Arbeitslosigkeit der Welt auf sich. Sinns These des »pathologischen« Exportbooms ist eine elegante Anwendung etablierter Theorie zur potenziellen Auflösung eines empirischen Rätsels. Offen ist indes der empirische Erklärungsgehalt dieses Arguments für die damalige Situation Deutschlands. Die Situation Deutschlands hat sich ja inzwischen zum Besseren gewendet, aber Sinns Punkt ist grundlegenderer Natur. Zu wünschen wäre, dass sich die empirisch orientierten Handelsökonomen der empirischen Bedeutung jener Mechanismen zuwenden, die der Idee des pathologischen Exportbooms zugrunde liegen. Zu zeigen wäre, dass exogene Reallohnerhöhungen in großen Ländern auch in Handelspartnerländern ohne Reallohnstarrheit zu Reallohnerhöhungen führen, gepaart mit einer Reallokation hin zu kapitalintensiven Sektoren. Basarökonomie: Hans-Werner Sinn und die Globalisierung bundenen Wertschöpfung. Ähnliches galt für die Exporte. Man mag darüber streiten, ob dieser Trend mit dem von Sinn geprägten Bild Deutschlands als »Basarökonomie« zutreffend bezeichnet war. An der Notwendigkeit der damit initiierten Umorientierung hin zur Betrachtung der Wertschöpfungsanteile im internationalen Handel besteht hingegen kein Zweifel. Mit diesem Bild der »Basarökonomie« wollte Hans-Werner Sinn der etwas selbstgefälligen Verwendung der Statistik des Exportbooms zur Relativierung der Metapher des »kranken Mannes« auch von empirischer Seite entgegenwirken, sozusagen parallel zu seinem theoretischen Argument, dass dieser Boom pathologischer Natur sei. Sein theoretischer Argumentationsstrang be inhaltete zwei Punkte. Der erste war, dass das Argument der boomenden Exporte als Evidenz gegen die klassische Erklärung der enorm hohen Arbeitslosigkeit in Deutschland theo retisch nicht haltbar war. Etwas vereinfacht formuliert, lautet das Argument wie folgt : Ein über dem Gleichgewichtsniveau liegender Reallohn verursacht zum einen höhere Preise arbeitsintensiver Güter und führt damit zu einer verstärkten Nachfrage nach kapitalintensiven Gütern. Zum anderen kommt es bei allen Gütern zu einer kapitalintensiveren Produktionsweise. Beide Effekte betreffen in Zeiten der Globalisierung aber nicht nur das Inland, sondern auch die Handelspartner. Und wenn in den Partnerländern keine Reallohnstarrheit herrscht, dann ist dort die kapitalintensivere Produktionsweise mit einer Reallokation in Richtung arbeitsintensiverer Güter verbunden; dadurch bleibt in diesen Ländern Vollbeschäftigung erhalten. Damit entsteht aber weltweit eine Überschussnachfrage nach kapitalinten siven Gütern, und diese wird – gewissermaßen residual – durch das Land mit Reallohnstarrheit befriedigt. Und wenn dieses Land, wie im 121 Thomas Fricke EXPORT WUNDER IN DER BASARÖKONOMIE Basarökonomie Thomas Fricke ist Chief Economist der European Climate Foundation, Kolumnist der Süddeutschen Zeitung und Leiter des Internet portals WirtschaftsWunder. Er war Chefökonom der Financial Times Deutschland, in der er von 2000 bis 2012 mehr als 500 Folgen seiner Freitagskolumne geschrieben hat. 122 Als im Spätsommer 2003 Hans-Werner Sinns Buch über die deutsche Krise erschien, herrschte im Land Untergangsstimmung. Ein paar Monate zuvor hatte Kanzler Gerd Schröder seine Agenda 2010 vorgestellt. Wenn es um Deutschland ging, war vom letzten Platz die Rede, von Exportkrise und von immer neuen Rekorden bei der Arbeitslosigkeit. Und es verging kein Sonntag, an dem die Republik nicht bei Sabine Christiansen das eigene Leid beklagte. In diese Stimmungslage passte jene rhetorisch wirkende Titelfrage von Hans-Werner Sinns Buch : Ist Deutschland noch zu retten ? Da hatte der Münchner Professor den richtigen Riecher, da setzte er dem konfusen Gefühl vom Abstieg noch ein ökonomisch elaboriertes obendrauf – und ward seitdem gefragter Talkshow-Gast. Hauptthese : Die Deutschen verlieren ihre Wettbewerbsfähigkeit. Da können nur noch viel radikalere Reformen samt drastisch sinkenden Löhnen helfen. Was zum Zeitgeist zu passen schien, war offenbar auch durch die Wirklichkeit gedeckt. Die deutsche Wirtschaft stagnierte. Einen Haken hatte die Sache nur : Just als das Buch auf den Markt kam, meldete eine Zeitung, dass Deutschland laut amtlicher Statistik im Sommer 2003 erstmals seit vielen Jahren wieder mehr exportierte als die USA, nicht weniger. Na so was. Die Nachricht hatten wir bei der Financial Times Deutschland durch Nachrecherchieren in den aktuellen Daten zum Welthandel gefunden. Und wir haben damit auf Seite 1 dann auch aufgemacht : »Deutsche sind (wieder) Exportweltmeister« – eine Zeile, die ganz ungewollt am selben Tag erschien, als Hans-Werner Sinn sein Buch präsentierte. Ich glaube, kurzzeitig war der Professor da nicht so gut auf uns zu sprechen. Die Frankfurter Allgemeine Zeitung versuchte tags darauf die Krisenlaune noch zu retten, indem sie andere Zahlen zum Export präsentierte – Deutschland sei doch nicht Weltmeister. Das Problem : Die Kollegen hatten saisonbereinigte US-amerikanische und unbereinigte Teile ihrer Produktion nach Osteuropa und anderswohin verlagerten – oder dort zumindest neue Anlagen schufen. Was Experten weniger überzeugte, waren die vermeintlichen Größenordnungen – und die Interpretation als tiefes Krisenphänomen. Wie die amtlichen Statistiker damals ermittelten, war der Anteil der importierten Exportgüterteile zwar gestiegen, nur bei weitem nicht so stark, dass »Made in Germany« dadurch zum reinen Etikettenschwindel ge worden ist. Seitdem hat sich auch gezeigt, dass deutsche Exporteure sogar deutlich gewonnen haben, indem sie ihre Produktionsketten auf Niedriglohnländer erweiterten. Zum Vorteil des deutschen Arbeitsmarkts – nicht zum Nachteil. Es gehört schon, sagen wir, etwas Phantasie dazu, die These vom abstürzenden deutschen Export nachträglich als treffend einzustufen. Mit Abstand betrachtet, drängt sich die Vermu tung eher auf, dass Deutschlands Export 2003 bereits in einem historischen Boom steckte, der Mitte der 1990er Jahre eingesetzt hatte (und dass die Krise Anfang der 2000er Jahre andere Gründe gehabt haben muss). Ein Boom, der vor allem damit zu tun hatte, dass – allen Kostennachteilen zum Trotz – kein Land eine so perfekt auf diese Zeit zugeschnittene Export industrie hatte wie die Deutschen. Die traditionelle Spezialisierung auf hochwertige Maschinen und Fahrzeuge passte einfach zum Bedarf jener rasant aufsteigenden Schwellenländer wie China, die ihre Wirtschaft erst einmal mit solchen Investitionsgütern ausstatten mussten. Alles in allem haben sich die deutschen Verkäufe rund um den Globus in dieser Zeit glatt verdoppelt. Was auch die inländische Wertschöpfung befördert – und eine Menge Arbeitsplätze geschaffen hat. Aber Hans-Werner Sinn wäre nicht HansWerner Sinn, wenn er nicht wüsste, dieser Diagnose mit anspruchsvoller Argumentation zu widersprechen. Basarökonomie: Hans-Werner Sinn und die Globalisierung deutsche Daten für den August verglichen. Und im August passiert saisonbedingt – Ferien pause – eben relativ wenig. Sinns Reaktion war da deutlich anspruchsvoller. Nun wäre Hans-Werner Sinn ja in der Tat nicht Hans-Werner Sinn, wenn er seine These vom abstürzenden Export wegen so einer Statistik einfach zurückgenommen hätte. Zumal die These vom Absturz in den Talkshows über Jahre hinweg schier unkaputtbar schien; im Jammern sind wir ja nun auch Weltmeister (ebenso wie im Hochjubeln, wenn es wie heute plötzlich läuft). Sinns Antwort auf das Exportweltmeister-Dilemma folgte schon im Dezember 2003 – ein Aufsatz mit dem Titel : »Basar ökonomie«. Ein Begriff, mit dem Sinn erneut Gespür für den damaligen emotionalen Bedarf seiner Landsleute bewies. Nur dass die Sache deutlich komplizierter wurde – und für Experten nicht unbedingt überzeugender. Auch Sinn räumte jetzt ein, dass wir mit unserem Export gar nicht so schlecht dastanden. Nur zähle das nichts mehr. Denn : Deutschland baue da nur seine Position als »Basar der Welt« aus. Was wir da so exportieren, werde »zu wachsenden Wertanteilen in Niedriglohn ländern vorfabriziert«. Das »Made in Germany« sei »mehr und mehr Etikettenschwindel«. Grundthese gerettet. Das Phänomen hatte zwar weniger mit einem orientalischen Basar zu tun, dafür zog der wenig freundlich daherkommende Begriff prima. Und Sinn gelang es, das Ding mit lebensnahen Beispielen auch einem Nicht-Fachpublikum nahezubringen. Da gab es das Auto, dessen Einzelteile im Osten gebaut und in Deutschland nur noch montiert würden. Schon schien die Basarvermutung belegt. Im Oktober 2005 erschien Hans-Werner Sinns Buch zur These : Basarökonomie. Nun ließ sich auch nicht leugnen, dass deutsche Unternehmen nach dem Fall der Mauer 123 Michael Heise DIE THESE DER BASARÖKONOMIE: EIN POLITISCHER WECKRUF Basarökonomie Michael Heise ist Chefvolkswirt der Allianz SE. Er berät den Vorstand der Allianz SE in volkswirtschaftlichen und strategischen Fragen und ist verantwortlich für die Erstellung von Analysen und Prognosen zur deutschen und internationalen Wirtschafts- und Finanzmarktentwicklung. 124 Hans-Werner Sinn hat im Jahr 2003 bezogen auf Deutschland den Begriff der Basarökonomie geprägt und damit eine ökonomische Debatte ausgelöst, wie wir sie hierzulande bisher selten erlebt haben. Sie besagt in der Sprache des Ökonomen, dass der inländische Wertschöpfungsanteil an der Industrieproduktion zugunsten des Auslands fällt und in Deutschland überwiegend die kundennahen Endstufen der Produktion verbleiben. In der Öffentlichkeit wurde die Bezeichnung Deutschlands als Basarökonomie natürlich als eine Grundsatzkritik am Wirtschaftsmodell Deutschland verstanden, einem Wirtschaftsmodell, das mit Inflexibilität auf die Herausforderungen der Globalisierung reagiere. Deutschland sei zwar im Export stark, schaffe das aber nur, weil es gleichzeitig Arbeitsplätze in billigere Standorte exportiere. Aus meiner Sicht war Sinns These in erster Linie ein Weckruf an alle wirtschaftlich und politisch Verantwortlichen, in einer Zeit der Globalisierung nicht in Selbstzufriedenheit zu verharren und sich gegen unumgängliche Reformen zu wehren. So wurde der selbsterkorene Titel des Exportweltmeisters damals vielfach als Beleg der Leistungskraft und Wettbewerbsfähigkeit Deutschlands gewertet. Hans-Werner Sinn ist es gelungen, dieses Exportmärchen zu entzaubern und den Blick auf die strukturellen Schwächen Deutschlands und sein unzuläng liches Wirtschaftswachstum zu lenken. Der in der ersten Hälfte des vergangenen Jahrzehnts in Gang gekommene Reformprozess in Deutschland hat durch ihn Unterstützung erhalten. An der fachlichen Diskussion um die Basar ökonomiethese nahmen neben vielen Einzelstimmen auch das Statistische Bundesamt und der Sachverständigenrat teil. Immerhin ging der Sachverständigenrat auf das Thema Basar ökonomie in einen Abschnitt von über zehn Seiten in seinem Jahresgutachten 2004/05 ein. Selten hat sich der Rat mit der These eines Ökonomen wohl in einer so ausführlichen Analyse tem nicht mehr so schnell wie in den 1990er Jahren. In den letzten Jahren konnte sich der An teil sogar stabilisieren. Bei alledem hat Deutschland einen sehr hohen Leistungsbi lanzüberschuss und einen hohen Kapitalexport ins Ausland. Können wir also das Thema Basarökonomie zu den Akten legen ? Trotz aller Erfolge am Arbeitsmarkt in den letzten Jahren ist ein unübersehbares Manko in unserer Wirtschaft ge blieben : Die Investitionstätigkeit im Inland lässt nach wie vor zu wünschen übrig, so bewegt sich die Investitionsquote bei Ausrüstungsgütern nahe langjährigen Tiefständen. Gleichzeitig erhöhten inländische Unternehmen ihre Direktinvestitionen im Ausland 2014 um 88,7 Mrd. Euro, während ausländische Unternehmen die Direktinvestitionen in Deutschland lediglich um 5,5 Mrd. Euro steigerten. Der Netto kapitalabfluss bei Direktinvestitionen ist also nach wie vor gewaltig und wirft kein positives Licht auf den Wirtschaftsstandort Deutschland. Ein Land, das in hohem Maße (per saldo) Kapital exportiert, muss auch in der Leistungsbilanz erhebliche Überschüsse aufweisen. Solche Überschüsse im Güterhandel sollten also nicht als Ausdruck der Stärke fehlinterpretiert werden. Leider dominieren in der öffentlichen und der wirtschaftspolitischen Diskussion in Deutschland Fragen der Einkommensverteilung. Überlegungen, wie wir unseren Standort attraktiver machen und die Einkommen der Zukunft sichern können, spielen dagegen eine nur untergeordnete Rolle. Es wäre gut, wenn es nicht einer erneuten Krise bedürfte, um diese Diskussion und wirtschaftspolitische Reformen zu initiieren. Provokant kritische Stimmen wie die von Hans-Werner Sinn sind daher unverzichtbar. Er hat es immer wieder vermocht, Weckrufe an die Politik zu senden. Basarökonomie: Hans-Werner Sinn und die Globalisierung auseinandergesetzt. Allein dies ist eine Anerkennung. In der Diskussion zeigte sich, dass der Begriff Basarökonomie – wenig überraschend – unterschiedlich interpretiert und somit der These dementsprechend zugestimmt oder widersprochen werden konnte. Zudem brachte die Debatte eine Reihe von wenig beachteten Indikatoren wie beispielsweise den Import anteil der Exporte und die exportinduzierte Wertschöpfung in den Mittelpunkt des Interesses, die sonst wohl nicht so intensiv analysiert worden wären. Über ein Fazit der Debatte dürfte aus meiner Sicht weitgehend Konsens bestehen : Die Tendenz als solche, in einer globalisierten Ökonomie Teile der Wertschöpfungsketten in ausländische Unternehmensteile zu verlagern (Offshoring) und bei Zulieferern im Ausland zu kaufen (Outsourcing), ist in einer immer stärker globalisierten Ökonomie eine Selbstverständlichkeit. Sie ist für sich genommen nicht problematisch, es sei denn, sie geht (wie 2003 in Deutschland) mit einer hohen Arbeitslosigkeit und einer ausgeprägten Investitionsschwäche im Inland einher. Rund zehn Jahre nach der Debatte um die Basarökonomie hat sich viel in der Weltwirtschaft und in Deutschland verändert. Deutschland scheint – anders als der Begriff der Basar ökonomie andeutet – wirtschaftlich voller Kraft zu sein. Wir haben die rote Laterne abgegeben, das Wirtschaftswachstum beschleunigen können und liegen nun unter den Industrieländern im guten Mittelfeld. Die Arbeitslosigkeit ist im internationalen Vergleich heute klar unterdurchschnittlich, in der Europäischen Union ist Deutschland sogar das Land mit der niedrigsten Arbeitslosenquote. Der inländische Wertschöpfungsanteil an der Industrieproduktion ist angesichts der zunehmenden interna tionalen Arbeitsteilung seit Anfang des letzten Jahrzehnts weiter gesunken, allerdings bei wei- 125 Rupert Stadler ERFOLG AUF DEM BASAR Basarökonomie Rupert Stadler ist seit 2007 Vorstandsvorsitzender der Audi AG. Er lehrt strategische Unternehmensführung an der Universität St. Gallen und an der TU München. 2015 hat ihn der Verband der Hochschullehrer für Betriebs wirtschaftslehre (VHB) zum Wissen schaftsorientierten Unternehmer des Jahres gewählt. 126 Manager und Wirtschaftswissenschaftler – oft eine Beziehung mit Hürden. Uns Entscheidern der Praxis erscheint graue Theorie oft abstrakt. In unserem Geschäft spielt praktische Erfahrung, gepaart mit gesundem Bauchgefühl, eine dominante Rolle. Dennoch ist Theorie eine wichtige Grundlage unserer hochentwickelten Ökonomie. Damit die Wirtschaftswissenschaft nicht im Elfenbeinturm eingesperrt bleibt, damit Theorie und Praxis miteinander reden, dazu bedarf es Persönlichkeiten wie HansWerner Sinn. Er schlägt Brücken und zwingt mit provokanten Thesen Praxis und Politik zur Stellungnahme. Dabei fühlt er unserer Ökonomie den Puls, stellt exakte Diagnosen, formuliert klare Empfehlungen zur Behandlung des Patienten. Für mich sind seine Analysen ein Gewinn. Hans-Werner Sinn seziert die Wirklichkeit. Und er verändert sie. Ein herausragendes Beispiel ist für mich seine volkswirtschaftliche Hypothese der »Basar ökonomie«. Seine Analyse von 2003 hat bis heute nicht an Aktualität eingebüßt und bleibt messerscharf : Die Fertigungstiefe – der Anteil inländischer Wertschöpfung an der Industrieproduktion – geht Jahr um Jahr zurück. Die Exportwertschöpfung deutscher Unternehmen in anderen Regionen nimmt deutlich zu. Zudem wachsen die Exporte schneller als die Binnenwirtschaft. Dies veranlasste Sinn bereits zu Beginn des Jahrtausends, von einem »patho logischen Exportboom« zu sprechen : Deutschland nannte sich damals noch stolz »Exportweltmeister« und war zugleich auf bestem Wege, der kranke Mann Europas zu werden. Wie auf einem orientalischen Basar drohten wir, zu erfolgreichen Händlern von Waren zu werden, die außerhalb Deutschlands hergestellt sind und dort Arbeitsplätze schaffen. Das Bild der Basarökonomie ist provokant, denn die aufgeworfenen Fragen bergen sozialen Sprengstoff. Hängen wir etwa bestimmte Gesellschaftsschichten vom Wohlstand ab, weil wir Deutschland zu einer Art Basar für Güter Der Beste setzt sich durch. Dieses Prinzip ist uns von den Automeilen am Rand der Großstädte vertraut. In einem internationalen Fer tigungsverbund geht es neben zollrechtlichen Vorgaben wie einer Mindestwertschöpfung vor Ort auch um Kosteneffizienz und Flexibilität. Das ist ein wichtiger Grund, warum Audi von China bis Brasilien, von Mexiko bis Belgien, von Deutschland bis Indonesien weltweit fertigt. Die Zahlen müssen stimmen. Doch sie sind nicht das entscheidende Erfolgskriterium. Der A8 von Hans-Werner Sinn ist in Neckar sulm vom Band gefahren. Deutsche Ingenieurs- und Handwerkskunst sowie deutsche Maßstäbe stützen unser Markenversprechen weltweit. Vorsprung durch Technik erlebbar zu machen ist unser Geschäftsmodell. Daraus ziehen wir unseren Return on Investment. Und zwar international, mit einer Exportwertschöpfung, um die uns die Welt beneidet. Um die Aufgaben zu Hause muss sich die deutsche Wirtschaft auch kümmern, damit unsere Binnenwirtschaft an Kraft gewinnt, damit viele Jobs entstehen und damit die Wohlstandsbasis erhalten bleibt. Dass unser Land heute besser dasteht, ist auch das Verdienst eines zuweilen unbequemen Denkers wie Hans-Werner Sinn. Gerade in der Politik neigen manche Akteure dazu, die Sinn’sche Medizin wieder zu verwässern. Ich hoffe auf eine neue »Deutsche Rede«, wie Professor Sinn sie 2003 in Neuhardenberg gehalten hat, in der er erstmals den Begriff der Basarökonomie prägte. Übrigens : Es gibt noch einen guten Grund, warum Hans-Werner Sinns Analysen so bedeutend für Deutschland sind : Er formuliert und verteidigt sie mit Leidenschaft. Wenn alles andere stimmt, dann entscheidet genau diese Passion letztlich über den Erfolg. Das gilt für die ökonomische These genauso wie für einen Audi A8 – auf dem Basar der besten Angebote. Basarökonomie: Hans-Werner Sinn und die Globalisierung aus ausländischer Wertschöpfung degenerieren ? Wer in unserem Land Verantwortung trägt, dem muss so ein Szenario Sorgen bereiten. Hans-Werner Sinns Analyse hat damals heftige Diskussionen angestoßen, vielen die Augen geöffnet und am Ende die Handelnden bewegt. Am Arbeitsmarkt ist seither viel geschehen. Gezielte Lohnzuschüsse, Aktivierende Sozialhilfe und eine längere Lebensarbeitszeit sind nur drei Beispiele für den Bewusstseinswandel in der Sozialpolitik, den der Chef des ifo Instituts angestoßen hat. Auf Arbeitnehmerseite ist eine neue Flexibilität entstanden, die den Industriestandort Deutschland wieder attraktiver machte. Beides zusammen hat die Jobmaschine auch in der Autobranche im vergangenen Jahrzehnt in Schwung gebracht. Bei Audi haben wir seit 2004 allein in Deutschland 11 500 neue Arbeitsplätze geschaffen. Dies hat unser globales Wachstum ermöglicht – und nicht etwa verhindert. Niemand wünscht sich einen Basar, von dem Teile der einheimischen Bevölkerung ausgeschlossen sind. Wir sind stolz darauf, dass sich 2015 im ersten Quartal 73 208 Menschen allein in Deutschland für einen neuen Audi entschieden haben – das ist ein Sechstel aller AudiKunden weltweit. Wir sind glücklich, dass sich auch Hans-Werner Sinn persönlich für einen Audi A8 begeistert – er hat eben Gespür für Qualität. Gerade unser Flaggschiff unter den Limousinen ist im Spiegel der Diskussion um die »Basarökonomie« ein interessantes Beispiel für Globalisierung bei uns. Denn seine Neu auflage als Langversion haben wir von Peking aus der Welt vorgestellt, auf die Bedürfnisse des chinesischen Kunden zugeschnitten. Handeln wie im Orient, das ist Marktwirtschaft pur : viele Anbieter mit vergleichbarer Ware, in einer engen Gasse direkt nebeneinander. Angebot, Nachfrage, Qualität und Überzeugungskraft bestimmen allein über den Preis. 127 Manfred Wittenstein HANS-WERNER SINN: PARTYKILLER MIT GUTEM GRUND Basarökonomie Manfred Wittenstein ist Aufsichtsratsvorsitzender der WITTENSTEIN AG , Weltmarktführer auf dem Gebiet der mechatronischen Antriebstechnik. Der ehemalige Präsident des VDMA und BDI-Vizepräsident ist »Entrepreneur des Jahres« und Mitglied in der Hall of Fame der weltbesten Unternehmer. 128 Das Typische am »Geschäftsmodell Deutschland« ist der starke industrielle Kern der Wertschöpfung insgesamt sowie die auffallend hohe Weltmarktorientierung der einschlägigen Branchen. Der Erfolg beruht dabei oft auf wissensintensiven und individualisierten Lösungen, die in einer eng vernetzten Landschaft aus Wirtschaft und Wissenschaft günstige, schwer kopierbare Voraussetzungen finden. Selbstverständlich ist dieser Erfolg jedoch nicht, er muss täglich neu errungen werden. Die Globalisierung sowie technologische Entwicklungen stellen bestehende Netzwerke auf den Prüfstand – zunehmend mobile Produktionsfaktoren wie Kapital und Wissen, rasant sinkende Trans aktionskosten und die Grenzenlosigkeit von Produzenten- und Konsumentenentscheidungen strafen Defizite über kurz oder lang ab. Nur durch ein intelligentes und verantwortungsvolles Miteinander von Wirtschaft, Wissenschaft, Politik und Gesellschaft wird es gelingen, als Standort attraktiv für knappe Res- sourcen zu bleiben und innovative Spitzen leistung in Wohlstand und Beschäftigung umzumünzen. Auch für die kommenden Generationen soll dies eine realistische Perspektive, eine mögliche Zukunft sein. Gerade deshalb ist es mehr als fahrlässig, wenn wir uns selbst feiern und bei der Party den Blick für Risiken und Gefahren verlieren. So wird in der Tat nach wie vor und allzu oft die internationale Wettbewerbsfähigkeit Deutschlands mit ein paar oberflächlichen Zahlen der Außenhandelsstatistik und zum Bruttoinlands produkt bewiesen. Die Logik dabei ist ebenso einfach wie einleuchtend : Beeindruckende Exporterfolge und ein im internationalen Vergleich relativ hoher Wertschöpfungsanteil der Industrie am Bruttoinlandsprodukt zeigen doch eindeutig, dass wir der große Profiteur der Globalisierung und offenkundig auf den Weltmärkten auch nicht zu teuer sind ! Einfach einleuchtend und einleuchtend einfach – aber leider einfach falsch. Zum Teil erfolgen die In- stufen der Fertigung beschränkt, der Rest sukzessive über Outsourcing und Offshoring abgewickelt wird. Dann haben wir zwar womöglich – zumindest für einige Zeit – erfolgreiche Unternehmen und hübsche Exportstatistiken, aber immer weniger Wertschöpfung, die zu Wohlstand und Beschäftigung bei uns im Land führt, zumindest in der Breite. Denn vielfältige strukturelle Verkrustungen sorgen für mangelnde Flexibilität, gerade auch auf dem Arbeitsmarkt – und ebendort liegt die wahre Antwort auf die Frage, ob Deutschland Globalisierungsgewinner ist. Man muss erkennen : Nicht alle Arbeitnehmer geraten gleichermaßen unter die Räder, sondern vor allem solche, die einfachere Tätigkeiten ausüben. Das ökonomische Gesetz des Faktorpreisausgleichs lässt sich politisch nicht aushebeln, allenfalls teuer und zu Lasten einzelner Arbeitnehmergruppen temporär vertuschen – oft sogar noch mit dem Argument, gerade diejenigen schützen zu wollen, die es dann nachher mit voller Wucht trifft. Ein klein wenig Morphium macht das Ganze noch leichter. Die Unternehmen sind gefordert, durch innovative Produkte und Dienstleistungen – auch fundamentale Geschäftsmodellinnovationen – dem globalen Wettbewerbsdruck die Stirn zu bieten. Die Politik ist gefordert, den rechtlichinstitutionellen Rahmen so zu setzen, dass die notwendigen und ökonomisch sinnvollen Spezialisierungsvorteile dabei nicht zwangsläufig mit einer Entkopplung der Wettbewerbsfähigkeit von Branchen, Unternehmen und Arbeitern einhergehen. Wir dürfen es nicht zulassen, dass die Globalisierung ganze Bevölkerungsgruppen vom Rest der Gesellschaft abkoppelt. Globalisierung erfolgreich meistern heißt auch, möglichst alle daran zu beteiligen. Das hat uns Hans-Werner Sinn dorthin geschrieben, wo es hingehört : hinter die Ohren ! Basarökonomie: Hans-Werner Sinn und die Globalisierung terpretationen vorsätzlich unwahr, größtenteils jedoch fehlt es wohl schlicht an einem hin reichenden Verständnis, an substanzieller Beschäftigung mit der Materie. Die schönen Zahlen sind das Morphium, das den Blick auf die Wahrheit und den dringenden Handlungs bedarf vernebelt. Und ich gebe es zu : Sowohl für mein eigenes Unternehmen als auch meine Branche, den Maschinen- und Anlagenbau, hatte ich lange ebenso eine leicht vernebelte Sicht. Als HansWerner Sinn mittlerweile schon vor vielen Jahren dann sehr exponiert auf den Nebel hinwies und ihn vertreiben wollte, da war das auch für mich zunächst etwas irritierend. Aber es gelang – mit starken Begrifflichkeiten wie »Ba sar ökonomie« und »pathologischer Exportboom« –, mein weiterführendes Interesse zu wecken und eine inhaltliche Auseinandersetzung und damit Erkenntnis zu provozieren. Ich kann mich noch gut an meine ersten Gespräche und Schriftwechsel mit Hans-Werner Sinn zu diesen Themen erinnern, und ich weiß aus eigener Erfahrung : Hans-Werner Sinn ist unbequem, er möchte überwunden werden, mit Argumenten, er bietet es an, und er macht es sich selbst dabei niemals leicht. Genau so entstehen Mehrwert, Erkenntnis und die Bereitschaft, etwas zu unternehmen – wenn man sich darauf einlässt. Und unsere Gesellschaft muss sich auf diese (und weitere) Diskussionen dringend einlassen, um zukunftsfähig zu bleiben. Denn wir haben längerfristig nichts davon, wenn unsere Industrie in dem oben skizzierten Sinne erfolgreich ist, allerdings dies mehr und mehr dadurch, dass flächendeckend die Kapitalintensität der Produktion nach oben geschraubt wird, nur noch sach- und humankapitalintensive Sektoren überlebensfähig sind und sich zudem die Wertschöpfung zunehmend auf die End- 129 Ilse Aigner DIE GLOBALISIERUNG ALS ERFOLGSFAKTOR FÜR BAYERN Basarökonomie Ilse Aigner ist seit Oktober 2013 Bayerische Staatsministerin für Wirtschaft und Medien, Energie und Technologie sowie Stellver tretende Ministerpräsidentin. Sie ist Mitglied des Bayerischen Landtags. Von 2008 bis 2013 war sie zudem Bundesministerin für Ernährung, Landwirtschaft und Verbraucherschutz. 130 »Die zunehmende weltweite wirtschaftliche Integration kann für Deutschland auch im 21. Jahrhundert eine Erfolgsstory werden, wenn wir uns wieder mehr auf unsere Stärken be sinnen und anpacken. Wir haben im globalen Wettbewerb nach wie vor gewaltige Potenziale, gerade hier in Bayern : eine breite Schicht engagierter, leistungsfähiger Unternehmen; qualifizierte Arbeitnehmer; auf breiter Front gute bis sehr gute Forschungskapazitäten; eine Präsenz auf den Weltmärkten wie wenige andere Länder.« Diese Einschätzung stammt vom damaligen bayerischen Wirtschaftsminister Otto Wies heu, als er im Herbst 2004 an den Münchner Seminaren von CESifo und der Süddeutschen Zeitung teilgenommen hat. Gut zehn Jahre später kann ich diesen Blick eines meiner Amtsvorgänger auf Deutschlands und Bayerns Chancen durch die Globalisierung nur bestätigen. Gerade das letzte Jahrzehnt hat gezeigt, welche Erfolgsgeschichte die Globalisierung für Bayern schon ist. Jährlich neue Exportrekorde, florierender Handel mit den neuen EU-Beitrittsländern in Osteuropa sowie mit vielen aufkommenden Märkten weltweit – und das alles ohne die befürchteten Arbeitsplatzverluste. Das zeigen die Zahlen sehr deutlich : 3,8 % Arbeitslosenquote im Jahr 2014 und immer neue Rekordwerte bei den sozialversicherungspflichtig Beschäftigten in Bayern sprechen klar dagegen, dass die g lobale Wettbewerbsfähigkeit der bayerischen Wirtschaft auf Kosten der Arbeitsplätze hierzulande ausgetragen wurde. Hinzu kommt, dass sich die Deindustrialisierungsbefürchtungen für Bayern bisher nicht bewahrheitet haben. Die Bruttowertschöpfung im Verarbeitenden Gewerbe lag in Bayern im Jahr 2013 mit 25,8 % sogar über dem Wert von 1995. Auch Deutschland insgesamt konnte sich gegen den Trend wehren, der viele andere traditionelle Industrieländer getroffen hat. Mit Thailand, Korea und China weisen derzeit nur drei Wettbewerbsländer Bayerns einen noch derungen und Trends rechtzeitig zu erkennen und anzugehen. Dies wird uns auch bei der Digitalisierung gelingen. Die wirtschaftlichen Vorteile der Globalisierung beruhen auf den Wohlfahrtsgewinnen durch den freien internationalen Handel. Es wäre deshalb geradezu fahrlässig, wenn wir die Potenziale von TTIP nicht nutzen würden, die nicht zuletzt auch die Studien des ifo Instituts aufzeigen. Die USA sind nach wie vor Bayerns wichtigster Exportmarkt. Der Abbau tarifärer und nichttarifärer Handelshemmnisse ist – bei entsprechender Berücksichtigung unserer europäischen, deutschen und bayerischen Schutzstandards – eine große Chance, insbesondere auch für viele bayerische Mittelständler. Wir müssen uns in Deutschland wieder für mehr wirtschaftspolitische Impulse und a nreizkompatible Standortvoraussetzungen für unsere Unternehmen einsetzen. Auf viele Rahmenbedingungen der Globalisierung haben wir nur wenig Einfluss. Aber die Möglichkeiten zur Stärkung der Wettbewerbs fähigkeit, die wir in Deutschland haben, sollten wir stärker nutzen. Ordnungspolitische Prinzipien wie »Verantwortung und Haftung«, »Erwirtschaften kommt vor dem Verteilen« sowie »Eigeninitiative und Risiko bereitschaft« müssen sich wieder stärker in den politischen Maßnahmen in Deutschland widerspiegeln. Ich bin mir sehr sicher, dass ich bei diesen Anliegen in Hans-Werner Sinn einen Mitstreiter habe. Und auch nach der ifo-Präsidentschaft wird er sich zu all diesen Themen weiterhin kompetent, ohne Konfliktscheue und sehr authentisch zu Wort melden – so wie wir ihn eben kennen und schätzen. Und so wie wir ihn auch in Zukunft als wirtschaftspolitischen Mahner und Berater gerne erleben wollen. Basarökonomie: Hans-Werner Sinn und die Globalisierung höheren Industrieanteil an der Wertschöpfung auf. Hans-Werner Sinn hat beim Thema Globa lisierung insbesondere mit seiner Theorie zur Basarökonomie vor gut zehn Jahren für Auf sehen gesorgt. Etliche Studien zeigen durchaus auch aktuell : Die Internationalisierung der Wertschöpfungsketten hat deutlich zugenommen. Gerade im exportstarken Verarbeitenden Gewerbe sehen wir, dass der aus dem Ausland importierte Anteil an Vorleistungsgütern nach wie vor sehr hoch ist. Nicht zuletzt durch Lohnzurückhaltung in Folge der Agenda 2010 ist es uns jedoch gelungen, den Verlust an Arbeitsplätzen zu begrenzen. Daneben haben die hohe Innovationskraft und Forschungsintensität der bayerischen Industrie dabei entscheidend geholfen. Dass wir um so viel besser sein müssen, wie wir teurer sind, hat insbesondere die bayerische Wirtschaft schon lange verinnerlicht. Wie können wir sicherstellen, dass die bis herigen Erfolge durch die Globalisierung auch in Zukunft erhalten bleiben ? Wie können wir die deutsche und bayerische Wettbewerbs fähigkeit unter fortschreitender Internationa lisierung der Wertschöpfungsketten auch in Zukunft sichern ? Ich will hier auf einige Aspekte eingehen : Den aktuellen Megatrend Digitalisierung müssen wir in allen Wirtschaftsbereichen und in der Arbeitswelt so fördern, dass die hohen Wertschöpfungspotenziale in diesem Bereich tatsächlich umgesetzt werden. Wir werden deshalb Forschung und Entwicklung in wichtigen Schlüsselfeldern der Digitalisierung wie Industrie 4.0, vernetzte Mobilität, digitale Gesundheit, Energie und Bildung voranbringen. Gleichzeitig wollen wir unsere mittelständischen Betriebe bei der Suche nach neuen Produktionsprozessen und Geschäftsmodellen unterstützen. Bayern hat sich schon immer dadurch ausgezeichnet, die neuen Herausfor- 131 John Whalley HANS-WERNER SINN UND DIE GLOBALISIERUNG Basarökonomie John Whalley ist Direktor des Centre for the Study of Inter national Economic Relations (CSIER) an der Western University in Kanada. Er ist Distinguished Fellow des Centre for International Governance Innovation (CIGI) und Direktor der CESifo Area on Global Economy. 132 Während seiner langen und illustren wissenschaftlichen Karriere hat Hans-Werner Sinn auf vielerlei Art und Weise zur Globalisierungsdebatte beigetragen. Natürlich hat der Begriff Globalisierung in unterschiedlichen Disziplinen unterschiedliche Bedeutung, doch die allumfassenden Auswirkungen sind bereits seit langem Thema in Sinns Arbeiten. Für P olitikwissenschaftler bedeutet Globalisierung eine Schwächung inländischer Institutionen und eine progressive Übertragung von Autorität auf transnationale oder globale Instanzen. Sie ist das moderne Äquivalent des marxistischen Absterbens des Nationalstaates oder, anders ausgedrückt, der nächste Schritt nach dem Westfälischen Frieden und 200 Jahren Nationenbildung. Für Soziologen bedeutet Globalisierung die Vermischung und Verschmelzung diverser Kulturen, Sprachen und Gesellschaftssysteme. Globalisierung weist also in Richtung der Entstehung einer einzigen allumfassenden Monokultur. Für Ökonomen schließlich ist es die zunehmende grenzübergreifende ökonomische Integration von freierem Handel von Gütern, Dienstleistungen, Kapital und Arbeitskräften bis hin zu integrierten Kommunika tionssystemen. Freihandel, so Hans-Werner Sinn, wird als Synonym für Globalisierung wahrgenommen. Allerdings handelt es sich bei der Globalisierung laut Sinn auch um einen langfristigen Prozess, für dessen Erfolg noch viel getan werden muss. In den Nachkriegsjahren erlebten wir zwar eine progressive Verringerung der Handelshemmnisse für Industriegüter, in den Bereichen Landwirtschaft und Dienstleistungen bestehen hingegen weiterhin große Barrieren. Wie die jüngste Literatur zu Handelskosten außerdem betont, ist eine Verminderung der tarifären Handelshemmnisse allein nicht ausreichend, um alle Vorteile der Globalisierung zu realisieren. Andere Handelsbarrieren wie Sprache, Transportkosten und Produktbzw. Prozessstandards (und Regulierung im geprägten »Beggar thy neighbour«-Politik der 1930er Jahre. Die Kräfte des nationalen Interesses, die der Literatur zufolge solchen Vergeltungsmaßnahmen zugrunde liegen, wurden durch die Globalisierung geschwächt. Dies zeigt sich vor allem im grenzübergreifenden Kapitalbesitz, der eine Vergeltungspolitik unrentabel macht. Des Weiteren erlaubt das Heranwachsen neuer Volkswirtschaften im Vergleich zu den 1930ern eine ökonomische Diversifizierung, die die Wirkung und damit die Vorteile bilateraler Abschottungsmaßnahmen reduziert. Auch zur Diskussion um die verschiedenen Teilaspekte der Globalisierung hat Hans-Werner Sinn wesentliche Beiträge geleistet. Einer davon ist die »Glokalisierung«. Dieser Begriff beschreibt eine Welt, die gleichzeitig globaler und lokaler wird. Auf ökonomischer Ebene beobachtet man eine stetig tiefer greifende In tegration in immer größeren Einheiten – beispielsweise die EU und NAFTA. Auf politischer Ebene gibt es hingegen einen Drang hin zur Fragmentierung politischer Strukturen in kleinere Einheiten. So gibt es die Schotten und ihre Unabhängigkeitsbewegung, das britische Referendum zur EU-Mitgliedschaft, Quebecs mögliche Abspaltung von Kanada sowie den Versuch Kataloniens und des Baskenlandes, mehr Autonomie gegenüber Spanien zu erlangen. Hans-Werner Sinn hat stets betont, wie wichtig es ist, bei der Globalisierung die Rolle Bayerns in Deutschland und das Verhältnis Deutschlands zur EU zu berücksichtigen und sich nicht nur in Richtung einer einzigen Einheit und der Entstehung globaler Institutionen zu bewegen. Sinn ist also nicht nur ein Globalisierer, sondern auch ein »Glokalisierer«. Im Ruhestand kann der globalisierte HansWerner Sinn nun auf eine mehr und mehr globalisierte Welt blicken, eine Welt, die er mit seinen Ideen mitgeprägt hat. Basarökonomie: Hans-Werner Sinn und die Globalisierung Allgemeinen) bleiben bestehen und segmentieren die Märkte nach wie vor. Zwar mögen die Kapitalmärkte der OECD-Länder eng integriert sein, doch der chinesische Renminbi und die indische Rupie sind nach wie vor nicht vollständig konvertibel. Im Hinblick auf die Arbeitsmärkte führen Beschränkungen bei Visaund Arbeitsgenehmigungen zu starken Marktsegmentierungen. Als Integrationsprozess, wie Sinn betont, ist Globalisierung ein andauernder Vorgang und wird dies vermutlich auch noch viele Jahrzehnte bleiben. Globalisierung ist außerdem ein Prozess, der sowohl Umkehr als auch Fortschritt bedeutet. So können rigide Regeln auf den Arbeits märkten als Antwort auf grenzüberschreitende Arbeitnehmerströme den Vorteil der Globali sierung ins Gegenteil verkehren. Gleichzeitig wird der Nutzen sinkender Zölle durch die zunehmende Verwendung spezieller Antidumpingzölle unterminiert. Natürlich hat Globalisierung auch ihre schlechten Seiten, die von Sinn – zusammen mit möglichen Abhilfen – offen diskutiert werden. Ein klarer Nachteil ist die Ausbreitung von Schocks über Landesgrenzen hinaus in Form des Ansteckungseffekts. Die Finanzkrise 2008 machte diese Gefahr deutlich und zeigte außerdem die Notwendigkeit einer globalen Finanzaufsicht. Sinn war stets in der vordersten Reihe bei der Forderung nach entsprechenden Reformen. Ein weiterer negativer Aspekt, der oft mit Globalisierung verbunden wird, ist, dass stärkere Integration nicht nur zu mehr Ungleichheit führt, sondern gleichzeitig die Effektivität von Politikinstrumenten zur Bekämpfung derselben einschränkt. Sinn nennt hier als Beispiel den Steuerwettbewerb. Positiv ist hingegen, dass die Globalisierung die weltweite Finanzkrise 2008 größtenteils überstanden hat, trotz der Bedenken einer möglichen Rückkehr zur vom Protektionismus 133 John Peet VOM FREIHANDEL Basarökonomie John Peet war von 2003 bis 2015 Redakteur der Rubrik Europa des Economist und ist nun politischer Redakteur. Seine Expertise be inhaltet u. a. Spanien, die EU, EWU, Irland, Italien, die Türkei und Frankreich. Im Mai 2014 veröffentlichte er Unhappy Union: how the euro crisis – and Europe – can be fixed. 134 Während der vielen vergnüglichen Jahre als Teilnehmer und Diskussionsleiter beim Munich Economic Summit (MES) hatte ich einige Differenzen mit Hans-Werner Sinn, so z. B. zu Aspekten der Eurokrise, zur exzessiven Sparpolitik und zum Klimawandel. Stets korrekt waren seine Analysen meiner Meinung nach im Hinblick auf den Freihandel. Dieses Thema ist gerade für den Economist von besonderer Bedeutung, da unsere Zeitschrift 1843 gegründet wurde, um für Freihandel und gegen die protektionistischen Korngesetze Großbritanniens zu kämpfen. Die gedankliche Auseinandersetzung mit und die Argumentation für Freihandel bleiben weiterhin essentiell, gerade weil sie für den Laien nicht intuitiv verständlich sind. So wird David Ricardos auf den Ideen von Adam Smith aufbauende Abhandlung zur Theorie des komparativen Vorteils oftmals als der wichtigste – von Zynikern als der einzige – intellektuelle Fortschritt der Volkswirtschaftslehre bezeich- net. Bemerkenswert ist außerdem, dass trotz dieser Erkenntnis des 19. Jahrhunderts nachfolgende Generationen von Politikern und Geschäftsleuten weiterhin den Sinn des Frei handels hinterfragen, für Protektionismus und gegen Freihandelsabkommen eintreten. Deutschland ist dabei einer der Hauptkampfschauplätze. Seit Bismarcks Argumentation von der »jungen Industrie« gibt es in Deutschland laute Stimmen gegen den immer freieren Handel. Nichtsdestotrotz setzt sich Deutschland seit 1945 vorbildlich für immer weitere GATT- und WTO-Handelsrunden und für mehr Libera lisierung im Europäischen Binnenmarkt ein. Bis jetzt. Denn eine der Schlussfolgerungen des MES 2014 in Bezug auf den Handel im Allgemeinen und das Transatlantische Freihandelsabkommen (TTIP) zwischen Europa und den Vereinigten Staaten im Besonderen war, dass die öffentliche Meinung in Deutschland zu einem erheblichen Teil in Richtung Antiglobalisierung und Antifreihandel tendiert. mungen, die so vielen unserer Lebensmittel-, Gesundheits- und Sicherheitsstandards zugrunde liegen, zu verwässern, um mehr Handel und Wettbewerb zu schaffen. Gerüchte über die möglichen Gefahren von TTIP sind weit verbreitet – in Amerika wie in Europa. So wird in Großbritannien behauptet, TTIP würde das nationale Gesundheitssystem unterminieren. Überall in Europa gibt es Sorgen, TTIP könne zu Importen von genmanipulierten Organismen, Hormonfleisch sowie Chlorhühnchen führen. Trotzdem gehen die TTIP-Verhandlungen weiter. Wenn überhaupt, haben sie sogar an Bedeutung gewonnen. Bei begrenztem Inter esse an breiten multilateralen Verhandlungen sind TTIP und sein pazifisches Gegenstück, das transpazifische Partnerschaftsabkommen, die einzigen veritablen Optionen. TTIP könnte für die beiden größten Handelsblöcke Europa und Amerika außerdem die letzte Möglichkeit sein, sich über Standards zu einigen, bevor China seinen rechtmäßigen Platz als weltgrößte Handelsnation einnimmt. Außerdem beeinflusst TTIP die britische Entscheidung zur EUMitgliedschaft : Ist TTIP erfolgreich, so ist dies ein wesentlicher Grund für Großbritannien, in der EU zu bleiben. Sollte TTIP scheitern, so werden Euroskeptiker verlangen, das Land s olle die EU verlassen und ein eigenes Abkommen mit Amerika schließen. Hier sind die Argumentationskraft und Leidenschaft von Ökonomen wie Hans-Werner Sinn von großer Bedeutung. Die öffentliche Meinung in Deutschland mag zunächst gegen TTIP sein, doch hat die Vergangenheit gezeigt, dass sie offen für überzeugende Argumente ist. Kanzlerin Merkel wie auch der britische Premier Cameron sind fest von TTIP überzeugt. Politiker brauchen jede Unterstützung, die sie bekommen können – von Wissenschaftlern, Journalisten und anderen Meinungsbildnern –, wenn sie das Abkommen realisieren wollen. Basarökonomie: Hans-Werner Sinn und die Globalisierung Seit 1999, als Demonstranten die Handels gespräche in Seattle störten, sind die Gegner des freien Handels wie Pilze aus dem Boden geschossen. Mit TTIP hingegen gibt es ein grundlegenderes Problem. Es handelt sich nicht mehr um ein klassisches Handelsabkommen zur Reduzierung von Zöllen und anderen Formen des Protektionismus gegen den freien Güterverkehr, sondern es geht um die Eliminierung nichttarifärer Handelshemmnisse, die durch unterschiedliche Standards in Bereichen wie Gesundheit, Tier- und Pflanzenschutzrecht verursacht werden. Außerdem soll eine Dis kriminierung ausländischer Investoren verhindert werden, indem diesen gestattet wird, Regierungen unter bestimmten Umständen zu verklagen. Wie einige andere Handelsabkommen betrifft TTIP sowohl den Handel mit Gütern als auch den mit Dienstleistungen. Dies scheint die deutschen Empfindlichkeiten am meisten zu treffen. Das Land hat eine der ältesten Umweltbewegungen in Europa. So waren die Grünen lange Zeit Europas erfolgreichste grüne Partei, mit Regierungsbeteiligung auf Bundesebene von 1998 bis 2005. Die Ablehnung von Chlorhühnchen und -salaten oder genmanipulierten Nahrungsmitteln ist in vielen europäischen Ländern tief verwurzelt, aber wahrscheinlich am tiefsten in Deutschland. Folglich ist die Vermittlung eines Freihandelsabkommens, von dem – fälschlicherweise – angenommen wird, dass es einige dieser Dinge zuließe, für politische Entscheidungsträger besonders schwierig. Der frühere Generaldirekter der WTO, Pascal Lamy, hat diese Situation mit der Bemerkung, Handelsverhandlungen befassten sich mittlerweile weniger mit Protektionismus als mit Vorsichtsmaßnahmen, gut zusammengefasst. Es ist wesentlich leichter, Wähler (und Konsumenten) davon zu überzeugen, Protektionismus abzuschaffen, als davon, Verbraucherschutzbestim- 135 Karlhans Sauernheimer HANS-WERNER SINN IM AUSSENWIRTSCHAFTSAUSSCHUSS Basarökonomie Karlhans Sauernheimer ist Emeritus der VWL. Er lehrte und forschte in Essen, München und Mainz zur Außenwirtschaftstheorie, war Mitherausgeber des Jahrbuchs für Wirtschaftswissenschaften, Vorsitzender des Außenwirtschaftsausschusses im VfS und Mitglied des Wissenschaftlichen Beirats im ifo Institut. 136 Hans-Werner Sinn wäre nicht Hans-Werner Sinn, wenn er sich, von Hause aus eigentlich Finanzwissenschaftler, bei den Außenhandels ökonomen im Verein für Socialpolitik, dessen Vorsitzender er später werden sollte, nicht mit einem Paukenschlag eingeführt hätte. Bei der Jahrestagung ihres Ausschusses 1984 in Regensburg präsentierte er seinen später in Kyklos publizierten Beitrag »Die Bedeutung des Accelerated Cost Recovery Systems für nationalen Kapitalverkehr«. Das den inter System war in den USA 1981 von Präsident Reagan eingeführt worden. Allerdings schien der auf technische Details wie Abschreibungsmodalitäten hinweisende Titel des Beitrags nur wenig Zündstoff zu bieten. Dies galt umso mehr, als der Referent mit seinen bisherigen Publikationen Ökonomische Entscheidungen bei Ungewißheit und Kapital einkommensbesteuerung sowie seiner gerade erfolgten Berufung auf einen versicherungswissenschaftlichen Lehrstuhl an die LMU München nicht gerade als Außenhandelsökonom hervorgetreten war. Seine zunächst wenig kontrovers erscheinenden allokativen Überlegungen gewannen rasch an Dramatik, als er klarmachte, welche Dimension der zu erwartende Kapitalabfluss aus Deutschland haben würde und welch unangenehme Handlungsoptionen Deutschland verbleiben würden, um die drohende Kapitalflucht abzuwenden. HWS rechnete vor, dass 7 % des Weltkapitalstocks und damit 14 % – 21 % des Welt-BIP in die USA umgelenkt würden, was Leistungsbilanzdefizite in Höhe von 4 % p. a. des US-BIP über eine Dauer von zehn Jahren nach sich ziehen werde. Er schloss seinen Vortrag mit den Worten : »Wenn Deutschland die Wahl hat, den Rechtsgrundsatz einer nutzungsdaueradäquaten Abschreibung aufzugeben oder seine kapitalintensiven Industrien zu verlieren, sollte die Entscheidung nicht schwerfallen.« Nun, ganz so schlimm kam es dann doch nicht. Die Leistungsbilanz der USA ver- deduzierten, dauerhaften, internationalen Reallokationseffekten des Kapitalbestandes die zu ihrer Realisation erforderlich werdenden temporären, aber u. U. langjährigen Leistungsbilanzeffekte ab : Die Kapitalbilanz führt, die Leistungsbilanz folgt. So prognostizierte er im genannten Beitrag für die 1980er Jahre die anhaltenden Leistungsbilanzdefizite der USA. Im Zusammenhang mit der Öffnung Osteuropas sowie der Schaffung der Eurozone verwies er auf die zu erwartende Kapitalreallokation zugunsten Ost- und Südeuropas, die in Deutschland hohe Leistungsbilanzüberschüsse zur Folge haben müsse. Infolge der hohen Reallohnstarrheit in den 1990er Jahren hierzulande und dem zinssenkungsbedingten Konsumboom im Süden der Eurozone seien, so sein Argument, die deutschen Exporte ineffizient hoch. Die Wohlfahrtseinbußen zeigten sich im ersten Fall in wachsender Arbeitslosigkeit, im zweiten Fall im Erwerb von wertlosen Nettoauslandsforderungen. Der erste Problemkreis ist in seinen Arbeiten zur Basarökonomie angesprochen, der zweite in seinen Arbeiten zu den Verwerfungen in der Eurozone im Allgemeinen und zu den Target-Salden im Beson deren. Last but not least enthält viertens der ausgewählte Beitrag – für eine ausführlichere Würdigung der an der Volkswirtschaftlichen Fakultät und dem ifo Institut verbrachten gemeinsamen Zeit fehlt hier der Raum – eine hübsche personelle Pointe. Sinn zitiert als erste seiner Quellen im Beitrag einen Aufsatz von W. Fuest und R. Kroker, Steuerliche Förderung von Investition und Innovation im internationalen Vergleich, Köln 1981. Der erstgenannte Autor ist der Onkel jenes Clemens Fuest, der 35 Jahre später Sinns Nachfolge im ifo Institut antritt. Basarökonomie: Hans-Werner Sinn und die Globalisierung schlechterte sich ab 1982 zwar in der Tat erheblich. Das Defizit blieb aber in den 1980er Jahren im Durchschnitt bei 2 %. Der Beitrag enthielt erstens bereits all jene allgemeinen Ingredienzen, die Sinns Beiträge bis heute ausmachen : ein modelltheoretisches Gerüst, Kenntnis der für die aufgeworfenen Fragen relevanten faktischen und institutionellen Sachverhalte sowie eine unmissverständ liche, nicht selten verblüffende wirtschaftspolitische Botschaft, all das verpackt in eine klare, kraftvolle Diktion. Unter deutschen Ökonomen haben in den letzten 50 Jahren nur Karl Schiller und Herbert Giersch über eine vergleichbar bildhafte und wirkmächtige Sprache verfügt wie Hans-Werner Sinn. Der Beitrag beinhaltete zweitens einen speziellen Anwendungsfall jenes Kapitalalloka tionsmodells, anhand dessen Sinn in seiner Habilitationsschrift die intersektoralen, internationalen und intertemporalen Wirkungen der Besteuerung studiert hatte. Die Logik des Modells, die Sinn dort im Detail entfaltete, bot eine Fülle höchst überraschender, zu konven tionellem Denken querstehender Einsichten. Krause-Junk kommentierte das Buch in seiner Besprechung in der Zeitschrift für Wirtschaftsund Sozialwissenschaften 1987 dann auch wie folgt : »Wo das Übliche trivial erscheint, fas ziniert das Unvermutete. So herrscht in der ökonomischen Theorie mehr Freude an einem Paradox als an hundert Orthodoxien. Das Sinn’sche Buch ist voller Freuden.« Den Paradoxien in den Wirtschaftswissenschaften hatte Sinn schon 1981 einen auch heute noch höchst lesenswerten Artikel im Jahrbuch für Sozial wissenschaft gewidmet. Der Beitrag leitet drittens, ebenfalls nicht untypisch für das Sinn’sche Denken, aus den 137 Der Chef der BMW Stiftung erbert Quandt, Michael Schaefer, H bei der letzten gemeinsam mit HWS organisierten Veranstaltung des Munich Economic Summit im Mai 2015. Zwei nachdenkliche Gesichter bei einem gemeinsam von der CESifoGruppe und der Süddeutschen Zeitung veranstalteten Münchner Seminar im Frühjahr 2013: die bayerische Wirtschaftsministerin Ilse Aigner und der ifo-Präsident. ifo-Bereichsleiter Gabriel Felbermayr und HWS beim sechsten Brussels International Economic Forum (BrIEF) des ifo Instituts mit dem Ausschuss der Regionen in Brüssel, Oktober 2012. 