Hans-Werner Sinn - CESifo Group Munich

Transcrição

Hans-Werner Sinn - CESifo Group Munich
HANS-WERNER
SINN
UND
25 JAHRE
DEUTSCHE
WIRTSCHAFTSPOLITIK
HERAUSGEGEBEN VON
GABRIEL FELBERMAYR | MEINHARD KNOCHE | LUDGER WÖßMANN
HANS-WERNER SINN
UND 25 JAHRE
DEUTSCHE WIRTSCHAFTSPOLITIK
HANS-WERNER SINN
UND 25 JAHRE
DEUTSCHE WIRTSCHAFTSPOLITIK
Herausgegeben von
Gabriel Felbermayr | Meinhard Knoche | Ludger Wößmann
INHALT
INHALT
VORWORT10
4
1 VOM LINKEN ZUM LIBERALEN : Hans-Werner Sinn
und die deutsche Wirtschaftspolitik
15
LUDGER WÖSSMANN : Einleitung
16
HORST SEEHOFER : Soziale Marktwirtschaft – ein Erfolgsmodell für Bayern
und Deutschland
18
WOLFGANG CLEMENT : Ein Mahner aus Prinzip
20
REINHARD KARDINAL MARX : Leitbild Chancengerechtigkeit
22
ULRICH GRILLO : Der Ökonomie-Erklärer – von A wie Arbeitsmarkt
bis Z wie Zuwanderung
24
ROLAND BERGER : Hans-Werner Sinn: Volkswirt, Kommunikator, Manager
26
WOLFGANG FRANZ : Die Eiger-Nordwand und der Kombilohn: eine Reminiszenz
28
EDMUND PHELPS : Hans-Werner Sinn und Deutschlands natürliche Arbeitslosenrate
30
JAMES POTERBA : Rentenreform: Hans-Werners Forschung und politischer Einfluss
32
ASSAF RAZIN : Über den Jungen, den Politökonomen, den Unternehmer und
den Freund
34
CARL CHRISTIAN VON WEIZSÄCKER :  Hans-Werner Sinns Habilitationsschrift
36
ROLAND TICHY : Zwischen Sinn-Gap und Target-Falle gebofingert
38
KAI DIEKMANN : 25 Gründe, warum Hans-Werner Sinn als ifo-Präsident fehlen wird
41
2 KALTSTART : Hans-Werner Sinn und die Wiedervereinigung
47
MARCEL THUM : Einleitung
48
GEORG MILBRADT : Vereinigung ohne wirtschaftlichen Kompass
50
MARC BEISE : Der Trabi-Mann
52
MICHAEL C. BURDA : Die deutsche Wiedervereinigung als ökonomische
Herausforderung54
HOLGER STELTZNER : Der Kaltstart von Professor Sinn
56
CHARLES B. BLANKART : Wahlkampfkosten 1990
58
KARL-HEINZ PAQUÉ : Deutsche Einheit im Modell
60
REINHOLD FESTGE : Ein absehbarer Niedergang – die ostdeutsche Industrie
nach der Wiedervereinigung
62
GREGOR GYSI : Ein scharfsinniger Kopf und ein Marktradikaler außerirdischer
Dimension64
HAROLD JAMES : Hans-Werner Sinn, Kassandra und die Lesbos-Regel des Aristoteles
66
3 GERONTOKRATIE : Hans-Werner Sinn und die Rentenreformen
71
NIKLAS POTRAFKE : Einleitung
72
AXEL BÖRSCH-SUPAN : Eltern und Kinder: Was uns im Innersten bewegt
74
FRIEDRICH BREYER : Wem dient Nachhaltigkeit in der Rentenfinanzierung?
76
PETER DIAMOND : Die Riester-Rente
78
DAVID E. WILDASIN : Hans-Werner Sinn: Ein Tribut an seine Beiträge zur Forschung
in Volks­wirtschaftslehre und Politik
80
URSULA ENGELEN-KEFER : Diskurs zu Demographie und Generationengerechtigkeit
82
RITA SÜSSMUTH : »Kinder kriegen die Leute immer« – oder?
84
BERND RAFFELHÜSCHEN : Was war, was ist, was kommt?
86
THIESS BÜTTNER : Positive externe Effekte der Erziehung und Ausbildung von Kindern
88
4 IST DEUTSCHLAND NOCH ZU RETTEN? Hans-Werner Sinn
und die arbeits- und sozialpolitischen Reformen
93
HELMUT RAINER : Einleitung
94
WOLFGANG WIEGARD : HWS: »falscher Prophet« oder Ideengeber für die
Agenda 2010?
96
PETER HARTZ : Die Langzeit- und Jugendarbeitslosigkeit ist in der sozialen
Marktwirtschaft lösbar
100
PETER BIRCH SØRENSEN : Hans-Werner Sinns Blaupause für eine Arbeitsmarktreform
und die skandinavische Alternative
102
INHALT
DIETER HUNDT : Auf dem Erreichten nicht ausruhen, sondern Herausforderungen
annehmen98
5
I NHALT
6
ALFRED GAFFAL : Mit »Sinn« und Verstand: Leidenschaftlicher Verteidiger
der Sozialen Marktwirtschaft
104
JOACHIM MÖLLER : Reibeflächen: Hans-Werner Sinn und die Unvollkommenheit
des Arbeitsmarktes
106
MATTHIAS WISSMANN : Wettbewerbsfähigkeit – der Schlüssel zum Erfolg
108
RONNIE SCHÖB : Für einen aktivierenden Sozialstaat
110
5 BASARÖKONOMIE : Hans-Werner Sinn und die Globalisierung
115
GABRIEL FELBERMAYR : Einleitung
116
PETER EGGER : Von Verlagerungs- und Export­weltmeistern
118
WILHELM KOHLER : Hans-Werner Sinns These des pathologischen Exportbooms
120
THOMAS FRICKE : Exportwunder in der Basarökonomie
122
MICHAEL HEISE : Die These der Basarökonomie: ein politischer Weckruf
124
RUPERT STADLER : Erfolg auf dem Basar
126
MANFRED WITTENSTEIN : Hans-Werner Sinn: Partykiller mit gutem Grund
128
ILSE AIGNER : Die Globalisierung als Erfolgsfaktor für Bayern
130
JOHN WHALLEY : Hans-Werner Sinn und die Globalisierung
132
JOHN PEET : Vom Freihandel
134
KARLHANS SAUERNHEIMER : Hans-Werner Sinn im Außenwirtschaftsausschuss
136
6 DAS GRÜNE PARADOXON : Hans-Werner Sinn
und die Klima- und Energiepolitik
141
KAREN PITTEL : Einleitung
142
RICK VAN DER PLOEG : Die potenzielle Kontraproduktivität von
Second-best-Maßnahmen in der Klimapolitik
144
NICHOLAS STERN : Hans-Werner Sinn, der Klimawandel und das grüne Paradoxon
146
CHRISTOPH M. SCHMIDT : Missionar der Rationalität: Hans-Werner Sinn
und das »grüne Para­doxon« in der Energie- und Klimapolitik
148
MARTIN FAULSTICH : HWS und die Energiewende
150
OTTMAR EDENHOFER : Klimapolitik im Zeitalter der fossilen Energieträger
152
SIGMAR GABRIEL : Hans-Werner Sinn: Ein Ökonom und Treiber des politischen
Diskurses154
JÜRGEN TRITTIN : Der grüne Sinn – ein Paradox? Zum Abschied eines aufrechten
Neoliberalen156
PETER-ALEXANDER WACKER : Paradox: der Zickzack-Kurs ins nachfossile Zeitalter
158
7 KASINO-KAPITALISMUS : Hans-Werner Sinn
und die Finanzarchitektur
163
OLIVER FALCK : Einleitung
164
CLEMENS FUEST : Kasino-Kapitalismus und Risiko als Produktionsfaktor –
ein Abend in einem Restaurant in Paris
166
HORST KÖHLER : Wissen, um zu wirken
168
CLAUDIA M. BUCH : Hausordnung für das Kasino
170
AXEL A. WEBER : Nachhaltigkeit statt Kasino
172
KAI A. KONRAD : Wirtschaftspolitik in der Finanzkrise
176
JAN-EGBERT STURM : Die Finanzkrise 2008: Folge und Spiegel­bild von Fehlanreizen
im Bankensektor
178
FRANK WESTERMANN : Wie aus Forschung Politikberatung wird: Die Vorgeschichte
zum Kasino-Kapitalismus
180
MARTIN WOLF : Hans-Werner Sinn zur globalen Finanzkrise
182
8 TARGET-FALLE : Hans-Werner Sinn und die Zukunft Europas
187
TIMO WOLLMERSHÄUSER : Einleitung
188
HELMUT SCHLESINGER : Vom Posten in der Bundesbankbilanz zur Target-Falle
190
MALTE FISCHER : Spektakuläre Aufklärungsarbeit
192
OTMAR ISSING : Die Target-Falle – viel Lärm um nichts?