138 Sie haben den Munich Economic Summit von 2006 bis 2013 gemeinsam geleitet: Jürgen Chrobog, ehemaliger Staatssekretär im Auswärtigen Amt, und HWS. Hier beim MES im Mai 2015. Der erste Wissenschaftliche Beirat des CES (1992/93): ( von links nach rechts ) Hans Möller, Franz Gehrels, Karlhans Sauernheimer, Martin Beckmann, HWS (nicht im Drei teiler !), Edwin von Böventer, Richard Musgrave, Otto Gandenberger, Agnar Sandmo, Klaus immermann. Z April 2008: Der damalige Bayerische Ministerpräsident Günther Beckstein zeichnet HWS mit dem Maximiliansorden für Wissenschaft und Kunst aus. 139 Süddeutsche Zeitung, 2012 6 DAS GRÜNE PARADOXON: Hans-Werner Sinn und die Klimaund Energiepolitik Karen Pittel EINLEITUNG Das grüne Paradoxon: Hans-Werner Sinn und die Klima- und Energiepolitik Das grüne Paradoxon Karen Pittel leitet seit 2010 das ifo Zentrum für Energie, Klima und erschöpfbare Ressourcen und ist Professorin für Volkswirtschafts lehre an der Ludwig-MaximiliansUniversität München. Ihre Forschung umfasst Fragen der langfristigen Wirtschaftsentwicklung, Ressourcennutzung und Energiepolitik. 142 In meinen nunmehr fünf Jahren am ifo Institut habe ich es häufig erlebt, dass Hans-Werner Sinn für einen »Klimawandelskeptiker« gehalten wird. Wer dies behauptet, hat ihm allerdings nie wirklich zugehört. Seine Kritik an der heutigen Klima- und Energiepolitik wird gern mit einer generellen Skepsis gegenüber ihrer Notwendigkeit verwechselt. Eine solche Argumentation erspart es seinen Kritikern dabei häufig, sich mit seinen Argumenten genauer auseinanderzusetzen. Sie zeigt aber auch, wie emotional und losgelöst von ökonomischer Rationalität die Debatte um Klimaschutz und Energiepolitik häufig geführt wird. Was aber sagt Hans-Werner Sinn tatsächlich ? Er wagt es, in einer Zeit, in der mehr häufig mit besser verwechselt wird, darauf hinzuweisen, dass auch in der Klima- und Energiepolitik mehr durchaus nicht immer besser sein muss. Dass seine Argumente stringenter ökonomischer Logik folgen, wird dabei gerne ignoriert. Hans-Werner Sinn hat schon früh begonnen, sich mit Ressourcen- und Energiethemen auseinanderzusetzen. Bereits Anfang der 1980er Jahre, als die Diskussion um den Klimawandel noch in den Kinderschuhen steckte, wies er darauf hin, dass wohlmeinende Politiken, die den Abbau von Öl, Kohle oder Gas verlangsamen sollen, genau das Gegenteil erreichen können. Das Hauptargument ist, dass eine drohende Entwertung der Ressourcen durch nachfragereduzierende Politiken Anreize schafft, diese eher heute als morgen aus dem Boden zu holen. Hans-Werner Sinn bezeichnet diesen Effekt als das »grüne Paradoxon« der Klimapolitik. Er erkannte damit früher als viele andere, dass die Vernachlässigung des Angebotsver haltens von Ölscheichs, Gaszaren und Kohle baronen zu fundamentalen Fehleinschätzungen von Politiken führen kann. Es überrascht kaum, dass seine theoretischen Ergebnisse lange Zeit wenig Resonanz in der ›realen Welt‹ fanden. Dies änderte sich radikal mit Erscheinen seines Buches Das grüne Jahre bezeichnet. Die Überfrachtung mit sich teilweise widersprechenden Zielen und Instrumenten kritisiert er dabei ebenso wie den überhasteten Atomausstieg. Seine stringente gesamtwirtschaftliche Argumentation steht dabei in krassem Gegensatz zu der oft einzelwirtschaftlich und an technischer Effizienz ausgerichteten politischen Debatte. Die Forderung einer Orientierung an Grundprinzipien ökonomisch effizienter Regulierung wird zwar von der überwältigenden Mehrheit der Ökonomen geteilt, trifft aber im politischen Raum unweigerlich auf Skepsis. Ungeliebte und daher gern vernachlässigte Probleme, wie die Frage nach der Sinnhaftigkeit von Elektromobilität bei einem kohlelastigen Strommix oder auch die schwankende Einspeisung von Wind- und Solarenergie in Abwesenheit geeigneter Speicher, bringt er mit Begriffen wie »Kohleautos« und »Zappelstrom« ins öffentliche Bewusstsein. Das originäre Ziel der Energiewende, die Reduktion von Treibhausgasen, stellt HansWerner Sinn dabei nicht in Frage. Seine Kritik richtet sich gegen die Mittel. Ist die globale Reduktion der Emissionen das übergeordnete Ziel der Energiewende, sollte die Wahl der Vermeidungstechnologien – bei Setzung geeigneter Rahmenbedingungen – dem Markt überlassen werden. Darüber hinausgehende Eingriffe und Steuerungsversuche setzen lediglich die Koordinationskräfte des Marktes außer Kraft und verteuern so die Transformation unnötig. Hans-Werner Sinns Positionierung in der Energie- und Klimadebatte kann kaum überraschen. Sie reflektiert grundsätzliche Prinzipien des Ordoliberalismus, die sein gesamtes Werk durchziehen. Um es mit den Worten von Karl Schiller zu sagen : »So viel Markt wie möglich und so viel Staat wie nötig.« Das grüne Paradoxon: Hans-Werner Sinn und die Klima- und Energiepolitik Paradoxon – Plädoyer für eine illusionsfreie Klimapolitik im Jahr 2008. Für seine kritische Abrechnung mit der heutigen Energie- und Klimapolitik erntete er – auch wenig überraschend – nicht nur Beifall. So wurde er bereits ein Jahr später vom Naturschutzbund Deutschland als »Dinosaurier des Jahres« ausgezeichnet. Wer Hans-Werner Sinn kennt, der weiß, dass ihn diese Einschätzung eher anspornen dürfte, sich umso mehr für eine rationale und theoriefundierte Klimapolitik einzusetzen. Seit Erscheinen des Buches ist die wissenschaftliche Literatur zu diesem Thema förmlich explodiert. Von der Politik dagegen wird das grüne Paradoxon immer noch gern als theoretisches Kunstprodukt abgetan, da es empirisch nur schwer nachzuweisen ist. In die Analysten etagen der Banken hat es allerdings längst Einzug gehalten. Die Erwartung eines Rückgangs der zukünftigen Ressourcennachfrage wird dort als eine der Ursachen für die zurzeit niedrigen Ölpreise diskutiert. Für Das grüne Paradoxon gilt grundsätzlich das Gleiche wie für andere Bücher von HansWerner Sinn : Wissenschaftler, Politiker und Bürger reiben sich an seinen Aussagen, widersprechen ihm und werfen ihm eine übermäßige Vereinfachung komplexer Sachverhalte vor. Aber auch mit diesem Buch ist ihm gelungen, was keinem anderen deutschsprachigen Ökonomen in gleicher Weise gelingt : Erkenntnisse der ökonomischen Forschung in die gesellschaftliche Debatte einzubringen. Dabei seziert er die Sachlage mit chirurgischer Präzision und identifiziert Schwachstellen wie auch Herausforderungen von Politiken punktgenau. Die deutsche Energiewende verfolgt HansWerner Sinn mit unverhohlener Skepsis, wenn nicht sogar mit Grauen. Als »Energiewende ins Nichts« hat er die Entwicklung der letzten 143 Rick van der Ploeg DIE POTENZIELLE KONTRAPRODUKTIVITÄT VON SECOND-BEST-MASSNAHMEN IN DER KLIMAPOLITIK Das grüne Paradoxon Rick van der Ploeg ist Professor für Volkswirtschaftslehre an der Universität Oxford und Wissenschaftlicher Leiter des Oxford Centre for the Analysis of Resource Rich Economies. Zudem lehrt er an der Freien Universität Amsterdam und leitet das Fachgebiet Public Sector Economics im CESifo-Netzwerk. 144 Das grüne Paradoxon und die mögliche Kontraproduktivität von nicht durchdachter Klimapolitik wurden von Hans-Werner Sinn 2008 in seinem Buch und in einem wissenschaftlichen Artikel vorgestellt. Tatsächlich gehen die Ideen auf frühere theoretische Arbeiten aus den 1980er Jahren zurück, in denen er zeigt, dass eine über die Zeit steigende Wertsteuer auf fossile Brennstoffe zu einer Beschleunigung des Brennstoffabbaus führt. Wie es für ihn typisch ist, hat er auch in der deutschen politischen Debatte in klaren Worten vor dem grünen Paradoxon gewarnt. Zumindest teilweise müssen ihn dazu die hohen Subventionen für Solarenergie in Deutschland angeregt haben. In Anbetracht seiner herausragenden Leistungen auf dem Gebiet der Finanzwissenschaft und der Ressourcenökonomie ist es keine Über raschung, dass das ökonomische Prinzip des Zweitbesten die Grundlage des grünen Paradoxons bildet. Politiker schrecken vor erstbesten Politikmaßnahmen zur Bekämpfung des Kli- mawandels zurück, wie etwa einem CO2-Preis. Eher warten sie ab, verschieben eine Bepreisung von CO2 und versuchen stattdessen, ihre Nachfolger zu verpflichten. Zudem arbeiten Politiker lieber mit Zuckerbrot als mit Peitsche : Lieber subventionieren sie erneuerbare Ener gien – weit über das notwendige Maß hinaus, das die positiven Externalitäten von learningby-doing internalisieren würde –, als dass sie ehrlich handeln und einen ökonomisch rich tigen CO2-Preis durchsetzen. Zweitbeste Politiken wie das Verschieben von CO2-Bepreisung und die Subventionierung von erneuerbaren Energien haben die ungewollte Folge, fossile Brennstoffpreise zu senken, sowohl in der Zukunft als auch, über intertemporale Arbitrage, in der Gegenwart. Im Ergebnis steigen die Nachfrage nach fossilen Brennstoffen und die CO2-Emissionen, und der Klimawandel wird beschleunigt. Dies hätte kurzfristig negative Auswirkungen auf die Wohlfahrt. In der längeren Frist allerdings dern, Emissionsgrenzwerte für Autos festzu legen oder strenge Energieeffizienzstandards für Gebäude durchzusetzen, nichts am unablässigen Anstieg der CO2-Emissionen geändert haben. Durchaus zu Recht betont Sinn, dass eine Politik, die vormals landwirtschaftlich genutzte Flächen zur Biokraftstoffproduktion umwidmet, die Ärmsten auf unserem Planeten hungriger macht und schlechter stellt. Sein Plädoyer ist daher, nicht zu versuchen, die Nachfrage nach fossilen Brennstoffen zu regulieren, sondern direkt das fossile Brennstoffangebot zu begrenzen, indem mehr davon im Boden belassen wird – und somit die kumulativen Emissionen zu senken. Das kommt einem CoaseAnsatz nahe, bei dem die Anbieter fossiler Brennstoffe Geld erhalten, um sie nicht abzubauen. Sein ehrgeiziger Vorschlag ist, alle Netto importeure von fossilen Brennstoffen in einem globalen Kartell mit einem glaubwürdigen und koordinierten Cap-and-trade-System zu organisieren und dies zu ergänzen durch eine Quellensteuer auf Kapitaleinkommen der Öl- und Gasscheichs. Sein leidenschaftliches Plädoyer, den Klimawandel an der Wurzel des Problems anzugehen, sollte in politischen Kreisen besser Fuß fassen und ist beispielhaft für seine einzigartigen Fähigkeiten als politikgetriebener Intellektueller und Wissenschaftler. Obwohl lautstarke grüne Aktivisten in Deutschland und anderswo oft Anstoß genommen haben an Sinns unwillkommener Kritik an schlecht gestalteter Energie- und Klimapolitik, würden sie gut daran tun, sich seine Analyse anzueignen, um effiziente und effektive Wege zu finden, den Klimawandel zu bekämpfen. Unsere Enkel kinder und ihre Nachkommen würden uns nicht vergeben, wenn wir nicht umgehend Maßnahmen ergreifen würden für die vielleicht wichtigste Herausforderung unserer Zeit. Das grüne Paradoxon: Hans-Werner Sinn und die Klima- und Energiepolitik würden selbst solche zweitbesten Politiken mehr fossile Brennstoffe unter der Erde belassen und somit die kumulierten Emissionen begrenzen, so dass der letztliche Anstieg der globalen Erwärmung eingeschränkt würde. Diese positiven Wohlfahrtseffekte sind stärker als die negativen kurzfristigen Wohlfahrtseffekte, wenn die Preiselastizität der fossilen Brennstoffnachfrage klein, die des fossilen Brennstoff angebots groß und die ökologische Diskontrate klein ist. Wenn das aber nicht der Fall ist, dann sind zweitbeste Maßnahmen tatsächlich kontraproduktiv; unter diesen Umständen schlägt Sinn vor, die von Produzenten fossiler Brennstoffe gehaltenen finanziellen Vermögenswerte zu be steuern. Solch eine Steuer bremst das Bestreben der Brennstoffproduzenten, Finanzvermögen aufzubauen, und hat den gegenteiligen Effekt einer verschobenen CO2-Steuer. Man kann das grüne Paradoxon als intertemporale Version von carbon leakage betrachten, dem Gedanken, dass ein in einer Anzahl Länder geltender CO2-Preis die Preise für fossile Brennstoffe drückt und somit die Nachfrage nach fossilen Brennstoffen in allen anderen Ländern und den Klimawandel beschleunigt. Der »paradoxe« Effekt einer verschobenen CO2-Bepreisung führt zu carbon leakage, sowohl in der Gegenwart als auch in der Zukunft. Das grüne Paradoxon hat eine umfangreiche, eher technische akademische Literatur hervorgebracht, mit wenig fundierten angewandten Studien, die einen überzeugenden Nachweis für signifikante und substanzielle negative Effekte von zweitbesten Klimapolitiken auf die reale Welt erbringen würden. Dennoch : Das Gewicht von Sinns Worten zeigt sich in dem viel weiteren Blickwinkel, den er in seinem Buch einnimmt. Darin erörtert er teilweise recht provokativ, dass die Bemühungen vieler Regierungen, etwa alternative Energien zu för- 145 Nicholas Stern HANS-WERNER SINN, DER KLIMAWANDEL UND DAS GRÜNE PARADOXON Das grüne Paradoxon Nicholas Stern ist IG Patel Professor an der LSE. Er war Chefökonom bei EBRD und Weltbank, Leiter des Government Economic Service und leitete den Stern-Report zur Ökonomik des Klimawandels. 2004 wurde er zum Ritter geschlagen, 2007 zum Life Peer ernannt. Sein jüngstes Buch ist Why Are We Waiting?. 146 Hans-Werner Sinn ist seit rund vier Jahrzehnten führend in der Analyse der Grundlagen von Finanzwissenschaft und Public Policy. Ebenso führt er die öffentliche Diskussion an. Er ist wahrhaftig ein öffentlicher Intellektueller, im besten Sinn des Wortes : in hohem Maße bewundert von seinen wissenschaftlichen Kollegen und ein mächtiger und konstruktiver Einflussfaktor auf der öffentlichen Bühne. Ich hatte das Privileg, mich zu vielen Gelegenheiten und Themen mit ihm auszutauschen und mit ihm zusammenzuarbeiten – unter anderem bei der Herausgabe des Journal of Public Economics, bei den Munich Lectures, die ich 2002 gehalten habe, und, in den letzten Jahren, rund um die Ökonomik des Klimawandels. Seine Arbeit zur Ökonomik des Klimawandels, insbesondere Das grüne Paradoxon, mein Thema hier, zeigt sein großes Können in der Anwendung theoretischer Modelle ebenso wie seine Weisheit und sein Urteilsvermögen darüber, wie die Welt funktioniert oder funk tionieren könnte. Wie immer setzte er einen erfrischend anderen Schwerpunkt als der Rest der Literatur, in diesem Fall durch seine Konzentration auf die Angebotsseite. Dadurch zeigte und betonte er, wie scheinbar wohlmeinende Politikmaßnahmen ihr Ziel verfehlen können. Ein Beispiel, das er hervorhob, war die fehlgeleitete Nutzung einiger (nicht aller) Biokraftstoffe, wie etwa der auf Mais basierenden, die sehr ineffizient sein und Ressourcen von der Nahrungsmittelproduktion abziehen können. Sehr einsichtig argumentierte er, dass es zwei Mechanismen gibt, um den Anstieg des Kohlendioxidgehalts in der Atmosphäre zu bremsen oder zu mindern. Erstens können wir weniger fossile Brennstoffe abbauen und nutzen, und zweitens können wir das CO2 abscheiden und speichern (carbon capture and storage, CCS). Sein Fokus lag auf Ersterem : auf der Frage, ob unsere Preis- und Politikanreize da zu führen, dass Anbieter weniger abbauen – er neuesten Untersuchungen der Carbon Tracker Initiative (gemeinsam mit dem Grantham In stitute der LSE und anderen, wie etwa der internationalen HSBC-Bank) würden die bekannten Kohlenstoffressourcen bei einer Verbrennung ohne carbon capture and storage etwa dreimal so viel CO2 ausstoßen, wie mit dem internationalen 2 °C-Ziel, das eine Obergrenze für den Anstieg der mittleren globalen Oberflächentemperatur seit dem 19. Jahrhundert vorsieht, vereinbar wäre – dessen Überschreitung nach wissenschaftlicher Erkenntnis einen »gefährlichen Klimawandel« bedeuten würde, so die Ausdrucksweise in den Sachstandsberichten des Intergovernmental Panel on Cli mate Change (IPCC). Die Welt ist bereits bei der höchsten Temperatur des Holozäns angelangt, der Periode, in der sich seit der letzten Eiszeit unsere Zivilisationen herausgebildet haben. Wir steuern auf einen Anstieg von deutlich mehr als 3 °C zu, das bedeutet zu einer Temperatur, die die Welt seit drei Millionen Jahren nicht gesehen hat – der Homo sapiens existiert erst seit einer Viertelmillion Jahren. Hans-Werner Sinn erkannte die drohenden Gefahren. Er zeigte uns, dass wir uns mit der Angebotsseite ebenso wie mit der Nachfrage seite beschäftigen müssen, und betonte die Gefahren einer Politik, die sich nur auf Letztere konzentriert. Auch wies er darauf hin, wie wichtig der Fokus auf Ressourcensteuern und Ressourcenrenten ist, was die Anlagen-, Port folio- und Investitionsseite einschließt. Heute sehen wir vielerlei Diskussionen um die De karbonisierung von Portfolios oder Desinves titionen. Im Laufe der Zeit ist die Welt, wie bei so vielen anderen Themen, auf dem von HansWerner Sinn vorgeschlagenen Weg angekommen. Das grüne Paradoxon: Hans-Werner Sinn und die Klima- und Energiepolitik fragte also direkt nach der Angebotsseite, was zuvor viel zu wenige getan hatten. Sein grünes Paradoxon lag in dem poten ziellen Problem, dass sich die Eigentümer von Kohlenstoffvorräten veranlasst sehen, ihre Ressourcen in der nahen Zukunft schneller ab zubauen, da sie eine Verschärfung der Klimapolitik in der Zukunft antizipieren. Im Grunde bedeutet ein Preis für CO2 – z. B. durch eine CO2-Steuer –, dass sich eine Schere öffnet zwischen den Preisen, die die Produzenten erhalten, und denen, die die Verbraucher zahlen. Allgemein müssen die Produzentenpreise fallen und die Konsumentenpreise steigen, wenn ein Anreiz geschaffen werden soll, weniger zu fördern und weniger zu verbrauchen. Somit ergibt sich das Problem, dass Rohstoffförderer/ -produzenten einen Rückgang ihrer Preise in der Zukunft vorausahnen und versuchen, in der Gegenwart mehr zu fördern. In solch einem Fall sollten mengenbasierte Politikmaßnahmen eine große Rolle spielen. Also läge die Priorität bei Cap-and-trade-Systemen, bei denen die Politik ein Mengenziel setzt und Preise für CO2 endogen bestimmt werden. Damit solch ein System effektiv ist, argumentierte er, müssten sich die Nachfrager zusammentun und die Politikmaßnahmen gemeinsam durchsetzen. Dadurch könnten sie auch Rohstoffrenten und den Preis, den sie zahlen, beeinflussen; gleichzeitig würden die Kosten der Klimapolitik gesenkt. Natürlich würde man von Seiten derer Widerstand erwarten, deren Einkommen dadurch reduziert würden. In vielerlei Hinsicht hat Hans-Werner Sinn den »Divestment«-Diskussionen rund um die sogenannte »Keep it in the ground«-Kampagne (dt. »Lass es im Boden«) vorgegriffen. Laut den 147 Christoph M. Schmidt MISSIONAR DER RATIONALITÄT: HANS-WERNER SINN UND DAS »GRÜNE PARA DOXON« IN DER ENERGIE- UND KLIMAPOLITIK Das grüne Paradoxon Christoph M. Schmidt wurde 1991 in Volkswirtschaftslehre an der Princeton University promoviert und habilitierte sich 1995 an der Universität München. Seit 2002 leitet er das RWI in Essen und ist seit 2009 Mitglied des Sachverständigenrates zur Begutachtung der gesamtwirtschaftlichen Entwicklung. 148 Gut gemeint ist nicht automatisch auch gut gemacht ! Das ist die häufig auf wenig Gegenliebe stoßende Botschaft, die Hans-Werner Sinn in der Debatte um Energie- und Klimapolitik wieder und wieder ins Feld geführt hat, prägnant kondensiert im Begriff des »grünen Paradoxons«. Es hat die Auseinandersetzung ungemein bereichert, dass er derart vehement eine rationale Analyse der Probleme und ihrer Ursachen eingefordert und so pointiert unzureichende Lösungsvorschläge kritisiert hat. Denn auch gute Argumente können sich in der gesellschaftlichen Debatte nur dann durchsetzen, wenn sie mit hohem Einsatz vertreten werden. Diese Mission erforderte von Hans-Werner Sinn aber auch ein hohes Maß an Leidensfä higkeit, denn das Streiten mit beseelten Überzeugungstätern oder mit knallharten Interessenvertretern ist oft kein Vergnügen. Er hat es dadurch geschafft, die öffentliche Debatte über wirtschaftspolitische Themen zu beflügeln, häufig sogar zu prägen und zugleich eine so Der Autor dankt Nils aus dem Moore und Lina Zwick für Unterstützung beim Erstellen des Manuskripts mit konstruktiven Kommentaren. hohe Anerkennung in der Fachwelt zu bewahren, wie sie nur wenigen Ökonomen zuteil wird. Drei Eigenschaften haben ihm diese gewaltige Lebensleistung ermöglicht : Originalität: Es ist ihm ein ums andere Mal gelungen, ganz neue Themen zu identifizieren oder bestehende Diskurse aus einer ganz neuen Perspektive zu beleuchten und damit den Trend der wissenschaftlichen und der wirtschaftspolitischen Debatte zu setzen. Dabei hat er immer wieder prägende Begriffe geschaffen – etwa »Kaltstart«, »Basarökonomie« oder »grünes Paradoxon«. Konsequenz: Er hat dabei die aus ökonomischem Denken erwachsenden Botschaften konsequent durchdekliniert, aufbauend auf seiner Meisterschaft der ökonomischen Theorie. Dies führte häufig zu unbequemen Schlussfolgerungen – etwa der Einsicht, dass bei einer Analyse des weltweiten Energiemarkts gleichermaßen Angebot und Nachfrage zu berücksichtigen sind. Einer seiner wichtigsten Beiträge, der diese drei Eigenschaften zusammengeführt hat, betrifft verschiedene Facetten des großen Projekts »Energiewende«. Als diese für die Politik noch nicht im Entferntesten ein Thema war, hat sich Hans-Werner Sinn bereits mit der Ökonomik nicht-erneuerbarer Ressourcen beschäftigt. Frühe Beiträge stammen aus den 1980er Jahren, motiviert durch Sorgen um die baldige Erschöpfung wichtiger Rohstoffe, wie sie etwa der Club of Rome im Jahr 1972 ge äußert hatte. Bereits damals zog er den Schluss, dass eine Analyse des globalen Energiemarktes ohne Berücksichtigung der Anpassungsreaktio nen auf der Angebotsseite unvollständig und letztlich völlig fehlgeleitet ist. Dieses Grundmotiv war die Basis der Arbeiten zum späteren »grünen Paradoxon« : Eine Einschränkung der Nachfrage nach fossiler Energie in Europa kann – wenngleich gut gemeint – im schlimmsten Falle sogar zu einer Verschärfung des Klimaproblems führen. Denn falls die Ressourcenbesitzer die Ankündigung einer grünen Politik für glaubhaft halten und von einer künftig sinkenden Nachfrage und einem Preisverfall ausgehen, dann werden sie ihre Öl-, Gas- und Kohlequellen entsprechend schneller ausbeuten. Zugleich lässt Hans-Werner Sinn in seinen Analysen keinerlei Zweifel daran, dass er das Klimaproblem für eine der großen Heraus forderungen der Menschheit hält. Viele seiner Kritiker liegen daher in ihrer Ablehnung seiner Positionen als ewig gestrig, als Leugnen des Problems völlig falsch. Ganz im Gegenteil hat er die Dimension der Herausforderung erst so richtig bewusst gemacht. Erfolgreicher Klimaschutz kann eben nicht im deutschen oder europäischen Alleingang erreicht werden, sondern ist nicht zuletzt aufgrund des »grünen Paradoxons« nur möglich in einer breiten internationalen Kooperation. Folgerichtig wirbt Hans-Werner Sinn seit Jahren für ein weltweites CO2-Handelssystem. Umso bedauerlicher ist es, dass bei der deutschen Energiewende nach dem Motto »Viel hilft viel« der Emissionshandel durch die parallele Förderung der Erneuerbaren konterkariert wird. Das »grüne Paradoxon« illustriert pars pro toto die von Hans-Werner Sinn bei zahlreichen Themen auf unnachahmliche Weise geleistete Verknüpfung von wissenschaftlicher Erkenntnis und wirtschaftspolitischer Kommunika tion. Wie kein anderer deutscher Ökonom hat er auch dank der sprachlichen Kraft seiner öffentlichen Beiträge intensive Emotionen, positive wie negative, ausgelöst und sich so zu einer eigenständigen »Marke« entwickelt. Dieses Erfolgsrezept ist jedoch nur bedingt übertragbar. Denn die Zukunft der Ökonomik dürfte nicht zuletzt darin liegen, das gewachsene Bewusstsein über die Grenzen der eigenen Erkenntnis noch stärker in die Kommunikation ihrer Schlussfolgerungen und Empfehlungen einfließen zu lassen. Wenn der Eindruck entsteht, dass Ökonomen nach der Überzeugung »Was ökonomisch keinen Sinn ergibt, kann niemals sinnvoll sein« argumentieren und zu keinerlei Kompromiss bereit sind, führt dies eher zum Ausschluss der ökonomischen Rationalität aus der Debatte. Doch bleibt es immer eine Gratwanderung : Im Zweifelsfall sind leidenschaft liche Konfrontation und »klare Kante« nach wie vor besser als die weit verbreitete »Anschmiegsamkeit« an die Mächtigen oder den Zeitgeist. Das grüne Paradoxon: Hans-Werner Sinn und die Klima- und Energiepolitik Streitbarkeit: Er hat vehement dafür gestritten, wirtschaftspolitische Fragen rational zu diskutieren, auf der Basis von wirtschaftswissenschaftlichen Überlegungen und nicht als Gegenstand von Wille und Vorstellung. Dabei hat er sich nicht davor gescheut, gegen den Zeitgeist und gegen massive Partikular interessen anzutreten, etwa bei der Kritik an der Subventionierung der Solarenergie. 149 Martin Faulstich HWS UND DIE ENERGIEWENDE Das grüne Paradoxon Martin Faulstich ist Ordinarius für Umwelt- und Energietechnik an der TU Clausthal und war zuvor Ordinarius für Rohstoff- und Energietechnologie an der TU München. Er ist Vorsitzender des Sachver ständigenrats für Umweltfragen der Bundesregierung und Mitglied im Kuratorium des ifo Instituts. 150 Die große Schaffenskraft und hohe Produktivität von Hans-Werner Sinn sind hinlänglich bekannt; unzählige Bücher, Artikel, Essays und Kommentare ergeben ein beeindruckendes Ge samtwerk. Beim Verfassen seines klimapolitischen Buches Das grüne Paradoxon durfte ich die Genese eines seiner Bücher einmal hautnah miterleben. Ich hatte die Ehre, das Manuskript vorab vollständig zu lesen, Kapitel für Kapitel, jeweils schreibfrisch aus dem Rechner. HWS hat dabei bisweilen schneller geschrieben, als ich lesen konnte. HWS lässt keinen Zweifel aufkommen, dass die Erde immer wärmer wird, der Klimawandel dramatische Folgen haben wird und »dass die Menschheit auch aus ökonomischer Perspek tive handeln muss, um den Klimawandel zu stoppen«. 25 Jahre Klimaschutzbemühungen und zahlreiche Klimaschutzkonferenzen haben es jedoch nicht vermocht, den Ausstoß an Kohlendioxidemissionen zu mindern. Selbst im Vorreiterland Deutschland sind die Treibhaus- gasemissionen zeitweise wieder gestiegen. Die Aufnahmefähigkeit der Atmosphäre für Treibhausgasemissionen ist die neue Limitation der Industriegesellschaft, und nicht mehr die Verfügbarkeit der fossilen Rohstoffe Kohle, Öl und Gas. Nahezu sämtliche fossilen Reserven und Ressourcen müssen schlichtweg im Boden bleiben, wenn wir das international verbindliche Zwei-Grad-Ziel noch einhalten wollen. Die Knappheit Atmosphäre findet mittlerweile auch Eingang in die ökonomische Theorie. Über die Notwendigkeit zum Klimaschutz sind wir uns einig, über die Wege dahin schon weniger und bei der Energiewende noch gar nicht. Wir haben diese oft diskutiert und in Streitgesprächen dokumentiert, zuletzt am 13. Mai 2015 auf der viel beachteten gemeinsamen Veranstaltung Energiewende: Konsequenzen für den Industriestandort Deutschland? vom ifo Institut und dem Sachverständigenrat für Umweltfragen (SRU) in Berlin. Die Energiewende bezieht sich derzeit noch energie haben beeindruckende Lernkurven; steigende Stückzahlen, Serienfertigung und intensive Forschung lassen diese immer preiswerter werden. Das ist der entscheidende Grund für das EEG, das Erneuerbare-Energien-Gesetz. Dieses hat die technologischen und ökonomischen Lernkurven erst möglich gemacht und ergänzt sinnvoll den Emissionshandel. Neben der Stromerzeugung muss langfristig auch der Wärme- und Kraftstoffsektor auf fossile Energieträger verzichten. Das wird teils durch Elektrifizierung gelingen und darüber hinaus mit den technischen Optionen Powerto-Gas und Power-to-Liquid. So lassen sich regenerative Gase, Kraftstoffe und Chemikalien für Haushalte, Verkehr und Industrie aus re generativem Strom erzeugen. Damit wachsen elektrische und stoffliche Welt zusammen und schaffen vielfältige Flexibilisierungsoptionen. Die nachhaltige Industriegesellschaft wird also mehr denn je eine Stromgesellschaft sein. Die Energiewende lässt sich zudem durch die eingesparten Kosten für fossile Brennstoffe finanzieren und wird langfristig die niedrigsten Systemkosten haben. Jeder Wissenschaftler wünscht sich natürlich, dass seine Prognosen zutreffen. Hier muss ich HWS wohl enttäuschen. Die von ihm prophezeite »Energiewende in Nichts« wird es nicht geben, denn die Energiewende schreitet erfolgreich voran. Auch die von ihm befürch tete »Verspargelung« wird es nicht geben. Lediglich rund 2 % der Landesfläche werden bei einer regenerativen Vollversorgung für Windkraftanlagen benötigt. Im wohlverdienten Unruhestand wird Hans-Werner Sinn trotz der Energiewende die von ihm geschätzten Landschaftsbilder eines Caspar David Friedrich weiterhin in der Wirklichkeit bestaunen dürfen. Denn im Epilog des Grünen Paradoxons bekennt er : »Wie viele meiner Landsleute denke und fühle ich grün.« Das grüne Paradoxon: Hans-Werner Sinn und die Klima- und Energiepolitik weitgehend auf die Stromerzeugung. Welche Klimaschutzoptionen sind hier möglich ? Fossil betriebene Kraftwerke scheiden langfristig zwangsläufig aus. Auch die Nachrüstung mit CCS, also die Abscheidung von Kohlendioxid und Verpressung in unterirdische Gesteinsformationen, ist keine dauerhafte Lösung, da diese Lagerstätten gerade einmal für 30 Jahre reichen. Bleiben als Optionen also die Atomenergie und die erneuerbaren Energien. HWS ist bekanntermaßen ein überzeugter Verfechter der Atom energie und ich der erneuerbaren Energien. Trotz vieler Diskussionen konnte bislang keiner den anderen überzeugen, das Lager zu wechseln. So reizt es mich nun doch, es hier noch einmal zu versuchen. Denn ich hege die Hoffnung, dass HWS nach seiner Emeritierung sämtliche Beiträge dieses Buches lesen wird. HWS hat nicht nur die Revidierung des Atomausstiegs gefordert, sondern sogar den Ausbau zu einer Stromversorgung, die weit gehend auf Atomenergie setzt. Dazu wäre der Bau von über 60 neuen Atomkraftwerken in Deutschland erforderlich. Das wird wohl nicht einmal der kühnste Atomvisionär für möglich halten. Nun lässt sich über Sicherheit und Endlager trefflich streiten. Es gibt keine alle möglichen Schäden abdeckende Haftpflichtversicherung, denn nüchtern kalkulierende Mathematiker halten sie nicht für versicherbar. Zudem haben 50 Jahre kommerzielle Kernkraftnutzung nicht zu einem dauerhaften Endlager geführt. Das entscheidende Argument gegen die Atomenergie ist jedoch ein ökonomisches, sie rechnet sich nicht. Neue Atomkraftwerke sind schlicht die teuerste Klimaschutzoption. Etliche in Bau befindliche Kernkraftwerke haben Verzögerungen von mehreren Jahren und eine Vervielfachung der Kosten. Anders sieht es hingegen bei den erneuer baren Energien aus. Regenerativer Strom wird Jahr für Jahr kostengünstiger. Solar- und Wind 151 Ottmar Edenhofer KLIMAPOLITIK IM ZEITALTER DER FOSSILEN ENERGIETRÄGER Das grüne Paradoxon Ottmar Edenhofer ist Stellvertretender Direktor und Chefökonom am Potsdam-Institut für Klima folgenforschung, Direktor des Mercator Research Institute on Global Commons and Climate Change und Professor für die Ökonomie des Klimawandels an der TU Berlin und Kovorsitzender der AG III des Weltklimarats. 152 Shell sucht nach Öl in der Arktis und hat seine Investitionen in die Exploration massiv erhöht; nicht nur China und Indien setzen nach wie vor auf die Nutzung von Kohle, auch Afrika erlebt eine Renaissance dieses fossilen Energieträgers. Die Shale-Gas-Revolution in den Vereinigten Staaten wird zwar heimische Emis sionen vermindern, aber binnen einer Dekade werden die USA zum größten Kohleexporteur der Welt avancieren. Ein Blick auf die Zahlen, die der Weltklimarat vorlegt, zeigt deutlich die Dramatik, die sich aus dem steigenden Angebot fossiler Energieträger ergibt. Zwar hat sich die Staatengemeinschaft auf das 2 °C-Ziel geeinigt, was bedeutet, dass sie nur noch maximal 1000 Gigatonnen CO2 in der Atmosphäre ablagern darf. Diesem begrenzten Deponieraum steht jedoch ein Angebot fossiler Energieträger gegenüber, deren Verbrennung ca. 16 000 Gigatonnen CO2 freisetzen würde. Die Besitzer von Kohle, Öl und Gas werden die vorhandenen Ressourcen und Reserven voraussichtlich nicht vollständig aus dem Boden holen, da die Extraktionskosten mit der bereits geförderten Menge stetig steigen. Doch die Diskrepanz ist offensichtlich. Die Knappheit fossiler Brennstoffe ist auf lange Sicht kein begrenzender Faktor. Wenn das 2 °C-Ziel erreicht werden soll, müssten 70 % der Kohle, ungefähr 35 % des Gases und 32 % des Öls im Boden belassen werden. Die Nutzung in diesem Umfang wird jedoch nur möglich sein, wenn die Menschheit nicht nur die Atmosphäre, sondern auch unterirdische Lagerstätten als Deponieraum für CO2 nutzen kann. Grundsätzlich kann bei der Verbrennung von Kohle, Öl, Gas und Biomasse freigesetztes CO2 eingefangen und dann unterirdisch eingelagert werden. Steht diese Option nicht zur Verfügung, können entsprechend weniger fossile Energieträger genutzt werden. Aber sind die erneuerbaren Energien nicht längst so billig, dass sich die Extraktion von Kohle bald nicht mehr lohnen wird ? Unter op- das Argument, die erneuerbaren Energien so billig werden, dass die Extraktion fossiler Energieträger unwirtschaftlich wird, dann könne man sich die internationalen Verhandlungen ersparen. Nicht Diplomaten lösten dann das Problem, sondern Ingenieure. Durch die direkte Subventionierung von Technologien sollen die Kosten sauberer Energie gesenkt werden. Unter bestimmten Bedingungen kann die Subventionierung von Technologien sinnvoll sein. Das Problem ist nur : Eine erfolgreiche Tech nologiepolitik und sinkende Kosten der erneuerbaren Energien lassen die Nachfrage nach fossilen Energieträgern und damit ihren Preis sinken. Daraus erwächst der Anreiz für den Stromsektor, verstärkt Kohle zu nutzen. Technologiepolitik ist dazu verdammt, gegen das gewaltige Angebot der fossilen Energieträger »anzusubventionieren«, bis die CO2-freien Technologien billiger sind als Kohle & Co. Sollte dies in der Zukunft überhaupt realisier bar sein, verteuerte es die Verminderung von Emissionen drastisch. Sich auf die großen technischen Durchbrüche zu verlassen, birgt das Risiko weiter steigender Emissionen. Technologiepolitik kann die CO2-Bepreisung nicht ersetzen, allenfalls ergänzen. In der Tat zeigt das »grüne Paradoxon«, dass Klimaschutz internationaler Kooperation bedarf. Hans-Werner Sinn hat immer betont, dass er im Klimaproblem eine der großen Herausforderungen der Menschheit sieht, das dringend einer Lösung bedarf. In Anbetracht der jüngsten Berichte des Weltklimarates über das ungleiche Verhältnis zwischen dem Angebot fossiler Energieträger und dem begrenzten Deponieraum der Atmosphäre steht die internationale Klimapolitik vor dramatischen Herausforderungen. Es bleibt dabei : Das »grüne Paradoxon« ist ein Leitfaden für effektive Klimapolitik im Zeitalter der fossilen Energie träger. Das grüne Paradoxon: Hans-Werner Sinn und die Klima- und Energiepolitik timalen Bedingungen sind die Stromgestehungskosten von Wind schon fast so niedrig wie die von Kohle. Rechnet man jedoch die Kosten der Fluktuation des Windes mit ein, ist der Windstrom immer noch teurer als der Kohlestrom, zumindest bei größeren Anteilen Windstrom im Netz. Für Solarenergie gilt Ähnliches. In China, Indien, den USA, aber auch in Europa wird die Kohle wieder verstärkt im Stromsektor genutzt. Dieser Trend kann nur gebrochen werden, wenn die Emissionen einen Preis bekommen oder die Besitzer von Kohle, Öl und Gas dafür entschädigt werden, dass sie die enormen Vorräte im Boden belassen. Diese Option wäre ökonomisch zwar effizient, aber die meisten Steuerzahler würden finanzielle Kompensationsleistungen für Saudi-Arabien, Russland, China oder gar die USA als unfair empfinden. Bleibt also nur die Option, dass CO2-Emis sionen einen Preis bekommen, der die Knappheit des Deponieraumes der Atmosphäre zum Ausdruck bringt. Hans-Werner Sinn, der mit seinem »grünen Paradoxon« die Angebotsseite in das politische und wissenschaftliche Bewusstsein gerückt hat, misstraut einer CO2Steuer. Denn um keinen Anreiz zur beschleunigten Extraktion zu geben, müsste die Steuer langsamer wachsen als der Zinssatz. Er traut der Politik nicht zu, dass sie sich langfristig auf einen solchen Steuersatz festlegen kann. Aus diesem Grund sieht er in einem weltweiten Emissionshandel die überlegene Option. Dar über kann und muss man streiten. Aber die meisten Ökonomen werden wohl darin übereinstimmen, dass es ohne einen CO2-Preis keine sinnvolle Klimapolitik geben kann. Die Mehrheit der Beobachter bezweifelt, dass in Paris im Dezember 2015 eine Einigung über eine globale CO2-Bepreisung möglich sein wird. Es werden alternative Optionen diskutiert, wie die Technologiepolitik. Wenn, so 153 Sigmar Gabriel HANS-WERNER SINN: EIN ÖKONOM UND TREIBER DES POLITISCHEN DISKURSES Das grüne Paradoxon Sigmar Gabriel ist seit Dezember 2013 Vizekanzler der Bundesrepublik Deutschland sowie Bundes minister für Wirtschaft und Energie. Von 2005 bis 2009 war er Bundesumweltminister. Seit 2009 führt er den Parteivorsitz der SPD. 154 Aufgabe der Politik ist es, in demokratischen Verfahren ermittelte Antworten auf die großen Fragen unserer Zeit zu geben. Ganz oben auf der Liste existenzieller Fragen steht der Klimawandel. Längst ist klar, dass der globale Tem peraturanstieg gebremst werden muss. Seine negativen Auswirkungen erkennen wir aller orten; sie müssen dringend begrenzt werden. Ein Schlüssel dafür ist eine erfolgreiche Energiewende. Wenn Energie sauber und nachhaltig bereitgestellt werden kann, wenn sie verlässlich verfügbar ist und bezahlbar bleibt, wird sie gelingen. Wirtschafts-, Energie- und Umweltpolitik müssen dabei zusammenwirken, um das energiepolitische Dreieck aus Versorgungssicherheit, Wirtschaftlichkeit und Umweltverträglichkeit auszubalancieren. Um in diesem Spannungsfeld analytisch fundierte, gesellschaftlich akzeptierte und politisch konsensfähige Wege zu finden, bedarf es kluger Köpfe mit guten Ideen, Analysen und Anregungen. Einer von ihnen ist Hans-Werner Sinn : Er war und ist immer bereit, einen solchen Input zu leisten. Er hat regelmäßig das Wort ergriffen und sich in die großen wirtschaftspolitisch relevanten Debatten unserer Zeit eingebracht und diese mitgeprägt. Auch in der Klima- und Energiepolitik hat er wichtige Denkanstöße gegeben und diese meinungsstark vorgetragen. Dabei hat ihm vor allem sein breites und fundiertes Wissen geholfen, aus dem großen und gut gefüllten Werkzeugkasten der Ökonomie jeweils passende Instrumente auszuwählen, an einen veränderten Kontext anzupassen und teilweise auch ganz neu und unkonventionell anzuwenden. Hans-Werner Sinn hat sich intensiv mit der Funktionsweise und der Effizienz von Märkten auseinandergesetzt und diese Erkenntnisse auf marktbasierte Instrumente wie den EU-Emissionshandel übertragen. Er hat auf Fehlentwicklungen hingewiesen, die dem Ausgleich von Angebot und Nachfrage entgegenstehen oder auf andere Weise den Wettbewerb behin- schätzung und Anerkennung gefunden, auch in der Politik. Die Realität hält sich jedoch nicht immer an die Annahmen und Grenzen der theoretischen Wissenschaft. Komplexe Fragestellungen, sozusagen das tägliche Brot der Politik, können deshalb gerade nicht durch ein einfaches ökonomisches Modell sauber abgebildet werden. Zu vielen drängenden Fragen unserer Zeit gibt es keine wissenschaftlich eindeutigen Antworten. Viel mehr noch als die Wissenschaft muss die Politik deshalb nach Kompromissen suchen, die aus der Perspektive der Wissenschaft womöglich nur als zweit- oder drittbeste Lösung erscheinen. Hans-Werner Sinn ist es auch als Berater der Politik gelungen, eine eigene Sichtweise auf drängende Herausforderungen zu entwickeln. Immer wieder hat er durch unkonventionelle Lösungsvorschläge eine laufende Debatte neu belebt. Auch wenn wir nicht immer einer Meinung waren, bin ich Hans-Werner Sinn dafür sehr dankbar. Denn eine Demokratie lebt vom offenen Diskurs, von der Kraft der Argumente, vom Ringen um die richtige Lösungsstrategie und vom Ausbalancieren des Pro und Kontra. Dieser Diskurs ist wichtig, damit politische Entscheidungen regelmäßig hinterfragt und überprüft werden. Nicht alles, was uns gestern gut und richtig erschien, muss auch heute noch seine Berechtigung haben. In diesem Sinne wünsche ich mir, dass uns Hans-Werner Sinn als aufmerksamer Beob achter und als kritischer Geist mit spitzer Feder lange erhalten bleibt und uns auch in Zukunft noch viele wertvolle Denkanstöße geben wird. Das grüne Paradoxon: Hans-Werner Sinn und die Klima- und Energiepolitik dern und die im Ergebnis zu einem schlech teren Marktergebnis führen. Ebenso hat er die Chancen der Energiewende und von grünem Wachstum analysiert. Hans-Werner Sinn hat Vorschläge gemacht, wie sich das Verhalten von Unternehmen und Konsumenten beeinflussen lässt. Er hat auf Fehlanreize, die Innovationen und Wachstum verhindern, ebenso hingewiesen wie auf die Rolle die Politik dabei. Klar zeigt er, wo die Grenzen nationalen Handelns liegen. Viele Vorschläge für die Klimaschutzpolitik zielen auf die Minderung der Nachfrage nach fossilen Ressourcen ab. Hans-Werner Sinn hat darauf verwiesen, dass für den Erfolg von Klimaschutzpolitik ebenso das Kalkül der Anbieter solcher Ressourcen in Betracht gezogen werden sollte. Denn auch wenn der Marktpreis infolge einer verringerten Nachfrage sinkt, kann es für einen Anbieter sinnvoll sein, sein Angebot heute noch auszuweiten, weil morgen vielleicht gar keine Nachfrage mehr vorhanden sein wird. Für die wirtschaftspolitische Debatte sind ökonomische Modelle unverzichtbar. Sie helfen uns, grundlegende Prinzipien zu erkennen und komplizierte Sachverhalte auf einen wesentlichen Kern zu komprimieren. Das macht sie methodisch gut handhabbar und führt zu analytisch sauberen Ergebnissen. Hans-Werner Sinn hat es als einer der vielseitigsten und profiliertesten Ökonomen in Deutschland immer wieder geschafft, mitunter komplexe Thesen in einer für die Allgemeinheit verständ lichen Weise zu erklären und sie durchaus pointiert wiederzugeben. Dafür hat er über die Grenzen der Wissenschaft hinweg viel Wert- 155 Jürgen Trittin DER GRÜNE SINN – EIN PARADOX? ZUM ABSCHIED EINES AUFRECHTEN NEOLIBERALEN Das grüne Paradoxon Jürgen Trittin ist Bundestags abgeordneter für Bündnis 90/ Die Grünen und Mitglied im Auswärtigen Ausschuss. Er war von 1998 bis 2005 Bundesumwelt minister. In seine Amtszeit fallen u. a. das Erneuerbare-EnergienGesetz und der Atomkonsens, der den deutschen Ausstieg aus der Atomkraft auf den Weg brachte. 156 Wo Reibung ist, entsteht Wärme. Folgt man dem zweiten Hauptsatz der Thermodynamik, wird die wirtschaftspolitische Debatte in Deutschland in den nächsten Jahren abkühlen. Zumindest wenn Hans-Werner Sinn sich die Freiheit nimmt, seinen Ruhestand zu genießen. Aber ob er Ruhe gibt ? Als Vordenker einer neoliberalen Wirtschaftsschule ist Sinn immer so etwas wie der natürliche Gegner einer keynesianisch geprägten Denkschule gewesen – mit den Ökokey nesianern von den Grünen konnte er noch weniger anfangen. Dabei hat er eine bemerkenswerte Standhaftigkeit, manche behaupten Starrsinnigkeit bewiesen. Doch die Parole vom »Privat vor Staat« fand eine grausame Widerlegung, als zur Rettung der Realwirtschaft Milliarden Bankschulden in Staatsschulden verwandelt wurden. Es war das Ergebnis einer Politik, die mit der von Ronald Reagan und Margaret Thatcher vorangetriebenen Radikalisierung des Kapitalismus begann und die Ungleichheit in den Gesellschaften wachsen ließ – und Anfang des Jahrtausends auch Regierungen der linken Mitte von New Labour bis Rot-Grün erfasst hatte. Trotzdem gibt es einige Berührungspunkte zwischen Sinn und grüner Politik. »Es sträuben sich die Nackenhaare des Ökonomen, wenn in der Öffentlichkeit ein Widerspruch zwischen Ökologie und Ökonomie beschworen wird. Wie kann man unser Fach nur so grundlegend missverstehen !«, so Sinn. Wie wahr. Und doch bleibt seine Analyse oft auf einem Auge blind : Die globale Umweltkrise ist das Ergebnis eines fundamentalen Marktversagens – und einer neoliberalen Verirrung. Den Klimawandel kann man in der Sprache der Ökonomie knapp erklären : Die Preise auf den Märkten für Energie, Verkehr und Wärme kalkulieren ohne die Kosten, die der Handel auf diesen Märkten verursacht : drastische Umweltschäden. Bei der Energiewende tobt dabei ein ideo logischer Kampf. Sinn gehört zu denen, die ve- neuerbare liefern heute mehr als die Atomkraftwerke zu Beginn der Energiewende. Wir sparen so in Deutschland fast 150 Mio. Tonnen Treib hausgase ein, beschäftigen gut 371 000 Menschen und haben für einen beispiellosen Technologieschub gesorgt. Die deutsche Volkswirtschaft spart aktuell 15 Mrd. Euro für nicht benötigte Energieimporte aus Russland, Saudi-Arabien oder Katar. 2050 werden es 50 Mrd. sein. An der Erklärung des letzten G-7-Gipfels war wenig spektakulär, doch ein Satz interessant : das Ziel einer Dekarbonisierung der Weltwirtschaft in diesem Jahrhundert. Dahinter steckt die Erkenntnis, dass fossile Brennstoffe zwar endlich, aber im Überfluss vorhanden sind. Wir könnten zwar weiter fossile Energien verbrennen, aber wir können es uns nicht leisten ! Rechnet man das 2°-Ziel in die Menge an CO2 um, die wir überhaupt noch ausstoßen dürfen, erhält man ein »Budget« von rund 800 Gigatonnen. Das heißt, wir dürfen nicht mal mehr die Hälfte der heute förderbaren Reserven an Öl, Gas und Kohle verfeuern. Die noch in der Erde befindlichen Energieträger werden somit zu »totem« Kapital. Eine Carbon Bubble, die zu platzen droht. Sinn spricht von einer drohenden Kapitalvernichtung. Ich würde von einer Fehlallokation sprechen, die dringend behoben werden muss. Wir können nicht auf den globalen Emissionshandel warten. Das Motto muss Deinvestieren heißen. Raus aus den fossilen Energien. Das wissen auch die Ölförderer. Getreu dem Sinn’ schen Paradox hat Saudi-Arabien in Kenntnis, dass bei ihnen so oder so 2035 Schluss ist, begonnen, seine Ölförderung bei niedrigen Preisen nicht mehr zu drosseln. Ein Ende der fossilen Ökonomie wird nicht automatisch über die Knappheit und den Preis herbeigeführt. Wir brauchen dafür andere po litische Rahmenbedingungen. Mehr Staat wäre hier nötig – und mehr globale Governance. Das grüne Paradoxon: Hans-Werner Sinn und die Klima- und Energiepolitik hement gegen eine Vorreiterrolle Deutschlands bei der Energiewende gestritten haben. Sein Argument ist mathematisch : Deutschlands Beitrag zu den notwendigen CO2-Einsparungen sei zu gering, die Kosten zu hoch und Atomkraft das Mittel der Wahl. Dem muss man mit einem ökonomischen Argument antworten : Atomenergie ist in Euro pa und den USA aus ökonomischen Gründen in der Krise. Preise pro Kilowattstunde von mehr als 15 Cent haben verbunden mit extrem langen Kapitalbindungszeiten keine Chance, wenn in Deutschland für 9 Cent mit Photovoltaik und für 6 Cent mit Wind Strom generiert wird. Deshalb gingen 2014 global mehr erneuerbare Kapazitäten ans Netz als fossile. Wenn es einem der erfolgreichsten Industrie länder gelingt, in relativ kurzer Zeit seine Stromversorgung von Kohle und Atom auf erneuerbare Energien umzustellen, dann hat das nicht nur Vorbildwirkung weltweit, es eröffnet auch neue Märkte, auf denen es gilt, den first mover advantage clever zu nutzen. Stärker noch ist der Effekt, der sich aus der ausgelösten Kostendegression ergab. Windstrom kostet heute ein Fünftel, Solarstrom nur ein Zehntel als vor zehn Jahren. Die deutsche Energiewende hat diese Technologien global wettbewerbsfähig gemacht und damit einen Grundstein gelegt, dass die Welt überhaupt die Chance hat, das 2°-Ziel einzuhalten. Diese beispiellose Erfolgsgeschichte begann zehn Jahre vor Fukushima mit dem Ausstieg aus der Atomenergie und dem Erneuerbare-Ener gien-Gesetz. Der Ausbau der Erneuerbaren ging erheblich schneller, als wir alle glaubten. Ich hatte im Jahr 2000 ins EEG aufnehmen lassen, dass im Jahr 2020 20 % unseres Stroms erneuerbar erzeugt werden sollen. 1999 waren es 5,2 %. Deshalb galt das als ein utopisches Ziel. Das Ziel wurde spielend übertroffen, und Er- 157 Peter-Alexander Wacker PARADOX: DER ZICKZACK-KURS INS NACHFOSSILE ZEITALTER Das grüne Paradoxon Peter-Alexander Wacker begann seine berufliche Karriere 1978 bei der BMW AG. 1996 trat er in die Geschäftsführung der Wacker Chemie ein, wurde 2001 zu deren Sprecher berufen und übernahm 2005 den Vorsitz des Vorstands. Seit 2008 ist er Vorsitzender des Aufsichtsrats der Wacker Chemie AG. 158 Ein Paradoxon ist bekanntlich ein Widerspruch, der sich ergibt, wenn gewohnte Denkweisen nicht gründlich genug hinterfragt werden. Hans-Werner Sinn liebt es seit jeher, solche Widersprüche aufzudecken, aufklärerisch zu wirken und mit Lust an der Pointe, zugespitzt – mitunter auch überspitzt – zu for mulieren. Es ist deshalb nur konsequent, dass er seinem Buch zur Energie- und Klimapolitik den Titel Das grüne Paradoxon gegeben hat. Wir als energieintensives Unternehmen sind mit diesem Paradoxon tagtäglich konfrontiert. Energie ist für den Chemiekonzern Wacker heute genauso ein Schlüsselfaktor für die Wettbewerbsfähigkeit wie schon bei der Gründung des Unternehmens vor 101 Jahren. Bei der Suche nach einem Standort für das erste WackerWerk war die wichtigste Frage : Wo lässt sich zu möglichst geringen Stromkosten Carbid produzieren ? Die Wahl fiel auf Burghausen. Das Wasser der Alz konnte dort mit Hilfe eines Kraftwerks für die energieintensive Produktion genutzt werden. Rentabilitätsberechnungen, bei denen die Stromkosten im Mittelpunkt standen, gaben den Ausschlag für diese Entscheidung. Einem streng wirtschaftlich denkenden Öko nomen wie Hans-Werner Sinn widerstrebt es, dass die Politik stark regulatorisch und systemwidrig in den Energiemarkt eingreift und so der zentrale Grundsatz der Marktwirtschaft von Angebot und Nachfrage ausgehebelt wird. Die Ökosteuer und das Erneuerbare-EnergienGesetz sind für ihn nur zwei Beispiele dafür. Sie sollen dazu dienen, den Klimawandel zu verlangsamen und den CO2-Ausstoß zu verringern. Sie sind für ihn der Beleg, dass Deutschland in der Klimafalle steckt. Aus Sicht der Industrie kann ich seiner Argumentation nur zustimmen. Die hohen Energiekosten gefährden den Wirtschaftsstandort Deutschland. Mit Abgaben wie der EEG-Umlage schultern wir zusätzliche Lasten. Seit 2007 hat allein Wacker rund ches Handeln aufbaut : Verlässlichkeit und Vertrauen. Die Energiewende ist der beste Beweis dafür. Populistische Entscheidungen gefährden Investitionen, Wachstum und Beschäftigung. An einem Punkt muss ich Hans-Werner Sinn allerdings widersprechen. Ich meine, es war richtig, Anreize für die Nutzung erneuerbarer Energiequellen zu schaffen. Es lässt sich darüber streiten, ob die Solarsubventionen besser in die Technologieentwicklung geflossen wären als in garantierte Einspeisevergütungen. Wir vergessen dabei schnell : Auch Atomkraftwerke und Kohlebergbau haben wir jahrzehntelang kräftig subventioniert. Aber innerhalb von wenigen Jahren ist es gelungen, eine in den Kinderschuhen steckende Technik so zu ent wickeln, dass sie wettbewerbsfähig geworden ist und einen weltweiten Siegeszug angetreten hat. Das Paradoxon ist nur : Jetzt, wo die Preise stark gesunken sind und die Stromgestehungskosten bei 5 Eurocent pro Kilowattstunde liegen – was Solarstrom auch ohne Förderung wettbewerbsfähig macht –, ist der Markt für Photovoltaikanlagen in Deutschland um 75 % eingebrochen. In einem anderen Punkt hat Hans-Werner Sinn bis heute Recht behalten : mit seiner Skepsis, dass sich das Klima retten lässt, indem wir durch den Einsatz der erneuerbaren Energien und eine höhere Energieeffizienz den CO2-Ausstoß verringern. Der Rückgang der Nachfrage nach Öl, Gas und Kohle in Europa hat nicht zu einer Verknappung des Angebots fossiler Energieträger geführt. Ganz im Gegenteil. Die Preise für fossile Energieträger sind gefallen und so attraktiv, dass sogar mehr CO2 in anderen Re gionen der Welt ausgestoßen wird. Auch das ist ein Paradoxon der Energie- und Klimapolitik, das sich am Ende vielleicht nur mit seinem Vorschlag eines globalen Emissionshandels systems lösen lässt. Das grüne Paradoxon: Hans-Werner Sinn und die Klima- und Energiepolitik 215 Millionen Euro dafür gezahlt. Für Indus trieunternehmen sind die Preise für Strom seit 2002 um 125 % gestiegen. Die Kilowattstunde Industriestrom kostet in Deutschland 11,57 Cent, in den USA 5,21 Cent. Wacker verbraucht hierzulande im Jahr rund 3,9 Tera wattstunden Strom. Das ist mehr als 0,5 % des deutschen Stromverbrauchs. Hohe Energiepreise treffen uns besonders. Steigt der Strompreis um nur einen Cent pro Kilowattstunde, bedeutet das für uns eine zusätzliche Belastung von 25 Millionen Euro bei den Herstellungskosten. Unsere unternehmerische Antwort auf die deutsche Energie- und Klimapolitik lautet : den Produktionsfaktor Energie ständig zu opti mieren. Eigene Kraftwerke zu betreiben ist ein Weg. Wir tun das bereits mit Wasser- und Gaskraftwerken. Ein zweiter Weg ist die Energie effizienz. Die Chemieindustrie ist darin heute schon Weltmeister. Mit chemischen Produkten lässt sich die doppelte Menge an Energie einsparen, die für die Produktion aufgewendet wird. Der dritte Weg ist die Suche nach Standorten mit niedrigen und langfristig stabilen Energiepreisen. Deshalb haben wir unseren neuen Produktionsstandort für Polysilicium im US-Bundesstaat Tennessee aufgebaut, der Ende 2015 in Betrieb gehen wird. Wir haben dort die Garantie bekommen, dass der Strompreis bis 2028 unverändert bleibt. In Deutschland fällt es der Politik immer schwerer, für die Interessen der Wirtschaft einzutreten, weil »zu viel grüne Ideologie« die Oberhand gewonnen hat, wie es Hans-Werner Sinn formuliert hat. Unternehmen, die stra tegisch langfristig denken und handeln, brauchen Verlässlichkeit und Planbarkeit. Wenn verbindliche Zusagen oder Genehmigungen plötzlich zur Disposition gestellt werden, zerstören wir die Werte, auf denen wirtschaftli- 159 HWS mit dem Stellvertretenden Direktor des Potsdam-Instituts für Klimafolgenforschung, Ottmar Edenhofer (rechts), und Stephen Fidler (links) vom Wallstreet J ournal beim Munich Economic Summit 2009. ( von links nach rechts ) HWS, Lord Nicholas Stern (London School of Economics), Angus eaton (Princeton, Nobelpreis D träger 2015), Klaus Schmidt (LMU München) bei den Munich Lectures in Economics in der Großen Aula der U niversität München, 2002. HWS mit dem Vorsitzenden des Sachverständigenrats für Umweltfragen Martin Faulstich beim ifo/ SRU-Symposium »Energiewende: Konsequenzen für den Industrie standort Deutschland?« im Mai 2015 in Berlin. 160 Rick van der Ploeg und HWS beim Abendessen nach den Munich Lectures in Economics, November 2014. HWS diskutiert mit Bundeswirt- schaftsminister Sigmar Gabriel und Marc Beise (Süddeutsche Zeitung) über die Rolle der Beratung in der Wirtschaftspolitik bei der ifo Jahresversammlung 2015. HWS, Gewinner des »Dinosaurier des Jahres« 2009. 161 07.07. 2012 7 KASINO-KAPITALISMUS: Hans-Werner Sinn und die Finanzarchitektur Oliver Falck EINLEITUNG Kasino-Kapitalismus: Hans-Werner Sinn und die Finanzarchitektur Kasino-Kapitalismus Oliver Falck ist seit neun Jahren am ifo Institut. Als Postdoc angefangen, leitet er inzwischen das ifo Zentrum für Industrieökonomik und neue Technologien und ist Professor für Volkswirtschaftslehre an der Ludwig-MaximiliansUniversität München. Er ist zudem einer der CESifo-Programm direktoren. 164 Eines der ältesten und zentralen Betätigungsfelder von Wissenschaftlern ist das Forschungsseminar. Wie in einer Arena werden hier neue Ideen und Ansätze einem kritischen Fach publikum präsentiert und erhalten durch dessen Fragen, Kritik und Vorschläge zusätzlichen Schliff. In meiner Zeit als Wissenschaftler am ifo seit 2007 habe ich HWS als ausgesprochen lebhaften Teilnehmer in vielen Seminaren erlebt. Diese Seminare decken eine enorme Breite von wirtschaftlichen Themen am aktuellen Rand der Forschung ab. Umso mehr beeindruckte mich die Fähigkeit von HWS, den Vortragenden prägnante (und durchaus im Voraus bereits gefürchtete) Fragen zur theoretischen Fundierung und zur wirtschaftspolitischen Relevanz des Themas zu stellen. Noch nachdrücklicher beeindruckend aber ist die Tatsache, dass er bei einer Vielzahl dieser Vorträge auf eigene theoretische Vorarbeiten verweisen konnte. Und was sich im engen Rahmen der wissenschaftlichen Seminare beobachten ließ, gilt gleichermaßen für die große Arena des gesellschaftlichen wirtschaftspolitischen Diskurses; ein Beispiel aus der näheren Vergangenheit sind seine Analysen zur (vorerst) letzten Finanzmarktkrise. Die theoretischen Grundlagen zu seinem 2009 erschienenen Buch Kasino-Kapitalismus legte HWS bereits in seiner 1977 fertiggestellten Dissertation. Im Rahmen eines theoretischen Modells zeigt er, dass die Haftungsbeschränkung von Entscheidungsträgern dazu führt, dass Verluste, die sich aus fehlgeschlagenen Investitionsentscheidungen ergeben, über die Beteiligung der Gläubiger geteilt werden, während die Gewinne allein den Entscheidungsträgern zukommen. Somit erhöht sich der Risiko appetit der Entscheidungsträger. Vergleichbar mit einem Spieler, der im Kasino nicht mit eigenem Geld spielt und daher den Einsatz immer weiter erhöht, wählen Entscheidungsträger zu riskante Investitionsstrategien. Aus dem Umstand, dass man jemandem im Falle eines Ver- genkapitalquoten resultiert und damit ein erhebliches Politikversagen begründet. Aufbauend auf diesen frühen theoretischen Vorarbeiten – gepaart mit dem »Recherche apparat« der CESifo-Gruppe –, legte HWS im April 2009 als einer der ersten Ökonomen mit Kasino-Kapitalismus eine minutiöse Analyse der internationalen Finanzmarktkrise ab 2007 vor. Seine Diagnose lautete, dass eine fehler hafte und insbesondere unzureichende Regulierung von Finanzinstitutionen einer der wichtigsten Gründe für den Ausbruch und die Ausweitung der Finanzkrise war. Die Haftungsbeschränkung der Banken manifestierte sich insbesondere durch die Festlegung von zu geringen Eigenkapitalquoten der Banken durch die Regulierungsbehörden. Aus diesen Erkenntnissen schlussfolgerte er, dass ein stabiles Bankensystem nur durch die Verstärkung des Haftungsprinzips erreicht werden könne, dessen Grundvoraussetzung eine wesentlich straffere Eigenkapitalregulierung sei. Dabei bedürfen die langfristigen Regulierungsregeln des Bankensystems einer internationalen Harmonisierung, um dem schleichenden Laschheitswettbewerb einen Riegel vorzuschieben. Modelle versetzen Ökonomen in die Lage, komplexe Zusammenhänge auf die entscheidenden Fragen und Probleme herunterzubrechen. Sie sind das notwendige Fundament für jeden fundierten Beitrag zum wirtschaftspolitischen Diskurs. Wie kaum ein anderer Ökonom in Deutschland kann HWS hierfür auf ein eigenes breit gefächertes theoretisches Œuvre zurückgreifen. Und vor dem Hintergrund aktueller wirtschaftspolitischer Probleme erscheinen seine frühen theoretischen Beiträge als (fast schon erschreckend) vorausblickend. Kasino-Kapitalismus: Hans-Werner Sinn und die Finanzarchitektur lustes nicht mehr nehmen kann, als er aufgrund der Haftungsbeschränkung verpflichtet ist zu geben, prägte HWS den Begriff »BLOOSRegel«, der aus dem englischen Sprichwort »It’s like getting blood out of a stone« abgeleitet ist. Die herausragende Bedeutung der von HWS entwickelten BLOOS-Regel wurde von Martin Hellwig, Koautor des vielbeachteten Buchs Des Bankers neue Kleider, hervorgehoben (meine Übersetzung) : »Diese Erkenntnis ist für die moderne Theorie der Kreditrationierung und Bankenregulierung fundamental. Sie wird von Ökonomen typischerweise mit dem berühmten Artikel von Stiglitz und Weiss aus dem Jahr 1981 im American Economic Review in Verbindung gebracht. Tatsächlich kam ihm HWS’ Dissertation, die 1977 an der Universität Mannheim angenommen wurde, zuvor.« Ähnliche Mechanismen wurden also später in der Lite ratur, unter zum Teil anderen Bezeichnungen, übernommen und sind heute zentraler Bestandteil moderner banktheoretischer Modelle. Die Arbeiten zum Zusammenhang zwischen Haftungsbeschränkung und asymmetrischen Informationen zwischen den Entscheidungsträgern einer Bank und ihren Gläubigern griff HWS zehn Jahre später in seinen Beiträgen zum Systemwettbewerb zwischen nationalen Regulierungsbehörden erneut auf. Diese können durch strengere Eigenkapitalanforderungen an Banken deren tatsächliche Haftung erhöhen. Gleichzeitig wollen Staaten aber als Standort für Banken attraktiv sein, was eine Tendenz zum Lockern der Auflagen begründet. Dieses Konkurrieren zwischen Staaten um die Attraktivität des eigenen Bankenstandorts führt zu einem Laschheitswettbewerb, der schließlich in zu geringen regulatorischen Ei- 165 Clemens Fuest KASINO-KAPITALISMUS UND RISIKO ALS PRODUKTIONSFAKTOR – EIN ABEND IN EINEM RESTAURANT IN PARIS Kasino-Kapitalismus Clemens Fuest, Präsident des ZEW, Mannheim, wechselt zum 1. April 2016 als Präsident zum ifo Institut und als Professor für Volkswirtschaftslehre an die Ludwig-Maximilians-Universität. Seine Forschungsgebiete sind die Finanzwissenschaft und wirtschaftspolitische Aspekte der Europäischen Integration. 166 Es war der Abend des 24. Oktober 2008 im Hinterzimmer eines Restaurants in Paris. Dort fand anlässlich eines Economic Policy Panel Meetings ein Abendessen statt, auf Einladung der Banque de France. Rund 50 Ökonomen saßen eng gedrängt beisammen. Während des Tages hatten wir akademische Aufsätze dis kutiert. Hauptthema der Unterhaltung in den Pausen war aber die dramatische aktuelle Ent: der Zusammenwicklung im Finanzsektor bruch der Lehman-Bank einen Monat zuvor und die Rettung des Kreditversicherers AIG mit Milliarden von Steuergeldern nur wenige Tage später. Obwohl spätestens seit dem Kollaps der britischen Bank Northern Rock im Februar 2008 unübersehbar war, dass im Finanzsektor eine Krise drohte, war die Dimension der Katastrophe, die im Herbst 2008 offenbar wurde, eine böse Überraschung. Für den Abend hatten die Veranstalter spontan eine kleine Podiumsdiskussion arrangiert, die sich mit dem Ausbruch der Finanzkrise be- schäftigen sollte. Auf dem Podium waren drei Ökonomen, darunter Hans-Werner Sinn. Seine beiden Diskussionspartner konzentrierten sich auf die Beschreibung mehr oder weniger komplizierter Finanzprodukte, die mit Abkürzungen wie CDS, CDOs und so weiter bezeichnet werden. Die Botschaft lautete, die Krise sei durch die exzessive Verwendung von kom plexen Finanzprodukten entstanden, die kaum kalkulierbare Risiken heraufbeschwören. Die Bankenaufsicht habe diese Produkte oft nicht verstanden, aber im Wettbewerb der Finanzplätze habe man Nachteile befürchtet, wenn man einzelne Instrumente verbietet. Man habe auch übersehen, dass komplexe Finanzpro dukte vielfältige Verbindungen unter Banken entstehen lassen, mit der Folge, dass Probleme einer einzelnen Bank leicht einen Flächen brand auslösen können. Diese Erklärung lässt die Krise als eine Art Unfall erscheinen, der durch Dummheit, Leichtsinn oder Irrationalität entstanden ist. mit zu erklären, die Menschen seien irrational oder könnten Komplexität nicht bewältigen. Ebenso charakteristisch ist, dass Hans- Werner Sinn trotz aller Kritik an riskanten In vestitionen und beschränkter Haftung davor gewarnt hat, das Kind mit dem Bade auszuschütten. Dass Investoren Risiken eingehen, ist nicht zu beanstanden, solange diese Investoren die Kosten in vollem Umfang tragen. Ganz im Gegenteil : In seiner Antrittsvorlesung an der Universität München mit dem Titel »Risiko als Produktionsfaktor« hat er erklärt, dass das Eingehen von Risiken geradezu Grundlage unserer modernen Zivilisation ist – ohne Risiko bereitschaft würden viele Errungenschaften der modernen Industriegesellschaft nicht existieren. Das Eingehen von Risiken wird erst dann zum Problem, wenn Verluste auf Dritte wie etwa Steuerzahler abgewälzt werden. Kaum weniger wichtig für die wirtschaftliche Entwicklung ist die Möglichkeit, Unternehmen zu errichten, in denen die Haftung der Kapitalgeber auf das eingebrachte Kapital beschränkt ist. Beschränkte Haftung erlaubt es modernen Unternehmen, große Mengen an Kapital von vielen Investoren zu mobilisieren. In seinem Buch Kasino-Kapitalismus beschreibt Hans-Werner Sinn die Geschichte der Insti tution beschränkter Haftung und zitiert eine Rede des Präsidenten der amerikanischen Columbia-Universität, Nicholas Murray Butler, aus dem Jahr 1911, der das Unternehmen mit beschränkter Haftung für die wichtigste Ent deckung der Moderne hält, wichtiger als die Dampfmaschine oder die Nutzung der Elek trizität. Das eingangs erwähnte Restaurant in Paris habe ich damals mit dem Eindruck verlassen, dass uns schwierige Zeiten erwarten, aber auch mit dem guten Gefühl, besser zu verstehen, was sich im Finanzsektor abspielt. Kasino-Kapitalismus: Hans-Werner Sinn und die Finanzarchitektur Seit der Finanzkrise werden die internationalen Finanzmärkte in der Tat oft als ein chaotisches System beschrieben, in dem irrationale und von Gier geblendete Akteure astrono mische Summen rund um den Globus jagen, ohne Rücksicht auf die Folgen. Warren Buffett hat bestimmte Finanzderivate (CDOs) gar als »Massenvernichtungswaffen« bezeichnet. Hans-Werner Sinn hat anders argumentiert. Er hat die Krise als eine Folge der Kombination aus beschränkter Haftung und hoher Fremd kapitalfinanzierung erklärt. Wenn ein Investor beschränkter Haftung unterliegt und Verluste auf andere abwälzen kann, beispielsweise Kreditgeber, wird er exzessive Risiken eingehen. Das geht eine Zeitlang gut, und der Investor streicht hohe Renditen ein. Aber es liegt in der Natur riskanter Investitionen, dass es irgendwann zu Verlusten kommt. Ein Investor, der kaum eigenes Kapital einsetzt, wird von diesen Verlusten jedoch nicht getroffen – andere zahlen die Rechnung, beispielsweise Fremdkapitalgeber oder, wenn der Staat Banken rettet, die Steuerzahler. Fremdkapitalgeber sollten diese Gefahr kennen und entsprechende Risikoprämien verlangen. Steuerzahler können sich aber kaum wehren. Dieses Phänomen, in der Literatur als »gambling for resurrection« bezeichnet, spiele eine zentrale Rolle. In seinem Buch Kasino-Kapitalismus hat Hans-Werner Sinn diesen Punkt später ausführlich erläutert. Heute, nach Jahren der Debatte über die Krise, ist diese Analyse weithin als grundlegend für die Fehlentwicklungen anerkannt. Dass Hans-Werner Sinn sie aber schon im Oktober 2008 vortrug, ist auf zweifache Weise charakteristisch für ihn. Erstens zeigt dieser Umstand die Schnelligkeit, mit der er komplexe wirtschaftliche Ereignisse durchdenkt und auf ihren Kern reduziert. Zweitens hält er es für unbefriedigend, wirtschaftliche Probleme da- 167 Horst Köhler WISSEN, UM ZU WIRKEN Kasino-Kapitalismus Horst Köhler war von 2004 bis 2010 Bundespräsident. Zuvor war er Staatssekretär im Bundesfinanzministerium, Präsident des Sparkassen- und Giroverbands und der EBRD sowie Geschäftsfüh render Direktor des IWF. Heute beschäftigt er sich weiterhin intensiv mit Fragen internationaler Zusammenarbeit. 168 »Wer kein Eigenkapital hat, haftet nicht, und wer nicht haftet, zockt.« So einfach ist das. So einfach ist das wirklich. Aber ehe Hans-Werner Sinn die Wahrheit in einem Satz bündelt, nimmt er seine Leser auf den Denkweg mit, der zu diesem Satz führt. Präzis und verständlich analysiert er die Fehlanreize im internationalen Finanzsystem, die die Welt in die Krise stürzten, weil die Staaten keine Finanzarchitektur geschaffen hatten, die das hätte verhindern können. Er zeigt Schritt für Schritt, wie wichtig es ist, allen Märkten – sei es der für Immobi liendarlehen, sei es der für Aktienverkäufe – einen starken Ordnungsrahmen zu geben, und wie wenig damit getan ist, stattdessen vor allem auf die Moral der Marktteilnehmer zu setzen und dann auf das Versagen ungeordneter Märkte mit moralischer Entrüstung über Einzelne zu reagieren. Er verhilft dem Leser zu dem Aha-Erlebnis, dass keineswegs nur einige WallStreet-Manager gezockt haben, sondern auch Millionen Anwohner der Main Street. Und er stiftet die Erkenntnis, dass sich gegen Crashs und Krisen starke ordnungspolitische Vorkehrungen treffen lassen und dass, wo sie noch fehlen, wenigstens die Krise für solche Vorkehrungen genutzt werden muss, weil sonst nach der unmittelbaren Gefahrenabwehr alle schnell wieder zum Business as usual zurückkehren, finanzstarke und einflussreiche Lobbys den Kasino-Kapitalismus verteidigen – und alles wieder von vorne beginnt. Wer schnell gibt, gibt doppelt : Hans-Werner Sinn will nicht nur wissen, sondern auch wirken, darum hat er sehr bald nach dem Ausbruch der Weltfinanzkrise deren Ursachen für die Politik und für die breite Öffentlichkeit zutreffend diagnostiziert und überzeugende Therapievorschläge gemacht. Um wenigstens einige der wichtigsten davon zu nennen : kräftige Erhöhung der vorgeschriebenen Eigenkapitalund Kernkapitalquoten; faire Bewertung der risikogewichteten Aktiva statt der bisherigen opaken Risikomodelle; glaubhafte staatliche sen, das herauszufinden und zu berücksichtigen bleibt auf absehbare Zeit eine der wichtigsten Aufgaben für alle führenden Nationen und für die Global Governance. Darum sind nicht Entwarnung und Entspannung angesagt (geschweige denn die be häbige Selbstzufriedenheit, verbunden oft mit aggressiver Lobbyarbeit, die so manche Banker schon wieder zur Schau stellen), sondern konzentrierte Aufmerksamkeit und weitere Re formarbeit. Das setzt öffentlichen Erwartungsdruck und politische Entschlusskraft voraus, die leider erfahrungsgemäß beide abnehmen, je weiter eine Krise zurückliegt. Auch da sind Wissenschaftler mit Breitenwirkung wie HansWerner Sinn eminent wichtig : Sie unterrichten und beraten ihre Mitbürger in Gesellschaft und Politik zu Fragen, die für den Wohlstand der Nationen grundsätzliche Bedeutung haben; sie stoßen selber zu solchen Themen gesellschaft liche Debatten an; und sie halten das Interesse an wirtschafts- und finanzpolitischen Problemen und Lösungsansätzen dadurch nachhaltig wach, dass sie ihren Mitbürgern die ordnungspolitischen Maßstäbe und Prüfsteine an die Hand geben, um den Stand der Dinge selber zu prüfen und immer wieder nachzufragen : zum Beispiel, ob denn nun das Haftungsprinzip wirklich auf allen Finanz- und Versicherungsmärkten verlässlich verankert ist – oder ob dort auch künftig bloßes Zocken ein Geschäfts modell sein kann. Hans-Werner Sinn leistet seit Jahrzehnten einen unschätzbar wertvollen Beitrag zur economic literacy in Deutschland und Europa. Dafür sind Bestimmungen über das Ruhestands alter ohne Belang. Wünschen wir darum ihm und uns, dass bei Hans-Werner Sinn der Zusatz »i. R.« einfach nur bedeutet : in Reichweite. Kasino-Kapitalismus: Hans-Werner Sinn und die Finanzarchitektur Botschaft an die Aktionäre, dass ihre Institute künftig vielleicht immer noch too big to fail, aber niemals mehr too big to bleed sein werden; internationale Harmonisierung des Regelwerks auf anspruchsvollem Niveau; eine effiziente europäische Bankenaufsicht; Bändigung von Zweckgesellschaften und Hedgefonds; Neuord nung des Geschäfts der Ratingagenturen nebst Aufbau von europäischer Konkurrenz auf diesem bisher allein von den USA beherrschten Markt. Seitdem ist einzelstaatlich, in Europa und international sowohl regulatorisch als auch institutionell viel geschehen. Wie viel ist dabei erreicht worden ? Das wird die nächste Krise lehren. Denn auch wenn niemand die beschlossenen Reformen der Finanzarchitektur kleinreden sollte – sie haben institutionell und sowohl mikro- als auch makroprudenziell viel erreicht –, so sind doch die Komplexität und die Dynamik der Wechselwirkungen zwischen Finanzsystem, Realwirtschaft, Welthandel und Politik so groß geworden, dass wir eher am Ende des Beginns der ordnungspolitischen Arbeit stehen denn am Beginn ihres Endes. Die weltweit 30 größten systemrelevanten Finanzinstitute haben jeweils ein Bilanzvolumen von der Größe des Bruttosozialprodukts eines G-7-Staates und sind entsprechend verflochten in ungezählte Transaktionen und Standorte; die Verbindungen zwischen Finanzsektor und Realwirtschaft sind noch wenig erforscht; und die Interaktionen zwischen Finanzsystem und Welthandel haben eine Dichte erreicht wie vielleicht noch niemals zuvor in der Geschichte. Welche Ri siken all das birgt, welchen Stress es mit sich bringen mag und mit welchen Instrumenten sich die Gefahren messen und beherrschen las- 169 Claudia M. Buch HAUSORDNUNG FÜR DAS KASINO Kasino-Kapitalismus Claudia M. Buch verantwortet als Vizepräsidentin der Deutschen Bundesbank die Ressorts Finanzstabilität, Statistik und Revision. Zuvor leitete sie das Institut für Wirtschaftsforschung Halle (IWH) und war im Sachverständigenrat zur Begutachtung der gesamtwirtschaftlichen Entwicklung tätig. 170 Hans-Werner Sinn spürt Paradoxien in der Welt der Ökonomie auf und ist selbst in gewisser Weise ein Paradoxon. Denn seine Überlegungen passen oft nicht zu dem Bild eines neoklassischen Ökonomen, als der er in der öffentlichen Debatte dargestellt wird, eines Ökonomen, der den ungebremsten Marktkräften das Wort redet und der die Nachfrageseite ignoriert. Schon der Titel seines Buchs zur Finanzkrise Kasino-Kapitalismus wurde von Keynes geprägt. HWS sieht die globale Finanzsagen des krise nicht als ein generelles Ver Marktes, sondern als die Konsequenz eines unzureichenden weltweiten Ordnungsrahmens. Das Wort »Casino« steht im Italienischen für ein Gesellschaftshaus, einen Clubraum. Wie jedes Haus braucht das Kasino eine Hausordnung. Diese Regeln für Finanzmärkte sind es, für deren Reform sich HWS in seinem Buch einsetzt. Mit seinen Überlegungen ist HWS oft seiner Zeit voraus. Oft heißt es, die Ökonomen hätten Die Autorin dankt Markus Fischer für wertvolle Unterstützung bei der Erstellung dieses Beitrags. die Krise zu spät kommen sehen und arbeiteten mit falschen Annahmen über das Verhalten von Marktakteuren. HWS hat sich aber bereits in den 1990er Jahren mit Fehlanreizen auf Finanzmärkten, dem Eingehen zu hoher Risiken und mit »moralischem Fehlverhalten« (Moral Hazard) auseinandergesetzt, so in seinem 2003 erschienenen Buch The New Systems Competition. Und nicht zuletzt gehört die Behauptung, Ökonomen argumentierten aus dem akademischen Elfenbeinturm heraus und hätten keinen Einfluss auf die Wirtschaftspolitik, zum Standardrepertoire der öffentlichen Diskussion. Aber HWS hat bereits während der Krise die Einführung einer zentralisierten Bankenaufsicht in Europa gefordert, nachzulesen auf der Seite 300 seines Buches Kasino-Kapitalismus – Wie es zur Finanzkrise kam, und was jetzt zu tun ist aus dem Jahr 2009. Seine – oft kontroversen – Botschaften scheinen ihre Adressaten zu erreichen. Die gemeinsame europäische zen führen. Heute greifen neue Regeln für die Aufsicht von Banken (»Basel III«) diese Forderungen auf. Banken müssen mehr Eigenkapital halten, und Auswirkungen auf die Stabilität des Finanzsystems werden bei der Berechnung der Eigenkapitalanforderungen berücksichtigt. Für die Restrukturierung bzw. Abwicklung von Banken stehen mit der europäischen Richtlinie zur Sanierung und Abwicklung von Finanz instituten (Bank Recovery and Resolution Direc tive) neue rechtliche Grundlagen bereit, deren Kernstück die Beteiligung des privaten Sektors an Verlusten ist. Auch bei der Forderung von HWS, Hedgefonds und Verbriefungen strenger zu regulieren, wurden Fortschritte erzielt. Die in Deutschland geltende europäische AIFM-Richtlinie (Alternative Investment Fund Managers Direc tive) enthält umfassende Offenlegungspflichten für Hedgefonds. Bei Verbriefungen wurden die Eigenkapitalanforderungen für institutionelle Investoren und die Vorschriften für Banken in ihrer Rolle als Originator, z. B. bei der Bilan zierung, verschärft. Die genannten Aspekte bilden nur einige Bruchstücke des großen Puzzles der Neuregulierung des Finanzsystems. Das Gesamtmotiv lässt sich schon erkennen, doch Teilstücke werden in den kommenden Jahren noch an passender Stelle eingefügt werden müssen. Beispielsweise werden Staatsanleihen in der Regulierung nach wie vor privilegiert, und die neuen Regeln für die Verlustbeteiligung pri vater Gläubiger (»Bail In«) wurden in der Praxis kaum getestet. Mit seiner Forderung nach weitergehenden Regeln für das Bankensystem wird HWS ein kritischer Begleiter dieser Prozesse bleiben. Kasino-Kapitalismus: Hans-Werner Sinn und die Finanzarchitektur Bankenaufsicht trat 2014 in Kraft und stellt heute einen wesentlichen Teil der europäischen Antwort auf die Finanzkrise dar. Finanzkrisen entstehen, wenn Investoren übermäßige Risiken eingehen und keine ausreichenden Polster an Eigenkapital vorhalten, um Verluste, die sich realisieren, aufzufangen. Als Folge wurden in der Krise Gewinne privatisiert und Verlustrisiken aufgrund unzureichender privater Haftung von der Allgemeinheit getragen. Krisen haben nicht einen einzelnen Auslöser, sondern es spielt eine Reihe von Faktoren zusammen, und diese verstärken sich gegen seitig. Bereits kurz nach Ausbruch der globalen Finanzkrise hat HWS eine umfassende Analyse der Ursachen und der daraus folgenden notwendigen Lehren vorgelegt. Sein Buch KasinoKapitalismus schaffte es in Deutschland binnen Wochen in die TOP 10 der Sachbuch-Best sellerliste und wurde zudem auch in englischer Übersetzung publiziert. Als kurzfristige Krisenmaßnahme forderte HWS, dass der Staat als neuer Anteilseigner Banken in Schieflage stützen solle. Auf den ersten Blick mag diese Forderung paradox klingen. Doch auch hier bleiben marktwirtschaft liche Grundüberlegungen für HWS elementar, denn ein zeitnaher Austritt des Staats nach Beendigung der Krise und die Übernahme von Anteilseignerschaften zum Marktkurs sind Eckpunkte seines Vorschlags. Langfristig ist für ihn eine dauerhafte Er höhung der Eigenkapitalquoten die Schlüssel strategie zur Beseitigung von Fehlanreizen. Das Handeln des Staates bei Regelverletzungen von Instituten müsse im Krisenfall klar geregelt sein und dürfe nicht schon vorab zu Fehlanrei- 171 Axel A. Weber NACHHALTIGKEIT STATT KASINO Kasino-Kapitalismus Axel A. Weber ist seit 2012 Präsident des Verwaltungsrates von UBS Group AG . Von 2004 bis 2011 war er Präsident der Deutschen Bundesbank. Seine akademische Karriere umfasst Professuren an den Universitäten von Köln, Frankfurt am Main, Bonn und Chicago. 172 Kaltstart, Target-Falle, Basarökonomie – HansWerner Sinn ist in seiner ebenso langen wie erfolgreichen Karriere als Akademiker und Vermittler zwischen Wissenschaft und Gesellschaft nie um einen pointierten Buchtitel verlegen. Doch wer hinter den reißerischen Überschriften ebenso hemdsärmelige Analysen vermutet, wird immer wieder enttäuscht. Hans-Werner Sinn hat es über viele Jahre wie kaum ein anderer Ökonom in Deutschland verstanden, einem breiten Publikum fachlich fundierte Argumente ebenso verständlich wie pointiert zu vermitteln. Für diese Bereicherung der wirtschaftspolitischen Debatte und für die wissenschaftlichen Ratschläge zuhanden von Entscheidungsträgern gebührt ihm ein großer Dank. Das oben Gesagte trifft auch auf sein 2009 erschienenes Buch Kasino-Kapitalismus zu, wo sich Professor Sinn inmitten der Finanzkrise mit deren Ursachen und der nötigen Neuordnung des Finanzsystems befasst. Der plakative Titel soll dabei das versinnbildlichen, was Sinn als den Hauptauslöser der Krise sieht, nämlich eine von Amerika ausgehende Verbreitung von sogenannten »Kasino-Methoden«, welche sich in den Jahren zuvor über weite Teile der Welt verbreitet hätten. Gemeint ist damit, dass immer mehr Finanzmarktteilnehmer immer risikoreichere und spekulativere Geschäfte getätigt hätten. Ermöglicht worden sei diese Entwicklung durch immer kleiner werdende Eigenkapitalquoten, welche dazu geführt hätten, dass die Eigentümer nur noch für ein Minimum der eingegangenen Risiken hafteten. In den guten Jahren hätten Aktionäre so hohe Eigenkapitalrenditen erwirtschaftet, doch seit Ausbruch der Krise würden dafür Gläubiger und Staaten zur Kasse gebeten, sobald die dünnen Eigenkapitaldecken wegzuschmelzen drohten. Zugelassen und zum Teil gefördert worden seien diese Entwicklungen durch Regulatoren und Politiker, welche die Risiken nicht verstanden, sich gegenseitig mit zu laschen Regeln unterboten und insgesamt zu Geschäfte in weniger regulierte Bereiche sehe. ezüglich Ersterem droht ein überzogener B Glaube an die Selbstregulierung der Märkte durch einen ebenso fehlgeleiteten Glauben an die Macht zentraler Detailsteuerung ersetzt zu werden, wobei zudem die negativen volkswirtschaftlichen Konsequenzen kaum Erwähnung finden. So besteht die Gefahr, dass im Zuge der immer noch rollenden Regulierungswelle neben den besagten Kasinos auch volks wirtschaftlich ungleich sinnvollere Geschäftsbereiche geschlossen oder zumindest mar kant zurückgefahren und so Aufschwung und Wachstum behindert werden. Hinsichtlich Letzterem steht zu befürchten, dass gewisse Aktivitäten aus dem relativ transparenten und regulierten Bankenbereich in den sogenannten Schattenbankensektor verlagert werden, wo Regulierungs- und Aufsichtsbehörden weniger Informationen und Zugriff haben. Die nächste Krise kommt bestimmt, sie wird aber sicher keine Wiederholung der letzten sein. Zwei in Kasino-Kapitalismus thematisierte Probleme bleiben jedoch ungelöst und hoch aktuell. Das erste betrifft die weiterhin bestehenden großen Unterschiede der Rechnungslegungssysteme IFRS und US GAAP, welche Vergleiche von Risikoprofilen und Kapitalausstattung zwischen amerikanischen und europä ischen Banken massiv erschweren. Und zweitens blieb bei den diagnostizierten Mängeln der Risikogewichtungen der wohl größte unangetastet, nämlich die proklamierte Risikolosigkeit von Staatsanleihen. Dies hängt auch damit zusammen, dass die Hauptgefahren für das internationale Finanzsystem mittlerweile nicht mehr von Geschäftsbanken ausgehen, sondern von unkonventionellen geldpolitischen Maßnahmen und der immer noch weitgehend ungelösten staatlichen Schuldenproblematik. Nicht von ungefähr trägt Hans-Werner Sinns neues Buch den Titel The Euro Trap. Kasino-Kapitalismus: Hans-Werner Sinn und die Finanzarchitektur stark der Selbstregulierung der Märkte vertraut hätten. Professor Sinns Liste von weiteren Fehlentwicklungen beinhaltet eine von der Politik angestiftete unverantwortliche Kreditvergabe im amerikanischen Immobiliensektor, pro zyklisch wirkende Regulierungen, fehlgeleitete Risikogewichtungen, Ausnahmeregelungen für Zweckgesellschaften und Hedgefonds sowie schwere systematische Mängel im Ratingwesen. Insgesamt sei die schlimmste Finanzkrise der Nachkriegszeit daher durch ein Zusammenspiel von Markt- und Politikversagen ausgelöst worden. Ich bin der Meinung, dass Hans-Werner Sinn viele der zentralen Fehlentwicklungen, welche in der Finanzkrise mündeten, korrekt beschreibt. Ebenso kann ich die meisten in Kasino-Kapitalismus vorgetragenen Reformforderungen unterschreiben, von denen ein : Großteil mittlerweile Realität geworden ist Die Eigenkapitalanforderungen wurden (und werden weiter) massiv quantitativ wie quali tativ verschärft, wodurch in Kombination mit spezifischen »Too-big-to-fail«- und »Recoveryand-resolution«-Regulierungen das Haftungsprinzip wieder ins Zentrum gestellt wurde. Die geforderte internationale Koordination und Harmonisierung der Regulierung sind zwar nicht perfekt, aber heute in vielen Bereichen Realität. In Europa wurde die Aufsicht sogar unter dem Dach der Europäischen Zentralbank zentralisiert. Das Instrumentarium der Notenbank wurde durch antizyklische Kapitalpuffer und weitere makroprudenzielle Instrumente erweitert. Außerbilanzielle Aktivitäten wurden unterbunden, und der Eigenhandel ist größtenteils aus den Geschäftsmodellen der Banken verschwunden. In der Bankenregulierung wurde viel erreicht seit dem Ausbruch der Krise, so dass ich die größten Gefahren mittlerweile in exzessiver Regulierung und dem Verlagern riskanter 173 Theodor Weimer HWS’ BLOOS-ANSATZ: WIE BEKOMMEN WIR NÜTZLICHE FINANZINTERMEDIÄRE? Kasino-Kapitalismus Theodor Weimer ist seit 2009 Vorstandssprecher der HypoVereinsbank. Er promovierte 1987 bei Horst Albach an der Universität Bonn. Es folgten Tätigkeiten bei McKinsey, Bain und als Partner bei Goldman Sachs, bevor er 2007 Mitglied des Executive Management Committees der Unicredit Gruppe wurde. 174 Institutionen, die keine Probleme darstellen, finden im öffentlichen Diskurs nicht statt. Sofern sie funktionieren, sind sie kein Gegenstand von Politik oder Medien. Denn in deren Sphäre wird vor allem das verhandelt, was auffällig geworden ist. Natürlich waren Banken nie komplett unterhalb des öffentlichen Radars. Sie erfüllten, jedenfalls in den Industrieländern, aber einigermaßen ordentlich ihren Zweck. Das galt zumal für Deutschland. Damit waren sie weitgehend nur für Spezialisten von Interesse. Das war an sich ein guter Zustand, für die Finanzindustrie, aber auch für deren Kunden. Es gab jedenfalls keinen Anlass zu breiter, gar systemweiter Kritik. Das Geschäftsmodell lief. Die große Finanzkrise hat offenbart, dass die Einschätzung fragwürdig war. Die Finanzindustrie ist unter Rechtfertigungsdruck. Ihr Ruf könnte – milde ausgedrückt – besser sein. Für den öffentlichen Intellektuellen HansWerner Sinn kam das alles nicht überraschend. Er hatte seit langem auf Bruchstellen hinge wiesen. Tatsächlich hatte er bereits in seiner Dissertation, vor fast 40 Jahren, die Schwierig keiten erörtert, die mit dem Instrument der beschränkten Haftung verbunden sind. Auf Banken hat er die Perspektive vor gut zehn Jahren angewandt. Dabei bohrt HWS an einem dicken Brett. Denn die Haftungsbeschränkung gilt als die »Basis des kapitalistischen Systems« (HWS). Richtig angewandt, erlaubt sie den zweckgerechten Umgang mit Risiken. Sie eröffnet zugleich den Zugang zu mehr Chancen. Produktivitätssteigernde Innovationen werden möglich. Mehr Wohlstand wird geschaffen. Das ist die zu Recht hervorgehobene Lichtseite des Prinzips. Ihre Strahlkraft ist in der Streuung von Risiken begründet. Diese werden verringert. Oder sie werden jenen überlassen, die sie besser zu tragen im Stande sind. Wo ist nun der Schatten ? HWS weist überzeugend nach, dass die Haftungsbeschränkung dazu anhält, tendenziell exzessive Risiken ein- Aus all dem folgt für HWS : Die Anreizdefekte können nur mit mehr Eigenkapital gemildert werden. Europa bedarf einer einheitlichen Aufsichtsstruktur – allerdings ohne zwischenstaatliche Verlustverteilung. Hedgefonds, Private-Equity-Akteure, Money Market Funds usw. – neudeutsch : Schattenbanken – sollten gleichen Regeln wie Banken unterliegen. HWS verlangte dies schon 2008. Er ist damit übrigens im Mainstream der Ökonomen. Er ist eben nicht immer der Außenseiter. Einige verlangten einiges schon eine Weile vorher. Mittlerweile ist dies zu erheblichen Teilen umgesetzt. Und mehr. Etwa die erhöhten Liquiditätsanforderungen, Basel III usw. Die jetzt zu verhandelnden Fragen haben aber einen feingliedrigeren Charakter. Wie viel mehr an Eigenkapital ist erforderlich ? Wie viel – und welche – Liquiditätsvorhaltung ist geboten ? Wie interagiert das Bündel an neuen Anforderungen ? Wie ist mit Ausweichverhalten (Schattenbanken) umzugehen ? Diese Fragen sind in dem Maße wichtig, in dem die Vermittlungsaufgaben, die Banken wahrnehmen, sozial nützlich sind. Es gibt einen Trade-off. Deshalb ist Abwägen geboten. Es muss mit feinem analytischem Besteck und Urteilskraft gearbeitet werden. Es geht darum, wie die eigentlichen Kunden, Unternehmen und private Haushalte, betroffen sind. Hier muss Hans-Werner Sinn nachliefern. Er kann sich nicht einfach in Rente verabschieden. Das fordere ich vor allem aus eigennüt zigen Gründen. Für mich als in der Wolle gefärbter Ökonom war es immer ein enormer Gewinn, mit diesem kritischen Geist zu diskutieren. Er hat mich als Aufsichtsrat in und nach der Finanzmarktkrise manches Mal gequält – gelegentlich hatte er sogar zugehört. Das waren Momente großer Genugtuung. Ich freue mich auf viele weitere Gelegenheiten zum Austausch. Kasino-Kapitalismus: Hans-Werner Sinn und die Finanzarchitektur zugehen. Denn dies erlaubt eine höhere Rentabilität. Diese wächst sogar, sofern alles gutgeht, je weniger Eigenkapital eingesetzt wird. Vorsichtiges Geschäftsgebaren wird dagegen vom Markt bestraft. Dabei werden die vermeintlich seltenen, aber mit hohen Kosten verbundenen Risiken ausgeblendet. Hier kommt BLOOS ins Spiel : Je höher die Verluste, desto unwahrscheinlicher ist es, dass sie von Eigenkapitalgebern aufgefangen werden. Man kann niemandem mehr nehmen, als er besitzt. Oder : You cannot squeeze blood out of a stone. Damit ist eben auch das Fremdkapital dem Risiko ausgesetzt. Dieses wird, so der deutsche Ökonom Wolfgang Stützel, vom Festzum Restbetragsbeteiligten. Geschieht dies in großem Umfang, wird Vertrauen untergraben. Es erwächst ein systemisches Risiko. Die Ansteckungsgefahren für im Prinzip gesunde Institute werden zu groß. Die Politik ist gezwungen, privat eingegangene Risiken zu sozialisieren. Die Anreize sind damit systematisch verzerrt. Die öffentlichen Hände gewähren eine Versicherung, ohne dafür angemessene Prämien zu verlangen. Die Übernutzung des Sicherungssystems ist die unabweisbare Folge. Es werden zu viele und zu hohe Risiken eingegangen. Für die muss, um weit Schlimmeres zu verhüten, am Ende der Club der Steuerzahler einstehen. HWS benutzt übrigens nicht die in der modernen Finanzwissenschaft, seit Robert Merton, typische Argumentation. Der zufolge gehören Firmen letztlich den Gläubigern. Diese haben den Anteilseignern das Recht verkauft, über die Firmenaktiva zu verfügen, jedenfalls sofern sie ihren Verpflichtungen nachkommen. Die Eigenkapitalgeber haben damit einen put erworben : Sie geben ihre Rechte auf, gehen in Insolvenz, sofern der Firmenwert nicht mindestens dem Wert der Verbindlichkeiten entspricht. 175 Kai A. Konrad WIRTSCHAFTSPOLITIK IN DER FINANZKRISE Kasino-Kapitalismus Kai A. Konrad ist Direktor am Max-Planck-Institut für Steuerrecht und Öffentliche Finanzen. Er lehrte als Professor an der FU Berlin. Er ist Mitglied verschiedener Akademien, darunter der Nationalen Akademie der Wissenschaften Leopoldina, und Mitglied des Wissenschaftlichen Beirats beim BMF. 176 Die erste große Finanz- und Wirtschaftskrise des 21. Jahrhunderts hat zu vielen Verwerfungen geführt. Zu diesen gehört auch ein Verlust an Vertrauen in das marktwirtschaftliche System und marktwirtschaftliche Institutionen und in die selbstregulierenden und selbst heilenden Kräfte des Marktes. Brauchen wir »weniger Markt« ? Sind die Mechanismen des Marktes an der Systemkrise schuld ? Brauchen wir die Entmachtung des Marktes durch mehr staatlichen Dirigismus und politische Kommissare ? Der Markt kann seine ordnende und wohlfahrtsmehrende Funktion dann und nur dann ausüben, wenn die Politik die Rahmenbedingungen für diese Entfaltung richtig setzt. Das hat sie nicht getan. In der Rückschau war die Finanzkrise insofern vor allem das Ergebnis von Politikversagen. In die Zukunft gerichtet ergibt sich daraus die Frage, wie Rahmenbedingungen geschaffen werden, die dafür sorgen, dass sich die positiven Wirkungen des Markes entfalten können und Fehlstellungen vermieden werden. In den vergangenen Jahren sind viele Wirtschaftswissenschaftler hart mit sich selbst und mit der eigenen Disziplin ins Gericht gegangen. Andere haben sehr zu Recht darauf verwiesen, dass das mikroökonomische Instrumentarium ganz ausgezeichnet ist. Das Verhalten der Akteure, das zur Krise geführt hat, lässt sich mit diesem Instrumentarium gut erklären. Viele mikroökonomischen Theorien, die den eigennutzorientierten und strategisch und rational vorausdenkenden Menschen unterstellen, können das Verhalten der Akteure auf den Finanzmärkten nur zu gut erklären. Diese Theorien deuten auch auf mögliche Fehlsteuerungen, die man durch geschickte staatliche Rahmenbedingungen jedenfalls zum Teil korrigieren könnte. Denken wir nur an die Anreize von Akteuren, die mit dem Rücken zur Wand stehen, die nichts mehr zu verlieren haben, oder von Fi Die Rezepte sind vorhanden. Viele Wirtschaftswissenschaftler haben wie Hans-Werner Sinn ihr wissenschaftliches Wirken darauf ausgerichtet, der Politik direkt oder über den Umweg einer breiten Öffentlichkeit zu raten, so wie ein Bauingenieur, der es gern sieht, wenn sein Wissen zum Einsatz gebracht wird. Sie wünschen sich natürlich, dass die Politik ihre Expertise richtig interpretiert und bestmöglich verwendet. Das, so weiß man ebenfalls aus der Wirtschaftstheorie, ist leider nicht so einfach und mitunter sogar ganz unmöglich. Theorien erklären uns überzeugend, weshalb bereits geringfügige Unterschiede in den Zielen von Experten und Politikern den Kommunika tionsprozess gewaltig erschweren können. Wir verfügen auch über gute Theorien über den Einfluss von Interessenverbänden auf die Politik und über die Funktionsweise des politischen Prozesses. So mag man erklären können, warum es trotz eines im Grunde guten Erkenntnisstands der Wirtschaftswissenschaften zu wirtschaftspolitischen Fehlleistungen kommt und warum trotz des ungeheuren Potenzials, das eine gut funktionierende Marktwirtschaft für den allgemeinen Wohlstand hat, dieses Potenzial nicht gehoben werden kann. Vielleicht liegt die Lösung dieses wirtschaftspolitischen Dilemmas darin, dass sich die Experten stärker an eine breite Öffentlichkeit wenden. Hans-Werner Sinn hat seit vielen Jahren einen großen Teil seiner Energie genau darauf verwendet. Seine am Gesamtwohl orientierten Botschaften haben oft erheblichen Gegenwind erzeugt, vor allem bei einzelnen Interessengruppen. Sein Einsatz hat ihm aber auch viel Zustimmung und große Popularität eingetragen. Ich wünsche ihm für diese Akti vitäten in den kommenden Jahren die nötige Kraft und Energie. Kasino-Kapitalismus: Hans-Werner Sinn und die Finanzarchitektur nanzunternehmen, die aus anderen Gründen größere Verluste aus ihrem aktuellen Handeln nicht selbst tragen müssen, z. B. weil sie im Fall eigener Schieflage die Verluste gar nicht selbst übernehmen und zudem auf staatliche Rettung vertrauen können. Diese Akteure sind leider bereit, schlechte Risiken einzugehen : Risiken, deren Gewinnchancen hinter den Verlustrisiken zurückbleiben. Hans-Werner Sinn gehört zu denen, die dieses Handlungsmotiv bereits vor Jahrzehnten erkannt und analysiert haben. Zentrale Überlegungen hierzu finden sich bereits in seiner Dissertation. In seiner wirtschaftspolitischen Analyse der Finanzkrise (Kasino-Kapitalismus) lebt diese Theorie auf, und dieses Handlungsmotiv spielt darin zu Recht eine zentrale Rolle. Eine der Handlungskonsequenzen aus dieser Theorie ist die Forderung nach einer entsprechend hohen Ausstattung von Banken mit Eigenkapital, das für die Abdeckung von Verlusten aus Geschäften der Bank gegebenenfalls auch zur Verfügung steht. Diese Erkenntnis hat sich heute immerhin verbreitet durchgesetzt, auch wenn ihre wirtschaftspolitische Umsetzung nur langsam vorankommt. Diese Überlegungen sind, so wenig wie Theorien zur Krisenanfälligkeit von Eigenkapital von Banken und die daraus erwachsenden Anreize für Bilanzverkürzungen oder Theorien zur Entstehung von Bank Runs, keine Erfindungen der Epoche nach der Insolvenz von Lehman Brothers. Das mag nicht überraschen, denn die Krise selbst ist auch nicht die erste Finanzmarktkrise, in der Ökonomen solche Probleme studieren und analysieren konnten. Wie aber verhindert man das fortgesetzte Politikversagen, das dazu führt, dass diese Lehren nicht umgesetzt werden, gerade im Bereich der Ausgestaltung der Finanzmärkte ? Dies scheint mir die eigentlich ungelöste Frage zu sein. 177 Jan-Egbert Sturm DIE FINANZKRISE 2008: FOLGE UND SPIEGEL BILD VON FEHLANREIZEN IM BANKENSEKTOR Kasino-Kapitalismus Jan-Egbert Sturm ist Direktor der KOF Konjunkturforschungsstelle und ordentlicher Professor für Angewandte Wirtschaftsforschung an der ETH Zürich. Von 2001 bis 2003 leitete er den Bereich Konjunktur und Finanzmärkte des ifo Instituts. Er ist ifo-Forschungs professor und Mitglied der EEAG. 178 Als langjähriges Mitglied der von Hans-Werner Sinn ins Leben gerufenen European Economic Advisory Group at CESifo (EEAG), die jährlich die wirtschaftliche Entwicklung Europas begutachtet, habe ich das Vergnügen, einen sehr regelmäßigen wissenschaftlichen, aber auch persönlichen Austausch mit Hans-Werner Sinn pflegen zu können. Im Rahmen unserer EEAG-Sitzungen kommt eines seiner großen Themen immer wieder zur Sprache : die Finanzkrise von 2008 und ihre Auswirkungen auf Europa. Unsere Diskussionsrunden in der EEAG Group sind ein Trainingscamp für den debattierfreudigen Hans-Werner Sinn. Denn die in der EEAG vertretenen Ökonomen haben teilweise unterschiedliche Vorstellungen über die Ursachen der Krise, ihre Auswirkungen und die notwendigen Strukturreformen der Finanzarchitektur. Dies führt mitunter zu heftigen polit-ökonomischen Diskussionen, immer auf höchstem Niveau, nie unsachlich und immer vorgetragen mit einer Leidenschaft für das bessere Argument. Ich hatte dabei oft den Eindruck, dass es die Diskussionen innerhalb der EEAG Hans- Werner Sinn erlauben, diese kleine, aber feine Gruppe von Experten als Sparringspartner zu nutzen, um erste Ideen anzubringen, Argumentationslinien zu schärfen oder eventuelle Schwachpunkte in seiner Rhetorik aufzudecken und zu beseitigen. In diesem Sinne waren diese Diskussionen in der Gruppe ertragreich : Sie haben meines Erachtens ein paar Unschärfen aus Hans-Werner Sinns Argumentationslinien verschwinden lassen. Denn eines ist klar : Seine Botschaften, die er in der Öffentlichkeit vertritt, blieben immer glasklar und verständlich, so dass sie stets eine breite Öffentlichkeit ansprechen und Einfluss auf Entscheidungsträger nehmen. Beeindruckend sind stets die Fakten- und Zahlenkenntnisse, mit denen Hans-Werner Sinn seine Thesen belegen kann. Nehmen wir als Beispiel die Diskussion um die Fehlanreize im Bankensektor, die teilweise durch die frühe- lativ) überschaubar, potenzielle Gewinne al lerdings im Verhältnis zum Eigenkapital sehr hoch. Es war die Systemrelevanz, der viele Banken im Zuge der Finanzkrise die Rettung durch den Staat zu verdanken haben. Auch wenn diese Rettungsmaßnahmen zumindest aus kurzfristiger Perspektive unerlässlich waren, lassen sie für die Zukunft Fehlanreize entstehen und tragen somit zur Erklärung des Geschehenen bei. Denn vielen Banken schien es längst klar gewesen zu sein, dass, wenn es hart auf hart kommt, die öffentliche Hand die Kastanien aus dem Feuer holen und die Rechnung letztendlich durch den Steuerzahler beglichen wird. Diese Fehlanreize hat Hans-Werner Sinn schon in den Anfängen der Krise erkannt und darauf in den für ihn zur Verfügung stehenden verschiedenen Kanälen unermüdlich hingewiesen. Wichtig ist auch, wie Hans-Werner Sinn immer wieder betont hat, dass im Falle einer Rettung die Gläubiger einer Bank an den Verlusten beteiligt werden sollten, bevor es zu einer Rettung durch den Staat kommt. Seit kurzem ist genau das in der EU-Richtlinie zur Sanierung und Abwicklung von Kreditinstituten (Bank Recovery and Resolution Directive : BRRD) geregelt. Mindestens 8 % bestimmter Bankverbindlichkeiten müssen nun herunteroder abgeschrieben werden, bevor öffentliche Mittel zur Sanierung oder Abwicklung eingesetzt werden können. Nicht nur wenn es um die Finanzkrise und die zukünftige Finanzarchitektur Europas geht, auch in vielen anderen wissenschaftlichen, politischen und sozialen Bereichen habe ich viel von Hans-Werner Sinn gelernt, und er hatte einen prägenden Einfluss auf meinen beruf lichen und persönlichen Werdegang. Ich bin mir sicher, dass es anderen Ökonomen auch so geht. Kasino-Kapitalismus: Hans-Werner Sinn und die Finanzarchitektur re Regulierung entstanden sind und von HansWerner Sinn thematisiert wurden : Dass z. B. nach internationalen Standards die allgemeinen Anforderungen an das Eigenkapital der Banken – die sogenannte Kernkapitalquote – 8 % der Risikoanrechnungsbeträge betragen, hört sich auf den ersten Blick vielleicht vernünftig an. Aber in der Praxis bedeuten sie, dass bestimmte Anlageprodukte, wie Staatsanleihen, nicht mit Eigenkapital unterlegt werden müssen und die Gewichtung weiterer Anlagen quasi über Selbstkontrolle mittels bankinterner Risikomodelle ermittelt wird. Die damals als sehr sicher eingestuften Verbriefungen ame rikanischer Immobilienkredite wurden damit nur teilweise, nämlich risikogewichtet, in die Kernkapitalquote aufgenommen. Berechnet man aber die bilanzielle Eigenkapitalquote – ein viel gröberes, aber deutlich einfacheres Maß, das nichts anderes abbildet als das Verhältnis von (ungewichtetem) Eigenkapital und Bilanzsumme –, dann liegt diese um einiges niedriger. Sowohl bei der Deutschen Bank als auch bei der Schweizer UBS lag die bilanzielle Eigenkapitalquote im Jahr 2007, also im Jahr vor der Finanzkrise, bei lediglich 1,9 %. Ich glaube nicht, dass es viele Banken auf dieser Welt gibt, die bereit wären, einem privaten Industrieunternehmen mit einer bilanziellen Eigenkapitalquote von unter 2 % einen Kredit zu gewähren. Denn die Risiken würden eindeutig als zu hoch eingestuft werden. Die Banken waren vor der Finanzkrise aber genau in dieser Situation. Auch ohne Bail-out – d. h. auch wenn man annehmen würde, dass Banken und deren Eigner im Falle einer Krise nicht durch die öffentliche Hand vor einem Verlust des Eigenkapitals geschützt würden – verstärken derart tiefe Eigenkapitalquoten die Risikobereitschaft der Banken. Im Falle einer Pleite sind die Verluste für die Kapitaleigentümer (re- 179 Frank Westermann WIE AUS FORSCHUNG POLITIKBERATUNG WIRD: DIE VORGESCHICHTE ZUM KASINOKAPITALISMUS Kasino-Kapitalismus Frank Westermann ist Professor für Volkswirtschaftslehre und Leiter des Instituts für Empirische Wirtschaftsforschung an der Universität Osnabrück. Er ist Autor von Boom-Bust Cycles and Financial Liberalization, MIT Press, gemeinsam mit Aaron Tornell. 