194
KAI CARSTENSEN : Worte statt Akronyme – Hans-Werner Sinn und die Eurorettung
196
MARCEL FRATZSCHER : Target-Falle oder Fluchthilfe?
198
MARK SCHIERITZ : Zwischen allen Schubladen
200
PHILIP PLICKERT : Ein spätberufener Kritiker der Eurorettung
202
JÜRGEN STARK : Über Target und andere Fallen
204
JENS WEIDMANN : Die Währungsunion braucht ein stabiles Fundament
206
MARTIN FELDSTEIN : Hans-Werner Sinn und die Haushaltsdefizite
208
INHALT
THEODOR WEIMER : HWS’ BLOOS-Ansatz: Wie bekommen wir nützliche
Finanzintermediäre?174
7
GILLES SAINT-PAUL : Die Gefahr des Konsenses
210
DIETRICH MURSWIEK : Die EZB vor dem Bundesverfassungs­gericht –
Staatsanleihenkäufe, Target-Kredite und Hans-Werner Sinn
212
MARKUS SÖDER : Hans-Werner Sinn und die Zukunft der Wirtschafts- und
Währungsunion214
WOLFGANG SCHÄUBLE : Ökonom, Kommunikator, Europäer – eine Bitte an
Hans-Werner Sinn
216
9 DIE MIGRATIONSWELLE : Hans-Werner Sinn
und die Zuwanderungsdebatte
221
PANU POUTVAARA : Einleitung
222
I NHALT
KLAUS F. ZIMMERMANN : Migration: Empirische Evidenz und ökonomische
Rationalität224
8
GIUSEPPE BERTOLA : Hans-Werner Sinns Herkunftsprinzip für Migration
und Sozialstaat
226
JOACHIM HERRMANN : Asylmissbrauch stoppen – Zuwanderung steuern !
228
OTTO SCHILY : »Wir sind am Beginn einer neuen Migrationswelle.« –
Hans-Werner Sinn im Dezember 2013
230
SILKE ÜBELMESSER : Die Richtigen? !
232
MARTIN WERDING : Spiel ohne Grenzen: Die Freizügigkeitsdebatte
234
HOLGER BONIN : »So wie die Zuwanderung läuft, läuft sie falsch.«
236
REINER KLINGHOLZ : Deutschland ist nicht Kanada
238
HERBERT BRÜCKER : Ist Migration ein Verlustgeschäft für den Staat?
Eine kritische Würdigung
240
ECKHARD CORDES : Mit Karte und Kompass gegen den demographischen Wandel
242
10 IM DIENSTE DER PROFESSION : Hans-Werner Sinn
als Motor des Wandels
247
MEINHARD KNOCHE : Einleitung
248
ROBERT SOLOW : Ein Musterbeispiel institutionellen Unternehmertums
250
HANS ZEHETMAIR : Ein Glücksgriff nicht nur für Bayern
252
BERND HUBER : Hans-Werner Sinn: Heiteres und Ernstes
254
AGNAR SANDMO : Führung durch Vorbild
256
ALFONS WEICHENRIEDER : Das CES als Baustein der Internationalisierung
und Nachwuchsförderung
258
OTTO WIESHEU : Vom Elfenbeinturm in die Politikberatung
260
ROBERT HAVEMAN : Institutioneller Wandel und die unwiderstehliche Kraft
262
WILHELM SIMSON : Ein Turnaround ohnegleichen
264
GÜNTER VERHEUGEN : Die Eiche im Wald der Ökonomie
266
MONIKA SCHNITZER : Hans-Werner Sinn und sein Beitrag zur Internationalisierung
des Forschungsstandorts Deutschland
268
ROBIN BOADWAY : Hans-Werner Sinns Vermächtnis für rationale Wirtschaftspolitik:
Der Aufbau von Forschungsinstitutionen
270
BERT LOSSE : Abteilung Attacke: Hans-Werner Sinn und seine Gastbeiträge in der
­WirtschaftsWoche – eine persönliche Rückschau
272
ANHANG
279
BILDNACHWEISE
280
INHALT
ULRICH WILHELM : Das hat er sich verdient – über die Medienmarke Hans-Werner Sinn 274
9
VORWORT
VORWORT
10
Eine Ära neigt sich dem Ende zu : Die Amts­zeiten von Hans-Werner Sinn als Professor an der
Ludwig-Maximilians-Universität München (LMU) und Präsident des ifo Instituts e­nden am
31. März 2016. Über ein Vierteljahrhundert hinweg – davon 17 Jahre als ifo-Prä­sident – war er die
meistgehörte und nach ­ein­helliger Ökonomen-Meinung auch die einflussreichste Stimme der
Wissenschaft in der wirtschaftspolitischen Debatte in Deutschland. Seine Emeritierung ist nicht
nur eine persönliche Zäsur, sondern verändert auch das Gefüge der politikorientierten Wirtschaftsforschung in Deutschland; ein idealer Zeitpunkt, auf den wohl bedeutendsten Abschnitt
des beruflichen Schaffens Hans-Werner Sinns zurückzublicken, der zugleich eine der spannendsten Phasen der wirtschaftspolitischen Entwicklung Deutschlands war.
In diesem Buch kommen namhafte Zeitzeugen zu Wort, die in ihren beruflichen und gesellschaftlichen Funktionen insbesondere in Wirtschaft, Politik, Wissenschaft und Medien unmittelbar mit den wirtschaftspolitischen Aktivitäten Hans-Werner Sinns konfrontiert waren. In ihren
Beiträgen setzen sie sich aus ihrer ganz persönlichen Sicht mit einzelnen Aspekten seines Schaffens auseinander. Das Ergebnis sind 111 Mosaiksteine, die sich in diesem Buch zu einem faszinierenden Gesamtbild einer persönlichen Karriere und zugleich einer wirtschaftsgeschichtlichen
Epoche zusammenfügen; eine Tour d’Horizon der großen Streit­themen der jüngeren wirtschaftspolitischen Debatte und ein fulminanter Abriss über 25 Jahre deutsche Wirtschaftspolitik.
Hans-Werner Sinn ist ein herausragender Wissenschaftler und begnadeter Kommunikator. Er
nutzt diese Verbindung, um den Brückenschlag von der Wissenschaft in die öffentliche Debatte zu
schaffen. »Ich möchte die volkswirtschaftliche Theorie für die Bevölkerung so in Worte kleiden,
dass sie verstanden wird«, schrieb er Anfang 2015 auf seinem Twitter-Account. Als einer der auch
international angesehensten in Deutschland wirkenden Ökonomen seiner Generation ist er nicht
im Elfenbeinturm des Theoretikers geblieben. Er geht hinaus in die öffentlichen Debatten und
Talkshows, schreibt Bestseller und Zeitungs­kolumnen zuhauf. Die thematischen Highlights sei­ esentlichen deckungsgleich mit den Höhepunkten der wirtnes öffentlichen Wirkens sind im W
schaftspolitischen Debatte in den letzten 25 Jahren. Er hat alle wichtigen Themen der deutschen
Wirtschaftspolitik umgehend aufgenommen, wenn er sie nicht selbst in die öffentliche Diskussion
eingeführt hat – oft als »Weltverbesserer«, dem die Zukunft Deutschlands und Europas sehr am
Herzen liegt.
Neben seinem wissenschaftlichen und öffentlichen Wirken hat sich Hans-Werner Sinn als »Institution Builder« einen Namen gemacht. Er hat in München mit ifo, CESifo und CES eine Plattform für angewandte und politikorientierte wirtschaftswissenschaftliche Forschung und Diskus-
München, im September 2015
Gabriel Felbermayr
Meinhard Knoche
Ludger Wößmann
VORWORT
sion aufgebaut, die in Europa ihres­gleichen sucht. Dieses Forum spiegelt seine persönliche
Ausrichtung an höchsten wissenschaftlichen Ansprüchen und seine Welt­of­fen­heit wider. Die
­Öffnung hin zum internationalen wissenschaftlichen Wettbewerb hat er auch in seiner Zeit als
Vorsitzender des traditionsreichen Vereins für Socialpolitik, der Vereinigung der Ökonomen im
deutschsprachigen Raum, für die deutsche Volkswirtschaftslehre insgesamt vorangetrieben.
Unsere Zeitreise beginnt mit Hans-Werner Sinns Beitrag zur Debatte zur wirtschaftlichen Wiedervereinigung. Das 1991 erschienene Buch Kaltstart war der Startschuss für Hans-Werner Sinns
öffentlich breit sichtbaren Auftritt. Ab der Übernahme der ifo-Präsidentschaft 1999 kamen prägende Beiträge zur arbeits- und sozialpolitischen Debatte, zur Renten- und zur Migrationsde­
batte, zur Globalisierungsdebatte, zur Energiepolitik und nicht zuletzt zur Finanz-, Banken- und
Eurokrise und zur Zukunft Europas hinzu. Viele dieser Beiträge sind Gegenstand seiner Bestseller
Ist Deutschland noch zu retten?, Basarökonomie, Das grüne Paradoxon, Kasino-Kapitalismus und
Target-Falle, die unsere Zeitreise strukturieren.
Das Buch ist ein Gemeinschaftswerk, in das sich viele Personen in außerordentlich engagierter
Weise eingebracht haben. Das sind zuallererst die Autoren : Sie sind die Hauptakteure, die mit
­ihren Beiträgen die Grundlage für dieses Buch gelegt haben. Ihnen sind wir zu besonderem Dank
verpflichtet. Das gilt vor allem auch für die Leiter der Forschungsbereiche des ifo Instituts und der
ifo-Niederlassung Dresden, die die einzelnen Kapitel dieses Buchs betreut und die Einleitungen
geschrieben haben. Ein besonderer Dank gilt auch der Gesellschaft zur Förderung der wirt­schafts­
wissenschaft­lichen Forschung (Freunde des ifo Instituts) und ihrem Vorsitzenden Roland Berger,
die die Kosten der Produktion dieses Buchs mit einer großzügigen Spende vollständig finanziert und es uns damit ermöglicht haben, das Buch herauszugeben. Auch ohne die tatkräftige und
fachkundige Unterstützung durch Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter des ifo Instituts und des
­Verlags hätte das Buch nicht erscheinen können. Die organisatorische Hauptlast lag bei Thomas
Steinwachs, der das Projektmanagement bestens im Griff hatte. Ihm danken wir ebenso herzlich
wie Marga Jennewein, die alle Beiträge professionell redigiert hat. Dank gebührt auch Romy
­Bonitz, die uns bei der Auswahl der Fotos unterstützt hat, den ifo-Wissenschaftlern, die die Texte
der englischsprachigen Autoren übersetzt haben, sowie Petra Hoffmann und Denise Jäkel vom
Hanser Verlag, die bei der Gestaltung des Buchs stets ein offenes Ohr für unsere Anliegen hatten.
Dieses Buch richtet sich an alle, die sich mit dem öffentlichen Wirken Hans-Werner Sinns und
der Wirtschaftspolitik der letzten 25 Jahre auseinandersetzen möchten. Es ist zugleich unser Dank
an Hans-Werner Sinn für sein so fruchtbringendes Wirken am ifo Institut und die Anerkennung
seines unermüdlichen Einsatzes für die ökonomische und politische Zukunft Deutschlands und
Europas. Wir verbinden diese Anerkennung mit der Hoffnung, dass sein Wirken Ansporn für die
jüngere ­Ökonomengeneration ist, sich ebenfalls für das ­Gemeinwohl einzusetzen und beherzt
­wissenschaftliche Vernunft in die öffentlichen Politikdebatten einzubringen.
11
HWS beim ifo Branchen-Dialog
2008 in für ihn nicht untypischer
Pose und mit ernster Miene:
Es ging um die Finanzkrise.
ifo-Vorstandsmitglied Meinhard
Knoche, ifo-Verwaltungsratsvor­
sitzender Peter-Alexander Wacker
und HWS in der Jahresversammlung des ifo Instituts 2015.
Der damalige tschechische Staatspräsident Václav Klaus und der
ehemalige Bundesfinanzminister
Theo Waigel bei der ifo Jahres­
versammlung 2004 in München.
12
HWS mit dem damaligen
­ räsidenten der Europäischen
P
Zentralbank, Jean-Claude Trichet,
anlässlich der ifo Jahresver­
sammlung 2006.
HWS verteidigt die »Schwarze
Null« bei Maybrit Illner im ZDF
(mit Katja Kipping, Ulrich Grillo,
Maybrit Illner, Volker Kauder
und ­Susanne Schmidt) am
17. ­Oktober 2014.
Ein in Deutschland bekanntes
Gesicht: HWS vor dem Eingang
des ifo Instituts.
13
WirtschaftsWoche, 23.12.2011
1
VOM LINKEN ZUM LIBERALEN:
Hans-Werner Sinn und die deutsche
Wirtschaftspolitik
Ludger Wößmann
EINLEITUNG
Vom Linken zum Liberalen:
Hans-Werner Sinn und die deutsche Wirtschaftspolitik
Ludger Wößmann leitet das ifo
Zentrum für Bildungsökonomik
und ist Professor für Volkswirtschaftslehre an der Ludwig-Maximilians-Universität München. Seit
über zwölf Jahren arbeitet er mit
HWS am ifo Institut. Er erforscht
die Ursachen von langfristigem
Wohlstand und von Bildungs­
leistungen.
Vom Linken zum Liberalen
HWS hat immer damit kokettiert, dass er ei-
16
gentlich ein Linker ist. Er war in einer sozialistischen Jugendgruppe und wie sein Vater in der
SPD. Das war zwar dann schon während des
Studiums unter den 68ern vorbei. Aber den eigentlich als Schimpfnamen gedachten Begriff
des »Kathedersozialisten« – so wurden die Nationalökonomen bezeichnet, die die Bismarck’­
schen Sozialreformen gedanklich vorbereiteten – hat er sich auch später gerne angehängt.
Ohne Zweifel ist er ein »missionarischer« Wissenschaftler, der die Lebensverhältnisse für alle
verbessern möchte. Aber in der wissenschaft­
lichen Auseinandersetzung mit diesem Ziel ist
in ihm offenbar bald die Erkenntnis gereift,
dass die Freiheit wettbewerblicher Märkte dafür oft ein nicht zu ersetzendes Mittel ist. Und
so wird er zumeist als Liberaler wahrgenommen.
Dieses Buch beginnt mit dem Kaltstart, seinem öffentlichen »Coming out« im Jahr 1991 –
dem gleichen Jahr, in dem sein Münchner Cen-
ter for Economic Studies gegründet wurde. Die
Präsidentschaft des kriselnden ifo Instituts
übernahm er 1999. Was folgte, waren die Öffnung für internationalen Austausch auf höchstem wissenschaftlichem Niveau mit Hilfe von
CESifo, die unzweifelhafte Ausrichtung des ifo
an internationalen wissenschaftlichen Standards – und die Einmischung in jegliche nur
denkbare wichtige wirtschaftspolitische De­­
batte. Im Jahr 2003 entdeckte HWS mit Ist
Deutschland noch zu retten? dann endgültig
das populärwissenschaftliche Buch als das Medium, mit dem er gleichzeitig dröge wissenschaftliche Erkenntnis in die öffentliche De­­
batte transportieren und in der Öffentlichkeit
omnipräsent sein kann. Seitdem hat er Best­
seller an Bestseller gereiht, wie es kein anderer
Ökonom vermocht hätte.
Spätestens mit der Evaluierung 2005 bestand
kein Zweifel mehr, dass das ifo mit seiner Radikalkur die Kehrtwende geschafft hatte. Weder
im wissenschaftlichen Wettbewerb noch in der
Einer Rückkehr zur Trennung von Theorie und
Politik kann er nichts abgewinnen : »Theorie­
lose Politik ist genauso nutzlos wie Theorie
ohne Politikimplikationen.« Aber auch ein
Zweiklang aus Theorie und ökonometrischer
Empirie ist ihm nicht genug, da der modernen
Volkswirtschaftslehre allzu oft die Institutionenkenntnis abgeht. Für HWS besteht »seriöse
Volkswirtschaftslehre in einem gleichgewich­
tigen Dreiklang von Theorie, Institutionen­
lehre und Ökonometrie, um der Wirtschaftspolitik mit fundierten Empfehlungen dienen
zu können«.
Wer ihn kennt, weiß, dass HWS nur umso
besser wird, je mehr Gegenwind er bekommt.
Wurde er für die Target-Salden zunächst verschrien, so machte ihn das nur noch fester – bis
am Ende selbst die Bundesbank bereit war, das
Thema zu problematisieren. Wenn HWS einmal eine Sache durchdrungen hat und sich ihrer sicher ist, lässt er sich von seinem Weg nicht
mehr abbringen. Ihm ist dafür Sturheit vor­
geworfen worden – wider bessere Argumente
auf dem eigenen Standpunkt zu beharren. Ich
glaube nicht, dass man HWS diese Eigenschaft
nachsagen kann. Aber einen Dickkopf – ja, den
haben wir Westfalen schon. Um in der poli­
tischen Diskussion Bestand haben zu können,
benötigt man Durchhaltevermögen – eben einen Dickkopf.
Trotz Dickkopfs ist HWS die akademische
Freiheit immer heilig – auch die der anderen.
In meinen nun schon über zwölf Jahren am ifo
hat er mir nicht einmal gesagt, was ich tun oder
lassen, sagen oder nicht sagen soll. Als Wissenschaftler hat er sich selbst auch nie einer Par­
teilinie oder Ideologie unterordnen können.
Darum lässt er sich in der schlichten Eindimen­
sionalität von links und rechts auch gar nicht
einordnen. Nur wenn es um Bevormundung
oder Freiheit geht, lässt er keinen Zweifel offen :
Da ist er eben doch ein Liberaler.