2004 habilitierte er bei Hans- Werner Sinn. 180 Das Buch Kasino-Kapitalismus war das erste, das die Finanzkrise von 2007/08 systematisch aufarbeitete und auf wissenschaftlicher Grundlage eine Analyse der notwendigen wirtschaftspolitischen Reformen vornahm. Zu diesem Zeitpunkt war die globale Finanzkrise auf ihrem Höhepunkt. Die Subprime-Krise 2007 war der Vorbote, und die Lehman-Brothers-Pleite, Ende 2008, deckte die Schwächen der inter nationalen Finanzarchitektur endgültig auf. Sie traf die Märkte und die Politiker gleichermaßen unvorbereitet. Bereits in der ersten Hälfte des Jahres 2009 war der Kasino-Kapitalismus schon in den Buchläden. Im Juni 2009 akzeptierte Hans-Werner Sinn u. a. eine Einladung nach Osnabrück und präsentierte sein Buch in einer überfüllten Aula des Schlosses. Wie war es möglich, schneller als alle anderen zu sein, bei einem so komplexen Thema wie dem der globalen Finanzmärkte ? Beim Kasino-Kapitalismus – wie auch schon bei seinen anderen Büchern – half es HansWerner Sinn, dass ein Thema an Bedeutung gewann, an dem er zuvor bereits geforscht hatte. Drei Artikel und ein Buch waren in diesem Fall dabei besonders relevant : In seiner Dissertation (1980 erschienen) analysierte Sinn z. B. individuelles Risikoverhalten bei einer sog. geknickten Nutzenfunktion. Die »Mehr, als er hat, kann man ihm nicht nehmen« – oder MAEHKMINN –, eine Regel, die einen wesentlichen Teil der Wirklichkeit an spekulativen Finanzmärkten widerspiegelt, integrierte er in ein mikroökonomisches Modell, das zeigt, unter welchen Rahmenbedingungen Marktteilnehmer übermäßige Risiken eingehen : insbesondere dann, wenn die Eigenverantwortung für extrem negative Realisationen dieses Verhaltens entfällt. Gemeinsam mit dem bekannten Mikroökonomen Murray Kemp (2000) zeigte er später weitere Gründe auf, die Finanzmärkte zu regulieren. Dieser Artikel beschäftigte sich mit der tes, der Banken und der Ratingagenturen. Für keinen dieser Teilnehmer schienen die »Spielregeln« der internationalen Finanzmärkte richtig gesetzt zu sein. Keinen dieser Marktteilnehmer macht Hans-Werner Sinn jedoch einzeln verantwortlich für die Misere. Alle zusammen haben das System ihren Präferenzen und Restriktionen entsprechend ausgenutzt. Die Handlungsempfehlungen für Reformen an den Finanzmärkten sind in dem Buch klar formuliert und folgen den zuvor gewonnenen theoretischen Erkenntnissen. Sie beinhalten insbesondere eine Erhöhung der Eigenkapitalquote, abgeleitet aus der MAEHKMINN-Regel. Wenn die Eigenkapitalquoten höher sind, wachsen das eigenständig getragene Verlust risiko und die Vorsicht bei künftigen Anlage entscheidungen. Sinn spricht sich auch eindeutig gegen Leerverkäufe aus. Diese würden eine Spekulation befeuern, die dem Einzelnen Profite bringen, der Volkswirtschaft als Ganzer aber schaden. Darüber hinaus sollte der Staat, wenn Rettungsaktionen zwingend werden, Anteilseigner der Banken werden. Er sollte eine Kapitalerhöhung erzwingen, um sich zu einem späteren Zeitpunkt schrittweise aus den Beteiligungen durch den Verkauf von Aktien wieder zurückziehen zu können. Staatliche Garantien oder »Bad Banks« lehnt Sinn hingegen ab. Diese Empfehlung folgt aus der Analyse der Gewährs trägerhaftung bei den Landesbanken. Die Publikation Kasino-Kapitalismus wurde der Erfolg, den dieses Buch verdient hatte. Es ist das Werk eines Wissenschaftlers, der auf Basis von jahrelanger Grundlagenforschung in der Lage ist, Politikberatung mit exzellenter Qualität anzubieten. Kasino-Kapitalismus: Hans-Werner Sinn und die Finanzarchitektur Frage, ob Spekulation auf »Forward Markets« nicht nur die Preise stabilisiert, sondern auch die Wohlfahrt der Volkswirtschaft insgesamt erhöht. In einem theoretischen Beitrag zeigten Sinn und Kemp, unter welchen Konditionen spekulative Geschäfte zwar aus privater Sicht profitabel, aus Wohlfahrtsbetrachtung aber nutzlos sein können. Hans-Werner Sinn befasste sich Ende der 1990er Jahre bereits mit der Rolle des Staates im Bankwesen. In einem Buch (1997) zeigte er, wie umfangreich der Staat bereits in das deutsche Bankensystem involviert war, insbesondere über die Landesbanken. Er kritisierte die Gewährsträgerhaftung, mit deren Hilfe die Landesbanken auf den internationalen Kapitalmärkten einen Wettbewerbsvorteil hatten und so zu Global Playern heranwuchsen, die letztlich viel Geld im Zuge der Finanzkrise verloren. Schließlich modellierte er in einem theo retischen Beitrag (2003) den »Laschheitswett bewerb« unter den Regulierungsbehörden. Als Teil seiner Untersuchungen zum Systemwettbewerb ging er der Frage nach, ob das Marktversagen, in diesem Fall das »Lemons-Problem« bei Wertpapieren, das die Regulierung in geschlossenen Volkswirtschaften auf den Plan ruft, erneut auftaucht, wenn diese Regulierungsbehörden in Konkurrenz zueinander stehen. In dem Artikel analysierte er die Zusammenhänge in einem formalen theoretischen Modell und forderte eine globale Initiative zur Erhöhung der Eigenkapitalquoten. In dem Buch Kasino-Kapitalismus wandte Sinn sich dann erstmals mit diesen Themen an eine breite Öffentlichkeit und analysierte die Finanzkrise aus unterschiedlichen Perspektiven. Aus der Sicht der Haushalte, der des Staa- 181 Martin Wolf HANS-WERNER SINN ZUR GLOBALEN FINANZKRISE Kasino-Kapitalismus Martin Wolf, Commander of the British Empire, ist Chefreporter für Wirtschaft der Financial Times und Professor an der Universität von Nottingham. Er ist Träger vieler Auszeichnungen und mehrerer Ehrendoktortitel sowie regel mäßig unter den 100 wichtigsten Denkern der Zeitschrift Foreign Policy. 182 Hans-Werner Sinn besitzt vier herausragende Gaben : Mut, Klarheit, Klugheit und Streitlust. Diese Kombination macht ihn zu einem exzellenten Ökonomen, einem wegweisenden Politikanalysten und einem mächtigen Polemiker. Seine Position als Präsident des ifo Instituts und Gründer des CESifo-Netzwerks vergrößerte seinen Einfluss noch. Er ist nicht nur ein tatkräftiger Intellektueller, sondern ein echter Organisator. Deutschlands einflussreichster politikorientierter Ökonom hat Einfluss in ganz Europa. Und es sind nicht nur seine Mitstreiter, die die Relevanz seiner Beiträge anerkennen. Sein wahrer Wert zeigt sich darin, dass die Klarheit seiner Argumente alle anderen zwingt, sich selbst ebenso klar zu äußern. Diese Qualitäten zeigen sich auch in seiner Arbeit zur globalen Finanzkrise, insbesondere in Kasino-Kapitalismus. Darin begründet er einen einfachen, aber mächtigen Gedanken : »Das Unglück brach über die Welt herein, weil sich der Bazillus der Haftungsbeschränkung, Regressfreiheit und Verantwortungslosigkeit von Amerika aus über die Welt verbreitet und die Finanzmärkte infiziert hat, ohne dass die Regulierungsbehörden Einhalt geboten haben. Banken, Hedgefonds, Zweckgesellschaften, Investmentfonds und Immobilienfinanzierer durften ihr Geschäft fast ohne Eigenkapital betreiben. Wer kein Eigenkapital hat, haftet nicht, und wer nicht haftet, zockt. Er sucht das Risiko, wo er es nur findet, weil er die Gewinne priva tisieren und die Verluste sozialisieren kann. Durch das Wegschneiden eines Teils der Verlustverteilung ist es ihm möglich, aus dem bloßen Risiko private Erträge zu zaubern.« Damit eine Marktwirtschaft funktioniert, müssen Entscheidungsträger die Kosten ihrer Fehlentscheidungen tragen, jedoch begrenzt durch die Existenz von beschränkter Haftung und In solvenzverfahren. Vor der globalen Finanz krise bestand ein Ungleichgewicht : Es gab zu wenig Eigenkapital in Kreditinstituten und zu Banken mit einem diversifizierten Portfolio können Krisen eher überstehen als kleine. Und wenn eine große Bank gerettet werden muss, dann gilt dies ebenso für eine große Anzahl kleiner Banken. Kasino-Kapitalismus spricht sich auch für länderübergreifende regulatorische Mindeststandards aus, um einen erneuten Wettstreit hin zu lascher Regulierung zu begrenzen. Bilanzierungsregeln müssen sorgfältig überprüft werden, wie zum Beispiel die Risikogewichtung von Bilanzpositionen. Das Risikogewicht anonymer Sicherheiten sollte größer sein als das konventioneller Darlehen an Schuldner, die einem Insolvenzrisiko ausgesetzt sind. In all diesen Punkten hat Hans-Werner Sinn Recht. Doch die Implementierung eines solchen Regimes ist kompliziert. Kapitaleigner werden entweder weiterhin darauf setzen, gerettet zu werden, oder sie sind überzeugt, dass dies nicht passiert. Im erstem Fall werden Banken zu hohe Risiken eingehen. Im zweiten werden sie Darlehen kürzen und Anteile verkaufen, sobald Unternehmen dem regulatorischen Mindestmaß an Eigenkapital nahe kommen. Auch dadurch könnte eine Krise ausgelöst werden. Hans-Werner Sinns Analyse der globalen Finanzkrise und die Lehren, die daraus gezogen werden, demonstrieren seine wichtigsten Eigenschaften. Die Arbeit ist klar, leicht zugänglich, intelligent und triftig. Sie behandelt eine riesige wirtschaftliche Herausforderung auf nüchterne, aber überzeugende Art. Nicht zuletzt basiert sie auf den besten Eigenschaften der deutschen Tradition, über die Grundlagen von funktionierenden Märkten nachzudenken. Von dieser herausragenden Analyse können wir alle lernen. Der ein oder andere fragt sich jetzt, warum geht Hans-Werner überhaupt in Pension ? Nun, der deutsche Arbeitsmarkt könnte noch etwas Flexibilität vertragen. Kasino-Kapitalismus: Hans-Werner Sinn und die Finanzarchitektur wenig Regress gegenüber verantwortungslosen Schuldnern, während die Allgemeinheit zu viel Risiko tragen musste. Wie Hans-Werner Sinn betont, bestätigt diese Krise die grundlegende Annahme des deutschen Ordoliberalismus, »dass Märkte ihre segensreichen Wirkungen nur in einem starken Ordnungsrahmen entfalten können, der vom Staat definiert wird. Es gibt keine Selbstregu lierung der Märkte, nur eine Selbststeuerung innerhalb des staatlich gesetzten Regulierungsrahmens.« Die Auffassung, dass die institutionellen Rahmenbedingungen der Finanzmärkte mangelhaft waren, ist korrekt. In dem Irrglauben, dass »dieses Mal alles anders sei«, waren sich nicht alle Akteure der Risiken bewusst, die sie eingingen. Das Bewusstsein, vor ernsthaften Konsequenzen geschützt zu sein, führt zu einer Art »rationalem Leichtsinn«. Infolgedessen werden nicht etwa bewusst Risiken eingegangen, sondern es besteht vielmehr eine Gleichgültigkeit bezüglich langfristiger Konsequenzen. Ausgehend von dieser Erkenntnis, formuliert Hans-Werner Sinn eine Reihe stichhaltiger Empfehlungen. Die wichtigste ist, dass Finanz investoren und andere Akteure ein größeres Verlustrisiko tragen sollten, vor allem durch strengere Eigenkapitalvorschriften. Hierbei ist wichtig, dass diesen Akteuren kein zusätzliches Eigenkapital geschenkt werden darf, weder aus dem öffentlichen Haushalt noch durch niedrige Zinsen. Richtig ist vielmehr eine direkte Eigenkapitalspritze durch Regierungen, die zu einer Verringerung der Anteile privater Eigner führt. Wenn Banken selbst nicht genug Eigenkapital einwerben können, müssen sie diese Form der Staatshilfe akzeptieren. Außerdem weist Hans-Werner Sinn darauf hin, dass die Zerschlagung von Banken diese nicht notwendigerweise sicherer macht. Große 183 Der damalige Bundespräsident Horst Köhler spricht beim Munich Economic Summit 2010. Der Bundespräsident besucht das ifo Institut: ( von links nach rechts ) Meinhard Knoche, Wilhelm Simson, Eva Luise Köhler, Horst Köhler, Beate Merk, Gerlinde Sinn, HWS. VfS-Jahrestagung 2007: »Bildung und Innovation« in München: ( von links nach rechts ) Monika Schnitzer, Kurt Faltlhauser, Axel Weber, Klaus F. Zimmermann, Gerlinde Sinn, HWS. 184 Der alte und der künftige ifo-Präsident (Clemens Fuest) bei einem Münchner Seminar der CESifoGruppe und der Süddeutschen Zeitung im Frühjahr 2014. HWS mit dem damaligen Präsidenten der Europäischen Zentralbank, Jean-Claude Trichet, am Rande des Munich Economic Summit 2010, vor trister Kulisse. Brunch zu Sinns 60. Geburtstag: ( von links nach rechts ) HWS, Frank Westermann, Kai Konrad und Ronnie Schöb (April 2008). 185 Die Zeit, 19.07.2012 8 TARGET-FALLE: Hans-Werner Sinn und die Zukunft Europas Timo Wollmershäuser EINLEITUNG Target-Falle: Hans-Werner Sinn und die Zukunft Europas Target-Falle Timo Wollmershäuser ist kommissarischer Leiter des ifo Zentrums für Konjunkturforschung und Befragungen und vertritt eine Professur für Finanzwissenschaft an der Ludwig-Maximilians- Universität München. Seit 2003 forscht er am ifo Institut über die Geldpolitik der Europäischen Zentralbank. 188 Ende 2010 wandte sich Helmut Schlesinger mit der Bitte an HWS, ob er ihm bei der Interpretation einiger auffälliger Zahlen in der sogenannten »Auslandsposition der Deutschen Bundesbank in der Europäischen Währungsunion« behilflich sein könne. Dies war schon ein beachtlicher Vorgang, denn immerhin war Schlesinger, der seit 1952 als Volkswirt bei der Deutschen Bundesbank arbeitete und von 1991 bis 1993 ihr Präsident war, ein exzellenter Kenner der Zentralbankstatistiken. Bei den Zahlen handelte es sich um die »sonstigen Nettoforderungen der Deutschen Bundesbank innerhalb des Eurosystems«, die bis Ende 2010 auf 300 Milliarden Euro angestiegen waren, nachdem sie bis zum Jahr 2007 praktisch immer bei null lagen. Mit diesem Ersuchen Schlesingers war der Grundstein für eine wirtschaftspolitische Debatte über die Zukunft Europas gelegt, die nach eigenen Aussagen von HWS zu den wichtigsten Beiträgen in seiner über 40-jährigen Karriere als Volkswirt zählt. In den darauffolgenden Monaten begann eine einzigartige Detektivarbeit. Auf eine Anfrage des ifo Instituts bei der Deutschen Bundesbank hin, warum diese Forderungen seit Beginn der Finanzkrise so stark gestiegen seien, kam als lapidare Antwort, dass diese Forderungen im Zusammenhang mit dem Zahlungsverkehrssystem »Target« stünden und dass ihr Anstieg Ausdruck einer krisenbedingten Verschiebung im Refinanzierungsverhalten der Banken im Euroraum wäre. Viel weniger noch gab sich HWS mit der Aussage zufrieden, dass diese Forderungen kein unmittelbares finanzielles Risiko für die Bundesbank darstellten, da sie sich nur an die EZB richteten. Anfang 2011 konfrontierte HWS mich mit diesem Thema. Als Volkswirt, der sich am ifo Institut seit vielen Jahren mit der Geldpolitik der Europäischen Zentralbank beschäftigte, hatte auch ich keine Antworten auf die vielen Fragen. Unsere Recherchen begannen mit dem te zeigt uns eindrücklich, dass Letztere am Ende fast immer scheiterten, da das Interventionspotenzial der Notenbank des Schwachwährungslandes durch die Währungsreserven begrenzt war und die Notenbank mit der starken Währung, wenn überhaupt, dann nur in ge ringem Umfang bereit war, die Währungs reserven des Schwachwährungslandes durch kurzfristige Kredite aufzustocken. In der Europäischen Währungsunion ist ein solcher grenzüberschreitender Kreditmechanismus – und damit das Interventionspotenzial – grundsätzlich unbeschränkt. Spitzt sich eine Krise zu, ermöglicht es das Eurosystem, fliehendes privates Kapital durch Notenbankkredite, die es in unbegrenztem Ausmaß neu schaffen kann, zu ersetzen. Das Ausmaß dieser Intervention wird durch die Target-Salden gemessen. Ein Scheitern der Währungsunion ist somit erst gar nicht möglich, solange es zumindest eine politische Mehrheit für den Fortbestand der Währungsunion gibt. HWS stellt dieses von vielen Ökonomen und Politikern vertretene Postulat der Ewigkeit des Währungsclubs nicht zufrieden, zumal er die externe Abwertung als einzig gangbaren Weg einiger Länder aus der Krise sieht. Er macht deutlich, dass mit der Dauer der Rettungs politik die Target-Salden und damit die Kosten des Austritts eines Krisenlandes aus der Währungsunion zunehmen. Die Länder mit TargetForderungen sind in einer Falle, da sie auf diesen Forderungen gegenüber der Notenbank des ausscheidenden Landes sitzenbleiben. Seit dem Regierungswechsel in Athen Anfang 2015 hat die Wahrscheinlichkeit, dass das Undenkbare doch Realität wird, deutlich zugenommen. Als Ökonom zeigt HWS, welche Kosten mit dem Verbleib des Landes in der Währungsunion verbunden sind und welche Alternativen, beispielsweise in Form einer Parallelwährung, es zum derzeitigen System gibt. Target-Falle: Hans-Werner Sinn und die Zukunft Europas Erstellen einer Datenbank, in der Target-Forderungen und -Verbindlichkeiten aller am Eurosystem beteiligten Notenbanken erfasst wurden. Wir zeigten, dass hinter dem Aufbau der Verbindlichkeiten eine Ausweitung der Kreditvergabe der entsprechenden Notenbank stand und dass die Notenbanken, die Forderungen aufbauten, einen Liquiditätsüberschuss ihres Bankensystems kompensieren mussten. Hinter alldem stand die endende Bereitschaft ausländischer privater Kapitalgeber, den EuroKrisenländern weiterhin Kredit zu gewähren. Bis heute hat HWS unzählige Beiträge zum Thema Target-Salden veröffentlicht. Keiner der Texte entstand durch einfaches Copy-Paste, sondern wurde immer wieder neu formuliert. Was ihn antrieb, war der fortdauernde Versuch, diese komplizierte Thematik jedes Mal noch verständlicher darzustellen. Diese Beharrlichkeit hat sich ausgezahlt, denn bei vielen der ehemals umstrittenen Aspekte herrscht heute weitgehender Konsens. Einen Etappensieg erlangte HWS, als sich die Deutsche Bundesbank und die Europäische Zentralbank im Jahr 2011 erstmals offiziell in ihren Monatsberichten zu diesem Thema äußerten und weitgehend die von uns identifizierten Mechanismen, die hinter der Entstehung der Target-Salden standen, bestätigten. Im Hinblick auf die von HWS formulierten Risiken, die sich in den Target-Salden für die Steuerzahler der Mitgliedsländer des Eurosystems manifestierten, dis tanzierten sie sich freilich weiterhin, da ein Auseinanderbrechen der Währungsunion zum damaligen Zeitpunkt für einen Euro-Notenbanker ein undenkbarer Gedanke war. Doch gerade dieser Gedanke ist es, der am Ende zu einer zentralen Erkenntnis aus dieser Debatte wurde. Im Kern verkörpert das TargetSystem jenen Baustein einer Währungsunion, der sie von einem herkömmlichen Festkurs system unterscheidet. Die Währungsgeschich- 189 Helmut Schlesinger VOM POSTEN IN DER BUNDESBANKBILANZ ZUR TARGET-FALLE Target-Falle Helmut Schlesinger begann seine Tätigkeit als Volkswirt 1949 am neugegründeten ifo Institut. 1952 wechselte er zur Bank deutscher Länder, der späteren Deutschen Bundesbank, deren Präsident er von 1991 bis 1993 war. Er lehrte unter anderem in Princeton und an der Humboldt-Universität zu Berlin. 190 Kurz nach der Berufung von Hans-Werner Sinn auf den Lehrstuhl für Volkswirtschaftslehre und Finanzwissenschaft erlebte ich ihn anlässlich eines Vortrags in der LMU in München. Er war nicht nur temperamentvoll – wie mein Lehrer, Professor Fritz Terhalle, damals Inhaber des gleichen Lehrstuhls –, der junge Ordinarius war auch inhaltlich gut, ja eigentlich brillant. Und so wird er auch sein, so wünsche ich es ihm, wenn er Abschied nimmt von seinen Aufgaben an der Universität und dem ifo Institut. Dass dieses Institut, in dessen Grün derzeit ich meine Lehrjahre (1949 – 52) verbrachte, heute groß, wissenschaftlich anerkannt und einflussreich wirken kann, ist seinem jetzigen Präsidenten in besonderer Weise zu danken. Im Laufe der Jahre hatte ich das Glück, mit Herrn Sinn öfter zusammenzutreffen, besonders seit ich nach meinem Amt in der Bun desbank (1993) dem Wissenschaftlichen Beirat beim Bundesministerium für Wirtschaft ange- höre. Hier lernte ich seine Leidenschaft als politischer Ökonom, dessen Urteile sich vielfach durch seine tiefe Fachkenntnis von manchen nicht weniger leidenschaftlich argumentierenden Kollegen abhoben, kennen. Natürlich war das ifo Institut eine wichtige Stütze für seine Arbeit. Auch dort regte er an, die wissenschaftliche Gründlichkeit selbst bei den oft gering geachteten Details nicht zu vergessen. So ein Detail war auch seine Frage an mich, wie die Länder der Europäischen Währungsunion ihre Defizite in der Zahlungsbilanz, die bei den südlichen Euroländern sehr groß geworden sind, finanzieren. Ich sagte ihm, in der deutschen Zahlungsbilanzstatistik gäbe es einen Posten kurzfristiger Kredite der Bundesbank an das Ausland zusätzlich zur Veränderung der Währungsreserven. Ich bemühte mich herauszufinden, um was es sich wirklich handelt, nämlich um die inzwischen mit Hilfe von Herrn Sinn bekannt gewordenen Target-2-Forderungen der Bundesbank, dem kumulierten in der fachlichen Analyse; sie müssen den Vorschlag als solchen in Frage stellen. Ideologisch bestimmte Sichtweisen, wegen sozialpolitischer Vorstellungen oder einer eingefleischten Euro-Romantik, sind die stärksten Triebfedern dieser Kritiken. Gewiss, das ausgeprägte Talent von Hans-Werner Sinn, sein Anliegen auf kurze, einprägsame Formeln zu bringen, wie Kasino-Kapitalismus oder Gefangen im Euro, rufen nicht nur das Interesse der Öffentlichkeit wach, sondern bergen auch die Gefahr, dass Nicht leser dieser Werke sie für zu populistisch halten könnten. Aber dem beugt der Verfasser auch dadurch vor, dass er sich persönlich in die Öffentlichkeit begibt und gerade dort – im Fernsehdiskurs oder in der Presse – mit seiner Sachlichkeit überzeugt. In der Tat ist das Interesse der Öffentlichkeit an den aktuellen wirtschaftspolitischen, geld- und währungspolitischen Ereignissen in Deutschland eher lebhafter als in anderen Industrieländern. An der Aufklärung sind über die Jahrzehnte hinweg viele Einrichtungen beteiligt, die Bundesbank mit ihren Monatsberichten seit 1949, der Sachverständigenrat seit 1963, die großen wirtschaftswissenschaftlichen Institute. Die Bevölkerung hat Grund genug, sich für das wirtschaftspolitische Schicksal dieses Landes zu interessieren nach den schlimmen Erfahrungen mit dem Verlust des Geldvermögens (1923/1948) sowie der Finanz- und Bankenkrise seit 2007. Die Geldpolitik muss offen betrieben werden, sonst riskiert sie die wichtigste Basis ihrer Wirksamkeit : das Vertrauen. Hier wird deutlich, wie wichtig es sein wird, dass Hans-Werner Sinn nicht verstummt, wenn er von den hauptamtlichen Pflichten befreit sein wird. Für diese Zeit wünsche ich ihm, und ebenso seiner verehrten Gattin, Glück, Gesundheit und ein langes Leben. Target-Falle: Hans-Werner Sinn und die Zukunft Europas Saldo im Zahlungsverkehr mit den nationalen Notenbanken des Euroraums. Nach ein bisschen Getöse gaben die Notenbanken zu, dass es sich hier um unbefristete, kaum verzinsliche Kredite der Notenbanken untereinander (verrechnet über die EZB) von letztlich unbegrenzter Größenordnung handelt. 2012 stieg allein die Target-2-Forderung der Bundesbank auf fast netto 700 Mrd. Euro, und auch heute (Mai 2015) beträgt sie rd. 550 Mrd. Euro. Es ist der weithin größte Posten auf der Aktivseite der Bundesbankbilanz, rein rechnerisch »deckt« er zwei Drittel der Verbindlichkeiten der Bundesbank. Hans-Werner Sinn hat in der Target-Falle (2012) die ökonomisch wichtigen Probleme einsichtig zu machen versucht. Das Eurosystem ist bisher auf seine Vorschläge zur Eindämmung dieser Praxis nicht eingegangen. Offensichtlich hält man es nach den Erfahrungen seit 2007 für angebracht, die Zahlungsverkehrsdefizite unter den Euroländern, sei es aus Importüberschüssen, sei es aus Kapitalabzug und Kapitalflucht, reibungslos zu finanzieren. Hans-Werner Sinn ist Realist genug, um zu wissen, dass zwischen dem Ergebnis einer klaren Analyse und deren politischer Realisierbarkeit ein ziemlicher Abstand bestehen kann. Er hat das des Öfteren selbst formuliert. Tatsächlich sind seine politischen Vorschläge so realitätsnah wie möglich. Wenn es um Vorschläge zur Änderung der Besteuerung, gegen die Ausweitung der Sozialbudgets, der Fehl entwicklung im Landesbanksystem usw. geht, ist er auch mit den Nuancen des staatlichen Gestrüpps an Regulierungen, Privilegien, Subventionierungen vertraut. Seine Präzision bei der Verwendung statistischer Unterlagen ist vorbildlich. Wann immer Kritiker sich seinen wirtschaftspolitischen Vorschlägen zuwenden, finden sie höchst selten einen Anhaltspunkt 191 Malte Fischer SPEKTAKULÄRE AUFKLÄRUNGSARBEIT Target-Falle Malte Fischer ist Chefvolkswirt der WirtschaftsWoche. Zuvor arbeitete der an der Ruhr-Universität Bochum ausgebildete Ökonom als Wissenschaftler in der Konjunkturforschung des Instituts für Weltwirtschaft in Kiel. 192 Hätte man Ökonomen vor einigen Jahren gefragt, was das Target-System ist, hätten die meisten ratlos die Achseln gezuckt. Manche hätten wohl auf eine Flugabwehrrakete oder eine neue Krimiserie getippt. Mittlerweile aber ist das militaristisch anmutende Akronym a llen Öko nomen ein Begriff. Dass das »Trans-European Automated Real-time Gross Settlement Express Transfer System« (Target) in das Scheinwerferlicht der Öffentlichkeit geraten ist, hat es dem Wirken von Hans-Werner Sinn zu verdanken. Mit aufklärerischer Verve hat der Chef des Münchner ifo Instituts die Öffentlichkeit in formiert, was es mit diesem System, über das die Euro-Notenbanken grenzüberschreitende Zahlungen abwickeln, auf sich hat – und welche ökonomische Sprengkraft hinter den buchhalterisch-bieder anmutenden Bilanzierungspraktiken des Systems steckt. Sinn deckte die heimliche Eurorettung hinter der offiziellen Rettungspolitik auf und zeigte, welche Rolle die Europäische Zentralbank (EZB) dabei spielt. Begonnen hat alles mit dem Hinweis an die WirtschaftsWoche, man möge doch bitte Kontakt mit Helmut Schlesinger, dem ehemaligen Präsidenten der Deutschen Bundesbank, aufnehmen. Dem rüstigen Ruheständler war bei der Lektüre des Monatsberichts der Deutschen Bundesbank aufgefallen, dass der Bilanzposten »Forderungen innerhalb des Euro-Systems (netto)« binnen weniger Jahre von 18 Mil liarden auf 326 Milliarden Euro angeschwollen war. Schlesinger konnte sich darauf keinen Reim machen und schaltete ifo-Chef Sinn ein. Denn Schlesinger wusste : Wenn es einen Ökonomen gibt, der unerbittlich nachhakt, bis ökonomisches Licht in das Dunkel von Daten und Fakten fällt, dann ist es Hans-Werner Sinn. Es folgte eine spektakuläre Aufklärungsarbeit und eine der kontroversesten wirtschaftspolitischen Debatten der vergangenen Jahre. Den Aufschlag machte Sinn mit einem Beitrag in der WirtschaftsWoche. Darin stellte er die These auf, dass das für die Verrechnung von Notenbankern kam das gar nicht gut an. Sie konterten, Sinn verstehe nichts von Notenbankbilanzierung. Auch aus Teilen der Wissenschaft und der Medien hagelte es Kritik. Mit seinen zugespitzten Thesen und popularisierten Darstellungen komplexer Sachverhalte bewege sich Sinn auf dem Niveau eines »Boulevard-Ökonomen«, lautete einer der Vorwürfe. Doch wie immer, wenn er Gegenwind verspürt, lief Sinn nun zur Höchstform auf. Während sich andere, wie die fünf Wirtschafts weisen, in der Eurokrise wegduckten, ging Sinn mit der Eurorettungspolitik schonungslos ins Gericht. Er bezichtigte die EZB, monetäre Staatsfinanzierung zu betreiben, warnte vor einer »schleichenden Enteignung der deutschen Sparer« und vor »Unfrieden in Europa«. Sinn kritisierte jedoch nicht nur, er lieferte auch Reformvorschläge. Er forderte, die Rettungsmit tel strikt zu begrenzen, die Target-Salden nach dem Vorbild der USA einzugrenzen und re formunfähige Länder aus der Währungsunion austreten zu lassen. Sinn, der den Euro erhalten will, wurde zur Galionsfigur der Euro-Kritiker und zum prominentesten Anwalt der deutschen Steuerzahler. Dem um sich greifenden Relativismus in Politik und Ökonomie setzte er marktwirtschaftliche Prinzipientreue und ordnungspolitische Standfestigkeit entgegen. Was ihn dabei antrieb, verriet er in seinem 2012 erschienenen Buch Die Target-Falle. Ihm gehe es nicht um »theoretische Glasperlenspiele«, sondern »um die Zukunft Europas im Allgemeinen und um das Wohlergehen der Deutschen und ihrer Kinder im Besonderen«. Der Altmeister der deutschen Ökonomenzunft, Herbert Giersch, hat einmal gesagt, Ökonomen hätten eine Bringschuld gegenüber der Gesellschaft. Hans-Werner Sinn hat diese Bringschuld erfüllt wie kein Zweiter. Target-Falle: Hans-Werner Sinn und die Zukunft Europas Zahlungen zwischen den Euro-Zentralbanken geschaffene Target-System in der Eurokrise zu einem Finanzierungsvehikel für die Krisen länder geworden war, das es ihnen erlaubte, weiterhin über ihre Verhältnisse zu leben. Im Gegenzug bauten sich Forderungen aus dem Target-System bei der Bundesbank auf, aus denen sich milliardenschwere Ausfallrisiken für die deutschen Steuerzahler ergeben. Die Bundesbank wiegelte zunächst ab. Der Anstieg der Target-Salden sei eine »krisenbedingte Verschiebung in den Zahlungsströmen und im Refinanzierungsverhalten der Banken im Euroraum«, hieß es verschwurbelt aus der Notenbankzentrale. Doch Sinn ließ nicht locker. Er analysierte Daten, durchforstete die Bilanzen von Notenbanken und verfeinerte seine These. So wies er nach, dass nach dem Ausbruch der Eurokrise die Kapitalmärkte nicht mehr bereit waren, den Problemländern Kre dite zur Finanzierung ihrer Importüberschüsse zu gewähren. Deshalb sprang die EZB ein und erlaubte den Banken der Krisenländer, sich gegen fragwürdige Sicherheiten unbegrenzt Geld von der Notenbank zu leihen. Mit dem Geld vergaben die Banken Kredite an ihre Kunden, die damit Waren im Ausland, unter anderem in Deutschland, kauften. Via Bundesbank und Geschäftsbanken floss das Geld auf die Konten der deutschen Exporteure. Als sich die Eurokrise zuspitzte, nutzten die Bürger der Krisenländer das Target-System auch dazu, ihr Geld in Deutschland in Sicherheit zu bringen. Nun schwammen die Banken hierzulande im Geld und mussten es sich nicht mehr bei der Bundesbank leihen. Sinn warnte, dass die Target-Forderungen der Bundesbank bei einem Auseinanderbrechen des Euroraums verloren seien und die Steuerzahler die Zeche dafür zu zahlen hätten. Der EZB warf er vor, eine »riskante Kredit ersatzpolitik« zu betreiben. Bei den Euro- 193 Otmar Issing DIE TARGET-FALLE – VIEL LÄRM UM NICHTS? Target-Falle Otmar Issing ist Präsident des Center for Financial Studies an der Goethe-Universität Frankfurt. Von 1998 bis 2006 war er Mitglied im EZB-Direktorium und von 1990 bis 1998 im Direktorium der Deutschen Bundesbank. Zuvor war er Mitglied des Sachverständigen rates und Professor in ErlangenNürnberg und Würzburg. 194 Hans-Werner Sinn war an fast allen wichtigen wirtschaftspolitischen Debatten der letzten Jahrzehnte in Deutschland beteiligt. (Davon zeugen die Beiträge zu diesem Buch.) Meist hat er dabei eine führende Rolle gespielt. Viele Themen hat er angestoßen und Öffentlichkeit wie Wissenschaft auf gravierende Probleme aufmerksam gemacht, gelegentlich geradezu aufgeschreckt. Das gilt sicher für das hier behandelte Thema. HWS hat zunächst eine Reihe von Artikeln zu dieser Thematik geschrieben. Schließlich sind zwei umfangreiche Bücher erschienen : Die Target-Falle und The Euro Trap. Target steht für »Trans-European Automated Real-time Gross Settlement Express Transfer System« und verbindet die nationalen Zahlungssysteme und den Zahlungsverkehrsmechanismus der EZB zu einem einheitlichen System, das grenzüberschreitende Überweisungen zwischen verschiedenen Systemen in der EU er möglicht. Target, genauer die Fortentwicklung Target 2, wird auch für die Abwicklung der geldpolitischen Operationen des Eurosystems und für den Handel mit Zentralbankguthaben zwischen den Banken genutzt. Als Zahlungsverkehrssystem ist Target sicher ein Erfolg. Diese technische Seite soll hier nicht weiter interessieren. Die Problematik von Target liegt in der zeitlich wie betragsmäßig unlimitierten, impliziten Kreditgewährung in Höhe der aufgelaufenen Salden. Diese entstehen, wenn sich die Zahlungen über das System nicht ausgleichen. Wären die Salden im Umfang begrenzt (oder kurzfristiger Natur, wie man bei der Einführung dieses Clearingsystems ursprünglich angenommen hatte), wäre dies kein Problem. Doch ist es nach Ausbruch der Krise ganz anders gekommen. Als die Banken in den Überschussländern, allen voran in Deutschland, ihre Kreditgewährung an die Peripherieländer mehr oder weniger abrupt aussetzten, führten die Zahlungen über das Target-System zu wachsen- den Erhalt des Eurosystems investiertem Geld weiteres hinzuzufügen. Er spricht zu Recht von »Pfadabhängigkeit« der Entwicklung. Ihm geht es dabei um das große Ganze. In seinem Buch Die Target-Falle bekennt sich HWS zu seiner im Gegensatz zu anderen Prominenten anfänglich durchaus positiven Einstellung zur Einheitswährung. Verständlicherweise muss die Enttäuschung über die Entwicklung umso größer ausfallen. Wie schnell man zum »AntiEuropäer« abgestempelt wird, wenn man auf die Fülle von falschen Entscheidungen im Einzelnen und die Konzeptionslosigkeit im Ganzen hinweist, musste er immer wieder erfahren. Mit ihm bin ich davon überzeugt, dass die Zukunft der Währungsunion und auch Europas nicht gesichert wird, wenn man falsch verstandene und zum Fehlverhalten geradezu einladende »Solidarität« einfordert. Ohne fiskalische Solidität, ohne harte »Budgetrestrik tionen« – man kann Probleme nicht einfach durch Gelddrucken überwinden – kann die europäische Wirtschaft nicht die Stabilität bewahren und gewünschte Dynamik gewinnen. Treibt die Währungsunion den nicht nur im Target-System implizierten Zwang zu Transfers weiter voran, wird die gemeinsame Währung letztlich am Mangel an demokratischer Legitimierung scheitern. Eine Fiskalunion europäischer Dimension kann es nur in einer vollentwickelten Politischen Union geben. Auf absehbare Zeit ist dies jedoch keine realistische Option. Dem Bekenntnis am Ende der Euro Trap schließe ich mich uneingeschränkt an : »The better Europeans are not the romantics, but those who seek realistic solutions that accord with the free will of the people, the law of economics, and the free decisions of parliaments, without the latter being predetermined by technocratic bodies overstretching their mandate, and solutions that can be applied without a forced redistribution of wealth.« Target-Falle: Hans-Werner Sinn und die Zukunft Europas den negativen Salden der Notenbanken der Defizitländer und analog zu positiven Salden bei den Überschussländern. Über das Zahlungsverkehrssystem entstand so eine riesige automa tische Finanzierung zwischen den Notenbanken. 2010 stieg der Forderungssaldo Finnlands, Deutschlands, Luxemburgs und der Nieder lande dramatisch an und erreichte im Jahr 2012 den Höhepunkt von über 1 Billion Euro. Die Forderungen Deutschlands beliefen sich im August 2012 auf bis zu 751 Milliarden Euro. Seitdem gingen die Beträge zurück. HWS zeigt eindrücklich, wie die Salden im Target-System von der Niedrigzinspolitik der EZB und den drastisch reduzierten Anforderungen an die Qualität der geforderten Sicherheiten für Kredite der Notenbank an den Bankensektor abhängen. Die Bundesregierung spielte zunächst die Relevanz der Target-Salden deutlich herunter. Das zeigt einmal mehr, welch wichtige Rolle HWS gerade in dieser Debatte spielt. Schließlich handelt es sich hier um einen alles andere als unerheblichen Teil des deutschen Auslandsvermögens. HWS weist auf die hohen Risiken hin, die mit den Forderungen aus diesem »Zwangskreditsystem« verbunden sind. Scheidet ein Defizitland aus dem Euro aus, dürften sich diese Forderungen als weitgehend uneinbringlich erweisen. Der Verlust ist dann von den verbleibenden Notenbanken des Eurosystems entsprechend den Kapitalanteilen zu tragen. Bräche das ganze System zusammen, wäre der Verlust maximal. Nachdem dies kein Land wollen kann, tragen auch die hohen Target-Salden dazu bei, die »Bereitschaft« zu finanziellen Hilfsoperationen zu fördern, sei es durch Kredite über den ESM, direkte Finanzhilfen oder Ankäufe von Staatsanleihen durch die EZB. Deutschland als – in absoluten Beträgen – größter Gläubiger ist dadurch erpressbar, wie HWS betont, und steht immer wieder vor der Abwägung, bereits in 195 Kai Carstensen WORTE STATT AKRONYME – HANS-WERNER SINN UND DIE EURORETTUNG Target-Falle Kai Carstensen ist Professor für Ökonometrie an der Universität Kiel. Von 2007 bis 2014 war er Leiter des Bereichs Konjunktur und Befragungen am ifo Institut. Gemeinsam mit Hans-Werner Sinn hat er einen Insolvenzmechanismus für den Euroraum vorgeschlagen und die Kosten von Eurobonds analysiert. 196 Als die griechische Regierung im Herbst 2009 eingestand, dass ihre Statistiken gefälscht und ihre Finanzen zerrütten waren, lief eine Schockwelle durch den Euroraum. Sie markierte den Beginn einer Krise, die weit über das Ökonomische hinausreicht. Denn schnell wurde klar, dass die vorhandenen Institutionen und Verfahren in Europa überfordert waren. Daher war – und ist – die Eurokrise auch eine Krise der EU : Staaten gerieten ins Straucheln, Rettungspakete wurden geschnürt, und Verträge wurden gebrochen. Und am Ende war es immer wieder an der Europäischen Zentralbank, die Löcher in den Bilanzen von Staaten und Banken mit Hilfe der Notenpresse zu stopfen. Früher hieß das monetäre Staatsfinanzierung, heute heißt es Target, ELA und EAPP. Doch kann die Einführung technisch klingender Akronyme und kompliziert wirkender Mechanismen nicht verdecken, dass die Eurokrise und alle Versuche zu ihrer Überwindung die fundamentale Frage aufwerfen, an welchen Prinzi pien wir unser gemeinsames Haus, die EU, ausrichten wollen. Es geht um nicht weniger als die Zukunft Europas. Es gehört zur Bringschuld der akademischen Wissenschaft, mit Fakten und Analysen zu dieser Diskussion beizutragen. Wohl niemand in Deutschland hat sich darum so verdient gemacht wie Hans-Werner Sinn. Wieder und wieder hat er in Zeitungsbeiträgen, Interviews, Aufsätzen und Büchern darauf hingewiesen, dass Wunsch und Wirklichkeit bisweilen weit auseinanderklaffen. Dabei hat er mit seiner Meinung nicht hinter dem Berg gehalten, aber er hat diese – im Unterschied zu vielen anderen, die wenig mehr als eine Meinung zu bieten haben – auf tiefschürfenden wirtschaftswissenschaftlichen und politökonomischen Analysen aufgebaut. Nicht ohne Grund sind Bücher wie Die Target-Falle und The Euro Trap sowohl Bestseller beim breiten Publikum als auch Referenzwerke für die angewandte Wissenschaft geworden. einmal einheitliche europäische Statistiken exis tierten. Zudem waren Medien und Politik anfangs eher zögerlich. Konnte es tatsächlich sein, dass allein Hans-Werner Sinn die Tragweite der Target-Salden erkannte ? Oder war das nur ein Glasperlenspiel im Elfenbeinturm ? Mittlerweile sind die Fakten, wie Hans-Werner Sinn sie beschrieben hat, allgemein akzeptiert : Um in einem anderen Euroland private Schulden zu begleichen, Güter zu kaufen oder sein Kapital in Sicherheit zu bringen, kann sich z. B. der griechische Privatsektor von seinen Banken Zentralbankgeld beschaffen lassen und über das Target-System ins Ausland transfe rieren. Private Schulden werden dabei in Verbindlichkeiten zwischen den Zentralbanken umgewandelt. Diesen stehen zwar Pfänder gegenüber, die bei der heimischen Notenbank hinterlegt werden mussten. Die Anforderungen an die Werthaltigkeit der Pfänder wurden jedoch während der Eurokrise schrittweise gelockert. So akzeptiert die griechische Zentralbank im Rahmen von Notfallkrediten (ELA) Bankschuldverschreibungen, deren wohl einziger Wert in einer Garantie durch den faktisch insolventen griechischen Staat besteht. Aus den Target-Forderungen der Bundesbank und all den anderen Rettungspaketen errechnet sich eine Haftungssumme Deutschlands von 337 Mrd. Euro (Stand : Mai 2015). Es ist das Verdienst von Hans-Werner Sinn, frühzeitig darauf hingewiesen zu haben. Dafür ist er zuweilen als »anti-europäisch« diffamiert worden. Ich kann jedoch nichts Schlechtes darin erkennen, die Öffentlichkeit über die Risiken der Eurorettung aufzuklären. Denn nur eine informierte Öffentlichkeit kann eine fundierte Diskussion führen. Zudem ist HansWerner Sinn nie bei der Kritik stehengeblieben, sondern hat immer wieder Alternativen herausgearbeitet und der Politik unterbreitet. Auch dafür sind wir ihm zu Dank verpflichtet. Target-Falle: Hans-Werner Sinn und die Zukunft Europas Hervorstechend ist sein Talent, komplizierte Zusammenhänge so darstellen zu können, dass sie der Öffentlichkeit und der Politik verständlich werden. Das hat zum einen damit zu tun, dass es ihm mit wissenschaftlicher Brillanz, gesundem Menschenverstand und viel Hart näckigkeit gelingt, den Kern einer Sache aus der Vielzahl der Begleiterscheinungen und Nebenschauplätze herauszuschälen. Zum anderen kann er diesen Kern in eine Sprache kleiden, die auch Nicht-Ökonomen verwenden : Anstatt Akronymen verwendet er das deutliche Wort. So war es auch mit den Target-Salden im Euroraum. Als sie in etwa seit dem Beginn der weltweiten Finanz- und Wirtschaftskrise auseinanderzulaufen begannen, bemerkten es wohl nur Eingeweihte. Selbst als sich die Entwicklung mit dem Beginn der Eurokrise dramatisch beschleunigte, schenkte dem kaum jemand Beachtung. Welche Relevanz sollte auch die Tatsache haben, dass es im »Trans-European Auto mated Real-time Gross Settlement Express Transfer System«, also dem Echtzeit-Bruttozahlungssystem zwischen den Banken des Euroraums, zu einem Aufbau von Salden kam, so dass Länder wie Griechenland, Irland, Spanien und Italien Verbindlichkeiten auftürmten, während Länder wie Deutschland, Luxemburg und die Niederlande Forderungen ansammelten ? Immerhin sei die Summe aller Salden – so wurde tatsächlich argumentiert – exakt gleich null. Hans-Werner Sinn gab sich mit derart einfachen Beschwichtigungsversuchen nicht zufrieden. Denn mit diesem Argument seien ja alle Schulden unproblematisch, und kein Gläubiger müsse jemals beunruhigt sein. Daher begann er, der Sache auf den Grund zu gehen. Das gestaltete sich nicht immer einfach, denn die Zentralbanken waren wenig begeistert, als er unbequeme Fragen zu stellen begann und sich herausstellte, dass noch nicht 197 Marcel Fratzscher TARGET-FALLE ODER FLUCHTHILFE? Target-Falle Marcel Fratzscher ist Präsident des DIW Berlin und Professor für Makroökonomie und Finanzen an der Humboldt-Universität zu Berlin. Zuvor war er für die Europäische Zentralbank, das Peterson Institute for International Economics, die Regierung Indonesiens und die Weltbank tätig. 198 Hans-Werner Sinn hat die wirtschaftliche Bedeutung Europas für Deutschland immer wieder facettenreich und innovativ analysiert. Von einem der größten Unterstützer des europäischen Integrationsprozesses und des Euro hat sich Hans-Werner Sinn im vergangenen Jahrzehnt jedoch zu einem der schärfsten Kritiker des Euro gewandelt. In vielen Aspekten seiner Kritik an Europa liegt er richtig : Der Euro wurde als politisches Projekt mit einigen wirtschaftspolitischen Geburtsfehlern geschaffen. Der Euro hat nicht, wie ursprünglich erhofft, zu einer Konvergenz und einer stärkeren institutionellen Integration und engeren Koordinierung der Wirtschaftspolitik in der Eurozone geführt. Im Gegenteil : Der Euro hat nicht verhindern können, dass sich wirtschaftspolitische Divergenzen verstärkt haben und die Politik heute wieder mehr auf nationale Interessen ausgerichtet ist. Es ist eines der wichtigen Verdienste von Hans-Werner Sinn, auf diese institutionellen Konstruktionsfehler des Euro hingewiesen und Korrekturen angemahnt zu haben. Es gibt weltweit kaum einen Wissenschaftler wie ihn, der die Fähigkeit hat, komplexe wissenschaftliche Zusammenhänge für eine breite Öffentlichkeit verständlich zu machen. Weil er Themen frühzeitig erkennen und rigoros argumentieren kann, hat er wie kein Zweiter wirtschaftspolitische Diskussionen in Deutschland über Jahrzehnte gestaltet und beeinflusst. Ein solches Thema, das Hans-Werner Sinn praktisch im Alleingang in die öffentliche Diskussion eingebracht hat, sind die Target-Salden innerhalb der Eurozone. Bei grenzüberschreitenden Zahlungen über das elektronische Zahlungsverkehrssystem Target 2 (T2) entstehen bei den nationalen Zentralbanken entweder Forderungen oder Verbindlichkeiten. Im Zuge der Krise im Euroraum sind beispielsweise bei der Bundesbank beträchtliche Target-Forderungen gegenüber anderen Mitgliedsländern aufgelaufen, auf dem Höhepunkt der Krise im des Euroraums wollen ihre nationalen Notenbanken behalten, da diese nach wie vor eine wichtige Rolle bei der Vergabe von Zentralbankgeld spielen. Um in diesem Umfeld eine reibungslose Abwicklung des Zahlungsverkehrs gewährleisten zu können, braucht es aber ein Zahlungssystem wie Target 2. Ohne kann es keine Währungsunion geben. Die Sorge, die im Target-Zahlungssystem abgebildeten Ungleichgewichte innerhalb der Eurozone könnten finanzielle Kosten und Risiken für uns verursachen, ist bisher unbegründet – das Target-System hat sich wohl eher als Fluchthilfe für deutsche Investoren erwiesen. Dennoch bleibt es ein Verdienst Hans-Werner Sinns, die Entwicklungen rund um die TargetSalden aufgedeckt zu haben. Auch die Debatte über einen möglichen Austritt Griechenlands aus dem Euro unterstreicht, dass viele wichtige Fragen hinsichtlich der Konstruktion der Währungsunion bis heute unbeantwortet sind. Deutschlands wirtschaftliche Zukunft ist unweigerlich mit der Europas verbunden. Mit wenig mehr als 1 % der Weltbevölkerung ist Deutschland ein winziges Land. Ob Deutschland seine Wettbewerbsfähigkeit und Attrak tivität des Wirtschaftsstandorts behaupten und damit auch langfristig seinen Wohlstand sichern kann, hängt von der Frage ab, ob der europäische Integrationsprozess gelingt und Europa als Einheit und mit einer Stimme global agieren kann. Es ist schade, dass Hans-Werner Sinn sich zu einem Kritiker des Euro gewandelt hat. Der Diskurs um Europas Zukunft würde enorm von einer konstruktiven, zukunftsorientierten Perspektive Hans-Werner Sinns und seiner großen Überzeugungskraft profitieren. Target-Falle: Hans-Werner Sinn und die Zukunft Europas Juli 2012 rund 750 Milliarden Euro – vor allem deshalb, weil deutsche Banken seit dem Jahr 2008 mehr als 400 Milliarden Euro aus den Krisenländern abgezogen haben. Dies konnten sie allerdings nur dank des Target-Systems und der Verfügbarkeit zusätzlicher Zentralbankkredite tun. Andernfalls hätten sie wahrscheinlich größere Verluste erlitten. Das Target-System hat also in erster Linie dazu gedient, das Geld deutscher Anleger in Sicherheit zu bringen. T2-Positionen sind nicht zwangsläufig mit einem zusätzlichen Risiko behaftet. Nur im Fall des Euroaustritts eines Mitgliedslandes, dessen nationale Zentralbank per saldo T2-Verbindlichkeiten aufweist, besteht die Möglichkeit eines Verlusts. Mitte 2015 bereitet vor allem ein möglicher Austritt Griechenlands, der mit solchen Verlusten verbunden sein könnte, große Sorge. Zwar hinterlegt eine Bank Sicherheiten bei der Europäischen Zentralbank (EZB), die im Konkursfall der Bank veräußert werden können und damit mögliche Verluste für die EZB gering halten. Allerdings werden diese Sicherheiten bei den nationalen Notenbanken hinterlegt, wo sie die EZB im Falle eines Euroaustritts einfordern müsste. Bei der Analyse des Problems liegt HansWerner Sinn zwar richtig, doch seine Lösungsvorschläge werden kontrovers diskutiert. Er schlägt eine regelmäßige Glattstellung oder zusätzliche Absicherung der Target-Verbindlichkeiten vor. Dies könnte jedoch zu Verwer fungen in den Krisenländern führen, denn die Banken könnten deshalb weniger Kredite vergeben, was sich gerade in der gegenwärtigen Krise als fatal erweisen würde. Zudem stellt sich die Frage der Praktikabilität : Die Länder 199 Mark Schieritz ZWISCHEN ALLEN SCHUBLADEN Target-Falle Mark Schieritz ist wirtschafts politischer Korrespondent der ZEIT in Berlin. Er studierte Volkswirtschaftslehre und Politik wissenschaft an der Universität Freiburg und an der London School of Economics. Seine journalistische Karriere begann er bei der Financial Times Deutschland. 200 Für das Verhältnis zwischen Journalisten und Experten gilt in der Regel dies : Die Journalisten recherchieren, und die Experten bewerten das Ergebnis der Recherchen. Das klingt nach einer fairen Arbeitsteilung, bedeutet in der Praxis allerdings zumeist, dass die Journalisten denjenigen Experten anrufen, dessen Bewertung eines Sachverhalts sich mit der Bewertung dieses Sachverhalts durch den jeweiligen Journalisten deckt. Das ist so, weil Journalisten eben oftmals nicht auf der Suche nach eine unabhängigen Stimme sind, sondern nach einem passenden Kronzeugen für die eigene Haltung. Es gilt die alte Reporterweisheit : Zu viel Recherche hat noch keiner Geschichte gutgetan. Die meisten Experten wiederum wissen das nicht, und das ist vielleicht auch ganz gut so, denn sonst würden sie nicht mehr mit den Journalisten sprechen. Auf Hans-Werner Sinn trifft all dies nicht zu. Wer bei ihm anrief, der musste sich auf Überraschung gefasst machen. Er ist für mehr Regu- lierung der Banken, lehnt aber Konjunktur programme ab. Er hat die Rettungspakete für die europäischen Krisenstaaten verurteilt, aber auch die deutschen Exportüberschüsse kritisiert. Hans-Werner Sinn hat seine Überzeugungen, aber er hat sich nie in Schubladen stecken lassen. Das war manchmal eine echte redaktionelle Herausforderung. Aber noch in einer zweiten Hinsicht unterscheidet sich Hans-Werner Sinn von vielen seiner Kollegen : Er ging immer wieder selbst unter die Journalisten. Das beste Beispiel dafür sind seine Analysen zu den Zahlungsströmen zwischen Notenbanken der Währungsunion, den so genannten Target-2-Salden. Nachdem ihn der frühere Bundesbankpräsident Helmut Schlesinger auf Merkwürdigkeiten in der Bilanz der Bundesbank aufmerksam gemacht hatte, ließ das Thema Hans-Werner Sinn nicht mehr los. Er tauchte tief in die Materie ein, und als er nach einiger Zeit wieder auftauchte, war das Konzept der Target-Falle geboren. rechtigt, andere sind es nicht. Der entscheidende Punkt ist : Hans-Werner Sinn hat mit seinen Arbeiten in erheblichem Umfang das Verständnis dieser Krise befördert. Er hat den Blick darauf gelenkt, dass sie in ihrem Kern keine Staatsschuldenkrise ist, sondern eine Leistungsbilanzkrise. Die Gründung der Währungsunion hat wesentlich zu den Problemen der Währungsunion beigetragen, weil durch den Wegfall des Wechselkursrisikos zu viel Kapital vom Norden in den Süden geleitet wurde. Und das Elend begann, als sich diese Kapitalflüsse schlagartig umkehrten. Keine Analyse der Krise kommt heute ohne die Analyse der Target-Bilanzen aus, und in der Europäischen Zentralbank wird die Entwicklung der Verrechnungssalden sehr genau beobachtet. Hans-Werner Sinn hat – mit der ihm eigenen Leidenschaft – seine wirtschaftspolitischen Schlussfolgerungen aus seiner Erkenntnis gezogen : Er hat sich dafür eingesetzt, den Zugang der Banken zum Geld der Notenbank zu begrenzen, er hat sich gegen die Bankenunion und den Rettungsfonds ESM ausgesprochen, und er hat schon früh für einen – zumindest vorübergehenden – Austritt Griechenlands aus der Währungsunion plädiert. Man muss diese Schlussfolgerungen nicht teilen, um der ökonomischen Stringenz der ihnen zugrunde liegenden Analyse Respekt zu zollen – und ihre Bedeutung für die europa politische Debatte zu würdigen. Der Philosoph Karl Popper hat in seiner Schrift über die of fene Gesellschaft und ihre Feinde beschrieben, wie geschlossene Systeme zugrunde gehen, weil sie sich gegen Kritik immunisieren und unabhängiges Denken unterdrücken. Hans-Werner Sinn hat in diesem Sinne dazu beigetragen, den Diskurs über Europa offen zu halten. Er hat seine Rolle als Wissenschaftler ernst genommen. Er kann eben nicht anders. Target-Falle: Hans-Werner Sinn und die Zukunft Europas Diese Falle besteht sehr vereinfach gesagt darin, dass sich die Banken in den Krisenstaaten bei der Europäischen Zentralbank (EZB) refinanzieren konnten, als sie mit Ausbruch der Krise plötzlich keinen Zugang mehr zu privatem Kapital hatten. Das hat den betroffenen Ländern das Leben erleichtert. Weil aber Verluste der EZB in einer Währungsunion von allen Mitgliedstaaten – beziehungsweise ihren Notenbanken – getragen werden müssen, werden dadurch Haftungsrisiken ohne parlamentarische Zustimmung vergemeinschaftet. In bester journalistischer Tradition hat Sinn also den Rat befolgt, den der Watergate-Enthüller Bob Woodward von seiner Quelle erhält : Follow the money ! Und ebenfalls in bester jour nalistischer Tradition hat er nicht etwa einen Fachaufsatz geschrieben, sondern einen Gastbeitrag veröffentlicht, der der wirtschaftspoli tischen Debatte in Europa eine neue Richtung gab. Sinns Analysen blieben nicht unwidersprochen. Man hat ihm – und das gilt auch für den Autor dieser Zeilen – vorgeworfen, Panik zu schüren. Man hat argumentiert, dass die Politik der EZB die Risiken für die Steuerzahler unter dem Strich nicht erhöht, sondern gesenkt habe, weil ein Zusammenbruch des Finanzsystems sehr viel teurer geworden wäre als die Stützung der Banken. Man hat sich daran gestört, dass Sinn bei der Verbreitung seiner Thesen die in wissenschaftlichen Zirkeln übliche Zurückhaltung aufgegeben und den direkten Kontakt zur Öffentlichkeit gesucht hat. Das hat dazu geführt, dass er auch von Kräften vereinnahmt wurde, deren Ziele er nicht teilt – und man hätte sich manchmal vielleicht gewünscht, dass er sich gegen diese Art der Vereinnahmung entschlossener zur Wehr gesetzt hätte. Dennoch ist hier nicht der Platz, diese Einwände im Detail zu bewerten. Einige sind be- 201 Philip Plickert EIN SPÄTBERUFENER KRITIKER DER EURORETTUNG Target-Falle Philip Plickert ist seit 2007 Mitglied der Wirtschaftsredaktion der Frankfurter Allgemeinen Zeitung. Zudem ist er Lehrbeauftragter für Wirtschaftsgeschichte an der Goethe-Universität Frankfurt und der Universität Siegen sowie Stellvertretender Vorsitzender des Hayek-Clubs Frankfurt. 