Vom Linken zum Liberalen: Hans-Werner Sinn und die deutsche Wirtschaftspolitik
wirtschaftspolitischen Debatte konnte es jemand mit ihm aufnehmen. Und wenn man der
Einschätzung zweier ehemaliger Vorsitzender
der »Wirtschaftsweisen«, Wolfgang Wiegard
und Wolfgang Franz, folgen darf, »war und ist
[HWS] sicherlich der innovativste und einflussreichste Ökonom der letzten zwei oder
drei Jahrzehnte in Deutschland«.
Aber wofür stand – und steht – HWS in der
wirtschaftspolitischen Debatte ? Sosehr Öffentlichkeit und Gegner es auch meinen wollen :
Ein blinder Marktfanatiker ist HWS keineswegs. Eigentlich ganz im Gegenteil : Immer
ging es ihm darum aufzustöbern, wo Märkte
versagen, um dann zu analysieren, wie staatliche Eingriffe das Ergebnis verbessern können.
Wenn überhaupt ist HWS also ein Staatsfanatiker. In seinem Innersten ist er immer der klassische Finanzwissenschaftler geblieben, der die
Rolle des Staates in der Wirtschaft analysiert.
Wenn ihm Kollegen Gläubigkeit an einen
wohlmeinenden Staat vorwarfen, konnte ihn
das nicht anfechten : Gerade weil Staat wie
Markt versagen können, ist er überzeugt, dass
es Aufgabe der Wissenschaft ist, die Stimme
der Vernunft in die öffentliche Debatte zu bringen – trotz aller Beratungsresistenz der Politik.
Auch als er sich ab Mitte der 1990er Jahre mit
dem Präsidenten des Kieler Instituts für Weltwirtschaft Horst Siebert (full disclosure : mein
Doktorvater) über die Chancen der Globali­
sierung freundschaftlich stritt, betonte HWS
die Gefahren des Systemwettbewerbs : Eben
weil der Staat dazu da ist zu korrigieren, wo
Märkte versagen, könne Marktversagen im
Wettbewerb der Staaten durch die Hintertür
wieder Einzug halten.
Der wirtschaftspolitische Pragmatismus des
HWS spiegelt sich auch in einem methodischen
Pragmatismus wider. Im Methodenstreit der
deutschen Ökonomenzunft Ende der 2000er
Jahre konnte er sich keiner Seite anschließen.
17
Horst Seehofer
SOZIALE MARKT WIRTSCHAFT –
EIN ERFOLGSMODELL FÜR BAYERN
UND DEUTSCHLAND
Vom Linken zum Liberalen
Horst Seehofer wurde 1980 in
den Bundestag gewählt und
­wurde dann Staatssekretär,
Bundes­minister für Gesundheit
und Bundesminister für Ernährung, Landwirtschaft und Ver­
braucherschutz. Seit 2008 ist er
Parteivorsitzender der CSU und
Bayerischer Ministerpräsident.
18
Infolge der größten Wirtschafts- und Finanzkri­
se nach dem Zweiten Weltkrieg war allen klar :
Der Laissez-faire-Kapitalismus ist gescheitert.
Der Markt ist kein moralfreier Raum. Statt dem
schnellen Geld durch Spekulation hinterher­
zulaufen, müssen wir uns wieder viel mehr auf
unser Erfolgsmodell »Soziale Marktwirtschaft«
besinnen. Uns in Bayern kam dabei eine besondere Verantwortung zu. Die Idee der Sozia­­len
Marktwirtschaft wurde im Freistaat geboren.
Ihr Vater, der Fürther Ludwig Erhard, hat als
Bayerischer Wirtschaftsminister 1945/46 die
Grundlagen für den einzigartigen Aufstieg unseres Landes in den letzten Jahrzehnten gelegt.
Damals wie heute gilt : Freiheit, Eigentum
und Wettbewerb sind das Fundament für wirtschaftlichen Erfolg und soziale Sicherheit. Verantwortung und Haftung sind untrennbar. Nur
ein starker Staat hat die Kraft und die Mittel
für den Schutz der Schwachen und die Garan­
tien für einen fairen Wettbewerb. Nur dort, wo
Wohlstand auf Eigentum und Leistung grün-
det, ist gerechte Teilhabe möglich. Deshalb
habe ich 2009 die Kommission »Zukunft So­
ziale Marktwirtschaft« berufen. Als Präsident
des ifo Instituts München und einer der an­
gesehensten Wirtschaftsprofessoren Deutschlands durfte Hans-Werner Sinn nicht fehlen.
Leidenschaftlich in der Sache, messerscharf in
der Analyse, wenn nötig auch unbequem – so
habe ich den Ludwig-Erhard-Preisträger für
publizistik kennen und schätzen
Wirtschafts­
gelernt.
Heute sind sich die Experten im In- und Ausland einig : Unser wirtschaftlicher Aufschwung
der letzten Jahre ist »made in Germany«. Unsere Unternehmerinnen und Unternehmer, deutscher Erfindergeist, die soziale Mobilität in unserem Land, die berufliche Bildung – all das ist
inzwischen Vorbild. Mit der Sozialen Marktwirtschaft haben wir Deutschen einen erfolgreichen Gegenentwurf zur Planwirtschaft, zum
chinesischen Staatskapitalismus und zum angelsächsischen Marktkapitalismus.
füllen. Wir brauchen einen starken Staat, der
denen hilft, die sich selbst nicht helfen können.
Genauso aber gilt : Es gibt keinen Wohlstand
ohne Anstrengung. Ohne Leistungsträger fehlen unserem Sozialstaat die Muskeln. Auch das
hat Hans-Werner Sinn immer deutlich gemacht.
Wir müssen vor allem einen Weg finden, wie
wir in einer älter werdenden Gesellschaft un­
seren sozialen Wohlstand erwirtschaften können. Hinzu kommt, dass wir in der globalisierten Welt des 21. Jahrhunderts mit den jungen,
ehrgeizigen Gesellschaften aus Asien, Lateinamerika und Osteuropa konkurrieren. Wir
brauchen den Biss, die innere Einstellung, den
Hunger auf Erfolg. Nur unser Innovationsvorsprung garantiert uns auch in Zukunft Wohlstand für alle durch nachhaltiges Wachstum.
Wir stehen in einem Wettbewerb der Mentalitäten. Entscheidend ist die Lebenseinstellung
jedes Einzelnen. Wir brauchen eine neue Gründerzeit. Derzeit kann sich nur jeder vierte
Deutsche die Selbständigkeit vorstellen. Hier
müssen wir gegensteuern, denn wirklich Neues
schaffen nur mutige Menschen. Lust auf Ent­
decken, Spaß am Wettbewerb, die Sehnsucht
nach einem erfüllten Leben, das auf eigener
Leistung gründet – wer die Zukunft mitgestalten will, der braucht diese positive Einstellung.
Das ist eine Frage der geistigen, ethischen und
psychologischen Grundausrüstung. Und das
ist am Ende auch eine Kulturfrage des gesellschaftlichen Klimas.
Ganz im Sinne Ludwig Erhards und der Sozialen Marktwirtschaft ist in Bayern der Un­
ternehmer Vorbild, nicht Feindbild. Eigen­
verantwortung, Leistungswille und Pioniergeist
haben unser Land stark und sozial gemacht.
Das soll weiterhin so bleiben. Mit einer Persönlichkeit wie Hans-Werner Sinn haben wir auch
in Zukunft einen leidenschaftlichen Verfechter
der Sozialen Marktwirtschaft an unserer Seite.
Vom Linken zum Liberalen: Hans-Werner Sinn und die deutsche Wirtschaftspolitik
Ludwig Erhard hat es auf den Punkt gebracht : Die Arbeit ist und bleibt die Grundlage
des Wohlstands. Daran hat sich bis heute nichts
geändert. Uns in Bayern geht es gut, weil die
­allermeisten Menschen in Lohn und Brot stehen. Uns geht es gut, weil das gesellschaftliche
Klima stimmt, weil bayerische Unternehmen
Motor für ganz Deutschland sind.
Mit Blick auf Europa sage ich : Wir fordern
von den anderen Ländern nur das, was wir
selbst geleistet haben und immer noch leisten.
Das Grundprinzip christlicher Sozialpolitik im
21. Jahrhundert lautet : Aktivieren statt alimentieren. Der Versorgungsstaat schwächt die ak­
tive Bürgergesellschaft. Selbstorganisation und
Eigenverantwortung bleiben auf der Strecke.
Wir müssen die Ordnungsprinzipien Solidarität und Subsidiarität wieder in ein vernünftiges
Verhältnis bringen.
Das gilt besonders für die hochverschuldeten Länder in der Europäischen Union. Ludwig
Erhard steht für feste Prinzipien, die Einhaltung der Gesetze und eine straffe Ordnungs­
politik. Für uns in Bayern war daher immer
klar : Finanzielle Hilfe kann es nur gegen klare
Reformzusagen geben. Hans-Werner Sinn hat
stets mit großem Nachdruck vor der Entkoppelung von politischer Entscheidungsfreiheit
und finanzieller Verantwortung gewarnt, wie
sie durch die Vergemeinschaftung der Staatsschulden entsteht. Sein großes Verdienst ist
das unermüdliche Engagement, mit dem er
den Bürgern komplexe Sachverhalte in klarer
Sprache deutlich macht. In zahlreichen Büchern, Beiträgen und Interviews hat HansWerner Sinn wie kein Zweiter das Verständnis
der Menschen für Wirtschafts- und Finanzfragen gefördert.
Ein kraftvoller und handlungsfähiger Staat
lebt von einer aktiven Bürgergesellschaft. Der
Staat kann und soll nicht alles leisten. Aber der
Staat muss seine Kernaufgaben verlässlich er-
19
Wolfgang Clement
EIN MAHNER AUS PRINZIP
Vom Linken zum Liberalen
Wolfgang Clement war von 1998
bis 2002 Ministerpräsident des
Landes Nordrhein-Westfalen und
von 2002 bis 2005 Bundesminister
für Wirtschaft und Arbeit. Er ist
Vorsitzender im Kuratorium der
Initiative Neue Soziale Marktwirt­
schaft.
20
Unter den wenigen bekannten deutschen Ökonomen ist er der Bekannteste. In der Rangliste
der Frankfurter Allgemeinen Zeitung vom Jahr
2014 ist er auch der Einflussreichste. Aber seine
Prominenz macht ihn, zumal unter Zunftgenossen, fast zwangsläufig auch zum Angefeindetsten. Das Handelsblatt beispielsweise attackierte ihn breitseitig als »falschen Propheten«
und widmete ihm einen von fünf Ökonomen
befeuerten Streitreport. Seine prononcierten
Meinungsäußerungen haben fürwahr schon
viele in Wissenschaft und Politik in Wallung
gebracht. Ja, er kann auch Populismus. Aber
ich mag seine Klarsicht und seine Klarsprache,
auch wenn ich ihm nicht auf jedem Schritt und
Tritt zu folgen vermag. Ich habe an etlichen
­seiner Publikationen Maß genommen. Es hat
meinem Wahrnehmungs- und Urteilsvermögen fürwahr nicht geschadet.
Schon früh, als hierzulande noch viele von
der »New Economy« träumten, trat er bereits
für ein Umsteuern in der Arbeitsmarkt- und
Sozialpolitik in. Im Jahr 2003 waren auch wir
endlich so weit. Gerhard Schröder verkündete die »Agenda 2010«, die man später – als die
­Erfolge am Arbeitsmarkt unübersehbar wur­
den – als bedeutendstes Reformpaket seit Jahrzehnten bezeichnen sollte. Doch damals war
Hans-Werner Sinn noch nicht zufrieden. Seine
Kritik war punktgenau und nie unbegründet.
Sie verlangte mehr – und sie war in meiner
Wahrnehmung eine starke Hilfe gegen politische Ermattung und Mutlosigkeit.
Hans-Werner Sinn ist ein Ordnungspolitiker. Ein Neoliberaler, wie »man« heute idiotischerweise sagt, um solchermaßen Etikettierte
politisch ins Abseits stellen zu können. Er ist,
so sagt er selbst, ein Ordoliberaler im Sinne
­Erhards und Euckens. Und Leute dieser Denkungsart brauchen wir – jedenfalls wenn wir
uns weiterhin auf dem Boden der Sozialen
Marktwirtschaft bewegen wollen : in Deutschland, wo man manchmal zweifeln mag, dass
dies noch der Fall sei. Und in Europa, wo wir –
gen früherer Jahre. Doch seit dieses Instrumentarium mit der Währungsunion entfiel und
sich das Kapital von den Krisenstaaten abwandte, hat die Europäische Zentralbank Tür
und Tor bis hin zum totalen Quantitative Eas­
ing immer weiter geöffnet, aber zunächst den
Zentralbanken der betreffenden Länder die
Möglichkeit gegeben, den Defizitausgleich
durch Drucken und Verteilen neuen Geldes
zu finanzieren. Wenn Hans-Werner Sinn diese
»Target-Kredite« offenlegte und als »Rettungsschirm vor dem offiziellen Rettungsschirm«
kennzeichnete, hatte er Recht. Es war eine Finanzierung an den Parlamenten vorbei. Letztlich auch eine »Gemeinschaftshaftung durch
die Hintertür«, vor der Sinn nicht müde wird
zu warnen.
Den stärksten Unmut hatte der ifo-Chef aber
schon 2012 auf sich gezogen, als er gemeinsam
mit einigen Gefährten gegen eine Vergemeinschaftung der Bankenschulden in der Euro­
region zu Felde zog. Doch hätte es Warner
wie ihn nicht gegeben – wäre es überhaupt zu
einer Bankenunion mit Restrukturierungsfonds und einer vielleicht irgendwann einmal
hinreichenden Einlagensicherung gekommen ?
Es darf gezweifelt werden. Wir dürfen uns an
prinzipienfesten Ökonomen wie Hans-Werner
Sinn freuen, die die europäische Wirtschafts-,
Finanz- und Geldpolitik auf deren selten geraden Pfaden kritisch begleiten. Das lässt trotz
und alledem immer noch hoffen. Doch es wird
bestimmt noch etliche Jahre kosten, ehe wir
­sicher wissen, ob das Projekt Europa mitsamt
gemeinsamer Währung überhaupt – und wenn,
mit allen Teilnehmern – ins Ziel kommt.
Vom Linken zum Liberalen: Hans-Werner Sinn und die deutsche Wirtschaftspolitik
wenn wir es denn je verwirklichen – noch lange nicht so weit sind. Hans-Werner Sinn formuliert fachliche Maßstäbe, die nur Stupide
gleichgültig lassen. Sie geben Orientierungen,
die eine Gesellschaft braucht, um ihren Weg einigermaßen sicheren Fußes gehen zu können.
Man nehme nur die europäische Schuldenkrise. Nur wenige Ökonomen haben sich so wie
er in fast jede der bis heute tobenden Schlachten geworfen. Und das ist auch gut so !
Oder stimmte es etwa nicht, dass der europä­
ische Stabilitätsmechanismus zu einer Schwächung des Euro und zur Gefährdung des europäischen Einigungswerkes führt ? Es ist doch
fast schon Allgemeingut, dass der Verzicht
auf die »Politische Union« vor Ingang­setzung
der Währungsunion am Anfang aller heutigen
Probleme steht und dass der bis in diese Tage
immer weicher gespülte Stabilitätspakt tat­
sächlich alles anderen als stabilisierend wirkt.
Denn er entlastet die Regierungen der Krisenstaaten vom Handlungsdruck zu Konsolidierung und strukturellen Reformen und lädt so
zu weiteren Sünden wider die ökonomische
Vernunft ein. Die entsprechenden Auseinandersetzungen zwischen dem Norden und dem
Süden Europas haben längst eine politisch destabilisierende Wirkung auf die Europäische
Union. Wir befinden uns mitten in der Zerreißprobe, in der Lebenswirklichkeit europäischer Politik ziemlich genau zwischen »Grexit«
und »Brexit«.
Es ist doch ebenso zutreffend, dass die Leistungsbilanzdefizite der Krisenländer am Anfang unserer Schuldenkrise stehen. Dass sie
zeitweise über ihre Verhältnisse leben konnten,
verdankten diese Länder diversen Abwertun-
21
Reinhard Kardinal Marx
LEITBILD CHANCENGERECHTIGKEIT
Vom Linken zum Liberalen
Reinhard Kardinal Marx ist Erz­
bischof von München und Freising,
Mitglied der Kardinalsgruppe zur
Beratung von Papst Franziskus in
der Leitung der Weltkirche, Koordinator des Päpstlichen Rates für die
wirtschaftlichen Angelegenheiten,
Präsident der ComECE und Vor­
sitzender der Deutschen Bischofs­
konferenz.
22
Blickt man auf die politischen Debatten seit der
Wiedervereinigung zurück, nimmt vor allem
die Reformbedürftigkeit des deutschen Sozialstaats breiten Raum ein. Einer der maßgeblichen Impulsgeber dieser öffentlichen Dis­kus­
sion war Hans-Werner Sinn. Ich erinnere nur
an seinen Bestseller Ist Deutschland noch zu
retten? aus dem Jahr 2003 mit seinem kämp­
ferischen Appell zur Notwendigkeit einer umfassenden Wirtschafts- und Sozialreform.