202 So scharfe Selbstkritik des bekanntesten deutschen Ökonomen hatte man noch nie gehört : »Ich war ein Dummkopf«, sagte Hans-Werner Sinn und fügte hinzu : »als junger Mann«. In den frühen 1990er Jahren hatte Sinn, damals frisch berufener Professor in München, die Euroeinführung vehement unterstützt. Jetzt bereut er das. »Es war ein Riesenfehler, den Euro einzuführen.« Ökonomisch, aber auch politisch sei es schiefgegangen. »Was ist denn aus dem angeblichen Friedensprojekt geworden ? In Wahrheit habe ich noch nie so viel Hass in Europa erlebt wie jetzt.« Das Publikum, das Sinn so reden hörte, hielt den Atem an. Doch trotz seiner Fundamentalkritik wollte Sinn die Gemeinschaftswährung nicht im großen Chaos scheitern lassen. Mit dem Euro sei es wie mit einer zerrütteten Ehe, die Scheidungskosten seien zu hoch. Eine echte Lösung habe er nicht, gab Sinn zu. Wahrscheinlich sei ein Durchwursteln mit hohen Kosten und immer neuen Rettungspaketen. Sinn warnte : »Wir stolpern in einen neuen Sozialismus in Europa« – weil die Schulden sozialisiert würden. Die geschilderte Szene, die sich im Juni 2013 bei einer von Karl-Heinz Paqué in Magdeburg organisierten Podiumsdiskussion zutrug, zeigt Sinns Zerrissenheit. Hans-Werner Sinn ist ein überzeugter Europäer, aber er sieht Europa in Gefahr wegen einer aus seiner Sicht grund falschen Politik. Wie ein Löwe kämpfte er gegen die immer größeren Rettungspakete, die die Politik schnürte. Den dauerhaften Krisenfonds ESM, der 2012 eingerichtet wurde, nannte er »eine gewaltige Bad Bank«. Damit begebe sich Deutschland auf die schiefe Bahn der So zialisierung der Schulden der südlichen Krisenländer. Die Kredite für einige Krisenländer seien wohl verloren. Im ifo Institut ließ Sinn regelmäßig den »Haftungspegel« berechnen : dreistellige Mil liardenbeträge, die Deutschland im schlimmsten Fall durch Abschreibungen auf Hilfskredite wenigsten Ökonomen und kaum ein Politiker hatten zuvor überhaupt vom Target-System gehört. Mit Gründlichkeit und Sturheit hat sich Sinn in die komplexe Materie vertieft und sie in Zeitungskommentaren einem breiten Publikum erklärt. 2012 folgte ein dickes Buch voller Grafiken und Interpretationen. Nur ein Sinn vermag es, ein so sperriges ökonomisches Thema unter dem Titel Die Target-Falle zu einem Bestseller zu machen. Im Target-System baute sich tatsächlich finanzieller Sprengstoff auf. Als mit Beginn der Eurokrise 2009 die privaten Kredite zur Finanzierung der Leistungsbilanzdefizite der Peripherie versiegten, schossen plötzlich die Tar get-Salden in die Höhe. Target ist, wie es Sinn formuliert, für Krisenländer eine »goldene Kreditkarte« mit unbegrenztem Überziehungskredit. Die Schuldnerländer zapfen Target an und erwerben Waren, Dienstleistungen, Immobilien oder Bankguthaben, zumeist in Deutschland. Diesen Vermögenstransfer »bezahlt« die Bundesbank. Größter Posten ihrer Bilanz sind nun Target-Forderungen in dreistelliger Milliardenhöhe, deren Rückzahlung in den Sternen steht. Völlig zu Recht warnte Sinn, dass Deutschland durch dieses Target-System in eine Falle gerate und erpressbar werde. Jene, die immer neue Rettungsmilliarden verlangen, können auch auf die Target-Milliarden verweisen, die im Fall eines Auseinanderbrechens der Eurozone auf dem Spiel stehen. Wegen dieser finanziellen Risiken – und wegen politischer und geopolitischer Risiken – wurde in der Euro krise ein Rettungspaket auf das nächste getürmt. Es ist wie mit einer zerrütteten Ehe, man bleibt zusammen aus Angst vor den Kosten eines Bruchs. Als einen so zerrütteten Zusammenschluss hatte man sich das geeinte »Haus Europa« aber nicht vorgestellt. Es bleibt Sinns Verdienst, diese Widersprüche klar herausgearbeitet zu haben. Target-Falle: Hans-Werner Sinn und die Zukunft Europas und Target-Forderungen als Verluste erleiden würde. Im Bundesfinanzministerium wurde der westfälische Sturkopf deshalb als fürchterlicher Quälgeist empfunden, der die Bevöl kerung in punkto Eurorettung verunsichere. Tatsächlich haben sich über die Zeit die Warnungen vor horrenden Haftungssummen abgenutzt. Wahr ist aber auch, dass die »verantwortlichen« Rettungspolitiker die Probleme weit unterschätzt haben. Wolfgang Schäuble etwa sagte im Juli 2010 in der Frankfurter All gemeiner Zeitung : »Die Rettungsschirme laufen aus – das haben wir klar vereinbart.« Grie chenland dürfe nur drei Jahre Kreditlinien in Anspruch nehmen. »Danach ist Schluss«, so Schäuble damals. So kann man sich irren. Heftigen Streit gab es darüber, ob Sinn die Fortschritte der Krisenländer bei der Wie dererlangung der Wettbewerbsfähigkeit unterschätze. Anders als viele Ökonomen zog er nicht die Lohnstückkosten, sondern den BIPDeflator als Indikator heran. Die statistisch ermittelten Lohnstückkosten seien durch die Entlassung von Hunderttausenden Gering produktiven künstlich reduziert worden (»Entlassungsproduktivität«), argumentierte er. Weil Sinn es für unmöglich hielt, dass Krisenländer wie Griechenland durch extrem starke Preisund Lohnsenkungen innerhalb des Euro ihre Wettbewerbsfähigkeit wiedererlangen konnten, riet er Athen dazu, den Euro aufzugeben. Eine Exportbelebung nach einer Abwertung sei der weniger schmerzvolle Krisenausweg als die jahrelange, quälende interne Abwertung. Hans-Werner Sinn war und ist der originellste ökonomische Querdenker, den Deutsch land hat. Er hatte stets die Augen offen und erkannte neue Probleme früher als andere. So entdeckte Sinn im Jahr 2011, nach einem Hinweis des Ex-Bundesbankpräsidenten Schlesinger, das Problem der explosionsartig ansteigenden Target-Forderungen der Bundesbank. Die 203 Jürgen Stark ÜBER TARGET UND ANDERE FALLEN Target-Falle Jürgen Stark ist Stellvertretender Vorsitzender im Verwaltungsrat und im Kuratorium des ifo Instituts und Honorarprofessor an der Universität Tübingen. Er war von 2006 bis 2011 Mitglied des EZBDirektoriums. Zuvor war er Staatssekretär im Bundesministerium der Finanzen und Vizepräsident der Deutschen Bundesbank. 204 Target – ein Akronym, das nur wenige vor 2011 kannten und das nur im Jargon von Zahlungsverkehrsexperten von Banken und Zentral banken verwendet wurde. Target steht für »Trans-European Automated Real-Time Gross Settlement Express Transfer System«. Es war von Experten der Bundesbank entwickelt worden und wurde im Eurogebiet zur Zahlungsverkehrsplattform. Target ist eigentlich ein harmloses Instrument – in normalen Zeiten. In Krisenzeiten, wie seit 2010, kann daraus ein höchst problematisches Vehikel werden, das zu erheblichen volkswirtschaftlichen Haftungs risiken führt. Hans-Werner Sinn machte diese Risiken, die sich mit der Eskalation der Krise im Euroraum dramatisch erhöht hatten, gegenüber der Öffentlichkeit transparent. Aufgegriffen hatte es zunächst Helmut Schlesinger, der ehemalige Präsident der Deutschen Bundesbank. Er hatte in der Bundesbankbilanz einen regelrecht explodierenden Aktivposten unter »Sonstiges« entdeckt, hinter dem sich die Target-Forde rungen der Bundesbank verbargen – allerdings keineswegs absichtlich ! Die politische Brisanz, die hinter diesen Zahlen steckte, wurde zunächst weder von der Bundesbank noch von der EZB erkannt. Man interpretierte die TargetSalden als eine Folge der einheitlichen Geld politik in Krisenzeiten. Ergo waren die Risiken aus den geldpolitischen Operationen auch gemeinschaftlich zu tragen, d. h., man haftete im Umfang der Forderungen. In der ihm eigenen Beharrlichkeit, Leidenschaft und Konsequenz kniete sich HWS in die Target-Problematik hinein. Pointiert und z.T. aggressiv argumentierend, mobilisierte er die Öffentlichkeit. Plötzlich wurde klar, dass die Haftungsrisiken aus Target für die europäischen, insbesondere die deutschen Steuerzahler, dem Umfang der Rettungsschirme hinzugerechnet werden müssen. In der öffentlichen Diskussion brachte dies manchen Zentralbanker in Erklärungsnot oder zeigt jedoch, dass die neuen Regeln genauso wenig greifen wie die alten. Denn es geht immer wieder um politische Rücksichtnahmen und fehlenden politischen Willen der Durchund Umsetzung. Das, was von dem neuen institutionellen Rahmen für den Euro bleibt, ist der ESM – der Europäische Stabilitäts-Mechanismus – und die Bankenunion. Aus der »Target-Falle« wurde – um in HWS’ Formeln zu bleiben – die »Euro-Falle«. Dies ist die Konsequenz aus den Rettungsaktionen und institutionellen Änderungen seit 2010. Die damals getroffenen »alternativlosen« Grundentscheidungen belasten die Gegenwart und die Zukunft. Es war die falsche Weichenstellung. Die Folge ist, dass die EZB zum entscheidenden Krisenmanager des Euroraums geworden ist. Die EZB hat zusätzliche Aufgaben übernommen und ist zum »Kreditgeber der letzten Instanz« für Staaten geworden – ein klarer Verstoß gegen das Verbot der monetären Finanzierung von Staatshaushalten. Mit dem Kauf von Staats anleihen im Rahmen der mengenmäßigen Lockerung der Geldpolitik setzt die EZB ihre ultralockere Geldpolitik fort, ohne deren erkennbare mittel- bis längerfristigen negativen Folgen zu berücksichtigen. Sie ist Gefangene ihrer eigenen Politik geworden, denn ein Ausstieg ist nicht ohne weiteres möglich. Zu sehr sind Regierungen und Finanzmärkte von den EZB-Operationen abhängig. Der Weg nach vorn ? Von der Politik ist gegenwärtig kein europäischer Quantensprung zu erwarten. Zu sehr ist man mit der aktuellen Krise befasst. Man sollte sich ernsthaft mit den von HWS präsentierten Optionen für einen zukunftsfähigen Umbau Europas beschäftigen. Er plädiert wohlbegründet u. a. für eine Schuldenkonferenz für Krisenstaaten, die Möglichkeit, den Euro (vorübergehend) zu verlassen, eine Insolvenzordnung für Eurostaaten und für eine Konföderation nach Schweizer Vorbild. Target-Falle: Hans-Werner Sinn und die Zukunft Europas auch in einen Konflikt. In meinem Fall dadurch, dass ich einerseits Mitglied des EZB-Direkto riums war, andererseits Stellvertretender Vorsitzender des ifo-Verwaltungsrats und des -Kuratoriums. Es ist ein Zeichen der in der EZB aufeinandertreffenden unterschiedlichen politischen Kulturen, dass von mir in der Target-Debatte eine förmliche Intervention gegenüber HWS erwartet wurde, mit der Begründung : ifo sei ein staatlich finanziertes Institut und könne nicht gegen die politischen Interessen der Zuwendungsgeber agieren. HWS’ Aktivitäten gingen über Politikberatung hinaus, seien reine Polemik. Für mich war klar : ifo und sein Präsident sind in ihrer wissenschaftlichen Arbeit unabhängig und dem Gemeinwohl verpflichtet. Die Qualität der Arbeit muss sich im wissenschaftlichen Diskurs beweisen – es bedarf keiner (politischen) Intervention ! Dennoch telefonierten wir miteinander, und am Ende stellte HWS fest : »Das, was ich sage, entspricht doch auch Ihrer Meinung !« Die Diskussion führte zu einer ernsteren Auseinandersetzung mit der Problematik innerhalb des Eurosystems. Die Target-Salden sind inzwischen zurückgegangen. Das Grundproblem aber besteht unverändert fort. Zu Recht steht für HWS die »Target-Falle« synonym für den Rettungswahn, der die Politik des Eurogebiets 2010/2011 befallen hatte. Man handelte in Panik. Risiken wurden mit der Übernahme von noch größeren Risiken nach dem Motto bekämpft : Was immer erforderlich, was immer es kostet. Die nationale Eigenverantwortung für die öffentlichen Haushalte ging in gegenseitiger Haftung auf. Aus der Nicht-Beistandsklausel wurde über eine temporäre Fazilität ein dauerhafter Rettungsmechanismus für Staaten geschaffen. Parallel dazu wurden im Rahmen des Stabilitäts- und des Fiskalpakts die europäischen Regeln verschärft. Die bisherige Praxis 205 Jens Weidmann DIE WÄHRUNGSUNION BRAUCHT EIN STABILES FUNDAMENT Target-Falle Jens Weidmann ist seit Mai 2011 Präsident der Deutschen Bundesbank und Mitglied des EZB-Rates. Zuvor war er Generalsekretär des Sachverständigenrates, Leiter der Abteilung Geldpolitik der Deutschen Bundesbank und Leiter der Abteilung Wirtschafts- und Finanzpolitik im Bundeskanzleramt. 206 Zu den überraschenden Erkenntnissen der Finanz- und Schuldenkrise zählt, dass ein Buch über das Zahlungssystem der Zentralbanken des Eurosystems, das sogenannte Target-System, zum Bestseller werden konnte. Weniger überraschend ist hingegen die Tatsache, dass es Hans-Werner Sinn war, dem das Kunststück gelang, das sperrige Thema Target-Salden einer breiteren Öffentlichkeit zugänglich zu machen. So wie Fieber keine Krankheit, sondern Symptom einer Krankheit ist, sind diese Salden vor allem ein Symptom der Krise. Es ist unstrittig, dass gerade Hans-Werner Sinn dazu bei getragen hat, das Bewusstsein der Öffentlichkeit für die Risiken und Nebenwirkungen der Krisenpolitik des Eurosystems zu schärfen. Zu Recht hat er darauf hingewiesen, dass die bilanziellen Risiken des Eurosystems durch die Krisenmaßnahmen erheblich gestiegen sind. Die Krisenmaßnahmen des Eurosystems haben zwar eine Eskalation der Krise im Euro raum verhindert und ihre Folgen für die natio- nalen Volkswirtschaften eingedämmt. Allerdings haben sie ein zentrales Gestaltungsprinzip der Währungsunion nachhaltig geschwächt, nämlich das Prinzip der Eigenverantwortung. Gemäß diesem Prinzip dürfen die Mitgliedstaaten nicht für die Schulden der anderen Eurostaaten haften. Aus gutem Grund ist es den Notenbanken daher auch untersagt, monetäre Staatsfinanzierung zu betreiben. Fakt ist aber, dass zusammen mit den fiska lischen Rettungsmaßnahmen der Euroländer die geldpolitischen Krisenmaßnahmen zu einer Umverteilung von Risiken geführt und Elemente von Gemeinschaftshaftung etabliert haben. Das Verhältnis von Kontrolle und Haftung ist dadurch im Ordnungsrahmen der Währungsunion aus der Balance geraten. Die Möglichkeiten, die Verschuldungstätigkeit der Mitgliedstaaten zu kontrollieren, sind nämlich nicht entsprechend mitgewachsen. Zwar wurden im Zuge der Krisenaufarbeitung Änderungen an den gemeinsamen Fis einer Stabilitätsunion dauerhaft verlässlich eingelöst werden. Um Otmar Issing zu zitieren : »Zu einer Währungsunion, in der die Länder zwar ihre Geldpolitik auf eine supranationale Institution übertragen (…) haben, aber im Übrigen darauf bestehen, souveräne Staaten zu sein, passt nur das No-Bail-out-Prinzip. Wer auf Selbständigkeit besteht, muss selbst für die Folgen des eigenen Handelns haften.« In letzter Konsequenz verlangt das die Möglichkeit einer staatlichen Insolvenz, ohne dass das Finanz system kollabiert. Nur das Bestehen eines Verlustrisikos gewährleistet im Übrigen, dass die Anleger ihre disziplinierende Rolle für die Fiskalpolitik ausüben, indem sie für höhere Risiken höhere Zinsen verlangen. Die Schaffung eines stabilen Fundaments der Währungsunion ist aus geldpolitischer Sicht zentral, damit die Geldpolitik nicht ins Schlepptau der Fiskalpolitik gerät. Anders formuliert : Die Fähigkeit der Geldpolitik, ihrem Mandat gerecht zu werden und Preisstabilität im gemeinsamen Währungsraum zu gewährleisten, hängt auch davon ab, dass kein Druck entsteht, im Fall einer Überschuldung von Staaten oder Banken in die Verantwortung genommen zu werden, und dass die Notenbank, falls dieser Druck doch entsteht, stark genug ist, diesem zu widerstehen. Die Stabilität unserer Währung hängt aber nicht nur vom Vertrauen der Bevölkerung in die Stabilitätsorientierung des Eurosystems ab, sondern auch von Bedingungen, die das Eurosystem selbst nicht schaffen kann. Zu diesen Bedingungen gehören solide Staatsfinanzen, eine wettbewerbsfähige Wirtschaft in den Mitgliedstaaten und ein funktionstüchtiger Ordnungsrahmen. Hier sind die Regierungen gefordert, die Weichen richtig zu stellen, damit die Währungsunion als Stabilitätsunion erhalten bleibt. Target-Falle: Hans-Werner Sinn und die Zukunft Europas kalregeln vorgenommen, die durchaus in die richtige Richtung weisen. Die bisherigen Erfahrungen mit den reformierten Regeln geben jedoch Anlass zu Zweifeln an ihrer Bindungswirkung. Ob die Regeln in Zukunft besser eingehalten werden als in der Vergangenheit, ist daher fraglich. Die Kernfrage für die Zukunft der Währungsunion ist, wie Kontrolle und Haftung wieder besser miteinander in Einklang gebracht werden können, oder anders formuliert, wie der Rahmen der Währungsunion aussehen muss, damit die gemeinsame Währung ein stabiles Fundament bekommt. Hans-Werner Sinn sagt : »Damit eine Währungsunion stabil ist und es nicht zu Schulden exzessen kommt, sind zwei Modelle denkbar, ein Sozialisierungsmodell und ein Haftungsmodell.« Nach dem Sozialisierungsmodell vertieft man die politische Integration Europas, indem man insbesondere eine Fiskalunion schafft, bei der nicht nur die Haftung auf die europäische Ebene gehoben wird, sondern auch weitgehende fiskalische Durchgriffsrechte. Das würde aber eine Änderung der Euro päischen Verträge voraussetzen. Das Haftungsmodell ist dagegen mit dem Maastrichter Vertrag bereits angelegt. Für eine stabile Währungsunion müsste der bisherige Rahmen aber weiterentwickelt und die Eigenverantwortung der einzelnen Länder als konstitutives Merkmal der Währungsunion gestärkt werden. Das Haftungsmodell belässt also Kontrolle und Haftung auf der nationalen Ebene und bekräftigt den gegenseitigen Haftungsausschluss. Für eine spürbare Abgabe nationaler Souve ränität scheinen derzeit ohnehin die politischen Mehrheiten zu fehlen. Solange dies so bleibt, führt daher kein Weg daran vorbei, den bestehenden Ordnungsrahmen der Währungsunion zu härten. Nur mit einer Stärkung des Prinzips der Eigenverantwortung kann das Versprechen 207 Martin Feldstein HANS-WERNER SINN UND DIE HAUSHALTSDEFIZITE Target-Falle Martin Feldstein ist Professor für Volkswirtschaftslehre an der Harvard University. Zwischen 1977 und 2008 war er Präsident des National Bureau of Economic Research, mit Ausnahme der Jahre 1982 bis 1984, in denen er Vorsitzender des Council of Economic Advisers und Berater von Präsident Reagan war. 208 Hans-Werner Sinn und ich teilen viele wirtschaftspolitische Interessen, und bei den meisten Themen kommen wir auch zu den gleichen Schlussfolgerungen. Dies betrifft auch die Haushaltsdefizite, obgleich Hans-Werner sich eher über jene im Euroraum sorgt, während ich mich mit denen der amerikanischen Volkwirtschaft beschäftige. Die Verschuldung des amerikanischen Zentralstaats ist im vergangenen Jahrzehnt stark angestiegen, von weniger als 5 Billionen USDollar vor Beginn der Wirtschaftskrise im Jahr 2007 auf über 13 Billionen US-Dollar heute. Im Verhältnis zum Bruttoinlandsprodukt verdoppelte sich die Verschuldung von weniger als 35 % auf zuletzt 74 %. Das Congressional Budget Office geht davon aus, dass die Staatsschuldenquote in den kommenden beiden Jahrzehnten auf 100 % ansteigen wird, falls sich das Zinsniveau wieder normalisiert und die Renten- sowie Gesundheitsausgaben in Anbetracht einer alternden Bevölkerung weiter steigen. Zinszahlungen auf eine derart gestiegene Verschuldung zu leisten bedeutet letztendlich, höhere Steuern zu erheben, was die wirtschaftliche Leistungsfähigkeit mindert. Zudem werden mehr als die Hälfte der amerikanischen Staatsanleihen von ausländischen Investoren gehalten, so dass die Zinszahlungen auch zu einer Verschlechterung der Terms of Trade führen, was wiederum die Realeinkommen in den Vereinigten Staaten reduziert. Darüber hinaus vermindert der hohe Schuldenberg auch die Fähigkeit, auf militärische Notlagen zu reagieren. Hans-Werner Sinn ist darüber besorgt, dass die mangelnde Haushaltsdisziplin in Staaten wie Frankreich und Italien die Eurozone un tergräbt und die Verantwortung für nationale Schulden auf die Europäische Zentralbank (EZB) verschoben wird – letztlich zu einem großen Teil auf Deutschland. Der von allen Regierungen der Mitgliedsländer im Jahr 2012 verabschiedete sogenannte »Fiskalpakt« sollte als Ankündigung, die EZB zum lender of last resort zu machen, mit der Folge, dass die Zinsunterschiede drastisch zurückgingen. Während Deutschland seit 2012 in jedem Jahr Haushaltsüberschüsse vorweisen konnte, erwirtschafteten Frankreich und Italien Defi zite, die ihre Nettoverschuldung Jahr für Jahr ansteigen ließen. In Frankreich legte die Nettoverschuldung im Verhältnis zum Bruttoinlands produkt von 81 % im Jahr 2012 auf 89 % im Jahr 2015 zu. In Italien stieg sie von 103 % auf 112 %. Es wurde keine Geldstrafe verhängt. Die fundamentale Ursache dafür, dass Ita lien und Frankreich nicht in der Lage sind, ihre Schuldenquoten zu senken, sind ihre hohen Staatsausgaben. Während der Anteil der Staatsausgaben am Bruttoinlandsprodukt in Deutschland bei 44 % liegt, sind es 51 % in Ita lien und 57 % in Frankreich. Eine Anhebung von Steuern in dem Maße, dass die hohen Staatsausgaben bezahlt werden könnten, ist nicht nur politisch schwierig, sondern hat auch eine negative Anreizwirkung und schwächt das Wirtschaftswachstum. Es gibt zahlreiche Strukturreformen, die Frankreich und Italien durchführen könnten, um die Leistungsfähigkeit ihrer Volkswirtschaften zu verbessern. Der daraus resultierende Anstieg der Wachstumsrate des Bruttoinlandsprodukts würde automatisch die Staatsschuldenquoten reduzieren. Zudem würde das erhöhte Niveau des Bruttoinlandsprodukts auch ein vermehrtes Steueraufkommen nach sich ziehen, die Haushaltsdefizite reduzieren sowie den Anstieg der Staatsschuldenquoten bremsen. Nichtsdestotrotz sollte die Begrenzung der Expansionsrate der Staatsausgaben ganz oben auf der politischen Agenda stehen, um den Anstieg der Verschuldung zu stoppen. Target-Falle: Hans-Werner Sinn und die Zukunft Europas die Schulden und Defizite begrenzen. Jedes Land wurde verpflichtet, seine Verschuldung Jahr für Jahr auf ein Maximum von 60 % im Verhältnis zum Bruttoinlandsprodukt zurückzuführen. Mitgliedsländer, die dem nicht nachkommen, sollten mit einer Geldstrafe belegt werden. Hans-Werner Sinn war einer der Ersten, die kritisierten, dass Frankreich und Ita lien ihre Verschuldung nicht in dem erforder lichen Maße zurückführten und dass dies keine finanziellen Sanktionen nach sich zog. Ich kam in einem Artikel, den ich im Feb ruar 2012 unter dem Titel »Europe’s Empty Fiscal Compact« für das Project Syndicate schrieb, zu einer ähnlichen Schlussfolgerung. Darin schrieb ich : »Der Fiskalpakt wird wohl ein weiteres Beispiel dafür werden, dass europäische Politiker gern ökonomische Realitäten ihrem Wunsch unterordnen, mit neuen Regelungen zu prahlen, die Fortschritte auf dem Weg zu einer stärkeren Integration der Währungsunion machen.« Meine Schlussfolgerung, dass der Fiskalpakt nicht effektiv sein würde, hat sich als richtig erwiesen. Ich lag im Jahr 2012 jedoch falsch, als ich schrieb, dass »die Finanzmärkte jetzt erzwingen werden, was der politische Prozess nicht vermag.« Ich erwartete, dass die stei genden Schuldenquoten zu einem Anstieg der langfristigen Zinsen führen würden, weil die Investoren verstärkt auf die mit dem Schul denanstieg einhergehenden Risiken fokussieren würden. Ich hatte nicht mit Mario Draghi und seinem Versprechen gerechnet, »alles zu tun«, um die Eurozone zu retten, und auch nicht mit der Schaffung des Outright Monetary Transaction Programms, im Rahmen dessen die EZB sich verpflichtete, Staatsanleihen der Mitgliedsländer auf dem Sekundärmarkt zu erwerben. Die Finanzmärkte interpretierten dies 209 Gilles Saint-Paul DIE GEFAHR DES KONSENSES Target-Falle Gilles Saint-Paul ist Professor der Volkswirtschaftslehre an der Paris School of Economics und an der New York University Abu Dhabi. Er ist ehemaliges Mitglied des französischen Conseil d’Analyse Economique. 2007 wurde ihm der Yrjö-Jahnsson-Preis der European Economic Association verliehen. 210 Ist Konsens ein Beleg für Wahrheit ? Während dies in den Naturwissenschaften der Fall sein kann, ist der Konsens in den Sozialwissenschaften oft hausgemacht. Ohne schlüssige Beweise erscheint es opportun, sich der Mehrheitsmeinung anzuschließen. Der Konsens bestimmt, wie öffentlich geförderte Forschungsprojekte ausgestaltet sind. Das größte Risiko besteht darin, genauso falsch zu liegen wie alle anderen. In einer Welt, in der Wissenschaftler relativ zu ihren Mitstreitern evaluiert werden, erzeugt dies nur geringe Kosten. Das System der PeerReview-Begutachtung bedingt Konsens. Gutachter, die die gängige Meinung vertreten, haben kein Interesse, neue Forschungsarbeiten zu akzeptieren, die diese hinterfragen, da ansonsten ihre eigenen Beiträge obsolet werden. In einer Forschungsgemeinschaft, die von Konsens geplagt ist, ist es unmöglich, dass sich Wissen dialektisch entwickelt, indem Paradigmen abgelehnt und durch sinnvollere ersetzt werden. Wissen verbreitet sich lediglich horizontal, da immer nur Variationen bekannter Themen produziert werden. Es verlangt von einem bekannten Professor viel Mut, den Konsens außer Acht zu lassen. Eine solche Person leistet einen unschätzbaren Beitrag zur Forschungsgemeinschaft und trägt dabei das Risiko, dass es ihn persönlich teuer zu stehen kommt, indem er z. B. ausgegrenzt oder ignoriert wird. Einen solchen Beitrag hat Hans-Werner Sinn während seiner erfolgreichen Karriere geleistet. Im Vorfeld der Währungsunion waren viele Volkswirte skeptisch bezüglich einer einheit lichen Währung. Ihre Untersuchungen zeigten, dass der Euroraum kein optimaler Währungsraum sein würde. Die Länder unterschieden sich in ihren Fundamentaldaten und Wirtschaftspolitiken. Nichtsdestotrotz stellte sich nach Einführung des Euro der Konsens ein, dass die Währungsunion irreversibel sein würde. Die Diskussionen unter europäischen Makroökonomen drehten sich vor allem dar- land aus, der zu beständigen Inflationsunterschieden und einem Verlust an Wettbewerbs fähigkeit führte. Da die nationale Geldpolitik abgeschafft worden war, konnte dem nicht entgegnet werden. Dieser Zustand würde so lange anhalten, wie die Finanzmärkte die Möglichkeit eines Staatsbankrotts ignorieren und bereit seien, jedem Land zu den gleichen niedrigen Zinsen Kredit zu gewähren. Das goldene Zeitalter endete abrupt, als die Finanzkrise einsetzte. Begünstigt durch die Erwartung, dass einige Länder den Euro aufgeben würden, spreizten sich die Renditen auf Staatsanleihen. Zudem setzte sich die Erkenntnis durch, dass eine Anpassung teuer würde, falls diese Länder in der Währungsunion bleiben. Die Europäische Zentralbank machte der Krise ein Ende, als sie sich bereit erklärte, die Staatsanleihen der Krisenländer zu einem Mindestpreis zu kaufen. Diese Politik ist praktikabel, solange der Eurokurs nicht auf ein Niveau fällt, das eine Inflationsspirale in Gang setzt, und reichere Länder wie Deutschland und Finnland in Versuchung geraten, die Währungsunion zu verlassen; und solange die fiskalischen Transfers, die die Steuerzahler dieser Länder zu leisten haben, undurchsichtig sind und als vor übergehend empfunden werden. Hans-Werner Sinn hat große Zweifel und schreibt : »Die Mitgliedschaft in der Eurozone beinhaltet nicht das Recht auf Transferleistungen durch andere Länder, sollte ein Land seine Wettbewerbsfähigkeit verlieren. […] In Not geratene Länder mit Hilfe permanenter lebenserhaltender Maßnahmen im Euro zu halten, hilft diesen nicht wirklich.« Die Zukunft wird zeigen, ob dies eine Prophezeiung oder überzogener Pessimismus war. Jedoch deuten die jüngsten politischen Entwicklungen in Griechenland und Spanien darauf hin, dass Hans-Werner Sinn wohl Recht b ehalten wird. Target-Falle: Hans-Werner Sinn und die Zukunft Europas um, wie die Funktionsfähigkeit der Währungsunion durch fiskalpolitische Koordination, Strukturreformen oder Transfers verbessert werden könne. Den Ansatz in Gänze in Frage zu stellen war ein sicherer Weg, als Außenseiter abgestempelt zu werden. Es war allgemein anerkannt, dass die Kosten eines Austritts für ein Land riesig wären, obgleich ein solches Er eignis noch nicht stattgefunden hatte und die Kosten des Verbleibs für einige südeuropäische Länder immens erschienen. In der Konsequenz führte dieser Konsens bei den Volkswirten zu einer großen Unterstützung einer Politik, die versprach, »alles zu tun«, um die Einheitswährung zu bewahren, wie z. B. das OMT-Programm oder andere unkonven tionelle Maßnahmen. Bedenken bezüglich der Verfassungsmäßigkeit von Anleihekäufen oder der Einführung impliziter fiskalischer Transfers zwischen Mitgliedsländern von einer nicht gewählten Instanz wurden weitgehend beiseitegeschoben. Zudem wurde auch den verzerrenden Effekten dieser Politik auf Vermögenspreise und dem Risiko eines erneuten Boom-BustZyklus wenig Beachtung geschenkt. Das Ein zige, was zählte, war, dass die Anleihekäufe die Staatsverschuldung der in Schieflage geratenen Länder im Zaum hielten und dem Euroraum damit Zeit erkauft wurde. In diesem Kontext schrieb Hans-Werner Sinn The Euro Trap. Das Buch ist eine Anklage des gesamten Europrojekts durch einen ehemaligen Enthusiasten, der nicht davor zurückschreckt, Öl ins Feuer zu gießen und sich um der intellektuellen Wahrhaftigkeit willen Feinde in Brüssel zu machen. In dem Buch schreibt Sinn, dass die Währungsunion einer Katastrophe den Weg be reitete, als das Kapital in großem Stil von den reicheren Ländern des Euroraums in die är meren floss. Dieser Kapitalzufluss löste einen Boom in Ländern wie Spanien und Griechen- 211 Dietrich Murswiek DIE EZB VOR DEM BUNDESVERFASSUNGS GERICHT – STAATSANLEIHENKÄUFE, TARGET-KREDITE UND HANS-WERNER SINN Target-Falle Dietrich Murswiek lehrt Öffent liches Recht an der Universität Freiburg. Er war und ist Prozessvertreter von Peter Gauweiler in den Verfassungsprozessen gegen den Vertrag von Lissabon und gegen die »Eurorettung«. 212 Das politische Schauspiel der »Eurorettung« hat von Anfang an sein juristisches Nach- oder Nebenspiel auf der Bühne des Bundesverfassungsgerichts gefunden. Die Rettungsmaßnahmen, die Hans-Werner Sinn mit öffentlichen Stellungnahmen und wissenschaftlichen Abhandlungen als ökonomisch unvernünftig bekämpfte, versuchte ich als Prozessvertreter Peter Gauweilers juristisch zu Fall zu bringen. Das Bundesverfassungsgericht urteilt freilich nicht am Maßstab ökonomischer Rationalität. Es geht im Verfassungsprozess nicht darum, ob Rettungsmaßnahmen, für die Hunderte von Milliarden an Steuergeldern aufs Spiel gesetzt werden, ökonomisch sinnvoll sind und politisch verantwortet werden können. Es geht allein um ihre Vereinbarkeit mit dem Grundgesetz. Das Grundgesetz macht aber kaum Vorgaben dafür, wofür die Steuergelder aus gegeben werden dürfen. Selbst wenn viele Milliarden in ein Fass ohne Boden geschüttet werden, ist das nicht per se verfassungswidrig. In den Prozessen gegen den vorläufigen »Rettungsschirm« und dann gegen den ESM ging es darum, ob Bundesregierung und Bundestag Entscheidungen getroffen haben, die die zum Kern des Demokratieprinzips ge hörende Haushaltsautonomie des Bundestages verletzen. Wir konnten durchsetzen, dass Entscheidungen über Rettungskredite oder andere Rettungsmaßnahmen (z. B. Staatsanleihenkäufe) der EFSF- oder ESM-Organe nicht ohne vor herige konstitutive Zustimmung des Bundes tages beschlossen werden dürfen und dass sogar für wichtige Entscheidungen im Rahmen bereits beschlossener Rettungsprogramme (z. B. Auszahlung einer neuen Tranche) die Zustimmung des Bundestages erforderlich ist. Das Bundesverfassungsgericht hat so dem Wähler die Chance offengehalten, mit seiner Stimme auch eine Änderung der Rettungspolitik zu bewirken. Die Haushaltsautonomie könnte allerdings zeigt und der – wie Sinn gezeigt hat – die europäische Währungspolitik in der »Target-Falle« einsperrt, wurde vom Bundesverfassungsgericht völlig ignoriert. Hier liegt eine Crux der Rechtsprechung : Demokratie und Souveränität werden vom Bundesverfassungsgericht dagegen geschützt, dass sie durch verfassungswid rige rechtliche Regeln verletzt werden, nicht jedoch dagegen, dass die Politiker ökonomische Zwänge schaffen, die die vom Grundgesetz vorausgesetzte politische Entscheidungsfreiheit weitgehend zunichtemachen. Wie sehr die Freiheit des Bundestages eingeschränkt ist, beispielsweise über neue Hilfen für Griechenland zu entscheiden, wenn bei Versagung der Hilfen milliardenschwere Target-Forderungen abgeschrieben werden müssen, interessiert das Bundesverfassungsgericht nicht. Im OMT-Verfahren erzielten wir einen wichtigen Zwischenerfolg, zu dem Sinn mit seiner Stellungnahme als Sachverständiger beigetragen hat. In seinem Beschluss vom 14. Januar 2014 hat das Bundesverfassungsgericht die von uns vertretene Rechtsauffassung, dass die Staatsanleihenkäufe Wirtschafts- und nicht Geldpolitik seien und daher in die Kompetenz der Mitgliedstaaten gehörten, vorläufig bestätigt. Der Europäische Gerichtshof hingegen begnügt sich in seinem Urteil vom 16. Juni 2015 damit, dass die EZB für ihr OMT-Programm ein angeblich geldpolitisches Ziel (Beseitigung einer Störung des Transmissionsmechanismus) genannt hat, und verschließt die Augen davor, dass es der EZB um massive Einwirkung auf die Risikoprämien und damit auf die Finan zierungsbedingungen der Krisenstaaten geht – dass sie also Rettungspolitik betreibt, die par lamentarisch verantwortet werden muss. Jetzt hat das Bundesverfassungsgericht das letzte Wort und wird sich hoffentlich an die Argumente Sinns erinnern. Target-Falle: Hans-Werner Sinn und die Zukunft Europas auch dann verloren gehen, wenn sich der Bund in einer solchen Höhe zu Hilfsleistungen im Rahmen der Rettungspolitik verpflichtet, dass er für andere finanzwirksame Entscheidungen keinen Spielraum mehr hat. Hans-Werner Sinn hat als Sachverständiger vor dem Bundesverfassungsgericht deutlich gemacht, dass der finanzielle Spielraum des Bundestages nicht nur durch die für die EFSF und für den ESM eingegangenen Verpflichtungen eingeschränkt wird, sondern auch durch die Rettungsmaßnahmen, die ohne Beteiligung der Politik von der EZB ergriffen worden sind, nämlich einerseits durch die Ankäufe von Staatsanleihen der Krisen staaten, andererseits durch die Target-Kredite, und er hat vorgerechnet, wie hoch die Gesamtbelastung ist, die sich daraus ergeben kann. Das Bundesverfassungsgericht hat jedoch gesagt, dass aus dem Demokratieprinzip eine Obergrenze nur für solche Risiken folge, die die Haushaltsautonomie praktisch vollständig leerlaufen ließen. Mit dem ESM sei die Grenze dessen, was der Bundestag verantworten könne, auch dann noch nicht überschritten, wenn man die Risiken aus den Staatsanleihenkäufen der EZB und aus den Target-Salden mitberücksichtige. Das Bundesverfassungsgericht hat sich auch nicht davon überzeugen lassen, dass es sich beim Target-System um einen mit dem Demokratieprinzip nicht zu vereinbarenden Haftungsautomatismus handelt. Dass die Target-Salden Kredite sind und dass diese bei Uneinbringlichkeit die Bilanz der Bundesbank und letztlich dann den Bundeshaushalt belasten, hatte Hans-Werner Sinn auch vor dem Bundesverfassungsgericht dargelegt. Den Richtern war das wohl zu kompliziert. Sie lehnten es ab, sich inhaltlich mit der Target-Problematik zu befassen. Der strukturelle Konstruktionsmangel des Eurosystems, der sich in den Target-Salden 213 Markus Söder HANS-WERNER SINN UND DIE ZUKUNFT DER WIRTSCHAFTS- UND WÄHRUNGSUNION Target-Falle Markus Söder ist seit 1994 Mitglied des Bayerischen Landtags und war von 2003 bis 2007 CSUGeneralsekretär. Seit 2007 gehört er der Bayerischen Staatsregierung an, seit November 2011 als bayerischer Finanzminister. Im Oktober 2013 wurden ihm zudem die Themen Landesentwicklung und Heimat übertragen. 214 Die Staatsschuldenkrise und die Zukunft der Wirtschafts- und Währungsunion sind die zentralen europapolitischen Themen unserer Zeit. Auch für Hans-Werner Sinn : Er hat die geld- und finanzpolitischen Entwicklungen stets intensiv und scharfsinnig kommentiert, Alternativen aufgezeigt und die Diskussion in Deutschland damit sehr bereichert. Die Frage nach der Zukunft der Gemeinschaftswährung Euro ist auch für den Freistaat Bayern von herausragender Bedeutung. Wie in kaum einem anderen Land sind Unternehmen hier exportorientiert und weltweit aktiv. Der Euro schafft wirtschaftliche Stärke und Arbeitsplätze, verschafft zusätzliche Möglichkeiten für Unternehmen und Märkte, verbessert die Integration der Finanzmärkte, hat seit Einführung stabile Preise gesichert und die europäische Identität gesteigert. Deshalb hat sich Bayern immer sehr deutlich für einen stabilen Euro eingesetzt. Um der Wirtschafts- und Währungsunion langfristig eine gute Zukunft zu sichern und das Vertrauen in den Euro zu erhalten, sind aus Sicht des Freistaats mehrere Grundsätze wichtig : Verantwortung und Haftung gehören untrennbar zusammen Der Euro ist eine einheitliche Währung verschiedener Staaten, die unterschiedliche fiskalund wirtschaftspolitische Strategien verfolgen. Diese Konstruktion ist nur dann dauerhaft und nachhaltig tragfähig, wenn die Folgen politischer Entscheidungen vom jeweiligen Staat zu tragen sind. Daraus folgt unter anderem auch, dass die Europäische Union nicht zu einer Transferunion werden darf, bei der sich Schuldnerländer von ihren reichen Nachbarn alimentieren lassen. Solidarität ist keine Einbahn straße. Finanzhilfen der Eurogemeinschaft für einzelne Länder darf es nur im Gegenzug für Haushaltskonsolidierung und Strukturreformen geben. Wachstum durch Strukturreformen statt durch Schulden Für eine moderne Wachstumspolitik ist es entscheidend, dass die wirtschaftlichen Rahmenbedingungen stimmen. Ein wettbewerbsfähiges Steuersystem, flexible Arbeitsmärkte und eine zukunftsfähige Sozialpolitik, die konsequent auf Hilfe zur Selbsthilfe setzt, sind die wichtigsten Bausteine für Wachstum und Beschäftigung. Staaten wie Irland, Portugal und Spanien haben gezeigt, dass nachhaltige Strukturreformen positive Auswirkungen auf die Wirtschaft eines Landes haben. Lockere Geldpolitik ist kein Allheilmittel Die Wirtschafts- und Währungsunion kann nicht dauerhaft durch eine expansiv ausgerichtete Geldpolitik künstlich am Leben erhalten werden. Mit ihrer Politik kann die Europäische Zentralbank den Mitgliedstaaten lediglich Zeit für Reformen kaufen. Die EZB darf den Moment des Umkehrens zu einer normalen Geld- politik keinesfalls verpassen, sonst wird der Boden für neue Übertreibungen an den Finanz märkten und die nächste Krise bereitet. Hans-Werner Sinn werden die meisten Forderungen und Positionen bekannt vorkommen, hat er sie doch selbst in der einen oder anderen Form vertreten. Seine wertvollen Beiträge beschränken sich jedoch bei weitem nicht auf die europäische Schuldenkrise. Professor Sinn hat sich in der Vergangenheit zu nahezu allen großen Wirtschaftsthemen der poli tischen Agenda zu Wort gemeldet. Von den volkswirtschaftlichen Schwierigkeiten der deutschen Wiedervereinigung über Mindestlohn und Arbeitslosenversicherung bis hin zu umweltökonomischen Themen und den Übertreibungen an den Finanzmärkten : Seine Analysen sind von Weitblick, dem Sinn für das große Ganze und einem tiefen Verständnis für politische Zusammenhänge gekennzeichnet. Die von ihm vertretene Sichtweise ist oft kreativ, bisweilen ungewöhnlich, aber wissenschaftlich immer fundiert. Dabei transportiert er komplexe ökonomische Zusammenhänge auch für den Laien verständlich. Hans-Werner Sinn hat seit seiner Amtsübernahme das ifo Institut zu einem wissenschaft lichen Aushängeschild Bayerns gemacht. Er hat einen weltweit vernetzten Think Tank geschaffen, der sich auf höchstem wissenschaftlichem Niveau mit praxis- und politikrelevanten Fragen auseinandersetzt. Wie kein Zweiter hat er es verstanden, Öffentlichkeit und Politik über ökonomische Zusammenhänge zu informieren. Seine Leistungen und seine Verdienste um Deutschland und Bayern können nicht hoch genug eingeschätzt werden. Target-Falle: Hans-Werner Sinn und die Zukunft Europas Einhaltung des Stabilitäts- und Wachstumspakts Der europäische Stabilitäts- und Wachstums pakt muss konsequent eingehalten werden. Ein nachlässiger Umgang mit dem Pakt verführt zu mehr Schulden und wird damit zu einer schweren Hypothek gerade für künftige Generationen von Steuerzahlern. Solide Haushaltspolitik ist der Schlüssel für nachhaltiges Wachstum, Beschäftigung und Investitionen. Der Freistaat Bayern zeigt wie kaum eine andere Region Europas, dass sich Wachstum und solide Haushaltspolitik keineswegs ausschließen, sondern vielmehr gegenseitig bedingen. 215 Wolfgang Schäuble ÖKONOM, KOMMUNIKATOR, EUROPÄER – EINE BITTE AN HANS-WERNER SINN Target-Falle Wolfgang Schäuble ist seit 1972 Mitglied des Bundestages. Er ist einer der Architekten der Wiedervereinigung Deutschlands und Europas, geehrt mit dem Inter nationalen Karlspreis zu Aachen. Er war Chef des Bundeskanzler amtes, zwei Mal Bundesinnen minister, seit 2009 ist er Bundes minister der Finanzen. 216 Hans-Werner Sinn ist ein außergewöhnlicher Ökonom. Er ist auf vielen Feldern der Wirtschaftswissenschaften zu Hause, thesenfreudig, kreativ, stellt sich gleichwohl den Mühen von Forschung und Empirie und hat dann noch ein ausgeprägtes Talent zur Kommunikation in die breitere Öffentlichkeit. Ihre Debatten befeuert er immer wieder aufs Neue. Die ökonomischen Laien verstehen ihn, wie sonst nur seine Kollegen in den Vereinigten Staaten oder in Großbritannien verstanden werden. Für Politiker mögen zwar manchmal seine Scharfzüngigkeit und gedankliche Schärfe nicht immer angenehm sein, aber das muss man aushalten können. Über die jeweils aktuellen europäischen Debatten, über akute Krisen und schwankende Nachrichten zu Sorgenkindern in der euro päischen Familie hinweg verliert Hans-Werner Sinn nie die grundsätzliche Frage nach der institutionellen Zukunft der Europäischen Union aus dem Blick. Ihm schweben die »Vereinigten Staaten von Europa« vor, ein »Bundesstaat«, eine echte Staatsgründung – mir eher eine konsequente »Mehr-Ebenen-Demokratie« : kein quasi-nationalstaatliches Gemeinwesen mit dem Schwergewicht im Zentrum, sondern eine spezifisch europäische Mischform von nationaler und gemeinschaftlicher Souveränität, ein sich ergänzendes, ineinandergreifendes Sys tem von Demokratien verschiedener Reich weite und Zuständigkeiten, eine national-eu ropäische Doppeldemokratie. Wie auch immer diese institutionelle Zukunft Europas genau aussehen wird – HansWerner Sinn legt mit seinem Plädoyer für die weitere Integration den Finger in die eigentli che Wunde des Euroraums : das bisherige Fehlen einer gemeinsamen Finanz- und Wirtschafts politik, vom Fehlen einer noch weiter gehenden politischen Union ganz zu schweigen. Das Problem ist bekanntlich nicht neu. Von Beginn der europäischen Einigung an war dies die Lage : Mehr Integration wäre immer besser gewesen, Der »große Sprung« in ein bundesstaatliches Europa, noch dazu angeführt von Deutschland, scheint mir dagegen eine unrealistische und unpolitische Vorstellung in der Gemengelage, in der wir uns auf absehbare Zeit befinden; undenkbar auch in diesem Europa, wie es nun einmal historisch gewachsen ist : 28 gleichberechtigte Nationen in der Europäischen Union. In die Zukunft einer tieferen Integration Europas führt kein einmaliger »großer Sprung«, sondern nur das geduldige Vorangehen auf den Wegen, die sich immer wieder öffnen, mal schneller durch Krisen, mal langsamer ohne sie. Die Richtung jedenfalls muss man kennen. Und eine Prise vorwärtsdrängenden Idealismus kann auch der europäische Realismus gut vertragen : Wir werden es uns in der ungeheuer dynamischen und vernetzten Welt des 21. Jahrhunderts nicht mehr lange leisten können, uns in Europa vornehmlich mit uns selbst zu beschäftigen. Wir brauchen unsere gesammelte Kraft, um unseren Beitrag zu leisten zur Lösung der drängenden globalen Ordnungsfragen – ob auf den Finanzmärkten, allgemein im Wirtschaftsbereich oder in Fragen von Sicherheit und Umwelt. Auch wenn Hans-Werner Sinn die Dinge gelegentlich anders sieht und andere Antworten gibt als die Bundesregierung : Dass Europa sich zu dieser Relevanz einer die Welt mitordnenden Macht weiterentwickelt, ist immer auch das Ziel des überzeugten Europäers Hans-Werner Sinn. Und : Er darf nun zwar aus dem Amt scheiden, leider – aber aufhören, sich als Ökonom an der politischen und wirtschaftlichen Debatte zu beteiligen, das darf er bitte nicht ! Target-Falle: Hans-Werner Sinn und die Zukunft Europas aber die Bevölkerungen der Mitgliedstaaten standen meist einer noch stärkeren Integration nicht sehr freundlich gegenüber. In den 1990er Jahren gab es dann erneut eine g roße Debatte, ob man erst eine politische Union oder erst die Währungsunion schaffen sollte. Bibliotheken von Büchern zur Währungsunion sagen uns seither, eine Währungsunion ohne eine Fiskalund Wirtschaftsunion funktioniere nicht. Wir bemühen uns im Euroraum – notgedrungen –, diese Gewissheit zu erschüttern. Aber wenn wir es damals, in den 1990er Jahren, andersherum versucht hätten, würden wir bis heute keine gemeinsame Währung haben. Wir würden immer noch über die Gestaltung einer politischen Union diskutieren. Deswegen haben wir beim Euro denselben Weg eingeschlagen, wie er bereits nach dem Scheitern der Europäischen Verteidigungsgemeinschaft 1954 im französi: erst schen Parlament eingeschlagen wurde einmal zu beginnen mit dem, was möglich ist, und dann Schritt für Schritt weiterzugehen. Bei der Vertiefung der Integration Europas, die ich so sehr wie Hans-Werner Sinn will, sollten wir die bewährte europäische Methode fortführen, Kerne der Zusammenarbeit in der Europäischen Union zu bilden und kleinere, besonders kooperationsbereite Gruppen von Mitgliedstaaten vorangehen zu lassen. Das war der Vorschlag von Karl Lamers und mir 1994 in unserem Kerneuropa-Papier. »Verschiedene Geschwindigkeiten« oder eine »variable Geometrie«, mit offenen Türen für die übrigen Mitgliedstaaten, haben wir längst in vielen Be reichen – ob im Schengen-Raum oder bei der Arbeit an der Finanztransaktionssteuer. Vor allem der Euroraum bildet eine Art Kern europa und zieht immer wieder weitere EUMitglieder an – zuletzt Litauen. 217 Prominente Gäste und volles Haus bei der Festveranstaltung zum 50-jährigen Jubiläum des ifo Instituts im Juni 1999. ( von links nach rechts ) Der Chef der BMW Stiftung Herbert Quandt, Michael Schaefer, der französische Ministerpräsident Manuel Valls und HWS beim Munich Economic Summit 2015. Jean-Claude Trichet und der ehemalige Bundesfinanzminister Theo Waigel, offenbar zufrieden mit den Ausführungen des ifo-Präsidenten in der Jahres versammlung 2006. 218 Bundesbankpräsident Jens Weidmann, der Doyen der deutschen Geldpolitik Helmut Schlesinger und HWS bei der Festver anstaltung des Münchner Volkswirte Alumni-Clubs im Juni 2013. Jens Weidmann und HWS teilen sich das Pult auf der Festveranstaltung des Münchner Volkswirte Alumni-Clubs im Juni 2013. ( von links nach rechts ) HWS, Dietrich Murswiek, O tmar Issing, Brun-Hagen Hennerkes und Marc Beise diskutieren in der ifo Jahresversammlung 2013. 219 Euro, April 2010 9 DIE MIGRATIONSWELLE: Hans-Werner Sinn und die Zuwanderungsdebatte Panu Poutvaara EINLEITUNG Die Migrationswelle: Hans-Werner Sinn und die Zuwanderungsdebatte Die Migrationswelle Panu Poutvaara leitet das ifo Zentrum für Internationalen Institutionenvergleich und Migrationsforschung und ist Professor für Volkswirtschaftslehre an der Ludwig-Maximilians-Universität München. Seine Forschungsschwerpunkte sind internationale Migration, Politische Ökonomie und Finanzwissenshaft. 