Die Frage der gerechten Gestaltung der Gesellschaft bleibt auch in Zukunft von großer
­Aktualität. Denn die prägenden Prozesse der
Pluralisierung und Individualisierung, der Rationalisierung und Globalisierung schreiten
weiter voran. In einer Zeit zunehmender Vielfalt der Lebensläufe sowie wachsender Flexibilität und Mobilität erwarten die Menschen, dass
der Sozialstaat ihnen Sicherheit und Rücken­
deckung bietet. Gleichzeitig verlangen die Globalisierung ebenso wie der technologische Fortschritt dringend nach Anpassungen und neuen
Antworten – ist doch beispielsweise mit dem
internationalen Wettbewerbsdruck oder der
fortschreitenden Digitalisierung ein tiefgreifender Strukturwandel verbunden. Darüber hinaus werden auch die finanziellen Spielräume
aufgrund von Staatsdefiziten, demographischem Wandel und erforderlichen Maßnahmen
zum Klima- und Umweltschutz immer enger.
Das Gefühl der Beschleunigung des Lebens
und die Verunsicherung der Menschen angesichts steigender Komplexität werden daher
eher zu- als abnehmen. Dies macht eine verlässliche soziale Absicherung notwendiger denn
je, vor allem weil es gilt, eine Schwächung des
gesellschaftlichen Zusammenhalts zu verhindern. Denn die Reformen des Sozialstaats und
die oft stark zugespitzte öffentliche Diskus­sion
über Sozialleistungen und Zumutbarkeitsregelungen rufen vielfach Ängste und Abwehr­
verhalten hervor : Während die Betroffenen
den Abbau sozialer Leistungen sowie zunehmende Ausgrenzung und Ohnmacht fürchten,
Qualifizierung entstanden sind. Eine gute Ausbildung und die Fähigkeit, das eigene Leben in
die Hand zu nehmen, sind aber nicht nur für
die Beschäftigungschancen auf dem Arbeitsmarkt entscheidend, sondern auch wesentliche
Voraussetzungen einer stabilen Erwerbs- und
Lebensbiographie. Alle Menschen müssen die
Chance erhalten, ihre Begabungen und Fähigkeiten zu entwickeln. Nur so sind sie in der
Lage, sich selbst zu entfalten und ihren individuellen Beitrag für die Gesellschaft zu leisten.
Das Bemühen um die Verbesserung der
Chancengerechtigkeit darf nicht darüber hinwegtäuschen, dass ein gewisses Maß an Ungleichheit zu einer freien Gesellschaft gehört.
Ungleichheit ist nicht automatisch ungerecht,
sondern sie ist Ausdruck unterschiedlicher
­Potenziale und Befähigungen der Menschen.
Umso wichtiger ist deshalb die Verpflichtung,
jedem Einzelnen wirkliche Chancen zur persönlichen Freiheitsentfaltung zu eröffnen. Wird
dies glaubhaft vermittelt, dann gefährdet die
zunehmende Differenzierung der Gesellschaft
auch deren Zusammenhalt nicht.
Wenn die Zusage »Chancen für alle« den
Menschen Wege zur Teilhabe, zum sozialen
Aufstieg und zum Wohlstand ermöglicht, wird
nicht nur das Selbstvertrauen des Einzelnen
gestärkt, sondern auch das Vertrauen in die
Gesellschaft und in das System sozialer Sicherheit. So trägt eine am Leitbild der Chancen­
gerechtigkeit ausgestaltete Gesellschaft auch
zur Zukunftsfähigkeit unseres Landes bei.
Ich denke, dass Hans-Werner Sinn vieles
teilt, was wir als Bischöfe in diesem Programm
für eine erneuerte Soziale Marktwirtschaft
­formuliert haben. Gerne denke ich an alle Be­
gegnungen mit ihm und die offenen, auch
kontroversen Diskussionen über Schulden,
­
Kasino-Kapitalismus oder Ordoliberalismus ­
:
Es ist eine Freude und Herausforderung zugleich.
Vom Linken zum Liberalen: Hans-Werner Sinn und die deutsche Wirtschaftspolitik
schwindet die Solidarität der Bessergestellten
mit denjenigen, die Hilfe und Unterstützung
brauchen.
Daher muss die Politik neben der Debatte
über die klassische soziale Sicherung auch eine
Diskussion über Inklusion und Exklusion führen. Es geht um den Menschen und seine Teilhabe am gesellschaftlichen Leben. Der akti­
vierende Sozialstaat setzt bei der Befähigung
zu einem möglichst selbstbestimmten und eigenverantwortlichen Leben und bei der Bereitschaft zu aktiver gesellschaftlicher Teilnahme
an. Er greift damit das Freiheitsverständnis der
Menschen in der modernen, pluralen und in­
dividualistischen Gesellschaft auf. Er versucht
Handlungsspielräume zu stärken und trägt so
dazu bei, die sozialen Sicherungssysteme krisenfester und damit zukunftsfähiger zu machen.
Die Kommission für gesellschaftliche und
soziale Fragen der Deutschen Bischofskon­
ferenz hat in einem 2011 veröffentlichten Im­
pulstext das Leitbild einer »chancengerechten
­Gesellschaft« in den Mittelpunkt ihrer Über­
legungen zur Erneuerung unseres Sozial- und
Wirtschaftsmodells gestellt. Die Chancengerechtigkeit zielt darauf, dem Risiko sozialer
Ausgrenzung entschiedener und nachhaltiger
zu begegnen. Jedem Menschen in unserer Gesellschaft muss die tatsächliche Chance eröffnet
werden, aktiv am gesellschaftlichen Leben teilzuhaben. Deshalb müssen die Ausgeschlossenen und an den Rand Gedrängten ins Zentrum
der Aufmerksamkeit gerückt werden. Denn
niemand darf abgeschrieben werden. Dies gilt
auch für Menschen mit besonderen Armuts­
risiken wie Langzeitarbeitslose, Alleinerziehende oder Menschen mit Migrationshintergrund.
Zur Eröffnung sozialer Chancen bedarf es
zunächst einer guten Bildung und Erziehung.
Kein Sozialsystem kann die Nachteile ausgleichen, die durch unzureichende Bildung und
23
Ulrich Grillo
DER ÖKONOMIE-ERKLÄRER – VON A WIE
ARBEITSMARKT BIS Z WIE ZUWANDERUNG
Vom Linken zum Liberalen
Ulrich Grillo ist seit 2013 Präsi­dent
des Bundesverbands der Deutschen Industrie (BDI). Seit 2004
ist er Vorsitzender des Vorstands
der Grillo-Werke AG; bis 2012 war
er Präsident der Wirtschaftsver­
einigung Metalle.
24
Hans-Werner Sinn beherrscht das ABC der
Wirtschaftspolitik seit Jahrzehnten wie kaum
ein anderer deutscher Ökonom : von A wie
­Arbeitsmarkt oder »Aktivierende Sozialhilfe«
über B wie Basarökonomie bis Z wie Zuwan­
derung. Er hat kein wichtiges wirtschaftspoli­
tisches Thema ausgelassen. Und wenn es noch
kein Thema war, dann hat er es zu einem gemacht, Stichwort Target-Salden. Das ist sein
Verdienst.
Hans-Werner Sinn ist ein unermüdlicher
»Ökonomie-Erklärer«. Einer, der keine Angst
davor hat anzuecken. Er war sich nie zu schade,
seine provokanten Positionen in Talkshows zu
vertreten; ohne Rücksicht darauf, dass er in der
Öffentlichkeit zum Teil heftige Kritik erntete.
Er hat über eine Zeitspanne gewirkt, in die
nicht nur die deutsche Wiedervereinigung fiel,
sondern in der sich auch der strukturelle Wandel weltweit beschleunigt und die internatio­
nale Arbeitsteilung im Zuge der Globalisierung
intensiviert haben. Und in der das Wirtschafts-
wachstum über weite Strecken eher schwach,
der Reformstau in Deutschland hoch war. Die
Zeit des »kranken Mannes in Europa«, wie es
der Economist Anfang der 2000er Jahre formuliert hat, liegt noch nicht so weit zurück – auch
wenn die positive wirtschaftliche Entwicklung
im Nachgang zur Finanz- und Wirtschaftskrise
2008/2009 dies fast vergessen macht.
Bei vielen Themen war der Bundesverband
der Deutschen Industrie mit Hans-Werner
Sinn einig, etwa bei der Unterstützung der Reformen der Agenda 2010 : Er hielt sie für richtig, aber nicht für ausreichend.
Es gab aber auch Unterschiede. So haben wir
für die Zukunft der deutschen Industrie nicht
ganz so schwarzgesehen wie er in seinem Bild
von der Basarökonomie : Er ging davon aus,
dass die exportgetriebene Produktion der deutschen Industrie vorrangig im Ausland statt­
finden und sich industrielle Produktion am
Standort Deutschland aufgrund hoher Kosten
kaum mehr lohnen würde. Übrig wäre dann
nen. In diesen Kontext gehört auch seine Forderung, eine »Aktivierende Sozialhilfe« einzuführen und den Niedriglohnsektor auszubauen.
Letztlich haben ihm die Reformen der Agenda
2010 und ihre unbestritten positiven Wirkungen auf den deutschen Arbeitsmarkt Recht gegeben.