222 Um Hans-Werner Sinns Beiträge zur Einwanderungsdebatte zu verstehen, muss man zuerst seine Sichtweise des Sozialstaats verstehen. Private Versicherungen können Individuen nicht gegen Risiken versichern, die sich aus dem Fehlen angeborener Fähigkeiten oder schulischen Erfolgs ergeben. Denn Versicherungen können nur mit Erwachsenen Verträge abschließen. Bei Erwachsenen aber besteht ein großer Teil der Unsicherheit bezüglich ihres Verdienstpotenzials nicht mehr, und sie kennen in der Regel ihre Begabungen. Eine private Versicherung wäre somit allein für die Per sonen attraktiv, die ein ungünstiges Ergebnis erwarten, während die, die mit einem hohen Einkommen rechnen, keine Versicherung abschließen werden, die eine Umverteilung zugunsten derjenigen mit niedrigeren Einkommen bedeuten würde. Bei einer Umverteilung durch Besteuerung besteht dieses Problem dagegen nicht. Daher sind Regierungen in der Lage, den fehlenden privaten Versicherungs- markt durch eine verpflichtende Besteuerung zu ersetzen. HWS wies darauf hin, dass die Möglichkeit der Migration auch das Problem der adversen Selektion mit sich bringt. Wenn die Personen mit hohen Einkommen und die mit niedrigen Einkommen frei wählen können, in welchem Land sie Steuern zahlen oder Sozialleistungen in Anspruch nehmen, stehen die einzelnen Staaten vor einem ähnlichen Problem, wie dies bei Versicherungen der Fall wäre, wenn die Versicherungsnehmer ihre Entscheidung zum Abschluss einer Versicherung noch dann treffen könnten, wenn sie wissen, ob ein Risiko besteht. Ein solcher Versicherungsmarkt würde zusammenbrechen. Obwohl Migration zwischen Ländern viel komplizierter ist als der Wechsel von einem Versicherer zum anderen, sind beim Wettbewerb zwischen Ländern ähnliche Kräfte am Werk. Der Wunsch, den Sozialstaat vor schädlichem Systemwettbewerb zwischen den Ländern zu be- überzeugenden Intuition. Wenn ein Argument logisch nicht korrekt war oder einen entscheidenden Aspekt der realen Welt außer Acht ließ, wies er umgehend darauf hin. Es ist nicht überraschend, dass viele seiner Postdoktoranden und Doktoranden später Professoren an Universitäten im In- und Ausland wurden. Auch meine späteren Aufenthalte am CES, zunächst als Postdoktorand und später als Professor an der Universität Helsinki, waren be reichernde Erfahrungen. Nachdem ich dem CESifo-Forschernetzwerk, das HWS gegründet hat, um den internationalen Austausch unter Ökonomen zu fördern, beigetreten war, stellten die jährlichen CESifo Area Conferences für mich eine hervorragende Plattform für bereichernde Diskussionen dar. Seit 2010 leite ich die Migrationsforschung am ifo Institut. Sowohl für mich als auch für meine Bereichs leiterkollegen waren die hohen Standards, die HWS am ifo Institut eingeführt hat, ein entscheidendes Motiv, an das ifo zu kommen und dort zu arbeiten. HWS hat sich wiederholt zum Thema Migra tion geäußert, insbesondere hinsichtlich der Osterweiterung der Europäischen Union. Es ist eine große Herausforderung für die europäischen Sozialstaaten, sich auf den wachsenden Migrationsstrom sowohl innerhalb Europas als auch aus armen Ländern einzustellen. Als mögliche Politikmaßnahme wird von HWS und anderen Ökonomen vorgeschlagen, Einwanderern allmählich den Zugang zum Umverteilungssystem ihres Ziellandes zu ermöglichen. Dies wird mit dem Begriff »verzögerte Integration« bezeichnet. Solch ein System wäre ein Mittelweg zwischen der Vermeidung von Systemwettbewerb und der sofortigen vollständigen Integra tion von Einwanderern. Es bleibt zu hoffen, dass HWS sich auch in seinem Ruhestand sowohl zu dieser als auch zu den vielen anderen Debatten, zu denen er beigetragen hat, äußern wird. Die Migrationswelle: Hans-Werner Sinn und die Zuwanderungsdebatte wahren, veranlasste HWS zu der Forderung, dass für Migranten weiterhin das Sozialsystem ihres Heimatlandes gelten sollte. Dieser Vorschlag ist umstritten; es gibt dagegen heftigen Widerstand mit dem Argument, dass bei diesem Ansatz Migranten im Vergleich zur einheimischen Be völkerung dauerhaft unterschiedlich behandelt werden würden. Aber man muss in Erinnerung rufen, wodurch der Vorschlag begründet ist : durch den Wunsch, es dem Sozialstaat zu ermöglichen, auch in Zeiten freier Migration den Benachteiligten Versicherungsschutz zu bieten. Migration stellt den Sozialstaat vor große Herausforderungen. Das bedeutet indessen nicht, dass die freie Mobilität der Arbeit nicht wünschenswert wäre. Im Gegenteil : Die vier Freiheiten – Freiheit des Verkehrs von Gütern, Dienstleistungen, Kapital und Arbeit – bringen große Handelsgewinne mit sich und ermög lichen eine effizientere Allokation von Kapital und Arbeit. Während Migration, die auf Produktivitätsunterschiede zurückzuführen ist, wohlfahrtssteigernd ist, führt Migration, die durch Unterschiede in der Besteuerung und in Transferleistungen veranlasst ist, zu einer in effizienten Allokation von Arbeit. HWS’ Vorschläge haben das Ziel, diese Ineffizienzen zu verringern und freie Migration und europäische Sozialstaaten miteinander zu vereinbaren. Gegen Ende meines Promotionsstudiums war ich von Dezember 2000 bis Ende März 2001 als Gast am CES. Mir gefiel die den intellektuellen Austausch fördernde Atmosphäre dort sehr gut, und ich erhielt von HWS wertvolle Ratschläge zu meiner Arbeit über die Auswirkungen der Einkommensumverteilung auf risikobehaftete Investitionen in Bildung und wie dies durch die Möglichkeit der Migration beeinflusst wird. In den wöchentlichen Lunchtime-Seminaren verband HWS’ Herangehensweise an verschiedene ökonomische Fragestellungen die vertiefte Analyse mit einer 223 Klaus F. Zimmermann MIGRATION: EMPIRISCHE EVIDENZ UND ÖKONOMISCHE RATIONALITÄT Die Migrationswelle Klaus F. Zimmermann ist Direktor des unabhängigen Forschungs instituts zur Zukunft der Arbeit (IZA) in Bonn, Professor für Wirtschaftliche Staatswissenschaften an der Universität Bonn sowie Honorarprofessor an der Freien Universität Berlin und der Renmin University of China in Beijing. 224 Der Professor mit dem Seemannsbart zieht einen persönlich in den Bann, er kümmert sich um jeden, der mit ihm diskutiert. Er ist ein besessener Ökonom mit festem Vertrauen in wirtschaftstheoretische Zusammenhänge, unerschütterlich davon überzeugt, dass die Welt besser wird, wenn sich ökonomische Erkenntnisse durchsetzen. Als Provokateur und Medienstar mit Instinkt für die großen Themen der Zeit hat er zahllose wirtschaftspolitische Debatten in Deutschland geprägt. Auch wenn er immer Recht behalten will und es nicht immer bekommen kann, erzwingt er in aller Regel die notwendige Debatte über die richtigen Fragen. Sinn denkt radikal, er geht also an die Wurzeln der Probleme, ist dabei aber weder parteipolitisch verortbar noch extrem. Er ist zutiefst menschlich, jemand, der sich wirklich sorgt und an seine Einsichten glaubt. So war Hans-Werner Sinn immer gewesen, er ist unverfälscht und verlässlich er selbst geblieben. Auf ihn traf ich zuerst im Sommer semester 1976 an der Universität Mannheim, also vor ziemlich genau 40 Jahren. Anlass war meine Seminararbeit über die Grundzüge des Keynesianismus beim Finanzwissenschaftler Hans Nachtkamp, zu dessen Assistenten Sinn gehörte. Später waren wir langjährige Assis tentenkollegen in der Fakultät mit gegenüber liegenden Büros der Universität. Danach über ein Jahrzehnt auch Professorenkollegen in der Universität München sowie Kollegen bei der Leitung zweier großer Wirtschaftsforschungsinstitute, er beim ifo Institut, ich beim Deutschen Institut für Wirtschaftsforschung (DIW). Demographie generell hat mich seit meiner Promotionsarbeit beschäftigt, Migration erst seit meiner Zeit an der Universität München. Zu Migrationsfragen kam Hans-Werner Sinn allerdings erst danach, in meiner Zeit als DIWPräsident, er in seiner Rolle als Präsident des ifo Instituts. Migration hat ihn insbesondere im europäischen Kontext interessiert, und mit dem Instinkt für das Populäre hat er für sich wieder. Dies ist problematisch, denn die europäische Idee der gemeinsamen prosperierenden wirtschaftlichen Entwicklung basiert auch auf der Hoffnung einer umfassenden Integra tion der Arbeitsmärkte und größerer Mobilität. Es ist also nicht das »Zu viel« an Migration, das Sorge bereiten sollte, sondern eher das »Zu wenig«. Tatsächlich wandern immer noch viel weniger Menschen in Europa, als einfache Wirtschaftsmodelle dies erwarten lassen würden. Auch global ist dazu die Bewertung nicht verschieden : 97 % aller Menschen weltweit leben heute in dem Land, in dem sie geboren wurden. Das war vor hundert Jahren auch nicht anders. Wir sind also, trotz aller Spekulationen auf ein kommendes Zeitalter der Migration, das künftig unsere demographischen und wirtschaftlichen Ungleichgewichte hinwegfegt, in diesem letzten historischen Zeitraum nicht offener geworden. Von vereinzelten Problemen in großen Städten, also in sozialen Brennpunkten, abgesehen, lassen sich in Europa keine Anzeichen einer relevanten Wohlfahrtsmigration wissenschaftlich belegen. So arbeiten beispielsweise heute viele Menschen aus den neuen Beitrittsstaaten Rumänien und Bulgarien bei uns, viele davon mit guten Qualifikationen, ohne dass gleich zeitig die Nutzung unseres Sozialstaates durch Migranten aus diesen Ländern bedenkenswert gestiegen wäre. Nichts hindert die Politik allerdings daran, mögliche Gesetzeslücken zu schließen, wenn sie eine Ausnutzung begüns tigen würden. Sozialstaatstourismus ist aber schon heute nicht möglich. Ich teile die Ansicht von Hans-Werner Sinn, dass künftig unser Arbeitsmarkt noch mehr durch Zuwanderung profitieren könnte und sich Deutschland dadurch leichter an die Sicherung der Renten herantasten würde. Dafür brauchen wir problemorientierte Debatten, und seine Stimme ist weiter gefragt. Die Migrationswelle: Hans-Werner Sinn und die Zuwanderungsdebatte das ökonomisch Rationale der Thematik gewählt, nicht das empirisch Gesicherte. Aspekte waren über die Jahre die Osterweiterung der Europäischen Union, die mögliche Wohlfahrts migration aus europäischen Mitgliedsländern und zuletzt die Nettobeiträge von Zuwanderern zum deutschen Wirtschafts- und Sozialsystem. Ohne empirische und institutionelle Details lassen sich die ökonomischen Ursachen und Konsequenzen von Migrationsentscheidungen scheinbar einfach abgreifen : Menschen wandern, wenn die Lohndifferenziale zwischen Sende- und Ursprungsland hoch sind. Sie kommen und bleiben, wenn so erhebliche Verbesserungen ihrer Lebensbedingungen zu erzielen sind. Die Öffnung der Grenzen zu Polen und anderen osteuropäischen Staaten war deshalb bei vielen mit der Erwartung eines Massenzuflusses verbunden. Auch Zuwanderung ohne Arbeit in die Sozialsysteme von Bürgern aus europäischen Staaten erscheint wegen des hohen wirtschaftlichen Nutzens angesichts großer Leistungsdifferenzen und Freizügigkeit ökonomisch plausibel, der Gedanke an »Wohlfahrtsmigration« nur konsequent. Selbst wenn die Nettoeinzahlungen in die sozialen Sicherungssysteme durch Migranten positiv sind, könnte die Nutzung öffentlicher Güter und staatlicher Leistungen diese Vorteile kompensieren. Hans-Werner Sinn hat sich zu diesen Themen frühzeitig als Warner und Mahner geäußert. Glücklicherweise zeigen empirische Studien, dass diese wirtschaftlichen Besorgnisse letztlich praktisch unbegründet sind. Die europäische Binnenmobilität am Arbeitsmarkt ist eher gering, auch wenn sich seit der Osterweiterung und der großen Wirtschaftsrezession eine Stärkung der Wanderungsbewegung ergeben hat. Es ist aber nicht zu Masseneinwanderungen gekommen, Arbeitskräfte verlassen uns auch 225 Giuseppe Bertola HANS-WERNER SINNS HERKUNFTSPRINZIP FÜR MIGRATION UND SOZIALSTAAT Die Migrationswelle Giuseppe Bertola hat VWL an der Princeton University, dem European University Institute, der Università di Torino und der EDHEC Business School gelehrt. Er ist CEPR und CESifo Research Fellow, hat zu vielen Themen publiziert und verschiedene nationale und internationale Institutionen be raten. 226 Öffentliche Sozialsysteme können Einkommens- und Gesundheitsrisiken dort absichern, wo private Versicherungsmärkte fehlen. Die Teilnahme an solchen Systemen muss verpflichtend sein. Dies ist aber bei lokaler Finanzierung in integrierten Volkswirtschaften nicht möglich, da erfolgreiche Individuen hohen Steuern ausweichen werden, während diejenigen, die weniger Glück haben, dorthin ziehen, wo Sozialleistungen höher sind. Migrationsentscheidungen sind effizient, wenn sie auf Produktivitätsunterschieden basieren. Sind sie allerdings Folge unterschiedlicher Steuern und Transferleistungen, lösen sie einen Kürzungswettlauf von Steuern und Transfers aus und führen bei im Wettbewerb stehenden Sozialsystemen zu einer ebenso ineffizienten fehlenden Absicherung wie unter Laissez-faire-Bedingungen. Wenn Auswahlmöglichkeit ein Problem ist, sollte sie beseitigt werden. Man könnte jedem Individuum unveränderbare Rechte und Pflich ten, ähnlich wie bei Familienzugehörigkeiten, zuschreiben. Ein »Herkunftsprinzip« könnte vorsehen, dass bedürftige Personen nicht durch die Gemeinschaft unterstützt werden, in der sie leben, sondern durch die, aus der sie stammen. Das war bis zur industriellen Revolution der Fall (und bis 2012 zumindest formal in der Schweiz, wo immer noch die »Ursprungskommune« jedes Bürgers aus dem 18. Jahrhundert festgehalten wird), als wirtschaftliche Integra tion durch Zölle und Abgaben an Brücken und Stadttoren stark eingeschränkt war. Das Herkunftsprinzip selbst könnte Arbeitsmobilität nur dadurch verringern, dass bedürftige Migranten auf die Unterstützung ihrer weit entfernten Verwandten und Mitbürger angewiesen wären und die risikoreiche Migration damit weniger attraktiv würde. Aus diesem Grund wurde die Industrialisierung moderner Volkswirtschaften durch den Aufbau nationaler Sozialstaaten stark gefördert. Die Entwicklung von Sozialsystemen, die die Urbanisierung von Sozialsystem einige Jahre verbunden blieben, bevor sie Zugang zu dem des Ziellandes be kämen. Dies ist eine kluge und strittige Lösung eines schwierigen Problems. Sie kann durch einfache finanzwissenschaftliche Argumente gerechtfertigt werden. Ebenso wie Investitionsentscheidungen unter investorspezifischen Steuersätzen sind auch Migrationsentscheidungen unverzerrt, solange Steuern und Sozialleistungen für eine Person über nationale Grenzen hinaus konstant bleiben. In der Praxis brächte die strikte Umsetzung des Herkunftsprinzips allerdings hohe Kosten und große administrative Probleme mit sich. Bedürftige Migranten müssten entweder zurück in ihr Herkunftsland reisen oder wären auf die Bereitschaft des Ziellandes angewiesen, Leistungen vorab auszuzahlen, die dann zudem vom Heimatland mangels nachprüfbarer und durchsetzbarer Regeln möglicherweise nicht zurückerstattet würden. HWS’ Herkunftsprinzip zielt darauf ab, einen Ausgleich zwischen Kosten und Nutzen von Migration unter den unvollständigen po litischen Rahmenbedingungen der EU herzustellen. Es kann sinnvoll verhindern, dass tatsächliche oder befürchtete Sozialmigration den Sozialstaat oder die Popularität wirtschaftlicher Integration erodiert. Kritiker können anmerken, dass Personen, die eine Beschäftigung statt Sozialleistungen suchen, bei verzögerter Integration ein nützliches Sicherheitsnetz für ihre riskanten Entscheidungen verlieren. Tatsächlich sind die meisten Migranten mehr als bereit, zur Wirtschaft und zum Sozialsystem des Ziellandes beizutragen. Ein übermäßiger Fokus auf Motive der Sozialmigration könnte die Öffentlichkeit und Politik von den Vorteilen ökonomischer Integration und von der Entwicklung einer angemessenen integrierten und vereinheitlichten Sozialpolitik ablenken. Die Migrationswelle: Hans-Werner Sinn und die Zuwanderungsdebatte Arbeitern ermöglicht und eine in Agrargesellschaften übliche Abhängigkeit von einer Ab sicherung durch Familien und Dorfgemeinschaften auflöst, dauert in China und anderen Schwellenländern noch an. In allen europäischen Ländern ist dieser Prozess allerdings lange abgeschlossen. Hans-Werner Sinn analysierte früh die Probleme, die sich aus dem Versuch der Europäischen Union ergeben, Märkte über die Grenzen nationaler Sozialstaaten hinaus zu integrieren. Wenn Sozialbeiträge und -leistungen nicht in geeigneter Weise angeglichen werden, z. B. durch die Entwicklung einer politischen Union und eines integrierten Sozialstaats oder zu mindest durch bindende supranationale Regeln, löst Migration, weg von Steuern hin zu Sozialleistungen, einen Kürzungswettlauf aus und führt zum »Tod des Sozialstaats«. Diese Aussicht ist nicht nur für Finanzwissenschaftler im Hinblick auf die Vorteile der sozialen Marktwirtschaft, sondern auch für alle europäischen Bürger, die wirtschaftliche Integration nicht akzeptieren, wenn sie zum Untergang ihrer Wohlfahrtsstaaten führt, unerträglich. Um diesem Problem zu begegnen, hat HWS herkunftsbezogene Sozialtransfers vor geschlagen. Natürlich werden Männer und Frauen über geographische und politische Grenzen hinweg Partner und Nachkommen haben, so dass, anders als bei der vorindustri ellen Geburtsrechtsregelung, Individuen nicht aufgrund ihrer Nationalität bestimmte Steuerpflichten und Leistungsansprüche haben sollten. Ursprünglich verwies HWS darauf, dass es theoretisch sinnvoll wäre, einen jungen Menschen vor die Wahl eines bestimmten Sozialsystems für sein ganzes Leben zu stellen. Später argumentierte er praktischer und mit Nachdruck für Regeln zur »verzögerten Integra tion«, wobei Migranten ihrem nationalen 227 Joachim Herrmann ASYLMISSBRAUCH STOPPEN – ZUWANDERUNG STEUERN ! Die Migrationswelle Joachim Herrmann gehört seit 1994 dem Bayerischen Landtag an. Seit Oktober 2007 ist er bayerischer Innen- und Bau-, seit Herbst 2013 auch Verkehrsminister. Von Oktober 1998 bis September 1999 war er Staatssekretär im Sozial ministerium und von 2003 bis 2007 Vorsitzender der CSU-Landtagsfraktion. 228 Als den »ökonomischen Seismograph der Republik« hat 2012 Mark Schieritz, Finanzkorrespondent der ZEIT , Hans-Werner Sinn bezeichnet, der mit seinen Publikationen »den Sound zu den wirtschaftspolitischen Megatrends der vergangenen 30 Jahre lieferte«. Ein solcher Megatrend ist aktuell die explosionsartig zunehmende Migration. Professor Sinn hat sich der Thematik vor allem über die ökonomische Fragestellung genähert, welcher wirtschaftliche Nutzen sich für Deutschland mit den unterschiedlichen Migrationsformen verbindet. Ein viel beachteter Debattenbeitrag kam im Kern zu dem Ergebnis, dass Deutschland schon zur Auffüllung seines demographischen Defizits massiv Zuwanderung benötige, allerdings die fiskalische Bilanz der Ausländerzuwanderung jedenfalls dann ins Negative drehe, wenn man auch die allgemeinen Staatsausgaben für Verteidigung, Infrastruktur, Polizei u. a. m. berücksichtige. In letzter Konsequenz bedürfe es eines Punktesystems, um die Zuwanderung von Drittstaatsangehörigen sinnvoll zu steuern. Auch wenn Professor Sinn damit erneut die gesellschaftspolitisch grundlegende Debatte um Zuwanderung bereichert hat, müssen aus der Sicht des Innenministers, der auch Verfassungsminister ist, zu der ökonomischen Betrachtung weitere Dimensionen von Chancen und Risiken der Zuwanderung hinzutreten. Mit der Zuwanderung sind vielfach menschliche Tragödien verbunden, die sich schon aus ethisch-moralischen Gründen einer Bewertung in »Euro und Cent« entziehen. Dem »Staat« stellen sich zwingend auch rechtliche sowie rechtspolitische Fragestellungen, die einer ökonomischen Betrachtung nur in begrenztem Maße zugänglich sind. Besonders augenfällig ist dies bei Asylbewerbern. Von Verfassung wegen ist für ihre Anerkennung allein das Vorliegen einer politischen Verfolgung maßgeblich. Ihre berufliche oder schulische Qualifikation ist nicht von Belang. Es ist Unternehmen und Arbeitsinteres senten durchaus zuzumuten, zunächst Angebot und Nachfrage zusammenzubringen, ehe der Staat einem Drittstaatler einen gesicherten Aufenthaltsstatus verschafft. Sehr wohl diskutieren kann man aber, ob etwa die Bundes agentur für Arbeit sowie die Außenhandelskammern ihren Service verbessern können, etwa durch die Einrichtung von Jobbörsen in für die deutsche Wirtschaft besonders interessante Drittstaaten. Mit Blick auf die Zuwanderung von Fachkräften aus Drittstaaten hat der deutsche Gesetzgeber schon 2012 die Europäische Hochqualifiziertenrichtlinie umgesetzt. Die damit verbundene Blaue Karte EU erlaubt die Zuwanderung von Hochschulabsolventen mit einem Bruttoarbeitslohn von mindestens 47 600 Euro bzw. in Mangelberufen von ca. 37 128 Euro ohne Vorrangprüfung für den deutschen Arbeitsmarkt. Anders als von der Wirtschaft immer wieder gefordert, sollten die Mindest entgeltgrenzen nicht abgesenkt werden, sonst könnten die Einstiegsgehälter der in Deutschland bestens ausgebildeten Jungakademiker oder Fachkräfte unter Druck geraten. Insgesamt gesehen stimme ich mit Professor Sinn – trotz aller Unterschiede unserer Positionen im Detail – uneingeschränkt überein, dass eine wirksame Steuerung der Zuwanderung aus Erwerbsgründen notwendig ist. Auch wenn Herr Professor Sinn nun aus dem aktiven Erwerbsleben ausscheidet, würde es mich sehr wundern, wenn er sich nicht auch in Zukunft mit seiner Erfahrung, die er über die Jahrzehnte als »ökonomischer Seismograph der Republik« gesammelt hat, zu Wort melden würde. Und das wäre gut so. Denn unsere politische Debattenkultur und das gesellschaftspolitische Meinungsbild wären ohne die Beiträge von Professor Sinn eindeutig ärmer. Die Migrationswelle: Hans-Werner Sinn und die Zuwanderungsdebatte Spielraum für ökonomische Überlegungen ergibt sich allerdings bei flankierenden Gesichtspunkten des Asylverfahrens. Grundsätzlich kön n en Asylbewerber, die sich mindestens drei Monate im Land befinden oder deren Antrag bereits anerkannt ist, dem Arbeitsmarkt zur Verfügung stehen und einen Beitrag zu ihrem eigenen Lebensunterhalt und zur wirtschaftlichen Wertschöpfung des Aufnahmelandes leisten. Um aber nicht durch großzügige Beschäftigungsmöglichkeiten weitere Anreize für asylfremde illegale Migration nach Deutschland zu setzen, hat die Staatsregierung angeordnet, dass Asyl bewerbern aus sicheren Herkunftsstaaten oder wenn ihr Asylantrag als offensichtlich unbegründet abgelehnt worden ist, grundsätzlich keine Beschäftigungserlaubnis erteilt werden darf. Ein abgelehnter Asylbewerber hat Deutschland umgehend zu verlassen. Das ergibt sich nicht nur aus ordnungspolitischen Erfordernissen, sondern auch aus der Notwendigkeit, staatliche Ressourcen für die Unterbringung und Betreuung der tatsächlich politisch Verfolgten zu nutzen. Davon zu trennen ist die arbeitsmarktbezogene Zuwanderung. Hier muss Deutschland zuallererst um EU-Bürger werben. Sie genießen Arbeitnehmerfreizügigkeit und haben damit das Recht, eine Erwerbstätigkeit aufzunehmen. Da diese Menschen aus dem europäischen Kulturkreis kommen, fällt zudem ihre Integration leichter. Ich stimme Professor Sinn zu, dass die Zuwanderung von Drittstaatsangehörigen aus Erwerbsgründen sinnvoll gesteuert werden muss. Skeptisch sehe ich aber die Idee eines Punktesystems. Denn es konterkariert das Prinzip, dass ein Zuzug nur mit einem konkreten Job angebot in Betracht kommt. Da nicht jeder den Anforderungen unseres dynamischen Arbeitsmarktes entsprechen wird, ist die Gefahr groß, dass er über kurz oder lang auf staatliche So zialleistungen angewiesen ist. 229 Otto Schily »WIR SIND AM BEGINN EINER NEUEN MIGRATIONSWELLE.« – HANS-WERNER SINN IM DEZEMBER 2013 Die Migrationswelle Otto Schily war von 1998 bis 2005 deutscher Bundesminister des Innern. Er war Mitbegründer der Partei Die Grünen und wechselte 1989 zur SPD. 2001 wurde er mit dem Bayerischen Verdienstorden und 2004 mit dem Großen Bundesverdienstkreuz ausgezeichnet. Heute leitet Schily eine Anwaltskanzlei in Berlin. 230 Die Voraussage von Hans-Werner Sinn hat sich bewahrheitet. Nach jüngsten Prognosen steigt im Jahr 2015 die Zahl der Asylbewerber auf über 800 000. Auch die Warnung von HansWerner Sinn, dass die Ausgestaltung unserer Sozialsysteme einen starken Anreiz für Armutsflüchtlinge bildet, nach Deutschland zu kommen, hat sich als berechtigt erwiesen. Die Ausgabenbelastungen für Kommunen und Länder durch Zuzug von Asylbewerbern werden inzwischen auf 10 Mrd. Euro geschätzt. »Angesichts dieser Verhältnisse sollte nun endlich eine ideologiefreie und nicht vom Streben nach politischer Korrektheit getriebene De batte über die Migrationspolitik beginnen«, fordert Hans-Werner Sinn. Diese Forderung ist aktueller denn je. Hans-Werner Sinn versteht sich als Ökonom, der Sachverhalte wissenschaftlich analysiert, aber nicht für die eine oder andere politische Position agitiert. Für die Politik sind seine Einschätzungen aber hilfreich, weil sie die Beurteilung der Probleme er- leichtern und damit zugleich den Rahmen der Handlungsmöglichkeiten erkennen lassen. Die Ursachen für Wanderungsbewegungen sind bekanntlich sehr heterogen. In vielen Ländern in mehr oder weniger unmittelbarer Nachbarschaft Europas herrschen katastrophale Zustände, in dem von einem blutigen Bürgerkrieg verwüsteten Syrien, in Afghanistan, in Libyen, im Irak, in Eritrea und anderen Gebieten Afrikas. Viele Menschen suchen verständ licherweise, diesen Zuständen zu entfliehen, und riskieren sogar ihr Leben, um über das Mittelmeer nach Europa zu gelangen. Nur eine sehr geringe Zahl der Migranten hat nach Art. 16 a GG Anspruch auf Asyl, das nur zum Schutz vor politischer Verfolgung im Heimatland gewährt wird. Jedoch erhalten immerhin nahezu ein Drittel der Asylbewerber einen Schutzstatus unter Befolgung der Genfer Flüchtlingskonvention nach den Vorschriften des unter der rot-grünen Bundesregierung modernisierten Aufenthaltsrechts. Das Migrationsthema hat inzwischen Dimensionen angenommen, die es außerdem dringend geboten erscheinen lassen, die Zuständigkeiten neu zu ordnen. Die Schaffung eines eigenständigen Ministeriums auf Bundesebene, die Kostenentlastung der Kommunen und die Erweiterung der Möglichkeiten privater Initiativen könnten dazu beitragen, dass situationsangepasster agiert werden kann und die Lage sich etwas entspannt. Mit einer ideologisch aufgeladenen Debatte ist jedenfalls niemandem geholfen. Ob Mig ration Bereicherung oder Belastung ist, entscheidet sich im Einzelfall. Nicht selten ist Migration beides, Bereicherung und Belastung zugleich. Historisch war Deutschland stets Einwanderungsland in unterschiedlichen Größenordnungen und wird es auch in Zukunft sein. Wir können froh sein, dass die deutsche Gesellschaft nach Umfragen die Aufnahme von Flüchtlingen positiv bewertet. Damit das so bleibt, sollten wir aber da Grenzen für Einwanderung setzen, wo es geboten erscheint, beispielsweise bei der Einwanderung aus den Balkanstaaten. Viel wird schließlich davon abhängen, ob wir uns in der Europäischen Union auf eine vernünftige und solidarische Zusammenarbeit in Flüchtlings- und Einwanderungsfragen einigen können. Auch insoweit wird es darauf ankommen, eine agierende und nicht nur reagierende Politik entwickeln. Es ist richtig, Flüchtlinge aus Seenot zu retten. Richtiger wäre es, EU-Einrichtungen in Nordafrika zu schaffen, die es den Flüchtlingen gestatten, die Einreise in ein europäisches Land zu beantragen, ohne dass sie sich zuvor auf einem Schleuserboot in Lebensgefahr bringen. Sicherlich würden solche Einrichtungen die Probleme nicht vollständig lösen, aber vermutlich wenigstens mildern. Die Migrationswelle: Hans-Werner Sinn und die Zuwanderungsdebatte Inzwischen hat sich aber das Asylverfahren de facto zu einem Einwanderungsverfahren entwickelt. Das Asylverfahren in seiner aktuellen Praxis ist daher ein zusätzlicher Anreiz für Armutswanderung, in erhöhtem Maße aus den Balkanländern. Dieser Anreiz wird noch verstärkt, wenn neuerdings gefordert wird, Asylbewerber in die deutsche Gesellschaft zu in tegrieren. Die Integration eines Asylbewerbers kann jedoch erst mit einer positiven Asylentscheidung beginnen, sonst wird die Asylprüfung eigentlich überflüssig, weil sich allein im Lauf des langen Asylverfahrens der Aufenthaltsstatus des Asylbewerbers so verfestigt, dass eine spätere Beendigung seines Aufenthaltes nicht mehr möglich und in vielen Fällen auch nicht vertretbar ist. Diese Misere ist freilich nicht zuletzt auch darauf zurückzuführen, dass das deutsche Aufenthaltsrecht noch zu starr und unflexibel ist. Die Hürden, sich in Deutschland um ein Aufenthaltsrecht und einen Arbeits- oder Ausbildungsplatz zu bemühen, sind viel zu hoch, und die Möglichkeiten, die den Behörden erlauben, zu situationsgerechten flexiblen Entscheidungen zu gelangen, sind zu begrenzt. Es sollte beispiels weise zulässig sein, dass die Behörden Bürgerkriegsflüchtlingen, die nicht selten über beacht liche fachliche Qualifikationen verfügen, ohne langwierige Prüfungen einen gesicherten Aufenthaltsstatus als »Einwanderer« gewähren. Das ist in unserem ökonomischen Interesse, aber entspricht auch humanitären Grundsätzen. Wir müssen sowieso von einer passiven zu einer ak tiven Migrations- und Flüchtlingspolitik gelangen. Die Einführung eines Punktesystems nach kanadischem Vorbild, das die Einwanderung qualifizierter Menschen erleichtert, sollte wieder auf die politische Tagesordnung gesetzt werden. Wir brauchen ohnehin ein »Zwei-Türen-System«, das es erlaubt, von einem Asylantrag zu einem »Einwanderungs«-Antrag überzugehen. 231 Silke Übelmesser DIE RICHTIGEN? ! Die Migrationswelle Silke Übelmesser hat den Lehrstuhl für Finanzwissenschaft an der Universität Jena inne und ist Forschungsprofessorin am ifo Institut. Sie studierte Volkswirtschaftslehre in München, wo sie auch promovierte und habilitierte. Sie beschäftigt sich vor allem mit Bildungs-, Migrations- und Sozialpolitik. 232 Deutschland ist Weltmeister – im Fußball und anderswo. Insbesondere ist Deutschland das Land mit der weltweit niedrigsten Geburten rate. In den letzten fünf Jahren erblickten so wenige Kinder in Deutschland die Welt wie nirgendwo sonst. Deutschland ist aber auch Weltmeister bei den Zuwanderern. Über 1,2 Mio. Menschen kamen 2014 nach Deutschland und somit etwa 0,5 Mio. mehr, als im gleichen Jahr Deutschland den Rücken kehrten. Für ein Land mit einer alternden Bevölkerung, in dem die Sterberate die Geburtenrate seit Jahren übersteigt, sind das gute Nachrichten. Im Jahr 2035, wenn die Babyboomer im Rentenalter sind, werden selbst bei einer jähr lichen Nettozuwanderung von 200 000 Menschen deutlich weniger Erwerbstätige deutlich mehr Rentnern gegenüberstehen, als dies heute der Fall ist. Für die wirtschaftliche Dynamik sind das keine guten Aussichten, denn es sind immer noch die Jüngeren, bei aller wertvollen Erfahrung der Älteren, die durch ihre Innova- tionen und ihre unternehmerischen Aktivi täten für Wachstumsimpulse sorgen. Und dieses Wachstum ist notwendig, um die steigenden Lasten der sozialen Sicherungssysteme zu schultern. Die Politik ist hier gefragt, auch wenn zum Gegensteuern nicht mehr viel Zeit bleibt. Mehr (lebenslange) Bildung, eine höhere Erwerbs tätigkeit von Frauen und damit verbunden eine effektive Familienpolitik, die insbesondere die Vereinbarkeit von Familie und Beruf fördert, können helfen. Aber das wird nicht ausreichen. Zuwanderung der »Richtigen« kann hier einen wichtigen zusätzlichen Beitrag leisten. Zurzeit hat Deutschland hier Glück : Es ziehen momen tan nicht nur viele Menschen nach Deutschland. Diese verfügen außerdem im Schnitt über hohe Bildungsabschlüsse und berufliche Qualifikationen – auch im Vergleich mit der einheimischen Bevölkerung. Von Glück muss man hier sprechen, da ca. 60 % der Zuwanderer aus anderen EU-Ländern auch daran, wohin andere Menschen aus ihrem Heimatland gezogen sind. Eine größere Gemeinschaft von Landsleuten erleichtert die Orientierung. Deutschland hat hier die Chance, die Zuwanderung der »Richtigen« zu verstetigen und auch längerfristig als attraktives Zielland wahrgenommen zu werden. Dazu ist aber neben allgemeineren politischen Aktivitäten auch ein Umdenken in der Migrationspolitik nötig : Nicht so sehr auf dem Papier, denn da hat sich Deutschland in den letzten Jahren laut OECD zu einem der Länder mit dem liberalsten Zuwanderungssystem entwickelt. Wichtig ist vielmehr, dass dies auch so gelebt und empfunden wird, und zwar sowohl bei denen, die da sind, als auch bei denen, die darüber nachdenken zu kommen. Attraktiv und beliebt zu sein, ist letztendlich auch eine Voraussetzung für ein Land, um innerhalb des rechtlichen Rahmens die »Richtigen« auswählen zu können. Ein wichtiger Grund für Hans-Werner Sinns fundierte Analysen der Zuwanderung mit all ihren Chancen und Herausforderungen für Deutschland ist sicherlich – neben seiner wissenschaftlichen Expertise und seinem Gespür für wichtige wirtschaftspolitische Fragestellungen –, dass er selbst ein Zuwanderer ist. Von Geburt Westfale, lebt er seit 1984 in Bayern. Er ist sozusagen ein »Zuagroaster«, der erst durch Heirat mit einer Bayerin zum Bayer wurde (siehe Artikel 6 der Verfassung des Freistaates Bayern). Nicht nur – aber auch – wegen seiner ernsthaft betriebenen Integrationsanstrengungen, die sich unter anderem in seiner Vorliebe für bayerische Volksmusik und bayerische Tracht äußern, kann man über Hans-Werner Sinn mit voller Überzeugung sagen : Für Bayern und München war seine Zuwanderung ein Glück. Er ist ein Musterzuwanderer und ohne Frage der Richtige ! Die Migrationswelle: Hans-Werner Sinn und die Zuwanderungsdebatte nach Deutschland kommen. Die EU-Prinzipien der Freizügigkeit und der Nicht-Diskriminierung erschweren es Deutschland bei diesen Zuwanderern, regulierend einzugreifen. Wer kommen möchte, darf auch kommen, wenn es sich um Arbeitnehmer und Selbständige handelt. Für alle anderen Zuwanderer aus der EU gilt dies mit ein paar Einschränkungen. Aber wer möchte denn kommen ? Hans-Werner Sinn hat sich schon vor 15 Jahren mit diesem Thema beschäftigt, als es um die Osterweiterung der EU ging. Er hat insbesondere auf die großen wirtschaftlichen Unterschiede der Beitrittsländer im Vergleich zu den EU-Ländern hingewiesen und die großen Wanderanreize, die sich daraus ergeben, betont. Aus ökonomischer Sicht ist Wanderung etwas sehr Positives, wenn die Migranten dorthin gehen, wo ihr Bruttoeinkommen und entsprechend ihre Produktivität am höchsten sind. Denn dort erwirtschaften die Zuwanderer am meisten verglichen mit anderen Ländern. Der Kuchen wird insgesamt am größten und somit auch die Grundlage für Besteuerung und Umverteilung innerhalb eines Landes und über Landesgrenzen hinweg. Aber die Zuwanderer orientieren sich nicht am Bruttoeinkommen. Menschen wandern dorthin, wo sie ein besseres Leben führen können. Dazu trägt ein höheres verfügbares Nettoeinkommen bei. Die Steuern, die zu zahlen sind, sind also von Bedeutung, aber auch die wohlfahrtsstaatlichen Leistungen, auf die Anspruch besteht. Andere Aspekte wie das kulturelle Umfeld, die Bildungs- und Sozialpolitik und vieles andere, was man heute auch gerne mit »Willkommenskultur« beschreibt, spielen ebenfalls eine Rolle. All dies beeinflusst die Anreize der Zuwanderer und ist nur schwer und wenn, dann nur indirekt, wirtschaftspolitisch zu steuern. Zuwanderer orientieren sich aber 233 Martin Werding SPIEL OHNE GRENZEN: DIE FREIZÜGIGKEITSDEBATTE Die Migrationswelle Martin Werding ist seit 2008 Professor für Sozialpolitik und öffentliche Finanzen an der RuhrUniversität Bochum. Zuvor leitete er ab 2000 den ifo-Forschungs bereich »Sozialpolitik und Arbeitsmärkte«. Seine akademische Ausbildung absolvierte er in München und Passau. 234 Migration ist wohl die älteste Strategie der Menschheit zur Anpassung an sich ändernde Rahmenbedingungen und Risiken. Zugleich führt sie immer wieder zu Konflikten, die in der Gegenwart allerdings zivilisierter ausgetragen werden als früher und andere Gegenstände haben, die einer rationalen Analyse besser zugänglich sind. Trotzdem ist Migration in ihren vielen Formen bis heute politisch und gesellschaftlich ein schwieriges Thema. Wer sich öffentlich dazu äußert, erfährt rasch unerwartete Kritik und erhält auch unerbetenen Beifall. Eines der ersten Forschungsprojekte, dessen sich Hans-Werner Sinn als ifo-Präsident persönlich annahm, war dem Thema EU-Ost erweiterung und Arbeitnehmerfreizügigkeit gewidmet. Auftraggeber war die Bundesregierung, man schrieb das Jahr 2000. Während auf EU-Ebene die Verhandlungen mit bis zu zwölf Beitrittsstaaten anliefen, sollte abgeschätzt werden, wie groß das Migrationspotenzial in diesen Ländern war – mangels passender Prä- zedenzfälle eine kaum lösbare Aufgabe. Außerdem sollte diskutiert werden, welche Auswirkungen auf Arbeitsmärkte und öffentliche Haushalte sich ergeben würden und ob aus deutscher Sicht eine Übergangszeit bis zur Freizügigkeit nach dem Muster der Süderweiterung hilfreich oder sogar nötig sein könnte. Politik und Öffentlichkeit waren seinerzeit skeptisch gegenüber einer Zuwanderung von Arbeitskräften. Zuvor war die Arbeitslosigkeit 30 Jahre lang tendenziell immer weiter gestiegen – ein Trend, der sich erst ab 2005 wieder umkehrte. Die deutschen Arbeitsmärkte galten als hoch reguliert, wenig flexibel und daher kaum geeignet, eine größere Migrationswelle aufzunehmen, ohne weitere, bereits ansässige Arbeitskräfte aus ihren Jobs zu verdrängen. Dass die Arbeitsmarktakteure gerade dabei waren, eine kaum vorausgeahnte »interne« Flexibilität zu entwickeln, trat erst in der Krise 2008/2009 hervor. Auch ein Umdenken in Migrationsfragen bahnte sich erst langsam an : sender Druck durch Migration auf die Sozialkassen zwar bisher nicht, nicht zuletzt weil dem bereits einige rechtliche Regelungen entgegenstehen. Wer wie Sinn den Sozialstaat vor Erosionskräften der Globalisierung schützen will, sollte diese Frage aber im Auge behalten. Rückblickend kann man sagen, dass Deutschland die Übergangsfristen bis zur vollen Freizügigkeit vielleicht wirklich brauchte und seine Arbeitsmärkte durch gezielte Reformen dann deutlich flexibilisiert hat. Es hätte die Freizügigkeit aber schon 2007 einführen können, als der »Polish plumber« in London bereits zum Inbegriff eines gut ausgebildeten, fleißigen Handwerkers geworden war, und nicht erst 2011. Vorteile aus der Migration wurden damit verspielt, während im Gegenzug auf Großbritannien nach seiner sofortigen Arbeitsmarktöffnung möglicherweise mehr Zuwanderung entfiel, als das Land verkraften konnte – nicht ökonomisch, aber politisch. Vorab wurde dort nur mit um die 10 000 zusätzlichen Zuwanderern pro Jahr gerechnet, in der Realität wurden daraus phasenweise bis zu 500 000. Recht behalten hat das ifo Institut im Rückblick nämlich auch mit seinen Migrationsschätzungen. Über sie wurde in der deutschen Ökonomie damals eine Art Methodenstreit geführt. Beim mit enormen Unsicherheiten behafteten Versuch, aus der EU-Süderweiterung Rückschlüsse auf die Ost-West-Migration zu ziehen, wichen die ifo-Forscher vom Lehrbuchstandard ab. Rechnet man ihre Zahlen für Deutschland aus damaliger Sicht auf die ganze EU 15 um und berücksichtigt dann, welche Grenzen anschließend rasch geöffnet wurden und welche nicht, passen Gesamtzahlen und umgelenkte Ströme in einzelne Länder aber gut zu den ifo-Schätzwerten. Die Migrationswelle: Hans-Werner Sinn und die Zuwanderungsdebatte Die »Süssmuth-Kommission«, die in ihrem Abschlussbericht feststellte, dass Deutschland längst ein Zuwanderungsland war und daher sein Einwanderungsrecht modernisieren sollte, um zu einem attraktiven Zielland zu werden, beendete ihre Arbeit erst 2001. In seiner Abschätzung des Migrationspotenzials gelangte das ifo Institut zu Zahlen, die im Vergleich zu anderen Schätzungen im Auftrag der EU als hoch erschienen. Trotzdem zeigte Sinn, dass freie Wanderungen grundsätzlich Teil einer optimalen Transformationsstrategie sowohl für Ost- als auch für Westeuropa sein könnten. Er plädierte dafür, Übergangsfristen – wenn überhaupt – so kurz wie möglich zu setzen und sie zu nutzen, um die deutschen Arbeitsmärkte anpassungsfähiger zu machen. Die Politik hörte alle diese Botschaften nicht gern. Sie blieb auf ihrem vorgezeichneten Kurs, handelte möglichst lange Übergangsfristen aus und schöpfte sie bis zum letzten Tag aus. Mögliche Probleme sah das ifo Institut bei den Wirkungen freier Wanderung auf die öffentlichen Haushalte, wegen der Gefahr, dass umverteilende Sozialleistungen eines Landes wie Deutschland auf einen unbestimmten Personenkreis ausgedehnt werden, so dass das System überfordert wird oder abgebaut werden muss. Hans-Werner Sinn plädierte daher öffentlich dafür, die soziale Sicherung für eine Übergangszeit nach dem »Heimatlandprinzip« zu gestalten – als weitaus milderes Mittel im Vergleich dazu, Migration komplett zu unterbinden. Ein solcher Umbau des Europarechts erschien damals nicht als verhandelbar. Sinn wiederholte diese Empfehlung später mit Nachdruck, als sich die EU daran machte, auch die Freizügigkeitsrechte für Nichterwerbstätige zu erweitern, bei denen dieses Risiko noch viel größer ist. Empirisch bestätigt sich ein wach- 235 Holger Bonin »SO WIE DIE ZUWANDERUNG LÄUFT, LÄUFT SIE FALSCH.« Die Migrationswelle Holger Bonin leitet die Arbeitsmarktabteilung am Zentrum für Europäische Wirtschaftsforschung (ZEW) in Mannheim und lehrt Arbeitsmarkt- und Sozialpolitik an der Universität Kassel. Zu seinen Hauptarbeitsgebieten zählen die Fachkräftesicherung und der demographische Wandel. 236 Deutschland im Spätherbst 2014 – die Asyl suchendenzahlen steigen, die Kommunen ächzen unter den Lasten der Aufnahme von immer mehr Flüchtlingen, und in Dresden gehen fremdenfeindliche Pegida-Anhänger auf die Straße. In diesem Klima fällt eine Nachricht auf fruchtbaren Boden. In einer vom Verfasser im Auftrag der Bertelsmann-Stiftung erstellten Studie steht, dass die bei uns lebenden Menschen mit ausländischer Staatsbürgerschaft im Jahr 2012 im Durchschnitt pro Kopf 3300 Euro mehr an Steuern und Sozialbeiträgen zahlten, als sie persönlich an Sozialtransfers in Anspruch nahmen. Die positive Zahl verbreitet sich wie ein Lauffeuer durch die Medien, und bald dient sie in öffentlichen Debatten um Migration als Beleg dafür, dass Zuwanderung die deutschen Staatsfinanzen entlastet. Die zum Teil fehlgehende öffentliche Rezeption der Studie ruft Hans-Werner Sinn auf den Plan. Er hat am ifo schon vor gut zehn Jahren eigene Rechnungen zu den fiskalischen Beiträ- gen von Zuwanderern angestellt und erkannt : Die scheinbare Entlastung des Staatsbudgets kommt zustande, weil die nun überall zitierte Steuer-Transfer-Bilanz die Kosten für die allgemeinen Staatsausgaben nicht enthält. In einem Gastbeitrag für die Frankfurter Allgemeine Zeitung stellt er klar, dass sich bei Berücksichtigung sämtlicher staatlicher Aktivitäten für die Ausländer eine Negativbilanz ergeben muss. Dieses Minus für den Staat ist eine mit den deutlichen Defiziten bei der ökonomischen Integration verbundene Tatsache, auf die auch die Bertelsmann-Studie deutlich hinweist. Damit lässt sich der Artikel auch als Kritik an Medien lesen, die wissenschaftliche Befunde durch mangelnde Differenzierung entstellen und so dem Misstrauen der Bürger gegenüber journalistischer Arbeit Nahrung geben. Außerdem bedient Sinn diejenigen, die sich angesichts der breiter werdenden Migrationsströme Sorgen machen, mit einem seiner prägnanten Merksätze : »So wie die Zuwanderung Die ökonomisch fundierten Argumente heben Sinns Beiträge aus der oft durch Emotionen und Ressentiments geprägten Migrationsdebatte heraus. Obwohl Sinn in der Diskussion um die fiskalischen Effekte der Zuwanderung auch als Person ungewöhnlich scharf angegriffen wird, vermeidet er durch äußerst fairen Umgang mit der Bertelsmann-Studie und ihrem Verfasser auch diesmal jede Unsachlichkeit. Vielmehr bleibt er – und das ist typisch für Hans-Werner Sinn – strikt bei der Theorie und versucht, sein auf der Clubgüter-Theorie basierendes Argument, dass jedem hinzukommenden Ausländer der durchschnittliche Aufwand für die öffentliche Infrastruktur zuzurechnen ist, selbst wenn der Staat kurzfristig gar nicht mehr dafür ausgibt, auch für Laien verständlich zu machen. Allerdings kommt auch Sinn dabei nicht um Vereinfachungen herum. So sagt er nichts da zu, ob die deutsche Infrastruktur überhaupt die optimale Betriebsgröße hat, was der Fall sein muss, damit das von ihm ins Feld geführte Theorem gilt. Vor allem aber vermeidet er Hin weise auf Daten, die dafür sprechen könnten, dass die Zuwanderung nach Deutschland zuletzt doch gar nicht so falsch gelaufen ist. Die zuletzt stark verbesserte Qualifikation von Neu zuwanderern und die hohen Beschäftigungsraten osteuropäischer Zuwanderer etwa passen nicht gut zu seiner migrationspolitischen Botschaft. Vielleicht ist Hans-Werner Sinn, wie viele exzellente Theoretiker, Skeptiker und misstraut guten Anzeichen. Mit Sicherheit aber weiß er, dass man die Öffentlichkeit am besten durch eindeutige Aussagen gewinnt. Die Migrationswelle: Hans-Werner Sinn und die Zuwanderungsdebatte derzeit läuft, läuft sie falsch.« Damit heizt er die hitzig geführte Diskussion um die richtige Regulierung der Zuwanderung und um ein Zuwanderungsgesetz noch einmal an – und wird dafür von Teilen der Medien und der Öffentlichkeit in diffamierender Weise weit an den rechten Rand des politischen Meinungsspektrums gerückt. Dabei spielt Sinn auch jetzt nur seine lange gefundene Rolle des migrationspolitischen Mahners, der die ökonomischen Vorteile grenzüberschreitender Mobilität selbstverständlich kennt, aber auch die möglichen unerwünschten Begleiterscheinungen sieht und darum vor ungesteuerter Zuwanderung warnt. Sinns migrationspolitische Überzeugungen gründen sich auf eigene Untersuchungen zu den Folgen der Erweiterung des gemeinsamen Arbeitsmarkts nach dem EU-Beitritt der durch niedrige Löhne und soziale Sicherungsniveaus geprägten osteuropäischen Staaten. Seine Studien zeigen, wie durch Arbeitnehmerfreizügigkeit bei starren Arbeitsmärkten Beschäftigung und soziale Absicherung von Geringqualifizierten unter Druck geraten können und dass Länder wie Deutschland, die über das Staatsbudget eher stark umverteilen, Gefahr laufen, mehr und geringer qualifizierte Migranten anzuziehen, als es ökonomisch optimal wäre. Die von Sinn oft wiederholte Forderung, Migranten erst einmal nicht den vollen Zugang zu staatlichen Transfers zu geben, um Zuwanderung in Arbeitslosigkeit oder den Sozialstaat zu vermeiden, hat damit einen formal relativ einfachen, aber dennoch mächtigen theoretischen Kern. 237 Reiner Klingholz DEUTSCHLAND IST NICHT KANADA Die Migrationswelle Reiner Klingholz ist Chemiker und Molekularbiologe, forschte an der Uni Hamburg, war Wissenschaftsredakteur bei der ZEIT und Geschäftsführer des Magazins GEO. Seit 2003 ist er Direktor des Berlin-Instituts für Bevölkerung und Entwicklung, einer Denkfabrik für Fragen des demographischen Wandels. 238 Auf einer bilateralen Konferenz in Japan mit dem bezeichnenden Namen »Imploding Po pulations« ist mir einmal eine interessante Grafik begegnet. Ein japanischer Demograph zeigte eine Langfrist-Bevölkerungsprognose für sein Land : Nach einem steilen Aufstieg bis zur Jahrtausendwende sank die Kurve ab und endete im Jahr 3200 bei einem einzigen Japaner. Das Erstaunliche an der Präsentation war weniger die absurde Vorstellung von der kompletten Entleerung des Inselreiches, sondern dass kein einziger der (überwiegend japanischen) Zuhörer in schallendes Gelächter ausbrach. In diesem Moment habe ich begriffen, dass eine ganze Nation so überzeugt von der Nichtvermischung mit anderen Kulturen sein kann, dass sie lieber ihren eigenen Untergang plant, als eine Zuwanderung zu organisieren. Ein solches Szenario ist in Deutschland undenkbar. Auch Hans-Werner Sinn schreibt, dass angesichts der hiesigen demographischen Entwicklung Zuwanderung dringend notwen- dig sei : weil wir unsere Umlagesysteme finanzieren müssen, weil unsere Unternehmen Arbeitskräfte brauchen und weil wir uns lieber vermischen, als in einem Altersheim völkischer Identität auszusterben. Zuwanderung ist längst akzeptiert in Deutschland, vor allem weil die Unternehmen den volkswirtschaftlichen Bedarf klargemacht haben. Es gibt aber auch Zwischenrufe, wonach die Zuwanderung je nach Betrachtungsweise ein Kostenfaktor sei, dass ohnehin immer die Falschen kämen, dass Migranten ein Mittel für Lohndumping seien und dass wir die Zuwan derung gar nicht nach den Bedürfnissen des Landes ausrichteten. Hans-Werner Sinn hat deshalb vorgeschlagen (und wir vom Berlin-Institut ebenso), sich am Punktesystem der Kanadier zu orientieren und Zuwanderer nach deren Fähigkeiten und unserem Bedarf auszuwählen. Das ist eine gute Idee – zumindest für die beste aller Welten. Doch gibt es diese Welt leider nur in ökonomischen Theoriegebäuden. Kanada hat weils Regionen, aus denen viele Menschen aus verschiedensten Gründen nach Deutschland wollen. Und dafür auch Wege finden. Deutschland ist nicht Kanada. Deutschland hatte in der Vergangenheit selbst Probleme damit, seine Zuwanderung zu steuern, als es glaubte, dies tun zu können. So kamen die Gastarbeiter als nützliche Arbeitskräfte – bis der Strukturwandel ihnen die Jobs raubte. Was zuvor ein Auswahlkriterium war, eine geringe Qualifikation für die Arbeit unter Tage oder am Band von Opel, wurde nun zum Problem. Der Anwerbestopp in den Rezessions jahren nach 1973 verhinderte zwar, dass weitere Geringqualifizierte nach Deutschland kamen. Doch der aus sozialen Gründen erlaubte Familiennachzug senkte das mittlere Qualifikationsniveau der Neuankömmlinge weiter ab. Auch die letzte große Zuwanderungswelle nach dem Untergang des Kommunismus entzog sich einer Auswahl nach Qualifikation : In der Folge der Jugoslawienkriege kamen rund 350 000 Flüchtlinge aus dem kollabierten Vielvölkerstaat. Zusätzlich machten sich fast 2 Millionen Spätaussiedler aus dem einstigen Ostblock auf nach Deutschland. Für sie war die Abstammung, nicht die Ausbildung das Willkommenskriterium. Eine Steuerung der Zuwanderung ist also gar nicht so leicht. Und sie dürfte auch in Zukunft nicht einfacher werden, zumal die Zahl der Krisen im Nahen Osten und in Afrika derzeit genauso wächst wie die dortige Bevölkerung. Deutschland kann nur versuchen, Mittel und Wege zu finden, zwischen jenen zu unterscheiden, die ein Anrecht auf Schutz und Asyl haben, und jenen, die aus wirtschaftlichen Gründen kommen. Deutschland kann weiter von einer gesteuerten Zuwanderung träumen – doch vorerst muss es sich damit beschäftigen, die Potenziale jener optimal zu nutzen, die o hnehin kommen. Die Migrationswelle: Hans-Werner Sinn und die Zuwanderungsdebatte mit seinem Punktesystem jahrelang ein klares Sig n al an Zuwanderungswillige ausgesandt. Doch nachdem zunächst nur bestimmte Berufsgruppen angeworben wurden, war irgendwann klar, dass sich damit nicht auf wechselhafte Nachfragen reagieren lässt. Software-Ingenieure waren nach der Dotcom-Blase Kandidaten für die Arbeitslosigkeit. Danach warb Kanada unspezifisch Hochqualifizierte an, in der Hoffnung, dass diese Menschen schon einen Job finden würden. Aber auch diesen Ansatz hat die kanadische Regierung wieder verworfen, weil zu viele Aka demiker als Taxifahrer endeten. Heute kennt das Punktesystem so viele Sonderregelungen, dass es kaum noch zu verstehen ist. Doch bei allen Problemen – das System ist flexibel, sorgt für ausreichend Nachschub auf dem Arbeitsmarkt und liefert gute Integrationsergebnisse. Dennoch lässt es sich nicht 1 : 1 auf Deutschland übertragen, denn eine Auswahl der Zuwanderer ist hierzulande kaum möglich : Das Gros der Migranten stammt aus Ländern der EU, die im Rahmen der Freizügigkeitsregelung kommen. Der nächste große Teil sind Flüchtlinge und Asylsuchende. Hier regeln Gesetze, wer aus humanitären Gründen kommen darf und wer nicht. Eine Auswahl nach Qualifika tion ist nicht vorgesehen. Der Teil der Zuwanderer, die über besondere Anwerbekriterien wie die Blaue Karte EU nach Deutschland kommen, ist verschwindend gering. Ein Punkte system könnte auch künftig nur in diesem Bereich zur Wirkung kommen. Kanada hat ganz andere Voraussetzungen : Erstens ist das Land von zwei Ozeanen umgeben, zweitens ist es nicht Teil einer Wirtschaftsunion mit frei wählbarem Arbeitsort, und drittens hat es nur eine einzige Landesgrenze. Deutschland ist Mitglied der EU mit ihren offenen Grenzen, die EU grenzt ihrerseits an Drittstaaten sowie, gepuffert durch einen kurzen Seeweg, an Afrika und den Nahen Osten – je- 239 Herbert Brücker IST MIGRATION EIN VERLUSTGESCHÄFT FÜR DEN STAAT? EINE KRITISCHE WÜRDIGUNG Die Migrationswelle Herbert Brücker ist Professor für Volkswirtschaftslehre an der Universität Bamberg und Forschungsbereichsleiter am Institut für Arbeitsmarkt- und Berufsforschung (IAB). Im Mittelpunkt seiner Forschung stehen die Ursachen und Arbeitsmarktwirkungen internationaler Migration. 240 Hans-Werner Sinn besitzt die seltene Gabe, wichtige politische Themen frühzeitig zu erkennen, sie theoretisch einzuordnen und seine Ergebnisse verständlich und provokativ zu kommunizieren. Das gilt auch für seine Beiträge zur Migration. Eines vorweg : Ich habe mich an einigen Kontroversen mit ihm beteiligt und bin oft zu anderen Schlussfolgerungen gelangt. Zugleich habe ich seine Beiträge immer als intellektuelle Herausforderung empfunden und von ihnen profitiert. Dabei herrscht in einem wesentlichen Punkt Einigkeit : Sinn hat immer wieder die positiven Effekte der Arbeitsmigration hervorgehoben. Er verweist darauf, dass auf gut funktionierenden Arbeitsmärkten die Einwanderung von Niedrigqualifizierten bei Hochqualifizierten und Kapitaleigentümern Vorteile entstehen lässt, die die Nachteile der einheimischen Niedrigqualifizierten übersteigen. Dies gilt es in Erinnerung zu rufen, wenn etwa die rechte Seite des politischen Spektrums ihn als Kronzeugen gegen Zuwanderung vereinnahmt oder ihm, aus den gleichen Gründen, von anderer Seite Ausländerfeindlichkeit unterstellt wird. Sinns erster kontroverser Beitrag zur Migrationsforschung behandelt die Schätzung des Migrationspotenzials im Zuge der EU-Ost erweiterung. Nimmt man seine Prognose wörtlich, dann müssten heute, rund zehn Jahre nach dem EU-Beitritt, knapp 2,7 Mio. Menschen aus den fünf größten Beitrittsländern in Deutschland leben. Tatsächlich waren es Ende 2014 1,3 Mio. Personen. Es ist allerdings nicht ganz fair, der Studie die tatsächliche Entwicklung gegenüberzustellen. Denn die Osterweiterung der EU war mit langen Übergangsfristen für die Arbeitnehmerfreizügigkeit verbunden, die von den einzelnen Mitgliedstaaten unterschiedlich angewendet wurden. Die so erzeugte Migra tionsumlenkung konnte genauso wenig anti zipiert werden wie die erneute Umlenkung nach Deutschland durch den asymmetrischen Schock der Eurokrise. Eine Prognose für die halb weder widerlegt noch bestätigt werden. Im Mittelpunkt der Sinn’schen Migrationsforschung stehen die fiskalischen Folgen. In einer Studie für das Wirtschaftsministerium berechnete er 2001 einen negativen Beitrag der Migrationsbevölkerung zu den öffentlichen Haushalten und Sozialversicherungen von 1420 DM pro Kopf und Jahr. In einer Ausein andersetzung um die Interpretation einer Studie von Holger Bonin ermittelte er 2014 einen negativen Beitrag von 1800 Euro pro Ausländer und Jahr. Ich halte diese Berechnung für zweifelhaft. Zwar weist Sinn zu Recht darauf hin, dass eine umfassende Betrachtung des fiskalischen Beitrags der In- und Ausländer auch die nicht persönlich zurechenbaren Staatsausgaben berücksichtigten muss. Man kann im Detail darüber streiten, in welchem Umfang diese Aus gaben durch Zuwanderung steigen und wie sie In- und Ausländern zugerechnet werden müssen. Ich finde es aber schwer vertretbar, dass Sinn in seinen Berechnungen die Einnahmen einer wichtigen Residualkategorie, der sonstigen Staatseinnahmen, einseitig den Inländern zurechnet. Er argumentiert, es handele sich um Vermögenserlöse, die den Inländern gehörten. Das ist aus zwei Gründen unzutreffend : Erstens umfasst diese Kategorie auch andere Positionen, etwa Rückflüsse aus Transfers und Subventionen. Zweitens tragen Ausländer ebenso wie Inländer durch ihre Steuern und Abgaben zum staatlichen Vermögen bei. Das kann auch nicht durch den Verweis, dass Neuzuwanderer dazu noch gar nicht beigetragen haben könnten, entkräftet werden : Bonin hat den durchschnittlichen Beitrag der ausländischen Bevölkerung, nicht der Neuzuwanderer, berechnet. Und die lebt im Schnitt bereits 18 Jahre hier. Bei einer symmetrischen Zurechnung der sonstigen Staatseinnahmen schrumpft der ne- gative Beitrag der Ausländer von 1800 Euro auf 590 Euro pro Jahr und Kopf. Wenn wir über die fiskalischen Effekte der Zuwanderung sprechen, verschiebt sich das Bild ohnehin. Die fiskalische Bilanz der Neuzuwanderer ist sehr viel besser als die des durchschnittlichen Bestands der ausländischen Bevölkerung : Sie haben zu 40 % einen Hochschulabschluss und sind besser in den Arbeitsmarkt integriert. Außerdem steigen angesichts eines schrumpfenden Erwerbspersonenpotenzials die Nettoerträge der Migration. Auch erhöht sich durch Zuwanderung die Zahl der Steuerzahler, so dass die öffentliche Pro-Kopf-Verschuldung sinkt. Nach Bonins Studie würde unter der Annahme, dass die Qualifikationsstruktur der künftigen Zuwanderer genauso schlecht wie die des gegenwärtigen Bestands der ausländischen Bevölkerung ist, die Nachhaltigkeitslücke der öffentlichen Haushalte bei einer Nettozuwan derung von 200 000 Personen um 0,4 Prozentpunkte steigen. Wenn wir dagegen die durchschnittliche Qualifikation der Neuzuwanderer zugrunde legen, würde sie deutlich sinken. Zudem berücksichtigen weder Bonin noch Sinn, dass die Einkommen der Einheimischen durch Zuwanderung steigen. Wer wie Sinn die positiven gesamtwirtschaftlichen Effekte betont, kann diesen Zusammenhang nicht ignorieren. Die Schlussfolgerung, dass Migration ein Verlustgeschäft für den Staat ist, halte ich gerade angesichts des demographischen Wandels für gewagt. Aber ich teile Sinns Auffassung, dass die positiven Wohlfahrtseffekte der Migration keine Selbstläufer sind, sondern von den richtigen Anreizen und Steuerungsmechanismen abhängen. Wie diese einzuschätzen und welche Schlüsse zu ziehen sind, wird kon trovers bleiben. Hans-Werner Sinn wird sich sicher weiter an dieser Debatte beteiligen. Ich freue mich darauf. Die Migrationswelle: Hans-Werner Sinn und die Zuwanderungsdebatte EU insgesamt hat Sinn nie erstellt. Sie kann des- 241 Eckhard Cordes MIT KARTE UND KOMPASS GEGEN DEN DEMOGRAPHISCHEN WANDEL Die Migrationswelle Eckhard Cordes ist einer der profiliertesten deutschen Manager. Er gehörte u. a. dem Vorstand der Daimler Benz AG an und war Vorstandsvorsitzender der Franz Haniel GmbH und der Metro AG. Er ist Vorsitzender des Aufsichtsrats der Bilfinger SE und leitet den Ost-Ausschuss der Deutschen Wirtschaft. 242 Der demographische Wandel stellt Deutschland vor eine Vielzahl von Herausforderungen. Zwar sind viele westliche Industriestaaten mit dem Problem der Überalterung ihrer Bevölkerung konfrontiert, aber in Deutschland ist die Lage besonders alarmierend : In einem Mitte 2015 von BDO und Hamburgischem WeltWirtschaftsInstitut (HWWI) veröffentlichten Rank ing ist Deutschland mit 8,28 Geburten je 1000 Einwohner das absolute Schlusslicht in einem weltweiten Vergleich von 209 Ländern. Das Verhältnis der über 65-jährigen deutschen Bevölkerung zu den 15- bis 64-Jährigen wird sich bis 2030 im Vergleich zum Jahr 2000 verdoppelt haben. Abgesehen von den daraus resultierenden immensen Schwierigkeiten bei der Finanzierung unseres Rentensystems, stellt diese Entwicklung auch die deutschen Arbeitgeber vor große Herausforderungen. Schließlich schrumpft ja die Bevölkerung im erwerbsfähigen Alter zusehends, und die Nachwuchsströme werden immer dünner. Wie so oft war es Hans-Werner Sinn, der die prekäre demographische Situation in Deutschland erkannte und sich nicht scheute, in diesem Kontext auch das Thema Migration – in Deutschland insbesondere in Zeiten der »Pegida« ein heißes Eisen – öffentlich aufzugreifen. Er forderte eine Zuwanderungspolitik, die insbesondere hochqualifizierte Migranten nach Deutschland führt, um sowohl den demographischen Problemen als auch dem zunehmenden Fachkräftemangel in Deutschland aktiv entgegenzuwirken. Die Verfügbarkeit qualifizierter Arbeitskräfte ist nun einmal einer der wichtigsten Einflussfaktoren für die Standortentscheidungen multinationaler Unternehmen. Deshalb ist die Zuwanderung hochqualifizierter Arbeitskräfte von zentraler gesellschaftlicher Bedeutung und Hans-Werner Sinns Vorschlag insofern zu begrüßen. Doch wie ließe sich ein derartiges Vorhaben realisieren ? Derzeit ist in Deutschland der Anteil an Migranten mit Hochschulabschluss zierter Einwanderer besser auszuschöpfen. Die Einführung des gesetzlichen Mindestlohns in Deutschland zum 1. Januar 2015 verhindert jedoch leider eine solche Lohnflexibilität nach unten, die nötig wäre, um geringer qualifizierte Einwanderer gemäß ihrer (u. a. aufgrund von Sprachbarrieren und häufig fehlendem Aus bildungsstandard) geringeren Produktivität zu entlohnen. Hierzu muss erwähnt werden, dass Arbeitnehmer aus anderen Ländern auch bei einer geringeren Entlohnung grundsätzlich einen Anreiz hätten, nach Deutschland einzuwandern, sofern nur ihr in Deutschland zu erwartendes verfügbares Realeinkommen noch immer höher wäre als in ihrem Heimatland. So wichtig der Zuzug Hochqualifizierter ist : Auch unabhängig vom Qualifikationsniveau birgt die Zuwanderung von Arbeitskräften fundamentale Vorteile für die deutsche Wirtschaft. Insofern sind die EU-Freizügigkeitsrichtlinie und die Öffnung des deutschen Arbeitsmarkts für Arbeitnehmer aus den östlichen EU-Staaten erste große Schritte in die richtige Richtung. Um die gesamtgesellschaftliche Herausforderung der Finanzierung des Rentensystems in Zeiten einer überalternden Bevölkerung zu gewährleisten und zudem die Produktion sowie die Forschung und Entwicklung in der Industrie an deutschen Standorten langfristig zu sichern, ist jedoch dringend eine umfassendere, aktive Gestaltung der Zuwanderung nach Deutschland erforderlich. Ich hoffe, dass Hans-Werner Sinn auch nach seinem wohlverdienten Eintritt in den Ruhestand nicht müde wird, den Entscheidungs trägern unseres Landes mit Karte und Kompass zur Seite zu stehen, wenn sich diese in den kommenden Jahren, getrieben durch den bevorstehenden Austritt der Babyboomer aus dem Erwerbsleben, unweigerlich intensiver mit dem Thema Zuwanderung befassen müssen. Die Migrationswelle: Hans-Werner Sinn und die Zuwanderungsdebatte im internationalen Vergleich gering. Während dieser nach Angaben der OECD beispielsweise in Kanada und Großbritannien bei etwa 50 % und in den USA bei rund einem Drittel liegt, verfügt in Deutschland nur circa ein Fünftel aller Einwanderer über einen Hochschulab schluss. Hier gibt es also deutlich Luft nach ! Aber Hans-Werner Sinn wäre nicht oben Hans-Werner Sinn, hätte er nicht auch einen konkreten Lösungsvorschlag für diese Her ausforderung parat : Insbesondere für Ein wanderer, die aus Nicht-EU-Staaten nach Deutschland kommen möchten, schlägt er die Einführung eines Punktesystems vor, dem Kriterien wie die berufliche Qualifikation, das Alter sowie die Sprachkompetenz von Einwanderern zugrunde liegen. Dabei müsste Deutschland keineswegs das Rad neu erfinden, kennen wir solche Punktesysteme doch bereits aus vielen anderen Ländern, allen voran den USA, Kanada und Großbritannien. Dort steuert man bereits seit vielen Jahren erfolgreich den Migrationsstrom mit Hilfe des Qualifikationsniveaus der Einwanderer. Gerade in Deutschland, wo ein vergleichsweise ausgeprägter Sozialstaat tendenziell eher gering- als hochqualifizierte Einwanderer anlockt, erscheint die Adaption eines solchen Punktesystems als ein logischer, ja geradezu offensichtlicher Schritt. Zudem wäre natürlich noch eine Reihe weiterer arbeitsmarktpolitischer Maßnahmen wünschenswert, um die vorgeschlagene Migrationspolitik bestmöglich zu flankieren. Dazu gehört aus Unternehmenssicht in erster Line die zügigere Anerkennung ausländischer Bildungsabschlüsse in Deutschland. Ferner könnte durch eine Senkung der Lohnnebenkosten die Anwerbung hochqualifizierter Arbeitnehmer zusätzlich erleichtert werden. Weiterhin könnten flexiblere Löhne dabei helfen, auch das Potenzial insbesondere niedriger qualifi- 243 Beim Munich Economic Summit 2008: ( von links nach rechts ) Jürgen Chrobog, seinerzeit Vorstandsvorsitzender der BMW Stiftung Herbert Quandt, HWS und Olaf Scholz, damals Bundesminister für Arbeit und Soziales. HWS und eine ganze Riege von Trägern des CES Distinguished Fellow Awards: ( von links nach rechts ) Ernst Fehr, Richard Blundell, Robin Boadway, Olivier Blanchard, Philippe Aghion, Bruno Frey, Andrei Shleifer, James Poterba und Avinash Dixit. Brunch im Sinn’schen Garten zum 60. Geburtstag von HWS mit Wegbegleitern, Schülern und Freunden. 244 ( von links nach rechts ) Der damalige Bayerische Staats minister der Finanzen, Kurt Faltlhauser, der damalige DIWPräsident Klaus Zimmermann, HWS und seine Frau Gerlinde beim abendlichen Empfang der VfS-Jahrestagung 2007 »Bildung und Innovation« in München. HWS begrüßt Ursula von der Leyen, damals Bundesministerin für Arbeit und Soziales, auf dem Munich Economic Summit 2011. Stefan Quandt und HWS beim Munich Economic Summit 2006. 245 Die Welt am Sonntag, 25.07. 2010 10 IM DIENSTE DER PROFESSION: Hans-Werner Sinn als Motor des Wandels Meinhard Knoche EINLEITUNG Im Dienste der Profession: Hans-Werner Sinn als Motor des Wandels Im Dienste der Profession Meinhard Knoche ist neben Hans-Werner Sinn das zweite Mitglied des ifo-Vorstands und verantwortet insbesondere die kaufmännische Leitung des ifo Instituts und der CESifo GmbH. Als Honorarprofessor unterrichtet er an der Hochschule Weihen stephan-Triesdorf mit Schwerpunkt Personalmanagement. 248 Seit 25 Jahren ist Hans-Werner Sinn der Öffentlichkeit als Antreiber für politischen Wandel in Deutschland und Europa bekannt. Die Beiträge in den vorangegangenen Kapiteln belegen, wie er sich beharrlich gegen Fehlentwicklungen in der Politik stemmt, verbreitete Denkmuster aufbricht, Meinungsführerschaft übernimmt, Veränderungen anstößt und so dauerhafte Spuren in der Gesellschaft hinterlassen hat. Mit unzähligen Aktionen – Büchern, Aufsätzen, Presseartikeln, Interviews und Auftritten in Fernseh- und Radiosendungen – ist er Millionen Menschen ein Begriff geworden, hat Wissen vermittelt und Einstellungen geprägt – kurzum : unsere Gesellschaft verändert wie kein anderer deutscher Ökonom vor ihm. Weitgehend dem Blick der Öffentlichkeit verborgen, aber ähnlich wirkungsvoll sind die Spuren, die er im institutionellen Gefüge der Wissenschaft nicht nur in Deutschland hin terlassen hat. Bei seinen wirtschaftspolitischen Vorstößen kann man nur erahnen, wie intensiv sie Meinungen verändert und politische und gesellschaftliche Entscheidungen beeinflusst haben; die institutionellen Veränderungen dagegen sind sicht- und messbare Realität ge worden. In welch vorausschauender Weise er wissenschaftliche Institutionen aufgebaut oder verändert und sich selbst als »Marke« in den Medien etabliert hat, schildern die Autoren der Beiträge dieses Kapitels. Als Ordinarius an der Ludwig-Maximilians-Universität München hat er das Center for Economic Studies (CES) gegründet und zu einem internationalen Treffpunkt für Ökonomen aus aller Welt gemacht, unter seiner Präsidentschaft entwickelten sich das ifo Institut von einem wissenschaftlichen Nobody zum europaweit forschungsstärksten Wirtschaftsforschungsinstitut und das CESifoForschernetzwerk zu einem der weltweit größten Ökonomennetzwerke seiner Art; sowohl beim Verein für Socialpolitik als auch beim International Institute for Public Finance stieß er als Präsident tiefgreifende institutionelle Re- tituten klappt nicht nur in München hervorragend. Diese Vorbildwirkung gilt nicht nur für den von Hans-Werner Sinn betriebenen institutionellen Wandel, sondern auch für sein persön liches Engagement in der Öffentlichkeit. Seine beherrschende Präsenz in den Medien ist nach wie vor Vorbild und Ansporn für andere Ökonomen, sich in die öffentliche wirtschaftspolitische Debatte einzumischen. Dass es heute eine neue Generation ausgezeichneter Ökonomen gibt, die in den Medien zu Wort kommen, ist ohne das Vorbild HWS kaum denkbar. Hans-Werner Sinns Bedeutung als einer der forschungsstärksten deutschen Ökonomen, einflussreichster Politikberater und akademischer Unternehmer ist kein Zufall. Er ist Volkswirt mit Leib und Seele, der sich und seiner Profession die öffentliche Geltung und den Einfluss verschaffen will, die sie in anderen Ländern längst haben. Diesem Leitmotiv folgt er konsequent und vereint dabei entscheidende zehn »P« in einer Person : Als Professor und wissenschaftlicher Perfektionist begeistert er nach wie vor die Studenten für die Ökonomie, und als Politikberater und Publizist macht er die ökonomische Theorie für die politische Praxis nutzbar. Er ist Protagonist und Prophet, indem er neue Themen aufgreift und auf Chancen und Gefahren hinweist. Dabei agiert er als PR-Profi, Provokateur und Polarisierer, mit dem Anliegen, wachzurütteln und Sensibilität zu wecken. Als Präsident des ifo Instituts ist er ein leuchtendes Beispiel für andere Institutspräsidenten, sich nicht in den Niederungen des Wissenschaftsmanagements zu verzetteln, sondern sich um das Große und Ganze zu kümmern und die präsidiale Bühne zu nutzen, um Einfluss auf politische und gesellschaftliche Entwicklungen auszuüben. P10 – ein Phänomen ! Im Dienste der Profession: Hans-Werner Sinn als Motor des Wandels formen an. Dadurch wurden auf der einen Seite die Rahmenbedingungen für die dort tätigen Wissenschaftler verbessert und deren Output vervielfacht; auf der anderen Seite wurden die Möglichkeiten für den weltweiten Ideenaustausch unter Ökonomen wesentlich ausgebaut. Die Veränderungsprozesse haben nicht nur die Schlagkraft dieser Institutionen auf ein neues Niveau gehoben, sondern auch wesentlich da zu beigetragen, dass sich das System der wirtschaftswissenschaftlichen Forschung, Lehre und Nachwuchsförderung in Deutschland insgesamt grundlegend gewandelt hat. So war der Turnaround des ifo Instituts, der auch die ambitionierten wissenschaftspolitischen Zielsetzungen des Wissenschaftsrats aufgriff, die Blaupause für andere Institutionen, ebenfalls konsequent auf wissenschaftliche Exzellenz, gesellschaftliche Relevanz und Internationalität zu setzen. Es hat ein regelrechter Umbruch der deutschen Wirtschaftsforschung stattgefunden : Waren noch Mitte der 1990er Jahre die Wirtschaftsforschungsinstitute in den Augen der Universitätsprofessoren die verlängerte, von ökonomischer Theorie weitgehend unbeleckte Werkbank der Ministerien, waren die Ökonomen an den Universitäten für die Wirtschaftsforschungsinstitute die theoretischen Bleistiftspitzer, die von Wirtschaftspolitik keine Ahnung hatten. Dieser Graben ist zugeschüttet : Alle deutschen Wirtschaftsforschungsinstitute werden heute von ausgezeichneten, forschungsstarken und international sichtbaren Ökonomen geleitet und sind attraktive Arbeitgeber auch für den Ökonomennachwuchs. Beim wissenschaftlichen Output auf dem Gebiet der VWL hat insbesondere das ifo Institut die Universitäten im deutschsprachigen Raum eingeholt, und die Zusammenarbeit zwischen den volkswirtschaftlichen Fakultäten und den außeruniversitären Wirtschaftsforschungsins- 249 Robert Solow EIN MUSTERBEISPIEL INSTITUTIONELLEN UNTERNEHMERTUMS Im Dienste der Profession Robert Solow lehrte von 1950 bis 1995 am MIT und ist nun Robert K. Merton Scholar der Russell Sage Stiftung. Er erhielt den Wirtschafts nobelpreis 1987, die National Medal of Science 1994 und die Freiheitsmedaille des Präsidenten der USA 2015. Er ist Mitglied im Orden Pour le Mérite. 250 Institution Building, der Aufbau und die Weiter entwicklung von Institutionen, ist ein schwieriger und anstrengender Prozess. Das weiß jeder, der es je selbst einmal versucht hat oder es aus nächster Nähe beobachten durfte. Meine Frau besaß einst ein T-Shirt, bedruckt mit einem tiefgründigen Ausspruch, den man Jean-Paul Sartre zuschreibt : »Bei einem Fußballspiel verkompliziert sich alles durch die Anwesenheit der gegnerischen Mannschaft.« Ich habe keine Ahnung, ob diese Zuschreibung authentisch ist, aber ich füge hinzu, dass das Institution Building komplizierter als Fußball sein muss, da bereits die bloße Anwesenheit der eigenen Mannschaft oftmals beabsichtigte oder unbeabsichtigte Schwierigkeiten für denjenigen erzeugt, der versucht, eine Institution aufzubauen oder neu auszurichten. Das ist der Grund, weshalb ich mich dazu entschlossen habe, Hans-Werner Sinns Vorstellungskraft, Fähigkeit und Entschlossenheit bei der Errichtung der uns heute bekannten CESifo-Gruppe Aner- kennung zu zollen und dabei alle daran zu erinnern, welche Bedeutung diese Leistung nicht nur für die Wirtschaftswissenschaft in München, sondern für die deutsche Wirtschaftswissenschaft insgesamt besitzt. Natürlich kann ich dabei lediglich die Sicht eines interessierten und sympathisierenden Außenseiters beschreiben, was allerdings keineswegs ein unwichtiger oder gar irrelevanter Standpunkt ist. Ich denke 20 Jahre zurück an die Mitte der 1990er Jahre. Hans-Werner Sinn ist schon Professor an der Ludwig-Maximilians-Universität und bereits ambitioniert, in der Wirtschaftswissenschaft etwas aufzubauen. Es gibt einige herausragende deutsche Ökonomen, aber kein wirkliches Zentrum aktiver ökonomischer Forschung, das auf der internationalen Bühne einen deutlichen Fußabdruck hinterlässt. Das Institut für Weltwirtschaft in Kiel hat zwar eine lange Tradition, ist aber weithin nicht als Quelle oder Treffpunkt neuer Ideen bekannt. Das ifo Institut war fast ausschließlich wegen Sprache veröffentlicht. Das CESifo-Netzwerk entstand und machte München zu einer legitimen Konkurrenz zum Centre for Economic Policy Research (CEPR) in London und zum National Bureau of Economic Research (NBER) in Cambridge. München gesellte sich damit zu Paris, Barcelona und Toulouse als ein maß gebliches, googelnswertes Zentrum ökonomischen Gedankenguts auf dem europäischen Kontinent. Es ist wirklich nicht möglich, sich den Verlauf dieser Transformation ohne die Willenskraft, die Energie und die intellektuelle Stärke Hans-Werner Sinns vorzustellen. Dies war kein zufälliger oder sich aus sich selbst heraus entwickelnder Prozess. Ich denke, dass Hans-Werner Sinn von Anfang an eine zumindest un gefähre Vision eines künftigen Zielzustands vor Augen hatte. Eine Vision, die vielleicht nicht alle Details umfasste, aber sicherlich die Grundidee von dem enthielt, was dem heu tigen CESifo-Komplex sehr ähnlich gewesen sein muss : ein auch aus internationaler Sicht effektives, verflochtenes und vertikal integriertes Set an Aktivitäten, die von grundlegender akademischer Lehre und Forschung bis hin zur öffentlichen Diskussion der aktuellen finanzwissenschaftlichen Themen in Bezug auf die öffentlichen Ordnung und Staatstätigkeit reichen sollten. Und all dies wurde erreicht, während HansWerner Sinn auch weiterhin über die Wirtschaftswissenschaft im Allgemeinen und insbesondere über die deutsche Ökonomie nachdachte und starke Positionen zu diskus sionswürdigen politischen Problemen einnahm. Dies ist ein außergewöhnliches Zeugnis von Anstrengung und Leistung. Im Dienste der Profession: Hans-Werner Sinn als Motor des Wandels seines »Konjunkturbarometers« geläufig, steuerte aber nur wenig bis gar nichts zur makroökonomischen Forschung oder zur Konjunkturtheorie bei. Wenn ich mich recht entsinne, hatte HansWerner Sinn schon damals eine Seminarreihe unter dem Dach des neu gegründeten Center for Economic Studies ins Leben gerufen und bereits damit begonnen, Redner, Berater und Teilnehmer anderer deutscher und europäischer Universitäten und, soweit möglich, sogar von weiter her einzuladen. Im Jahr 1994 hatte er etwas begonnen, woraus später die Vortragsreihe »Munich Lectures in Economics« wurde, und er startete sie mit dem brillant ausgewählten Avinash Dixit als erstem Vortragenden. Dies war ganz und gar kein Routineakt akademischer Arbeitsbeschaffung. Tatsächlich handelte es sich um ein Stück akademischen Unternehmertums. Geschickt eingefädelt, brachte es München auf die Weltkarte der Wirtschaftswissenschaft. Schon die Tatsache, dass so viele derer, die die Munich Lectures hielten, eine führende Stellung auf den Gebieten der Politökonomik und der Finanzwissenschaft innehatten, lässt leicht erkennen, welchen persön lichen Einfluss Hans-Werner Sinn ausübte. Dann, im Jahr 1999, wurde er Präsident des ifo Instituts, und es ergab sich die Gelegenheit, eine neue kombinierte Institution größeren Ausmaßes zu schaffen. Was folgte, war eine wahrlich innovative Episode, ein Musterbeispiel institutionellen Unternehmertums, falls es ein solches überhaupt je zuvor gegeben hatte. Das Programm des ifo Instituts wurde reformiert, so dass es fortan Konjunkturforschung der modernen Art umfasste. Die wissenschaftliche Fachzeitschrift CESifo Economic Studies wurde ins Leben gerufen und in englischer 251 Hans Zehetmair EIN GLÜCKSGRIFF NICHT NUR FÜR BAYERN Im Dienste der Profession Hans Zehetmair war von 1986 bis 2003 Staatsminister in der Bayerischen Staatsregierung und von 1993 bis 1998 Stellvertretender Bayerischer Ministerpräsident. Von 2004 bis 2014 war er Vorsitzender der Hanns-Seidel-Stiftung. Er ist Vorsitzender des Rates für deutsche Rechtschreibung. 252 Dass es 1984 gelungen ist, Hans-Werner Sinn an die Ludwig-Maximilians-Universität München zu holen, erwies sich als ausgesprochener Glücksfall. Die Berufung, ausgesprochen noch durch meinen Vorgänger Hans Maier, hat maßgeblich dazu beigetragen, dass München in den ökonomischen Wissenschaften, um mit Thomas Mann zu sprechen, »leuchtete« und seither ungebrochen leuchtet. Die Mitarbeiter im Ministerium mussten seinerzeit all ihr Verhandlungsgeschick auf bieten, um Hans-Werner Sinn den Gang von Mannheim nach München schmackhaft zu machen, aber am Ende stand ein Angebot, dem man nicht widerstehen konnte. Und wir wissen heute : Der Einsatz hat sich gelohnt. Hans-Werner Sinn hat nicht nur an seinem Lehrstuhl für Nationalökonomie und Finanzwissenschaft, sondern vor allem auch durch die Übernahme der Leitung des Münchner ifo Instituts im Jahr 1999 Herausragendes geleistet. Besonders verdienstvoll war sein Einsatz schon während der 1990er Jahre für die Gründung des Center for Economic Studies (CES), das die internatio nale Sichtbarkeit der Münchner Nationalökonomie weiter gesteigert hat und vor allem auf dem Gebiet der Nachwuchspflege erfolgreich aktiv ist. Die Situation des ifo Instituts war seinerzeit nicht leicht. Der Wissenschaftsrat hatte 1998 das Institut ausgesprochen negativ evaluiert und es vom Wirtschaftsforschungsinstitut zur Serviceeinrichtung »abgestuft«. Hans-Werner Sinn hat unmittelbar nach seinem Amtsantritt mit großem Erfolg gegengesteuert, das Institut mit seiner fachlichen Kompetenz geschickt weiterentwickelt und es zu einer weithin sichtbaren, auch über Fachkreise hinaus bekannten Einrichtung gemacht, ich möchte ohne Übertreibung sagen : zum führenden Wirtschaftsforschungsinstitut Deutschlands. 2002 wurde das Institut »an-Institut« an der LMU, die Evaluationsberichte der Leibniz-Gemeinschaft 2006 und 2009 gerieten zum Triumph und be- den Weg des für richtig Erkannten geht. Hut ab vor diesem Mut zur öffentlichen, auch streit baren Auseinandersetzung ! Sie erwarten an dieser Stelle jetzt von einem Altphilologen nicht, dass er einzelne Thesen, Standpunkte und Äußerungen Hans-Werner Sinns fachlich kommentiert; davon bin ich als ökonomischer Laie weit entfernt. Was ich aber glaube beurteilen zu können, ist die Leistung, die er für die Sichtbarkeit Münchens, Bayerns und Deutschlands in der wirtschaftswissenschaftlichen Forschung erreicht hat, und diese Leistung ist nicht hoch genug zu schätzen. Wir brauchen mehr von seinem Schlag ! Wenn Hans-Werner Sinn nunmehr in den Ruhestand geht, bedeutet das mehr als nur einen routinemäßigen Wechsel auf einer Posi tion. Für die von ihm geleiteten Forschungsinstitutionen ist das ein gravierender Einschnitt, das Ende einer Ära. Aber ich bin mir sicher, dass wir auf seinen Rat und seine Expertise auch künftig nicht verzichten müssen und er seine Stimme weiterhin immer dann einbringen wird, wenn es um die wirtschaftliche Zukunft unseres Landes geht. In diesem Sinne wünsche ich Ihnen, lieber Herr Professor Sinn, einen guten Eintritt in die neue Lebensphase, Gesundheit, vielleicht etwas mehr Zeit für die Familie, aber auch weiterhin viel Energie für Ihre Beiträge zur öffentlichen Debatte ! Im Dienste der Profession: Hans-Werner Sinn als Motor des Wandels stätigten die Impulse, die Hans-Werner Sinn dem Institut gegeben hat. Überflüssig zu betonen, dass Hans-Werner Sinn einen Bekanntheitsgrad erreicht hat, der weit über den Wirkungsbereich eines Hochschullehrers hinausgeht, der in der Fachwelt zu den meistzitierten Vertretern seines Fachs gehört. Unzählige Auftritte in den Medien, Kommentare zu aktuellen wirtschaftspolitischen Ereignissen, Gutachten und Beratung der politischen Spitzen des Landes, das alles vereint Hans-Werner Sinn mit fachlicher Seriosität und internationaler Anerkennung seiner Forschungsarbeit. Zu nennen sind auch seine an die breite Öffentlichkeit gerichteten Bücher zu jeweils aktuellen volkswirtschaftlichen Themen. Er ist damit das, was ich einen Wissenschaftskommunikator im besten Sinne nennen möchte : Ein Wissenschaftler, der sich nicht in seiner Denkerstube verkriecht, sondern es versteht, die Öffentlichkeit für seine Arbeit zu begeistern, Interesse für Fragen der Forschung gerade bei jungen Leuten zu wecken. Und der dabei nicht der Versuchung erliegt, das Niveau und den Tiefgang der Gedanken auf dem Altar der Popularität zu opfern. Sinns Thesen sind nicht immer bequem, er eckt gern an, provoziert. Aber nicht um des Effekts und der Schlagzeile willen : Dahinter stecken eine Mission, eine Geradlinigkeit und Authentizität, die sich nicht einem mutmaßlichen Mainstream anpasst, sondern konsequent 253 Bernd Huber HANS-WERNER SINN: HEITERES UND ERNSTES Im Dienste der Profession Bernd Huber ist Professor für Finanzwissenschaft und seit 2002 Präsident der Ludwig-MaximiliansUniversität München. Seit 1999 ist er Mitglied des Wissenschaftlichen Beirats des Bundesministeriums der Finanzen. 254 Das erste Mal habe ich Hans-Werner Sinn Mitte der 1980er Jahre erlebt, als ich Student in Gießen war und er dort den Lehrstuhl für Finanzwissenschaft vertrat. Was war das für eine neue, faszinierende Art der Finanzwissenschaft, die er uns beibrachte ! Theoretisch fundiert, sehr stringent, aber immer mit dem Anspruch, aus der Analyse auch konkrete wirtschaftsund finanzpolitische Schlussfolgerungen zu gewinnen. Und was für ein Dozent ! Enthusiastisch, schwungvoll und mit großer Überzeugungskraft ! Und wenn man etwas nicht begriff, erklärte er es noch einmal, und am Ende leuchtete einem von der Tafel ein orangefarben schraffierter Wohlfahrtsgewinn entgegen ! Wie nur wenige hat Hans-Werner Sinn die Finanzwissenschaft in Deutschland – aber auch international – mit vielen richtungsweisenden Beiträgen geprägt. Er ist einer der Großen des Faches. Dabei ist es interessant, wie er in vielen seiner Beiträge Neuerung und Tradition verbindet. In seinem bahnbrechenden Werk zur Kapitaleinkommensbesteuerung bewegt er sich an der Spitze der internationalen wissenschaftlichen Diskussion, wählt aber die Form der klassischen Monographie. Der Finanzwissenschaft hat Hans-Werner Sinn – wie einer alten Liebe – immer die Treue gehalten, trotz seiner vielfältigen sonstigen Aktivitäten. So hatte er noch vor wenigen Jahren den Vorsitz der internationalen Fachorganisation, des International Institute of Public Finance, übernommen. Und seine Arbeiten, sein Enthusiasmus und die Faszination, die er ausübt, haben viel dazu beigetragen, dass viele von uns Jüngeren Ende der 1980er, Anfang der 1990er Jahre in die Finanzwissenschaft eingestiegen sind. Das ist lange her, aber schon damals war Hans-Werner Sinn eine Legende; viele Geschichten rankten sich um ihn, seine Ideen, seinen Arbeitseifer und seine Brillanz. Besonders beliebt war eine – vermutlich erfundene – Anekdote über seine gemeinsame Assistenten- Dabei scheute er sich auch früher schon nicht, sich mit bedeutenden Persönlichkeiten anzulegen. Ich kann mich gut an eine Runde erinnern, in der Hans-Werner Sinn ein Papier, das er verteilt hatte, vorstellte. Nach etwa 15 Minuten wandte er sich an einen der Zu hörer, einen hochrangigen Politiker : »Herr Minister, wir sind auf Seite 14, bitte schlagen Sie die Seite auf, damit Sie der Diskussion folgen können.« »Ja, natürlich.« Antwortete der Minister und blätterte folgsam auf Seite 14. Mit der Präsidentschaft des ifo Instituts übernahm Hans-Werner Sinn im Jahr 1999 eine neue, große Aufgabe. Bei all seiner Präsenz in den Medien wird dabei leicht übersehen, dass er in den vergangenen 15 Jahren das ifo zu einem herausragenden Wirtschaftsforschungsinstitut gemacht hat, mit großer nationaler wie internationaler Strahlkraft. Aber natürlich stehen beim ifo Institut vor allem seine engagierten, mitunter provokanten Beiträge zur wirtschaftspolitischen Diskussion im Zentrum der öffentlichen Aufmerksamkeit. Ich habe in diesen Jahren oft seinen Mut und die Konsequenz, mit der er für seine Positionen streitet, bewundert. Hans-Werner Sinn – das ist ein großer Mann und Wissenschaftler mit einer außergewöhn lichen Karriere und einer herausragenden Lebensleistung. Auch wenn er sich nun vorgenommen hat, zukünftig mehr im Garten seines schönen Hauses in Italien zu arbeiten, wird er sicher weiter wissenschaftlich und publizistisch aktiv bleiben. Denn einen Garten, der groß genug wäre, einen Hans-Werner Sinn auszulasten, den gibt es nicht. Im Dienste der Profession: Hans-Werner Sinn als Motor des Wandels zeit mit Klaus F. Zimmermann in Mannheim. Beide waren (und sind) äußerst fleißige Wissenschaftler. Als Klaus Zimmermann eines Abends gegen acht Uhr seine Tasche zu packen begann, fragte ihn Hans-Werner Sinn deswegen ganz überrascht : »Klaus, du gehst schon ?« Antwort Zimmermann : »Aber Hans-Werner, weißt du denn nicht, ich habe diese Woche doch Urlaub.« Aber das Œuvre und das Wirken von HansWerner Sinn gehen weit über die Finanzwissenschaft hinaus : In München hat er Anfang der 1990er Jahre das Center for Economic Studies (CES) gegründet, den Generationswechsel der volkswirtschaftlichen Fakultät mitgestaltet und viele Reformen angestoßen. Aber : bei allem Erneuerungswillen immer der Respekt vor der Tradition und der Geschichte des Faches. Das Hans-Möller-Seminar der volkswirtschaftlichen Fakultät ist hierfür ein schönes Beispiel. Mit seiner Energie und seiner Überzeugungskraft hat er auch in der Fachgesellschaft der Ökonomen in Deutschland, dem ehrwürdigen Verein für Socialpolitik, sofort, nachdem er 1997 den Vorsitz übernommen hatte, einen grundlegenden Reformprozess eingeleitet. Um solche Veränderungen durchzusetzen, hilft ihm neben seiner intellektuellen Brillanz und seinem Charme vor allem seine schier unerschöpfliche Energie. Wenn man selber nach einer langen Diskussion eigentlich nur noch das Ende herbeisehnt, blüht Hans-Werner Sinn auf und setzt seine gesamte Beredsamkeit ein, um auch die letzten verbliebenen Zweifel an seiner Argumentation auszuräumen. 255 Agnar Sandmo FÜHRUNG DURCH VORBILD Im Dienste der Profession Agnar Sandmo ist emeritierter Professor der Volkswirtschafts lehre an der Norwegian School of Economics in Bergen. Er forschte zu ökonomischer Unsicherheit, Finanzwissenschaft, Umweltökonomik und ökonomischer Ideengeschichte. Sein jüngstes Buch ist Economics Evolving, Princeton 2011. 256 Die Wege von Hans-Werner Sinn und mir begannen sich in den späten 1970er Jahren zu kreuzen, als er noch an der Universität Mannheim war. Die Begegnungen wurden regelmäßiger, als er nach München ging und 1991 das Center for Economic Studies (CES) gründete. Ich wurde damals Mitglied des Wissenschaft lichen Beirats des CES und blieb es bis 2009, die letzten acht Jahre als Vorsitzender. In dieser Zeit erlebte ich den Aufbau und die Entwicklung des CES mit, die eng mit dem akademischen Profil und der Initiative seines Leiters verknüpft waren. Später erlaubte mir meine Position am Ring einen Blick auf das ganze C ESifo, aber ich hoffe auf Verständnis, dass ich meine Schilderung auf das CES konzentriere. Die beachtliche Entwicklung, die das CES vor und nach der engen Verzahnung mit dem ifo Institut nahm, wird in anderen Beiträgen dieses Buches beschrieben. Ich möchte dazu nur anmerken, dass die stärkste Eigenschaft des CES als Forschungsinstitut sein Anspruch war, Grundlagenforschung mit Politikanalyse zu verbinden. Eine weitere Besonderheit war die Entwicklung des CES zu einem Drehkreuz der europäischen Wirtschaftsforschung. Beides wäre ohne Hans-Werner Sinns starke Leitung unmöglich gewesen. Diese Leitung war doppelter Natur. Ein guter Leiter kann durch weises, mit einer starken Zukunftsvision gepaartes Management, aber auch als Vorbild führen. Hans-Werner Sinn hat beides getan. Im Folgenden beleuchte ich besonders die zweite Dimension seiner Leitung. Während ich Hans-Werner bei seiner Arbeit als Erbauer eines Imperiums – ich nutze dieses Wort in einem rein positiven Sinn ! – zusah, war ich von Bewunderung, aber auch, zu mindest in den frühen Jahren, von Verwunderung erfüllt. Denn der junge Ökonom, den ich vor fast 40 Jahren kennen lernte, schien mir nicht für eine solche Karriere bestimmt. Man denke an seine frühen Forschungsinteressen : Er schrieb seine Diplomarbeit zum Marx’schen Wirtschaftstheorie besitzt und davon überzeugt ist, dass sie denjenigen, die nach einer besseren Wirtschaft und Gesellschaft streben, viel zu bieten hat, zwangsweise inspirierend auf junge Ökonomen. Hans-Werner hat viel zur Förderung junger Ökonomen getan. Gleichzeitig ist es ein wich tiges Merkmal seiner Aktivitäten, dass er auch ein scharfes Auge für die Beiträge älterer Ökonomen hat. Dies zeigt sich in der Aufmerksamkeit, die er in seinen Schriften den Arbeiten früherer Generationen entgegenbringt, und er hat das CES nicht nur zu einem wichtigen Treffpunkt junger Forscher, sondern auch zu einem Ort der Interaktion zwischen den jungen und den nicht mehr so jungen Forschern gemacht. Ein schönes Beispiel dafür ist eine Konferenz im Jahr 1998, auf der es eine Diskussion zwischen zwei großen alten Herren der Finanz wissenschaft gab : James Buchanan und Richard Musgrave. Sie präsentierten ihre alternativen Sichtweisen zur Natur der Finanzwissenschaft und die richtige Einstellung von Ökonomen zum Staat – ergänzt durch aufschlussreiche Kommentare des Auditoriums und von HansWerner. Das Buch, das aus diesen Vorträgen hervorging (Public Finance and Public Choice, 1999), sollte von jedem Finanzwissenschaftler gelesen werden, der nicht nur schlau, sondern auch weise werden will. Es belegt, dass das CES nicht nur neue Ergebnisse, sondern auch die tiefe Reflexion des Fachs vorantreibt. Eine interessante Seite des Altwerdens ist, dass man jungen bekannten Menschen dabei zusieht, wie sie sich dem Ruhestand nähern. Im Falle Hans-Werners werde ich den »Ruhestand« jedoch definitiv nicht ganz für bare Münze nehmen. Man wird seinen formalen Rückzug aus einigen Positionen zur Kenntnis nehmen müssen. Aber dass er sich aus der ökonomischen Forschung und Debatte zurückzieht, ist undenkbar. Im Dienste der Profession: Hans-Werner Sinn als Motor des Wandels Gesetz vom tendenziellen Fall der Profitrate und befasste sich in seiner Doktorarbeit mit der puren Entscheidungstheorie unter Unsicherheit. Die Wahl des ersten Themas reflektierte das in den 1960er und 1970er Jahren starke Interesse an marxistischen Ideen. Das zweite galt damals als heißes Forschungsthema, das viele Herausforderungen für begabte Theoretiker bot. Aber keines der beiden Themen schien relevant zur Anbahnung einer Karriere als einflussreicher Akteur auf dem Parkett der politökonomischen Debatte. Es waren Themen, die zwar für Aufregung in akademischen Seminaren sorgten, aber kaum bei einem größeren Publikum. Meine Sicht auf Hans-Werners akademisches Profil änderte sich, als ich seine Habili tationsschrift Kapitaleinkommensbesteuerung. Eine Analyse der intertemporalen, internationalen und intersektoralen Allokationswirkungen las. Es war noch immer ein Theoriebuch, jedoch auf eine angewandtere und politikrelevantere Art, und sie begründete seinen Ruf als jemand, der Resultate von höchster wirtschafts politischer Relevanz produzierte. Diese Kombination aus Theorie und Anwendungsbezug brachte Hans-Werner mit ans CES. Er legte diese Verbindung nicht nur bei der Wahl ins titutioneller Forschungsthemen und der Auswahl seiner Mitarbeiter und Besucher zugrunde, sondern setzte auch seine eigene Arbeit entlang dieser Linien fort, indem er seine Fähigkeiten als Theoretiker und als Politikana lytiker nutzte, um eine Reihe hochrelevanter Themen aufzugreifen. Beispiele sind seine Bücher über die Wiedervereinigung (gemeinsam mit seiner Frau Gerlinde), Globalisierung, die Eurokrise und die globale Umwelt. Nicht jeder Ökonom kann von sich erwarten, so viele Bücher und Artikel zu einem so breiten Spektrum verfassen zu können. Dennoch wirkt das Beispiel von jemandem, der eine Leidenschaft für 257 Alfons Weichenrieder DAS CES ALS BAUSTEIN DER INTERNATIONALISIERUNG UND NACHWUCHSFÖRDERUNG Im Dienste der Profession Alfons Weichenrieder lehrt an der Goethe-Universität Frankfurt, ist Gastprofessor an der Wirtschaftsuniversität Wien, Forschungs professor am ifo, Mitglied des Wissenschaftlichen Beirats beim BMF und Managing Editor des FinanzArchiv. Er promovierte 1995 unter der Betreuung von HansWerner Sinn. 258 Anfang der 1990er Jahre war die deutsche Volkswirtschaftslehre vielfach noch so organisiert, als ginge es darum, sich von der Außenwelt und dem Nachwuchs bestmöglich abzuschotten. Als ich zu dieser Zeit als Doktorand in den Verein für Socialpolitik, den Verband der Volkswirte im deutschsprachigen Raum, aufgenommen werden wollte, um auf der Jahrestagung vorzutragen, bedurfte es dreier Empfehlungsschreiben von bereits etablierten Mitgliedern. Zwei davon durften nicht der eigenen Universität angehören. Für einen jungen Forscher war es damals um ein Vielfaches einfacher, in die American Economic Association aufgenommen zu werden als in das deutsche Äquivalent. Dass ich überhaupt externe Professoren kannte, die ich um Empfehlungsschreiben ansprechen konnte, lag an dem im Jahr 1991 errichteten Center for Economic Studies (CES), dessen Gründungsdirektor Hans-Werner Sinn war. Das CES brachte seit seiner Gründung nicht nur etwa 30 internationale Forscherinnen und Forscher jährlich in Kontakt mit dem Münchener Fachbereich und den dortigen Doktoranden wie mich, sondern auch einige deutsche Forscher als mögliche Ansprechpartner. Seit nunmehr 25 Jahren geben die Gäste über Vorträge und Minikurse den Doktoranden eine Vorstellung von der aktuellen Forschungsfront auf verschiedensten Gebieten. Über die Jahre ist mit den Besuchen der Gastwissenschaftler ein Netzwerk von über 1000 Mitgliedern aus den verschiedensten Ländern entstanden. Die Area Conferences sorgen dafür, dass das CES und das ifo Institut eine gewisse Heimatbasis für all diese Forscher darstellen. Das CES als internationales Institut für Gastforscher wurde als Idee geboren, um HansWerner Sinn trotz eines Rufs nach Bern in München zu halten. Als Gründungsdirektor mit starken Kontakten nach Nordamerika, die u. a. in zwei Auslandsjahren in Kanada gewach- der wichtigste Rohstoff einer Dissertation sind, waren daher Gold wert, und die Erkenntnis, dass Ideen selten im stillen Kämmerlein oder beim Abarbeiten einer starren Gliederung, aber sehr häufig in der ungezwungenen Diskussion und bei Begegnungen mit anderen Forschern entstehen, ebenso. Aus den internationalen Kontakten des CES erwuchsen auch wichtige Chancen für die Habilitanden. Und Hans-Werner Sinn legte höchsten Wert darauf, dass sie ergriffen wurden. Es gibt wohl kaum einen der vielen Habi litanden, die von Sinn gefördert wurden, der nicht ein Auslandsjahr an einer renommierten Universität verbracht hätte. Das CES war sicher nicht das Ende einer notwendigen Entwicklung zu mehr Interna tionalisierung. Aber es brachte entscheidende Fortschritte am Standort München und setzte ein Beispiel für andere Orte. Inzwischen wird an vielen deutschen Fachbereichen der Nachwuchs in Graduiertenschulen gefördert, und auch die Aufnahme junger Forscher in den Verein für Socialpolitik wird heutzutage nicht mehr behindert, sondern aktiv gefördert. Auch an dieser Öffnung hatte Hans-Werner Sinn maßgeblichen Anteil. Als dessen Vorstand (1997 – 2000) führte er ein, dass der Verein für Socialpolitik Vorträge seiner jungen Mitglieder auf ausländischen Konferenzen mit einer pauschalen Reisekostenprämie fördert. Dies machte den Verein für junge Forscher deutlich attraktiver und verband in besonders effektiver Weise die Internationalisierung und die Nachwuchsförderung miteinander. Internationalisierung und Nachwuchsförderung : Beide Ziele waren über lange Jahre hinweg wichtige Grundanliegen von Hans-Werner Sinn. Im Dienste der Profession: Hans-Werner Sinn als Motor des Wandels sen waren, war er eine Idealbesetzung. Für viele Münchener Doktorandengenerationen war Sinn ein Vorbild, wie man internationale Kontakte pflegt und Diskussionen führt. Er er leichterte es zu erkennen, welche Konferenzen und Plattformen relevant sind. Mit den CES Munich Lectures entstand eine Reihe von Vorträgen und Büchern, die seinesgleichen sucht und Forscher wie Avinash Dixit, Anthony Atkinson, Paul Krugman, Rüdiger Dornbusch, Jean Tirole, Peter A. Diamond, Torsten Persson oder Nicholas Stern nach München brachte. Insbesondere durch die Initiative des CES brach in München die Zeitenwende im Hinblick auf verstärkte Internationalisierung und Nachwuchsförderung einige Jahre früher an als an vielen anderen deutschen Universitäten. Insbesondere die zahlreichen Doktoranden am CES hatten dadurch maßgebliche Vorteile. Noch heute denke ich mitunter an die Aufregung, die mir daraus erwuchs, dass bereits in meinem ersten Doktorandenvortrag über ein Kapitel meiner Dissertation auch zwei renommierte ausländische Gastprofessoren zuhörten. Sie saßen indes nicht nur mit am Tisch, sondern gaben tatsächlich auch wertvolle Hin weise, die in die letztendliche Publikation einflossen. Vor 25 Jahren wurden in Deutschland noch sehr viele volkswirtschaftliche Dissertationen geschrieben, indem der Doktorand nach einigen Monaten Einarbeitung dem Doktorvater (bzw. sehr viel seltener der Doktormutter) eine mehrseitige Gliederung vorlegen musste, die dann eben abzuarbeiten war. Besonders hilfreich im Hinblick auf neue Forschungsergebnisse war das meist nicht. Vorbilder, wie HansWerner Sinn, die klarmachten, dass – neben Fleiß und solider Methodik – originelle Ideen 259 Otto Wiesheu VOM ELFENBEINTURM IN DIE POLITIKBERATUNG Im Dienste der Profession Otto Wiesheu war von Mitte 1993 bis Ende 2005 Bayerischer Staatsminister für Wirtschaft, Infrastruktur, Verkehr und Technologie. Er warb Hans-Werner Sinn 1999 als ifo-Präsidenten an und unterstützte dessen Reorganisation des Instituts. Seit 2009 ist er Präsident des Wirtschaftsbeirates Bayern. 