Im Rahmen der jüngsten Finanz-, Wirtschafts- und Staatsschuldenkrise in Europa
bleibt Hans-Werner Sinn ein Mahner, der uns
auffordert, auch unbequemen Wahrheiten ins
Auge zu sehen. So hat er oft betont, wie schwierig die wirtschaftspolitische Anpassung in einer Währungsunion ist. Zudem hat er die komplizierten Mechanismen der Finanzierung von
Leistungsbilanzdefiziten in Ländern des Euro­
raums aufgezeigt.
Die Stabilisierung der Währungsunion ist
von überragendem Interesse für die deutsche
Industrie : Wir wollen den Euro und die Europäische Union. Auch wenn die aufstrebenden
Schwellenländer als Handelspartner der deutschen Industrie in den Jahrzehnten enorm an
Bedeutung gewonnen haben, so bleibt Europa
doch der Heimatmarkt des Industrielandes
Deutschland. Industrie mit Zukunft – das geht
nur in einem zukunftsfähigen und starken Europa. Klar ist aber auch : Um dieses Ziel zu erreichen, sind Reformen unumgänglich.
Man könnte das ganze Alphabet durchdeklinieren. Und würde zu jedem Buchstaben ein
Thema finden, das der Ökonomie-Erklärer geprägt hat. Das würde aber den Rahmen des
Beitrags sprengen. Bleibt also nur noch, HansWerner Sinn für die Zukunft alles Gute zu
wünschen – und zu hoffen, dass sich der scharfsinnige und scharfzüngige Denker auch weiter
in die öffentliche Diskussion einmischen und
sich nicht auf sein Altenteil zurückziehen wird.
Vom Linken zum Liberalen: Hans-Werner Sinn und die deutsche Wirtschaftspolitik
nur noch die »Basarökonomie«, also vor allem
der Vertrieb.
Es stimmt zwar, dass die deutsche Industrie
ihre Wertschöpfungsketten weltweit aufgestellt
hat und für ihre Exportprodukte auch viele
Vorleistungen importiert. Damit hat sie aber
ihre internationale Wettbewerbsfähigkeit kontinuierlich verbessert. Deutschland verfügt
auch heute noch über eine starke industrielle
Basis.
So ist der Anteil der Industrie an der Wertschöpfung über die Jahre weitgehend stabil geblieben – er liegt immer noch bei über 20 %,
während er andernorts deutlich gesunken ist.
Nach wie vor beschäftigt die deutsche Industrie
etwa 7,5 Millionen Menschen in Deutschland.
Bezieht man die unternehmensnahen Dienstleister mit ein, liegen die Zahlen noch höher.
Allerdings haben wir angesichts ungelöster
Probleme wie der Energiewende oder angesichts der Herausforderungen aus Digitalisierung und Vernetzung, kurz Industrie 4.0, keine Garantie dafür, dass dies auch in Zukunft
so bleibt.
Hans-Werner Sinn hat sich in einem Vortrag
bei der Stiftung Schloss Neuhardenberg 2003
einmal selbst als »Kathedersozialisten« bezeichnet. Mit diesem Begriff wurden deutsche
Professoren der Nationalökonomie im 19. Jahrhundert kritisiert, die sich angesichts der
schwierigen sozialen Lage der Arbeiter in der
Sozialpolitik engagierten und die Reformen
Bismarcks vorbereiteten. Sie gründeten 1873
den Verein für Socialpolitik, dessen Vorsitzender Hans-Werner Sinn von 1997 bis 2000 war.
Doch bei aller Kritik, die er über die Jahre
am aus seiner Sicht ausufernden Sozialstaat
übte, hatte er stets auch eines im Blick : das Gemeinwohl. Aus seiner Sicht waren Einschnitte
notwendig, um das Ganze erhalten zu kön-
25
Roland Berger
HANS-WERNER SINN:
VOLKSWIRT, KOMMUNIKATOR, MANAGER
Vom Linken zum Liberalen
Roland Berger ist Gründer und
Honorary Chairman von Roland
Berger Strategy Consultants.
­Darüber hinaus ist er Mitglied
verschiedener Aufsichts- und Beiräte von nationalen und interna­
tionalen Unternehmen, Stiftungen
und Organisationen sowie Vor­
sitzender der ifo-Freundesgesellschaft.
26
Hans-Werner Sinn ist ohne Zweifel der einflussreichste deutsche Ökonom unserer Zeit.
Das ist nicht nur mein subjektiver Eindruck
aus vielen Gesprächen mit Politikern, Wirtschaftsführern und Unternehmern, sondern
wird auch von zahlreichen Rankings bestätigt :
Das F. A. Z.-Ranking der einflussreichsten Wirt­
schaftsforscher setzte ihn 2014 auf Platz 1,
­ebenso eine Umfrage unter Bundestagsabgeordneten und ihren Mitarbeitern im Jahr zuvor. 2012 nannte Bloomberg ihn als einzigen
Deutschen in einer Liste der 50 weltweit wichtigsten Persönlichkeiten der Wirtschaft. Diese
Liste ließe sich beliebig fortsetzen, was ich dem
Leser ersparen möchte. Hans-Werner Sinn ist
offensichtlich dreierlei : ein exzellenter Volkswirt, der akademisch weit über die Grenzen
Deutschlands hinaus bekannt ist und respektiert wird. Ein brillanter und meinungsstarker
Kommunikator, der keine Auseinandersetzung
scheut, wenn er mit den Ergebnissen seiner
Forschung zum öffentlichen Diskurs beitragen
kann. Und, last but not least, ein erfolgreicher
Manager, der das ifo Institut in einer Krisen­
situation übernahm und zum führenden deutschen Wirtschaftsforschungsinstitut entwickelt
hat, was unter anderem das Handelsblatt-Ranking bestätigt.
Aber der Reihe nach : Zunächst fußt HansWerner Sinns Erfolg natürlich auf herausragenden wissenschaftlichen Leistungen. Schon
seine Promotion und Habilitation waren preisgekrönt. Es folgten Veröffentlichungen in allen
wesentlichen Journals sowie vielbeachtete Bücher, prall gefüllt mit originärem Denken und
stringenter, oft modelltheoretischer Argumentation. Dabei – und das macht die wissenschaftliche Leistung Hans-Werner Sinns noch
beeindruckender – arbeitete er nicht etwa in
einem eng abgesteckten Feld, sondern deckte
von Besteuerung über die Konsequenzen der
deutschen Wiedervereinigung bis hin zur Bankenregulierung und Klimapolitik so ziemlich
alle wesentlichen ökonomischen, gesellschaft-
gen Medienkampagnen, die im Laufe der Jahre
gegen ihn gerichtet waren, ist ihm hoch anzurechnen und sicherlich auch durch seine tiefe
Überzeugung geprägt, dass die Ergebnisse sauberer wissenschaftlicher Arbeit dem öffentlich
Diskurs nur nützen können.
Mit seiner akademischen Exzellenz und
­seiner Öffentlichkeitswirksamkeit war HansWerner Sinn im Übrigen ein Glücksfall für
das ifo Institut, dessen Name für »Information
und Forschung« steht, was Sinns Wirken in
den letzten Jahrzehnten im Grunde perfekt
­beschreibt. Sinn übernahm das Institut im Februar 1999 in einer Krisensituation – mit Budgetlöchern und sinkenden wissenschaftlichen
Leistungen. Durch wegweisende Entscheidungen – etwa indem er ermöglichte, dass ifo-Bereichsleiter Professuren an der LMU erhielten,
oder indem er über die Zusammenarbeit mit
dem Center for Economic Studies das ifo
­Ins­titut erheblich internationalisierte – zog er
­hervorragendes wissenschaftliches Personal an
und entwickelte es weiter. Nicht zuletzt dadurch machten Sinn und sein Vorstandskollege
Meinhard Knoche das einstige »Sorgenkind«
zu Deutschlands führendem Wirtschaftsforschungsinstitut, das mittlerweile auch international großes Renommee genießt.
Zum Abschied in den Ruhestand müsste
man Hans-Werner Sinn eigentlich wünschen,
dass er nunmehr die Gelegenheit findet, mehr
Zeit mit seiner Familie und mit den schönen
Dingen des Lebens zu verbringen. Angesichts
seiner wissenschaftlichen Leistungen und seines Wirkens für die res publica muss man allerdings einen Wunsch hinzufügen : nämlich dass
er, bei aller verdienten Erholung, auch in Zukunft seine Stimme der ökonomischen Vernunft in den doch oft sehr irrationalen wirtschaftspolitischen Debatten erheben möge und
dass wir noch viel von ihm hören werden.