260 Mein Erstkontakt mit Hans-Werner Sinn entstand aus einer großen Verlegenheit : Das ifo Institut wurde im Jahr 1998 nach eingehender Evaluierung vom Wissenschaftsrat abgestuft von einer Forschungseinrichtung der Blauen Liste zu einer forschungsbasierten Serviceeinrichtung. Diese Abstufung ließ sich trotz ernsthafter Verhandlungen im Wissenschaftsrat nicht verhindern. Sie war aber für das Ansehen und die Zukunft des ifo Instituts nicht akzeptabel. Das Bestreben aller am ifo Institut Interessierten war es, das zu korrigieren. Das Ziel war unumstritten, der Weg dahin offen. Von mir als damaligem Bayerischem Wirtschaftsminister wurde – unabhängig von der Verantwortung weiterer Gremien – erwartet, eine Lösung zu finden. Und die Lösung war für mich : Professor Dr. Hans-Werner Sinn muss Präsident werden. Ich habe ihn also bei einem Vier-Augen- Gespräch mit diesem Anliegen konfrontiert. Er hat erst einmal abgelehnt. Neben seinem Lehrstuhl an der Ludwig-Maximilians-Universität München (LMU) wollte sich Sinn voll und ganz dem Center for Economic Studies (CES) und dem Verein für Socialpolitik, der seit 1873 besteht und einen großen Namen hat, widmen und mit beiden Institutionen die Internatio nalisierung der wirtschaftswissenschaftlichen Diskussion in Deutschland vorantreiben. Dabei erschien ihm die Kärrner-Arbeit, die beim ifo Institut anstand, nicht förderlich. Nachdem andere Persönlichkeiten, die mir Professor Sinn nannte, nicht in Betracht kamen, habe ich ihn bei einem weiteren Gespräch in die Pflicht genommen. Sinn knüpfte die Übernahme des Präsidentenamts an eine Reihe von Bedingungen : Er bleibt weiterhin Professor an der LMU. Das ifo Institut wird eng mit dem CES verzahnt. Ein Teil des Personals beim ifo Institut soll zügig ausgetauscht werden. Eine regelmäßige Personalauffrischung mit Nachwuchskräften aus der Universität wird ermöglicht. Das war nach seiner Meinung notwendig, um qualifizierten Nachwuchs und Talente für die wirtschaftswissenschaftliche Diskussion und die empirische Forschung zu rekrutieren. Und die Finanzierung für die folgenden Jahre musste Aktivitäten erlauben, die eine Rückkehr des ifo Instituts in den Status der Forschungseinrichtung der Blauen Liste fördern sollten. Diese Konditionen waren durchaus in meinem Sinne. Auch nach meiner Überzeugung war der Weg zur Wiedergewinnung des Status »Forschungseinrichtung« nur durch eine enge Verflechtung mit dem universitären Potenzial und durch die Implementierung eines hohen wissenschaftlichen Anspruchs in die Arbeit des ifo Instituts möglich. Laut Wissenschaftsrat musste das ifo Institut daran arbeiten, die nötige Resonanz in der wirtschaftswissenschaftlichen Diskussion zu finden, in international renommierten wissenschaftlichen Zeitschriften präsent zu sein, in der wirtschaftswissenschaftlichen und wirt schaftspolitischen Diskussion öffentlich überzeugend mitzuwirken. Professor Sinn erhielt von mir die uneingeschränkte Unterstützung in all diesen Punkten und übernahm bei ifo den Chefposten – eine Entscheidung, die ich nie bereuen musste, sondern die alle meine Erwartungen mehr als erfüllte. Es ist nicht meine Sache, die außerordentlich erfolgreiche Reorganisation und Aufbauarbeit beim ifo unter seiner Leitung seit 1999 im Einzelnen zu schildern. Für mich waren schlagende Ergebnisse : die Evaluierung durch die Leibniz-Gemeinschaft im Jahr 2006, die der Arbeit des ifo Instituts große Fortschritte bescheinigte und dem ifo in Aussicht stellte, wieder in die Riege der Forschungseinrichtungen aufgenommen zu werden; dann, nach erneuter Evaluierung, der Beschluss der Gemeinsamen Wissenschaftskommission von Bund und Ländern 2009, das ifo Institut von Januar 2010 an wieder als überwiegend forschende Einrichtung zu fördern; schließlich die Regelevaluierung 2012/2013 durch den Senat der Leibniz-Gemeinschaft, in der die Leistungen des Institutes mit besten Noten auf allen Arbeitsgebieten bewertet wurden. Eng verbunden mit dieser enormen Aufbauleistung ist die Tatsache, dass Professor Sinn heu te der in der Öffentlichkeit meistzitierte Wirtschaftswissenschaftler in Deutschland ist, sein Renommee weit über Deutschland hinausreicht und er im Rahmen der wirtschaftswissenschaftlichen Diskussion auf europäischer und internationaler Ebene zu den anerkanntesten Ökonomen gehört. Auch durch die Reorganisation und Stärkung des ifo Instituts hat er sein Ziel erreicht, die wirtschaftswissenschaftliche Diskussion aus Deutschland heraus auch international zur Geltung zu bringen und große Resonanz in der wirtschaftspolitischen Diskussion zu erzielen. Ein Beispiel unter vielen ist der jährliche Mu nich Economic Summit, den CESifo gemeinsam mit der BMW Stiftung Herbert Quandt seit 14 Jahren mit renommierter internationaler Besetzung aus Wissenschaft, Politik und Wirtschaft durchführt und der den großen europäischen Fragen gewidmet ist. Für mich ist es ein Glücksfall, dass Hans-Werner Sinn 1999 das Präsidentenamt bei ifo angetreten hat. Herzlichen Dank und alle guten Wünsche für die Zukunft ! Im Dienste der Profession: Hans-Werner Sinn als Motor des Wandels In Kooperation mit der LMU werden Promotionen beim ifo Institut gefördert. Abteilungsleiterpositionen im ifo Institut sollten auch durch Wissenschaftler besetzt werden können, die ihre Lehrstühle behalten. 261 Robert Haveman INSTITUTIONELLER WANDEL UND DIE UNWIDERSTEHLICHE KRAFT Im Dienste der Profession Robert Haveman ist John Bascom Emeritus Professor of Economics and Public Affairs, University of Wisconsin-Madison (USA) und Forschungsprofessor am ifo Institut. Er war Präsident des International Institute of Public Finance und Vorsitzender des Wissenschaft lichen Beirats des ifo Instituts. 262 Nur selten ist man in der Lage, aus unmittelbarer Nähe den radikalen Wandel einer wichtigen Institution beobachten zu können. Ich hatte dieses Privileg. Es begann im akademischen Jahr 1998 – 1999, als ich zusammen mit meiner Frau und Kollegin Barbara Wolfe eingeladen wurde, ein paar Monate als Gast am Center for Economic Studies (CES) zu verbringen. Das CES ist ein von Hans-Werner Sinn gegründetes und gelei tetes Institut der Universität München (LMU), das dazu dient, Wissenschaftler aus aller Welt miteinander ins Gespräch zu bringen. Während dieses Besuchs wurde bekannt, dass Hans-Werner zum Präsidenten des ifo Instituts ernannt worden war. Dass er dieses Amt angenommen hatte, war eine Überraschung. Denn das ifo war damals beileibe nicht dafür bekannt, eine universitätsnahe, wissenschaftlich ausgerichtete Forschungseinrichtung zu sein. Es war ein großes und altbacken arbeitendes Institut, das seinen Auftrag darin sah, Regierungen und die Wirtschaft mit Gutachten und Daten zu versorgen. Sein Status war seinerzeit von einem Forschungsinstitut in eine forschungsbasierte Serviceeinrichtung herabgestuft und die staatliche Förderung stark gekürzt worden. Für das damalige ifo-System war die Ernennung von Hans-Werner zum Präsidenten ein Schock, ein klassisches Beispiel dafür, wie ein festgefahrenes Objekt durch eine unwiderstehliche Kraft in Schwung gebracht wird. Eine der ersten Amtshandlungen HansWerners war die Etablierung einer Reihe von Lunchtime-Seminaren, um dort Forschungs ergebnisse vortragen und diskutieren zu lassen. Barbara Wolfe und ich wurden eingeladen, den Eröffnungsvortrag im »neuen ifo« zu halten. Wir haben damals über unsere Forschung über die Auswirkungen von Clintons Sozialgesetzgebungsreform (1996) auf Arbeit und Wohl ergehen vorgetragen. Der große Raum war gefüllt mit den damaligen ifo-Beschäftigten; nicht gerade jung und mit einem gewissen bü- Der Auftrag des ifo Instituts, Unternehmensdaten zu erheben und die Ergebnisse der Öffentlichkeit mitzuteilen, wird mit Hilfe moderner Methoden durchgeführt, und die Produkte dieser Anstrengungen werden heute weltweit bekannt gemacht. Der prominente ifo-Geschäftsklimaindex ist ein Konjunkturfrühindikator, der State-of-the-art-Methoden widerspiegelt. Die Database for Institutional Comparisons in Europe (DICE) bietet länderübergreifende Vergleiche mit systematischen Informationen über Institutionen und Regulierungen. So bekannt das ifo Institut für seine wissenschaftlichen Arbeiten ist : Die meisten dieser Studien haben ihren Ursprung im laufenden politischen Diskurs in Deutschland und Europa. Sie sind bemerkenswerte Beispiele, wie die neuesten theoretischen Erkenntnisse und empirischen Methoden der Volkswirtschaftslehre Politik beleuchten und anleiten können. Gleichzeitig beteiligen sich die ifo-Mitarbeiter regelmäßig an der öffentlichen Debatte. Insoweit bildet das ifo Institut eine hervorragende Brücke zwischen akademischer Forschung und öffentlicher Politikdebatte. Schließlich hat ifo einen wichtigen Ausbildungsauftrag : Sein Graduiertenprogramm um fasst mehr als 40 Doktoranden und bietet ihnen ein Umfeld, das ihnen das Schreiben herausragender Dissertationen und die Präsentation von Forschungsergebnissen auf der internationalen Bühne ermöglicht. Heute leistet ifo in Forschung, Politikberatung und Doktorandenausbildung Herausragendes. Während des radikalen institutionellen Wandels war die Zusammenarbeit zwischen dem Wissenschaftlichen Beirat sowohl mit dem ifo-Vorstand als auch den Leitern der Forschungsbereiche höchst produktiv. Der Beitrag, den Hans-Werner zur Transformation des ifo geleistet hat, gehört ganz oben auf die Liste seiner Lebensleistungen. Im Dienste der Profession: Hans-Werner Sinn als Motor des Wandels rokratischen Habitus. Anders als in Univer sitätsseminaren wurden kaum Fragen gestellt, und es kam zu keiner inhaltlichen Debatte – abgesehen von den Fragen, die Hans-Werner selbst in den Raum stellte. Mein Hauptgedanke war : »Weiß dieser Mann, was er sich damit antut ?« Aber das war eindeutig die falsche Frage; sie hätte lauten sollen : »Wissen die Leute, was mit ihnen geschieht ?« Nun, das war vor 16 Jahren. Seitdem wurde das ifo Institut zu einem einzigartigen und hochwertigen Wirtschaftsforschungsinstitut transformiert. Seit dem Jahr 2000 habe ich als Gastforscher und Forschungsprofessor und auch als Mitglied und Vorsitzender des Wissenschaftlichen Beirats des ifo Instituts aus erster Hand erlebt, wie das Institut zunächst umstrukturiert und teilweise abgewickelt wurde, um später wieder zu wachsen. Seitdem entwickelte ifo eine strikte Forschungsorientierung und enge Verbindungen zu zahlreichen in- und ausländischen Forschungsinstitutionen, und es kehrte Schritt für Schritt zurück in den angestrebten Status einer Leibniz-Forschungseinrichtung. Es wuchs in die Position als eine der renommiertesten Forschungseinrichtungen in Deutschland und eines der führenden ökonomischen Think Tanks in Europa hinein. Unter Hans-Werners Führung wurden acht Forschungsbereiche etabliert, die jeweils von einem anerkannten und aufstrebenden Bereichsleiter geführt werden, der einen Lehrstuhl an der LMU hat und das Prestige eines Universitätsprofessors genießt. Jeder ifo-Forschungsbereich ist ausgerichtet auf angewandte, politikorientierte Wirtschaftsforschung. Die ifo-Wissenschaftler veröffentlichen ihre Arbeiten regelmäßig in führenden internationalen Fachzeitschriften. Die ifo-Forscher produzieren mehr wissenschaftliche Publikationen als irgendeine andere wirtschaftswissenschaftliche Forschungseinrichtung in Deutschland. 263 Wilhelm Simson EIN TURNAROUND OHNEGLEICHEN Im Dienste der Profession Wilhelm Simson ist ehemaliger Vorstandvorsitzender der EON SE und Altpräsident des Verbands der Chemischen Industrie. Als Vorsitzender des Verwaltungsrats und des Kuratoriums des ifo Instituts in den Jahren 2001 bis 2010 begleitete er ifo in der Phase des Umbruchs. 264 Als ich mich auf Bitte der ifo-Organe bereit erklärte, im Verwaltungsrat des ifo Instituts mitzuwirken und dessen Vorsitz im Jahr 2001 zu übernehmen, ahnte ich nicht, dass ich Gelegenheit haben würde, einen der spannendsten und erfolgreichsten Turnarounds der deutschen Forschungsgeschichte mitzugestalten. Zuvor war das Institut in einer Evaluierung durch den Wissenschaftsrat (1996 – 1998) außer ordentlich kritisch bewertet worden, weil es sich unter dem früheren Vorstand trotz früher Warnungen des Wissenschaftsrats (1982) zu weit von der Wissenschaft entfernt hatte. Eine Schließung des Instituts konnte nur zum Preis der Umwandlung in eine Serviceeinrichtung – verbunden mit einer drastischen Kürzung der institutionellen Förderung – abgewendet werden. In dieser Situation übernahm der neue Vorstand unter Leitung von Hans-Werner Sinn das Ruder mit der Marschorder, es an die Spitze der deutschen Wirtschaftsforschungsinstitute zu führen. Als Hans-Werner Sinn und ich uns im Jahr 2001 zum ersten Mal trafen, erklärte ich ihm : Als Chemiker hätte ich nur begrenzte Kenntnisse von Betriebswirtschaft. Macht nichts, sagte Sinn, denn im ifo gehe es allein um die Volkswirtschaft. Dieser kurze Satz war Programm und sein persönliches Credo – und die erste wichtige Information für mich als Vor sitzenden des Verwaltungsrats. Es folgte in den nächsten zehn Jahren eine schier unglaubliche Erfolgsgeschichte. Existentiell wichtig war, dass die durch die Wirren der Evaluierung bis an die Grenzen der Insolvenz strapazierten Finanzen schon Ende 2002 saniert waren. Und dann gewann auch die Neuausrichtung des Instituts an Fahrt. Dazu war es nötig, eingefahrene Gleise zu verlassen. Auf der Grundlage einer ambitionierten Vision wurden die Aufgaben und Ziele neu definiert. Die Struktur des Instituts wurde reformiert und die Abläufe umgekrempelt, um das Institut effizient zu managen und möglichst viele Mittel lichkeit. Die Bereitstellung der Wirtschafts daten – hier besonders der renommierte ifo Geschäftsklimaindex – sowie Seminare und Vorträge mit eigenen und externen Wirtschaftswissenschaftlern machten das Institut zu einer festen Größe im öffentlichen Bewusstsein. Dazu kamen Statements von Hans-Werner Sinn in Nachrichtensendungen und Talkshows, in denen er seine unglaubliche Fähigkeit, komplexe wirtschaftliche Zusammenhänge in prägnanter Form dazustellen, voll zur Geltung bringen konnte. Seine Bucherfolge über brennende Themen machten ihn zu einem Erfolgsautor. Es ist ihm immer wieder gelungen, wichtige öffentliche Debatten zu verschiedenen Themen anzustoßen. Waren die ersten fünf Jahre meiner Tätigkeit im Verwaltungsrat von diesen Themen dominiert, so rückte in den nächsten sieben Jahren mehr und mehr die Rückumwandlung zum Forschungsinstitut in den Vordergrund. Ein erstes Etappenziel war erreicht, als der Senat der Leibniz-Gemeinschaft die gesamten ifoLeistungen sehr positiv bewertete und gleichzeitig ankündigte, im Jahr 2009 über die Rückstufung des ifo zur Forschungseinrichtung zu entscheiden, was dann auch geschah : Die Gemeinsame Wissenschaftskonferenz beschloss, das ifo ab 2010 wieder als Forschungseinrichtung zu fördern. Das ifo Institut hat nun – so der Leibniz-Senat – den Status eines führenden ökonomischen Think Tanks in Europa, wozu man der kompletten Belegschaft gratulieren muss. Bei dieser Entwicklung hatte Hans-Werner Sinn in Meinhard Knoche einen großartigen Mitstreiter, der ihm Managementaufgaben der Institutsleitung abnahm. Beide zusammen waren für mich das »Dream Team« des ifo Instituts. Dir, lieber Hans-Werner, wünsche ich einen bestimmt unruhigen, aber mit mehr Zeit für Familie und Hobbys erfüllenden Ruhestand. Im Dienste der Profession: Hans-Werner Sinn als Motor des Wandels in die Forschung stecken zu können. Die unterschiedlichsten Herausforderungen – Abbruch, Umbau, Forschungsoutput, Akquisition attraktiver Drittmittelprojekte, Beiträge zur Politikberatung, Heranbildung des wissenschaftlichen Nachwuchses, Service . . . – mussten in einem Konzept vernetzt werden. Es gab Diskussionen im Verwaltungsrat, wie das alles zu schaffen sei. Das betraf auch den Abbau von weit mehr als 100 Beschäftigten von 260 (1996) auf unter 150 Beschäftigte (2002), der dringend geboten und ein entscheidender Baustein war, die finanzielle Sanierung in Rekordzeit meistern und schon bald danach wieder junge, ehrgei zige Nachwuchskräfte einstellen zu können. Die Verhandlungen mit dem Betriebsrat waren schwierig, führten aber im Ergebnis zum Erfolg. Die Vision eines »internationalen Zentrums moderner politikorientierter, wirtschaftswissenschaftlicher Forschung und wissenschaftlich basierter Politikberatung« wurde Schritt für Schritt umgesetzt. Ein zentrales Hilfsmittel, die abgeschmolzenen Forschungskapazitäten wieder aufzustocken, war eine umfangreiche Drittmittelforschung, die half, die finanzielle Basis absichern und den jungen Wissenschaftlern Freiräume für Forschung einräumen zu können. Ein weiterer Baustein war die Inter nationalisierung, zu der die Tochtergesellschaft CESifo GmbH mit dem Aufbau des interna tionalen Forschernetzwerks entscheidend beitrug. Die mit Hilfe der neuen Organisation und Personalpolitik aufgebauten attraktiven Rahmenbedingungen für die Forschung und nicht zuletzt der Erfolg wirkten wie ein Magnet auf junge hervorragende Wissenschaftler. Das verhalf dem Institut nicht nur zu einem hervor ragenden Forschungsoutput, sondern machte es auch zu einem Sprungbrett zur Berufung von ifo-Forschern an angesehene Universtäten. Die nächste Stoßrichtung betraf die Öffent- 265 Günter Verheugen DIE EICHE IM WALD DER ÖKONOMIE Im Dienste der Profession Günter Verheugen, von 1999 bis 2010 EU-Kommissionsmitglied und von 2007 bis 2010 Europäischer Covorsitzender des Transatlantischen Wirtschaftsrates, lehrt an der Europa-Universität Viadrina zu Fragen der europäischen Integration und leitet das Carl Friedrich Goerdeler-Kolleg für Good Govern ance. 266 Heinrich Heine beschreibt im Wintermärchen in einer für ihn erstaunlich liebenswürdigen Weise die Westfalen als sentimentale Eichen. Nun, Heine kannte Hans-Werner Sinn nicht. Westfale ist er, eine trutzige Eiche im deutschen Ökonomen-Wald ist er auch, aber sentimental – nein, das kann man von Hans-Werner Sinn wirklich nicht sagen. Was er für richtig erkannt hat, das sagt er ohne Schnörkel und ohne jede Rücksicht auf Freund und Feind. Der Elfenbeinturm der reinen Wissenschaft ist jedenfalls sein Zuhause nicht. Ich bin nicht berufen, die wissenschaftliche Leistung von Hans-Werner Sinn zu würdigen. Was ich vielleicht beurteilen kann, ist die Wirkung, die er auf die deutsche und internatio nale Öffentlichkeit hat. Mir ist in Europa kein zweiter Nationalökonom gegenwärtig, der auch nur annähernd so viele politische Anstöße geliefert hat wie Hans-Werner Sinn. Das Wort »Anstöße« ist bewusst gewählt, und die Asso ziation mit »anstößig« durchaus gewollt. Nicht alle Politiker (und wohl auch Wissenschaftler) empfanden Sinns Befunde immer als hilfreich. Ihm ergeht es da ähnlich wie dem Papst. Wenn er etwas sagt, was einem in den Kram passt, dann beruft man sich gerne auf ihn. Wenn er aber etwas sagt, was einem ganz und gar gegen den Strich geht, dann heißt es, er solle sich gefälligst heraushalten. Ich weiß nicht mehr ganz genau, wann mir Hans-Werner Sinn zum ersten Mal aufgefallen ist, aber ich hatte schon, bevor wir uns kennen gelernt haben, das Gefühl, auf eine neue Spe zies gestoßen zu sein. Ein Wirtschaftswissenschaftler, der eine verständliche Sprache spricht, der sich nicht hinter einem Wall von Konjunktiven versteckt, sondern, um es in der Politikersprache zu sagen, »klare Kante« zeigt – das empfand ich als neu. Es ist inzwischen eine ganze Kohorte von Ökonomen in die Fußstapfen von Hans-Werner Sinn getreten, und es tut der Zunft nicht gut, dass man jetzt für jede gewünschte Posi Was die Eurokrise angeht, über die ich in vielen Fernsehsendungen und öffentlichen Veranstaltungen mit Hans-Werner Sinn diskutiert habe, so teile ich seine Analyse weitgehend. Die Währungsunion hatte von Anfang an einen schweren Konstruktionsfehler. Der Glaube an den Stabilitäts- und Wirtschaftspakt war bestenfalls blauäugig. Man mag sagen, dass das große politische Ziel wichtiger und dass etwas Besseres nicht zu haben war. Dass alle europäischen Finanzminister und die Fach leute der EU-Kommission den abschüssigen Pfad, auf den wir uns begeben hatten, schlicht ignoriert haben – das ist ein großes Versagen. Und auch wenn es schmerzhaft ist : Die Diagnose von Hans-Werner Sinn ist nicht nachträgliche Rechthaberei, sondern ein Signal für die Zukunft. Hans-Werner Sinn ist uneingeschränkt für das europäische Projekt. Die EU-Gegner können ihn nicht zu den Ihren zählen. Man ist aber nicht europafeindlich, wenn man Fehler und Versäumnisse in der Realisierung des euro päischen Integrationsmodells klar benennt. Für das, was die Europäische Union jetzt zu tun hat, wird die Stimme von Hans-Werner Sinn wichtig bleiben. Wir leben in einer Zeit, in der es uns allen zunehmend schwerfällt, eine klare Orientierung zu behalten. Da ist es gut, wenn es Leuchttürme gibt, deren Signale unmissverständlich sind. Hans-Werner Sinn hat seine Disziplin zu einem solchen Leuchtturm gemacht. Müssen jetzt nur noch die Steuerleute dem Signal folgen ? Ja, wenn man das wüsste . . . Im Dienste der Profession: Hans-Werner Sinn als Motor des Wandels tion »seinen« Ökonomen finden kann, der das bestätigt, was man gerne hören möchte. Aber ich denke, dass keiner an das Original heranreicht. In der wirtschafts- und gesellschaftspolitischen Debatte in Deutschland und Europa ist die Stimme von Hans-Werner Sinn unverwechselbar. Wirtschaftspolitik ist schon lange keine arkane Disziplin mehr. Wer in der Politik die ökonomischen Zusammenhänge nicht begreift, ist schon verloren. Mir scheint, dass Hans-Werner Sinn über seinen Fachbereich hinaus einen herausragenden Beitrag für die Weiterentwicklung des politischen Diskurses geleistet hat. Dazu gehört auch, dass er zwar bestimmt und konsequent auftritt, aber nicht besserwisserisch, herablassend oder intolerant. Man kann gut mit ihm diskutieren. Er hört zu, nimmt die Argumente seines Gegenübers ernst und ist durchaus bereit, anderen Auffassungen ihre Berechtigung zu lassen. In den letzten Jahren, in Zeiten der Krise, die Europa zu verschlingen droht, ist Hans-Werner Sinn zu erstaunlicher Popularität und Bekanntheit gelangt. Er hat die Debatte über die Eurokrise in ungewöhnlicher Weise bestimmt. Ich bin da nicht in allem seiner Meinung, vor allem wenn es um die sozialen Auswirkungen strikt ordnungspolitischer Positionen geht. Aber ich muss der Fairness halber hinzufügen, dass Hans-Werner Sinn für sich niemals in Anspruch genommen hat, der bessere Politiker zu sein. Auch wenn viele es versucht haben, er lässt sich nicht vereinnahmen. Das ist vermutlich einer der Gründe dafür, weshalb er heute unangefochten als der einflussreichste deutsche Ökonom gilt. 267 Monika Schnitzer HANS-WERNER SINN UND SEIN BEITRAG ZUR INTERNATIONALISIERUNG DES FORSCHUNGSSTANDORTS DEUTSCHLAND Im Dienste der Profession Monika Schnitzer hat den Lehrstuhl für Komparative Wirtschaftsforschung an der LMU inne. Sie ist Mitglied der Bayerischen Aka demie der Wissenschaften, des Wissenschaftlichen Beirats beim BMWi und der Expertenkommis sion Forschung und Innovation. Seit 2015 ist sie Vorsitzende des Vereins für Socialpolitik. 268 Vier Jahre lang hat Hans-Werner Sinn als Vorsitzender den traditionsreichen Verein für Socialpolitik geführt und geprägt, von 1997 bis 2000. Wie alle seine Aufgaben ging Hans-Werner Sinn auch dieses Amt mit dem Ziel an, etwas zu bewegen und zum Besseren zu ver ändern. Ich kann mich an viele Diskussionen im Kollegenkreis darüber erinnern, wie denn der fast 125 Jahre alte Verein erfolgreich ins 21. Jahrhundert zu führen wäre. Und wie so oft überzeugte Hans-Werner Sinn mit seiner Analyse und seinen Ideen. Als besonders wichtig sah er die Aufgabe an, die Internationalisierung des Forschungsstandorts Deutschland voranzutreiben. Um das zu verstehen, muss man sich zurückversetzen und vergegenwärtigen, wie sich die Situation für die deutsche Nationalökonomie damals darstellte. Bis in die 1990er Jahre hinein war Deutschland als Forschungsstandort für Ökonomie international wenig sichtbar. In internationalen Zeitschriften zu veröffentlichen, das war für die Mehrzahl der deutschen Forscher eher die Ausnahme denn die Regel. Fragte man Kollegen in den USA, welche deutschen Ökonomen und welche deutschen Fakultäten sie kennen würden, dann waren es nur wenige Namen und Standorte, die genannt wurden. Heute stellt sich die Situation ganz anders dar : Inzwischen ist es unverzichtbar, in internationalen referierten Zeitschriften zu veröffentlichen, und immer mehr deutschen Forschern gelingt es, mit ihren Arbeiten auch in den Top5-Zeitschriften zu landen. Junge Deutsche promovieren im Ausland, immer mehr deutsche Nachwuchsforscher gehen auf den internationalen Jobmarkt und werden erfolgreiche Professoren an renommierten US-Departments. Auf internationalen Konferenzen sind Forscher aus Deutschland in großer Zahl vertreten. Dass Deutschland als Forschungsstandort für Ökonomen inzwischen kein weißer Fleck auf der Landkarte mehr ist, dazu hat HansWerner Sinn in vielfältiger Weise beigetragen : Hans-Werner Sinns Amtszeit als Vereinsvor sitzender fiel. Seit 1997 wird mit diesem Preis jährlich ein(e) junge(r) Ökonom(in) unter 45 Jahren aus dem deutschsprachigen Raum ausgezeichnet, dessen/deren Forschung interna tionale Anerkennung erfahren hat. Es sollte also in besonderer Weise honoriert und sichtbar gemacht werden, wenn junge Nachwuchswissenschaftler mit ihrer Forschung interna tional erfolgreich sind. Und auch die dritte große Neuerung in Hans-Werner Sinns Amtszeit zielte auf eine stärkere Internationalisierung der deutschsprachigen Forschungslandschaft ab. Die Vereinszeitschrift war bis dato weitgehend in deutscher Sprache gehalten, erst vereinzelt wurden auch Beiträge in Englisch veröffentlicht. Dass deutsche Forscher aber im Ausland nicht gehört werden, wenn sie nur auf Deutsch ver öffentlichen, das stand für Hans-Werner Sinn außer Zweifel : »English is the lingua franca.« Unter seiner Führung wurde die bisherige Vereinszeitschrift abgelöst durch zwei neue Zeitschriften, eine englischsprachige, die German Economic Review, die sich an die internatio nale Forschergemeinschaft richtete, und eine deutschsprachige, die Perspektiven der Wirtschaftspolitik, die ein Forum für die wirt schaftspolitische Debatte in Deutschland bieten wollte. »The German Economic Review will be a bridge between German-speaking economists and the international economic community«, so Hans-Werner Sinn in seinem Vorwort zur ersten Ausgabe der German Economic Review im Jahr 2000. Wenn sich junge Nachwuchswissenschaftler heute wundern, warum es einer solchen Brücke bedarf, dann ist das der beste Beleg dafür, wie erfolgreich Hans-Werner Sinns Initiativen waren, um die deutschsprachigen Ökonomen stärker als zuvor in die internationale Forschungslandschaft zu integrieren. Im Dienste der Profession: Hans-Werner Sinn als Motor des Wandels durch die Gründung des CES und den Aufbau des CESifo-Forschernetzwerks, aber eben auch durch zahlreiche Neuerungen im Verein für Socialpolitik, die großen Anteil daran hatten, den Verein zu öffnen und die deutschsprachigen Ökonomen international sichtbarer zu machen. Für seine besonderen Verdienste im Verein wurde ihm 2014 auf der Jahrestagung in Hamburg die erste Gustav-Schmoller-Medaille verliehen, benannt nach einem der Gründer väter des Vereins. In der offiziellen Würdigung durch den Vorsitzenden Michael Burda hieß es : »Hans-Werner Sinn hat in seiner Zeit als Vorsitzender (1997 – 2000) zentrale Neuerungen im Verein für Socialpolitik eingeleitet. Durch die Neuauflage der Vereinszeitschriften, die Einführung des innovativen Vortragsprämienprogramms für Nachwuchswissenschaftler und die Erstvergabe des Gossen-Preises hat er dem Verein entscheidende Impulse gegeben, die einen nachhaltigen Einfluss auf unsere Gesellschaft haben werden.« Hans-Werner Sinns Vision war es, gerade die jungen Nachwuchswissenschaftler fit für den internationalen wissenschaftlichen Wettbewerb zu machen. Junge deutschsprachige Forscher sollten ermutigt werden, ihre Forinternationalen Konferenzen zu schung auf präsentieren und sich der internationalen Fachdiskussion zu stellen. Dazu warb HansWerner Sinn umfangreiche Mittel für ein Vortragsprämienprogramm speziell für junge Nachwuchs wissenschaftler ein. Dieses Programm, das seit inzwischen 18 Jahren interna tionale Konferenzbeiträge mit einem Gesamtfördervolumen von fast einer Million Euro unterstützt hat, trug wesentlich dazu bei, dass junge Nachwuchswissenschaftler aus dem deutschsprachigen Raum mittlerweile auf allen internationalen Konferenzen präsent sind. Ähnlich motiviert war auch die Einführung des Gossen-Preises, dessen erste Vergabe in 269 Robin Boadway HANS-WERNER SINNS VERMÄCHTNIS FÜR RATIONALE WIRTSCHAFTSPOLITIK: DER AUFBAU VON FORSCHUNGSINSTITUTIONEN Im Dienste der Profession Robin Boadway ist Emeritus der Queen’s University, Officer im Order of Canada, Fellow der Royal Society of Canada, Distinguished CES Fellow und Vorsitzender im Wissenschaftlichen Beirat des ifo Instituts. Er war Herausgeber des Journal of Public Economics und Präsident des IIPF. 270 Hans-Werner Sinn ist bekannt für seinen beispielhaften Beitrag zu aktuellen wirtschaftspolitischen Debatten in Deutschland und Europa. Doch ebenso wichtig ist sein Engagement bei der Entwicklung bedeutender Forschungseinrichtungen, die das Streben nach wissenschaftlicher Erkenntnis mit der Verbreitung fundierter Ideen zur Gestaltung von Politik verbinden; sie sind eine Ausbildungsstätte für künftige Generationen kritischer Wissenschaftler, die sich sowohl in der Forschung als auch in öffentlichen Politikdebatten engagieren. Diese Institutionen spiegeln Hans-Werners eigene Kompetenzen und Werte wider. Hans-Werners Engagement bei der Entwicklung von Institutionen begann vor 25 Jahren, als er kurz nach Übernahme des Lehrstuhls für Finanzwissenschaft an der Ludwig-Maximi lians-Universität München (LMU) das Center for Economic Studies (CES) gründete. Seitdem beherbergt das CES einen nie abbrechenden Strom von Gastwissenschaftlern, deren Semi- nare Kernbestandteile der Doktorandenausbildung und des intellektuellen Austauschs an der Volkswirtschaftlichen Fakultät sind. Finanzwissenschaft war anfangs das zentrale Forschungsgebiet des CES und bleibt weiterhin seine Stärke, wenngleich es inzwischen auch auf anderen großen Feldern der Ökonomie aktiv ist. Das Flaggschiff des CES sind die alljährlichen Munich Lectures, die von renommierten Wirtschaftswissenschaftlern gehalten und als Buch von MIT Press veröffentlicht werden. Sie haben sich als eine der führenden ökonomischen Vortragsreihen weltweit etabliert. Als Hans-Werner im Jahr 1999 ifo-Präsident wurde, hat sich die Dimension seiner Tätigkeit geradezu verdoppelt. Seine Führungsleistung außergewöhnlich zu nennen wäre eine Untertreibung. Hatte das ifo damals noch den Status einer Serviceeinrichtung, wurde es zügig in ein vollwertiges Leibniz-Forschungsinstitut umgewandelt, dessen Arbeit eng mit der Volkswirtschaftlichen Fakultät verknüpft wurde. Dies ist Kooperation zwischen CES und ifo Institut institutionalisierte. Deren Kern ist das weltweite Netzwerk von Wissenschaftlern, die zunächst als kurzfristige Gäste ans CES oder ifo kommen und dann eine permanente Verbindung eingehen. Die internationale Reichweite des CESifo wurde gestärkt durch jährliche Konferenzen der Netzwerk-Areas, die CESifo-Working-Paper-Reihe und politikorientierte Publikationen wie das CESifo Forum. Auf Hans-Werners Initiative hin wurde CESifo Mitherausgeber der Zeitschrift Economic Policy, und er war maßgeblich beteiligt an der Gründung der Zeitschrift German Economic Review durch den Verein für Socialpolitik. Zu Hans-Werners bedeutendsten Initiativen zählt, wie er seine Präsidentschaft des International Institute of Public Finance (IIPF) nutzte, um dessen Reputation als führender und ältester weltweiter Verbund der Finanzwissenschaftler zu stärken. Dank seines Einsatzes wurde das IIPF-Büro in das ifo Institut verlagert. Die akademische Bedeutung des IIPF wurde durch seine Verbindung mit der Zeitschrift International Tax und Public Finance und durch die von IIPF und CESifo gemeinsam ausgerichtete Richard Musgrave Lecture erhöht. Das Wirkungsspektrum dieser Institutionen, die Hans-Werner aufbaute, ist breit. Deren Beitrag zu den politischen Debatten in Europa wurde signifikant ausgeweitet, und ihre Be deutung für die wissenschaftliche Förderung einer neuen Generation junger Ökonomen in Deutschland und Europa kann nicht hoch genug bewertet werden. Vielleicht am bedeutsamsten ist, in welchem Ausmaß die interna tionale Ausstrahlung von CES, ifo Institut und CESifo die Zusammenarbeit unter jungen Wissenschaftlern aus vielen Ländern angeregt hat. Die Institutionen sind eine Hommage an Hans-Werners Energie und Weitblick. Im Dienste der Profession: Hans-Werner Sinn als Motor des Wandels in hohem Maß auf Hans-Werners Engagement, Talent und harte Arbeit zurückzuführen, nach dessen Bild das ifo Institut gestaltet wurde. Es leistet fundierte empirische Wirtschaftsforschung, um politische Debatten in Deutschland und über dessen Grenzen hinaus mit überzeugenden Argumenten und aus einem ideologiefreien Blickwinkel zu bereichern. Forschung und Politikberatung des ifo sind davon geleitet, was aus langfristiger Perspektive für die Wirtschaft und den gesellschaftlichen Fortschritt wichtig ist. Es legt Wert sowohl auf wissenschaftliche Publikationen in referierten internationalen Zeitschriften als auch auf politikorientierte Bücher und Berichte. Ein wesentlicher Baustein für die Umwandlung in ein vollwertiges Forschungsinstitut waren die Berufungen herausragender Forschungsbereichsleiter, die gleichzeitig als Professoren an der LMU tätig sind, sowie die Gewinnung junger Wissenschaftler, die ihre Forschung für das Institut mit ihrer Promotion oder Habilitation kombinieren. Die enge Verknüpfung des ifo mit der LMU war und ist der Schlüsselfaktor für die Gewinnung und Bindung dieses hochqualifizierten Personals. So stieg das ifo Institut schnell an die Spitze von Deutschlands Wirtschaftsforschungsinstituten auf, und sein Einfluss erstreckte sich bald auf Europa und darüber hinaus. Hans-Werner war mehr als nur ein Institutspräsident. Durch seine außergewöhnliche Forschungsleistung, vor allem in Form von Büchern, durch die Initi ierung neuer Forschungsfelder und durch die aktive Teilnahme an politischen Debatten in den Medien war er Vorbild für die leitenden Wissenschaftler wie auch für die Nachwuchswissenschaftler und prägte er den Ton im Ins titut. Die Symbiose aus akademischer und politikorientierter Forschung wurde mit der Gründung der CESifo GmbH verfestigt, die die enge 271 Bert Losse ABTEILUNG ATTACKE: HANS-WERNER SINN UND SEINE GASTBEITRÄGE IN DER WIRTSCHAFTS WOCHE – EINE PERSÖNLICHE RÜCKSCHAU Im Dienste der Profession Bert Losse ist Diplom-Volkswirt und stellvertretender Leiter des Politik-Ressorts der Wirtschafts Woche. Dort verantwortet er unter anderem die Heftstrecke »Der Volkswirt«. Vor seiner Tätigkeit bei der WirtschaftsWoche arbeitete er mehrere Jahre beim Magazin impulse. 272 Etwa alle vier Wochen, meistens donnerstags, kommt es zwischen Hans-Werner Sinn und der WirtschaftsWoche-Redaktion zu einem nahezu identischen Mailverkehr. Je nachdem, wer zuerst an den Termin denkt, steht darin : »Lieber Herr Losse, was soll ich schreiben ? HWS« oder »Lieber Herr Professor Sinn, haben Sie schon eine Idee für Ihre Kolumne ?« Die anschließende Diskussion ist kurz (Ökonomen würden sagen : effizient), und das Ergebnis lässt sich seit über zehn Jahren in der WirtschaftsWoche nachlesen, aktuell in der Heftstrecke »Der Volkswirt«. Es ist für Journalisten ja so eine Sache mit Gastautoren, zumal solchen aus der Wissenschaft. Bisweilen ist das Redigieren kein Vergnügen, die Texte sind nicht selten langatmig und verschachtelt, und wenn man sie vereinfacht, sind manche Autoren beleidigt. Bei HWS gab und gibt es diese Probleme so gut wie nie. Die Zusammenarbeit war stets angenehm und konstruktiv. Gut, seine Texteinstiege kommen gern etwas überfallartig, aber Sinn formuliert so, dass man seinen Gedankengängen auch ohne VWL-Diplom folgen kann; die Thesen sind klar und kontrovers, die Unterfütterung mit Daten und eigenen Berechnungen ist stets akkurat. Fragen zu Griechenland und der Europäischen Zentralbank (EZB) darf man ihm auch zu Zeiten zusenden, zu denen andere längst im Bett liegen. Es kann passieren, dass die Antwort um 0 :35 Uhr kommt. Mit wem hat sich Hans-Werner Sinn in den vergangenen Jahren nicht alles angelegt : An gela Merkel teilte er in einem offenen Brief via WirtschaftsWoche mit : »Sie sollten aufpassen, dass Sie nicht als Kanzlerin in die Geschichte eingehen, die Deutschlands Wohlstand verspielt hat.« Er kritisierte in seiner Kolumne die Spartengewerkschaften und die Umweltpolitik, er geißelte den gesetzlichen Mindestlohn und die Europäische Bankenunion, forderte die Pkw-Maut und eine Freihandelszone der EU mit Russland, er rechnete aus, warum die Ab- lierte eine Replik auf die Replik, und im Poli tikressort der WirtschaftsWoche brach leichte Nervosität angesichts der Frage aus, wie viel Reden und Gegenreden wohl noch folgen könnten. Aus anderen Ressorts kam die vorsichtige Rückfrage, ob das Thema Leistungs bilanz auf dem Lesermarkt tatsächlich massentauglich sei. Wer mit Hans-Werner Sinn zusammenarbeitet, muss nur drei Situationen fürchten. Erstens : Der ifo-Server hakt, so dass Mails im Nirvana landen (kommt selten vor). Zweitens : Sinn hat sich mal wieder eine neue (kryptische) E-Mail-Adresse zugelegt, weil die alte (ebenso kryptische) zu vielen Personen bekannt geworden ist und nun zu viel unerwünschte Post seinen elektronischen Briefkasten verstopft. Und drittens : Man schreibt eine eilige Nachricht und erhält diese Antwort : Dear sender, Prof. Sinn reserves certain times during the year for his research. Thus your mail will not be read. Doch irgendwie erreichte man sich am Ende immer. Hans-Werner Sinn schrieb für uns aus dem Urlaub auf Fuerteventura (über die Wirtschaftsaussichten für 2015), aus Italien (über die Abhängigkeit von russischem Gas) und während einer Chinareise (über die Ein-KindPolitik). Meine Lieblingsmail von Hans-Werner Sinn (er verzeihe mir an dieser Stelle die Abkehr von der journalistischen Verschwiegenheitspflicht) ist die Folgende : »Lieber Herr Losse, worüber soll ich schreiben ? Über das Wetter ? Oder über das Klima ? Gar das Wirtschaftsklima ? Oder über die Ferien, die wir alle dringend benötigen ?« Gar keine schlechte Idee. Ich bin sicher : Auch dazu würde ihm etwas Sinnvolles einfallen. Im Dienste der Profession: Hans-Werner Sinn als Motor des Wandels wrackprämie für Pkw der Volkswirtschaft schadet, und erklärt, warum das gesetzliche Rentenalter von 65 Jahren abgeschafft gehört. Mit Inbrunst und zum großen und anhaltenden Missfallen der Bundesregierung attackierte er die Rettungspolitik der EU im griechischen Dauerdrama (»Öffentliches Geld senkt den Reformdruck und verlängert den Schlendrian«) und die ordnungspolitische Rutschpartie der EZB, die für ihn »zur Bad Bank mutiert«. Einmal widmete einen ganzen Text der Frage, ob man Griechenland vom Entwicklungsstand her mit der Mongolei gleichsetzen könne. Im Frühjahr 2011 eröffnete er eine Debatte, die die Wirtschaftspolitik bis heute begleitet : die Frage der Target-Salden im Euro päischen System der Zentralbanken. Nur über die Erbschaftsteuer und die Reformpläne des Bundesfinanzministers wollte er trotz Bitten der Redaktion partout nicht schreiben. Das Thema sei ihm zu verworren. Auch Ökonomenkollegen geraten bisweilen in den Fokus, und wie es scheint, streitet sich Hans-Werner Sinn besonders gern mit Marcel Fratzscher, dem Präsidenten des Deutschen Instituts für Wirtschaftsforschung, etwa über Anleihekäufe der Notenbank oder die Ursachen des deutschen Exportüberschusses. Nach dem Sinn geschrieben hatte, die Überschüsse seien »Spiegelbild der milliardenschweren Rettungsmaßnahmen für Krisenländer, zu denen Deutschland gedrängt wurde«, und es sei »finsterste Winkelakrobatik, wenn man Deutschland vorwirft, es sei bei den Rettungsaktionen zu knausrig, und ihm andererseits seine großen Exportüberschüsse anlastet«, schickte uns Marcel Fratzscher eine kritische Replik. Die Reaktion aus München nach deren Veröffentlichung kam prompt : Hans-Werner Sinn formu- 273 Ulrich Wilhelm DAS HAT ER SICH VERDIENT – ÜBER DIE MEDIENMARKE HANS-WERNER SINN Im Dienste der Profession Ulrich Wilhelm, Journalist und Jurist, ist seit 2011 Intendant des Bayerischen Rundfunks und seit 2013 Mitglied im Executive Board der Europäischen Rundfunkunion (EBU). Von 2005 bis 2010 war er Chef des Presse- und Informa tionsamtes der Bundesregierung sowie Regierungssprecher. 274 Für viele Journalisten ist Hans-Werner Sinn ein »Medienstar«. Ein vergiftetes Lob ? Je mehr Sendeplätze und Kolumnen einer füllt, desto argwöhnischer wird gefragt : Ist diese Medienpräsenz wirklich gerechtfertigt, stehen dahinter auch gute und substanzielle Gedanken ? Bei Hans-Werner Sinn wird das wohl niemand bestreiten können. Kaum ein deutscher Ökonom hat es geschafft, so zu einem Meister des Agenda Settings zu werden wie Hans-Werner Sinn – dank einer klaren Haltung und sicher auch dank des Umstandes, zur richtigen Zeit mit den richtigen Inhalten am richtigen Ort gewesen zu sein. Zusammen mit seiner Frau Gerlinde beschreibt und kritisiert er 1991 in dem Buch Kaltstart die wirtschaftliche Gestaltung der Wiedervereinigung. Wenige Jahre später gibt er wesentliche Impulse für die Entwicklung der »Riester-Rente« : In einem Gutachten des Wissenschaftlichen Beirats beim Bundeswirtschaftsministerium formuliert er Eckpunkte für eine kapitalgedeckte Zusatzrente – nicht unbedingt zur Freude des damaligen Bundesarbeitsministers Norbert Blüm. 2003 veröffentlicht er seinen Bestseller Ist Deutschland noch zu retten? – ein Buch, mit dem er die Debatte um Gerhard Schröders Agenda 2010 anfeuert, auch wenn dieser später einmal über ihn sagen wird : »Dieser Herr Sinn – oder heißt er Unsinn ?« Dabei lässt sich Hans-Werner Sinn keiner politischen Couleur zuordnen oder »unterordnen«, wie er sagen würde, er sieht sich als Mitglied der »Wissenschaftspartei«. Wahrgenommen wird, wer Gelegenheiten beim Schopfe packt. Historische Zäsuren sind dafür ein gutes Umfeld. Der Fall der Mauer brachte eine Neuausrichtung des Medieninteresses. Die Politik wurde ökonomischer, die Berichterstattung ebenfalls. Das »Gleichgewicht des Schreckens« war der Aufmacher von gestern, die »Globalisierung« wurde zur neuen Headline. Hans-Werner Sinns akademische All das ohne großen Pressestab und Ghost writer. Der einzige Luxus, den er sich gönnt : Ab und zu nimmt er sich eine Auszeit, um in Ruhe ein Buch zu Ende zu schreiben. Das Handelsblatt kann ihn in einer Titelgeschichte als »Falschen Propheten« brandmarken – und freut sich doch weiterhin über seine engagierten Meinungsartikel. Selbstverständlich, unverdrossen, und warum auch nicht ? Hans-Werner Sinn hat sich auf diese Spielregeln eingestellt. Selbstironie gehört auch dazu. Alle kennen seinen markanten Bart, weshalb die taz aus ihm schon mal »Käpt’n Ahab im ifo« machte. Seitdem ziert der Artikel, eingerahmt zwischen akademischen Würden, den Flur des ifo Instituts – aufgehängt vom Chef persönlich. Medienverstand mal Tempo plus Inhaltstiefe hoch Fleiß – mit dieser Formel ist der Ökonom Sinn zur Medienmarke geworden. Mit handwerklichem Geschick, Mut zur Meinung und fachlicher Brillanz. Dieses rare Angebot wird auch weiterhin auf starke Nachfrage treffen. Denn Hans-Werner Sinn liebt den Dialog mit der Öffentlichkeit. Als Ökonom weiß er : Aufmerksamkeit ist eines der knappen Güter un serer Zeit. Wir schenken sie ihm, er schenkt sie uns. Ob er sie verdient hat, mag sein Publikum entscheiden. Dass er sie sich verdient hat, ist gewiss. Im Dienste der Profession: Hans-Werner Sinn als Motor des Wandels Entwicklung und die relevanten Fragen dieser Zeit – sie laufen synchron. Zur richtigen Zeit mit passendem Profil am richtigen Ort – das ist eine fraglos notwendige, aber sicher nicht hinreichende Bedingung für Hans-Werner Sinns Medienerfolg. Ein Erfolg, der kam, weil Wissenschaft für ihn nicht Selbstzweck ist. »In der Universität hat man doch einiges zu sagen, und ich möchte, dass das gehört wird« – mit diesem wissenschaftlichen Selbstbewusstsein tritt Sinn auf. Und das verständlich und, wenn gewünscht, auch in 30 Sekunden. Bei ihm wird in deutscher Sprache lebendig, was sonst vor allem angelsächsischen Ökonomen zugeschrieben wird. Die renommierte britische Zeitung The Independent wählte ihn vor diesem Hintergrund 2011 zu den »Ten People Who Changed The World«, vor allem wegen seiner erhellenden Analysen der Finanzkrise. Einem so technisch klingenden Begriff wie »Target-Salden« wird durch ihn Leben eingehaucht. All das zeigt : Hans-Werner Sinn hat das zentrale Themenfeld Wirtschaft mit den Be dürfnissen der Medienöffentlichkeit versöhnt. Selbst die immer anspruchsvolleren Rhythmen der Medienwelt bewältigt er in einem atem beraubenden Pensum. Er steht in- und ausländischen Reportern zur Verfügung, gibt Radiointerviews und bezieht in Talkshows Position. 275 HWS und der ehemalige bayerische Wirtschaftsminister Otto Wiesheu bei der 60-Jahr-Feier des ifo Instituts im Juni 2009. Meinhard Knoche, Wilhelm S imson – seinerzeit ifo-Ver waltungsratsvorsitzender – und HWS in der Jahresversammlung des ifo Instituts 2010. Koryphäen der Volkswirtschaftslehre bei HWS’ Geburtstagskon ferenz im April 2008: ( von links nach rechts ) Peter Birch Sørensen, Sir James Mirrlees, Monika Schnitzer, Assaf Razin, John D. Wilson und Michael Keen. 276 Nobelpreisträger Robert Solow und HWS bei der CESifo Economic Studies Konferenz »What’s Wrong with Modern Macro economics?« 2009. »Griechen zwangsgerettet – Europa gespaltet?« ( von links nach rechts ) Michalis Pantalouris, Peter Altmaier, Günter Verheugen, HWS und Silvia Wadhwa, bei Maybrit Illner am 16. Juli 2015. Professorenkollegen und gute Freunde: Pierre Pestieau, Robin Boadway und HWS im Juni 2009 am Rande der Richard Musgrave Lecture in München. 277 ANHANG BILDNACHWEISE Sämtliche Autorenporträts wurden von den jewei ligen Autoren zum Zwecke der Veröffentlichung in diesem Buch zur Verfügung gestellt. Die Bildrechte liegen bei den Autoren, sofern es nicht anders angegeben wird. VORWORT Fotos zur Zeitgeschichte: S. 12 oben Romy Bonitz, 22.10.2008 S. 12 Mitte Romy Bonitz, 12.06.2015 S. 12 unten Kinga Bien, 22.06.2004 S. 13 oben Romy Bonitz, 29.06.2006 S. 13 Mitte dpa, 17.10.2014 S. 13 unten Falk Heller/argum, 07.05.2002 KAPITEL 1 Autorenporträts: S. 16 Barbara Hartmann S. 22 Erzbischöfliches Ordinariat München (Fotograf : Klaus D. Wolf) S. 30 Xinwei Zhang, zuerst veröffentlicht im International Talent Magazine (China) S. 41 Reto Klar Anhang Fotos zur Zeitgeschichte: S. 44 oben Lorenz Böck, 25.04.2008 S. 44 Mitte Markus Siebler, 20.11.2013 S. 44 unten dpa, 20.04.2009 S. 45 oben Romy Bonitz, 22.04.2009 S. 45 Mitte dpa – Bildarchiv, 18.02.2004 S. 45 unten Andrea Rapl, 05.08.2008 280 KAPITEL 2 Autorenporträts: S. 52 Alessandra Schellnegger S. 62 Tristan Rösler Photography S. 64 Deutscher Bundestag/ Stella von Saldern Fotos zur Zeitgeschichte: S. 68 oben ifo, 10.11.1999 S. 68 Mitte Romy Bonitz, 04.02.2014 S. 68 unten Romy Bonitz, 11.10.2007 S. 69 oben Romy Bonitz, 28.09.2015 S. 69 Mitte Romy Bonitz, 13.07.2013 S. 69 unten Klaus-Reiner Klebe, 02.05.2003 KAPITEL 3 Autorenporträts: S. 84 Jan Voth Fotos zur Zeitgeschichte: S. 90 oben Romy Bonitz, 28.06.2010 S. 90 Mitte Hilmar Jönke, 06.11.2001 S. 90 unten Renate Meitner, 04.07.2014 S. 91 oben Klaus-Reiner Klebe, 02.05.2003 S. 91 Mitte Ulf Huber, 21.06.1999 S. 91 unten Klaus-Reiner Klebe, 05.05.2006 KAPITEL 4 Fotos zur Zeitgeschichte: S. 112 oben Kinga Bien, 24.11.2004 S. 112 Mitte Romy Bonitz, 24.01.2006 S. 112 unten Romy Bonitz, 29.06.2007 S. 113 oben Kinga Bien, 22.06.2004 S. 113 Mitte Romy Bonitz, 25.10.2010 S. 113 unten Romy Bonitz, 12.06.2015 Fotos zur Zeitgeschichte: S. 138 oben Lorenz Böck, 21.05.2015 S. 138 Mitte Romy Bonitz, 04.02.2013 S. 138 unten Romy Bonitz, 25.10.2012 S. 139 oben Lorenz Böck, 21.05.2015 S. 139 Mitte CES, 1992/93 S. 139 unten Romy Bonitz, 17.04.2008 KAPITEL 6 Autorenporträts: S. 148 Julica Bracht/RWI S. 156 Laurence Chaperon Fotos zur Zeitgeschichte: S. 160 oben Leonhard Lenz, 06.06.2009 S. 160 Mitte Hilmar Jönke, 19.11.2002 S. 160 unten Romy Bonitz, 13.05.2015 S. 161 oben Markus Zimmer, 19.11.2014 S. 161 Mitte Romy Bonitz, 12.06.2015 S. 161 unten Romy Bonitz, 20.01.2010 KAPITEL 7 Autorenporträts: S. 168 Laurence Chaperon S. 170 Frank Rumpenhorst/Bundesbank S. 176 David Ausserhofer Fotos zur Zeitgeschichte: S. 184 oben Lorenz Böck, 29.04.2010 S. 184 Mitte Andrea Rapl, 05.08.2008 S. 184 unten Romy Bonitz, 10.10.2007 S. 185 oben Romy Bonitz, 28.05.2014 S. 185 Mitte Lorenz Böck, 29.04.2010 S. 185 unten Romy Bonitz, 26.04.2008 KAPITEL 8 Autorenporträts: S. 202 Nordrhein-westfälische Akademie der Wissenschaften Ilja C. Hendel/BMF S. 216 Fotos zur Zeitgeschichte: S. 218 oben Ulf Huber, 21.06.1999 S. 218 Mitte Lorenz Böck, 21.05.2015 S. 218 unten Romy Bonitz, 28.06.2006 S. 219 oben Romy Bonitz, 14.06.2013 S. 219 Mitte Romy Bonitz, 14.06.2013 S. 219 unten Romy Bonitz, 26.06.2013 KAPITEL 9 Autorenporträts: S. 230 Jörg Carstensen/dpa Stefan Brending S. 240 Fotos zur Zeitgeschichte: S. 244 oben Leonhard Lenz, 06.06.2008 S. 244 Mitte Hilmar Jönke, 25.11.2013 S. 244 unten Romy Bonitz, 26.04.2008 S. 245 oben Romy Bonitz, 10.10.2007 S. 245 Mitte Lorenz Böck, 20.05.2011 S. 245 unten Klaus-Rainer Klebe, 04.05.2006 KAPITEL 10 Foto im Beitrag von Ulrich Wilhelm: S. 275 Romy Bonitz, 29.06.2006 Fotos zur Zeitgeschichte: S. 276 oben Romy Bonitz, 23.06.2009 S. 276 Mitte Romy Bonitz, 28.06.2010 S. 276 unten Lorenz Böck, 25.04.2008 S. 277 oben Romy Bonitz, 06.11.2009 S. 277 Mitte dpa, 16.07.2015 S. 277 unten Romy Bonitz, 25.05.2009 KARIKATUREN S. 14 : S. 46 : S. 70 : S. 92 : S. 114 : S. 140 : S. 162 : S. 186 : S. 220 : S. 246 : Torsten Wolber Torsten Wolber Bernhard Prinz Torsten Wolber Torsten Wolber Dirk Meissner Heiko Sakurai Miriam Migliazzi & Mart Klein Bernhard Prinz Frank Hoppmann Anhang KAPITEL 5 281 Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar. Dieses Werk ist urheberrechtlich geschützt. Alle Rechte, auch die der Übersetzung, des Nachdruckes und der Vervielfältigung des Buches oder von Teilen daraus, vorbehalten. Kein Teil des Werkes darf ohne schriftliche Genehmigung des Verlages in irgendeiner Form (Fotokopie, Mikrofilm oder ein anderes Verfahren), auch nicht für Zwecke der Unterrichtsgestaltung – mit Ausnahme der in den §§ 53, 54 URG genannten Sonderfälle –, reproduziert oder unter Verwendung elektro nischer Systeme verarbeitet, vervielfältigt oder verbreitet werden. 2 3 4 5 20 19 18 17 16 © 2016 Carl Hanser Verlag München www.hanser-literaturverlage.de Herstellung: Denise Jäkel Umschlaggestaltung: Hauptmann & Kompanie Werbeagentur, Zürich unter Verwendung einer Fotografie von Romy Bonitz Satz: Kösel Media GmbH, Krugzell Druck und Bindung: Firmengruppe Appl, aprinta druck, Wemding Printed in Germany ISBN 978-3-446-44791-2 Sinn_02_festschrift_anhang.indd 282 17.02.2016 12:44:11 DIE WICHTIGSTEN WERKE VON HANS-WERNER SINN Der Euro. Von der Friedensidee zum Zankapfel Carl Hanser Verlag, 2015, 560 Seiten, auch als E-Book erhältlich Die Target-Falle. Gefahren für unser Geld und unsere Kinder Carl Hanser Verlag, 2012, 418 Seiten, auch als E-Book erhältlich Kasino-Kapitalismus. Wie es zur Finanzkrise kam, und was jetzt zu tun ist Zuerst erschienen im Econ Verlag, 2009, 351 Seiten Das grüne Paradoxon. Plädoyer für eine illusionsfreie Klimapolitik Zuerst erschienen im Econ Verlag, 2008, 477 Seiten Die Basar-Ökonomie. Exportweltmeister oder Schlusslicht? Zuerst erschienen im Econ Verlag, 2005, 247 Seiten Ist Deutschland noch zu retten? Zuerst erschienen im Econ Verlag, 2003, 499 Seiten Kaltstart. Volkswirtschaftliche Aspekte der deutschen Vereinigung Zuerst erschienen im Mohr Siebeck Verlag, 1991, 242 Seiten Weitere Informationen zum Autor und seinen Büchern: www.hanswernersinn.de 25 JA HR E DEUTSCHE WIRTSCHA FTSPOLITIK Hans-Werner Sinn hat wie kein anderer Wissenschaftler die wirtschaftspolitische Diskussion der letzten 25 Jahre in Deutschland geprägt. Anlässlich seines Eintritts in den Ruhestand als Präsident des ifo Instituts sowie als Professor an der Universität München stellen in diesem Buch 111 bedeutende Persönlichkeiten aus Wissenschaft, Politik, Wirtschaft und Medien ihre Sicht auf die wichtigsten Themen dieser Debatte vor. Damit liefert das Buch nicht nur einen Rückblick auf Sinns öffentliches Wirken, sondern bietet zugleich eine geschichtliche Tour d’Horizon der großen Streitfragen eines Vierteljahrhunderts deutscher und europäischer Wirtschaftspolitik. ISBN 978-3-446-44791-2 24,90 € [D] 25,60 € [A] WG 970 www.hanser-literaturverlage.de