Vom Linken zum Liberalen: Hans-Werner Sinn und die deutsche Wirtschaftspolitik
lichen und politischen Themen ab, meist bevor
diese »populär« wurden. Die Vielfalt der Beiträge in diesem Buch ist Zeugnis der enormen
Breite und Tiefe des Schaffens Sinns. Jedoch
war für ihn die Wissenschaft nie Selbstzweck,
denn er versteht die Ökonomie als Gesellschaftswissenschaft im Wortsinn : als eine Wissenschaft, die verschiedene Aspekte der Ge­
sellschaft untersucht, die aber auch in der
Verantwortung steht, ihr ihre Ergebnisse zu­
gutekommen zu lassen.
Daher hat Hans-Werner Sinn immer sichergestellt, dass seine wissenschaftlichen Arbeiten
nicht nur in den Regalen von Experten landen,
sondern in den Medien, in Landes- und Bundesregierungen, in den Zentralbanken und natürlich auch in der europäischen Politik diskutiert werden. So erscheint es undenkbar, dass
die Problematik der Target-2-Salden in der
Euro­krise ohne Sinn jemals so ins Rampenlicht
gerückt wäre. In diesem Kontext fand auch
die Bogenberger Erklärung im Jahr 2011, die
im Wesentlichen auf der Strategiesitzung der
Kuratoren der ifo-Freundesgesellschaft in Bogenberg, Obertaufkirchen, erarbeitet wurde,
ein breites Medienecho. Die großen, wertvollen Debatten über die Wettbewerbsfähigkeit
Deutschlands in den frühen 2000ern, über
nachhaltige Rentenpolitik angesichts des demographischen Wandels, aber auch über das
»grüne Paradoxon« verdanken wir ebenso
Hans-Werner Sinn. Solcher Erfolg in der Öffentlichkeit hat zwei Voraussetzungen : einerseits Intuition für die »richtigen« Themen, die
den Zeitgeist umtreiben, und andererseits die
intellektuelle Kapazität, um zu diesen Themen
etwas Neues und Konstruktives beizutragen.
Beide hat Hans-Werner Sinn ohne Zweifel.
Jemand, der die Aufgabe des Ökonomen so
versteht, wie Sinn es tut, exponiert sich natürlich und stößt dabei nicht nur auf Begeisterung
und Zustimmung. Seine Widerstandskraft ge-
27
Wolfgang Franz
DIE EIGER-NORDWAND UND DER KOMBILOHN:
EINE REMINISZENZ
Vom Linken zum Liberalen
Wolfgang Franz war bis zum Jahr
2013 Präsident des Zentrums für
Europäische Wirtschaftsforschung
(ZEW) und Vorsitzender des Sachverständigenrates zur Begutachtung der gesamtwirtschaftlichen
Entwicklung. 2013 erhielt er das
Bundesverdienstkreuz 1. Klasse.
28
Es ist erst rund 15 Jahre her, da galt Deutschland ökonomisch als der »kranke Mann Europas«. Die Ursachen der seinerzeitigen Misere
waren Gegenstand zahlreicher Studien, Gutachten und Stellungnahmen unterschiedlicher
Wissenschaftler und Institutionen. Eine besondere Aufmerksamkeit erlangte völlig zu Recht
das im Jahr 2003 erschienene Buch von HansWerner Sinn mit der Titelfrage : Ist Deutschland
noch zu retten? In mehreren Auflagen beschrieb das Buch in schonungsloser Offenheit
die ­Reformnotwendigkeiten. Ein zweites Beispiel für eine fundierte, auf wissenschaftlicher
Grund­lage beruhende Analyse der Schwächen
Deutschlands stellt das Jahresgutachten 2002
des Sachverständigenrates zur Begutachtung
der gesamtwirtschaftlichen Entwicklung dar,
welches mit Zwanzig Punkte für Beschäftigung
und Wachstum betitelt war und ebenfalls häufig zitiert wurde. Der Titel gab sogar zu dem
Kalauer Anlass, der Name »Agenda 2010« rühre daher, dass Bundeskanzler Schröder zehn
j­ener zwanzig Punkte in die Agenda 2010 aufgenommen habe.
Im Hinblick auf die Ursachenanalyse und
die darauf basierenden Reformvorschläge wiesen beide Bücher beträchtliche Gemeinsamkeiten auf. Als eine der Hauptursachen iden­
tifizierten sie die beschäftigungsfeindlichen
Schieflagen in den Systemen der sozialen Sicherung und im institutionellen Regelwerk des
Arbeitsmarkts. Diese Sichtweise gab zu teilweise erbitterten Kontroversen Anlass. Zum einen
wurde die Bedeutung dieser Defizite rundheraus bestritten. Etwas subtiler war dann zum anderen der Vorwurf, diese Fehlsteuerungen, so
es sie denn überhaupt gebe, hätten sich, wenn
überhaupt, nicht in dem Umfang verschärft, als
dass sie die schubweise, treppenförmige Entwicklung der Arbeitslosigkeit in Westdeutschland der vorangegangenen beiden Dekaden
hätten erklären können. Vielmehr mangele es
stets an ausreichender gesamtwirtschaftlicher
Nachfrage. Übersehen wurde bei dieser Argu-
dererseits. Grob vereinfacht sahen beide Modelle eine Absenkung des Regelsatzes der
Sozialhilfe und später des Arbeitslosengelds II
und gleichzeitig großzügigere Hinzuverdienstmöglichkeiten vor. Anders formuliert, jeder
konnte trotz der Absenkung des Regelsatzes
das vorher bestehende Niveau der Unter­stüt­
zungszahlungen wieder erreichen, aber musste
dafür Arbeitsleistungen auf dem ersten Arbeitsmarkt erbringen oder, wenn es nicht anders möglich ist, auf dem zweiten Arbeitsmarkt.
Die Reaktionen auf beide Vorschläge in der
Öffentlichkeit und in der Politik waren, freundlich ausgedrückt, enttäuschend, teilweise verheerend. Einschlägig bekannte Medien thematisierten nahezu ausschließlich die Absenkung
des Regelsatzes. Mitglieder des Sachverstän­
digenrates wie der Autor dieses Beitrags wurden in Interviews und Talkrunden regelmäßig
als kaltschnäuzige »Neoliberale« geschmäht,
die den beklagenswerten Hilfeempfängern, die
dann auch noch publikumswirksam in der
Fernsehsendung auftauchten, selbst noch die
letzte Würde nähmen. Vor diesem Hintergrund ist es wenig verwunderlich, dass die Politik das Kombilohnmodell wie eine heiße Kartoffel fallen ließ, obwohl die Bundesregierung
den Sachverständigenrat offiziell um die erwähnte Expertise gebeten hatte.
Hans-Werner Sinn erging es mit der »Aktivierenden Sozialhilfe« ähnlich. So beklagt er in
der achten Auflage seines zitierten Buches, die
Reform des Arbeitslosengelds II sei nur »eine
geringfügige Verbesserung des Anreizsystems
mit erheblichen Inkonsistenzen, aber keine
durchschlagende Reform«. Es spricht für ihn,
dass er trotz solcher und anderer Rückschläge
in seinen Anstrengungen, eine fundierte wirtschaftspolitische Beratung zu erbringen, nicht
nachgelassen hat.
Vom Linken zum Liberalen: Hans-Werner Sinn und die deutsche Wirtschaftspolitik
mentation der Sperrklinkeneffekt der angesprochenen Bremsklötze. Im Aufschwung
­mögen die Beschäftigungshemmnisse weniger
lähmend wirken, aber im Abschwung verhindern sie die notwendige Flexibilität, um wieder
auf einen stabilen Beschäftigungspfad zu gelangen.
Im Mittelpunkt der Analysen von HansWerner Sinn und des Sachverständigenrates
standen der Sozialstaat und hier insbesondere
das System der Lohnersatzleistungen, also das
Arbeitslosengeld und die seinerzeitige Arbeitslosenhilfe und Sozialhilfe, später das Arbeits­
losengeld II. Das Hauptproblem bestand darin,
dass eigenes Arbeitseinkommen, von gering­
fügigen Hinzuverdienstmöglichkeiten abgesehen, in weiten Bereichen eins zu eins auf die
Hilfen angerechnet (»Transferentzugsrate«),
also mit einem Steuersatz von 100 % belegt
wurde. Niemand arbeitet bei einem Steuersatz
von 100 %, also waren die Arbeitsanreize praktisch null. Hans-Werner Sinn hat dieses Problem mit dem »Michel vor der Eiger-Nordwand« veranschaulicht. Damit sich eigene
Arbeitsleistungen der Empfänger solcher Unterstützungszahlungen trotz der Transferentzugsraten in höheren Nettoeinkommen niederschlagen, bedürfe es Arbeitsleistungen in
einem Ausmaß, welches für viele Personen so
unüberwindlich sei wie das Erklimmen der
­Eiger-Nordwand bis zur Oberkante, ab der sich
Arbeit wieder lohne. »Lohnersatzleistungen als
Jobkiller«, prangerte Hans-Werner Sinn dies
scharf an. Zu ähnlichen Schlussfolgerungen gelangte der Sachverständigenrat. Beide entwickelten unabhängig voneinander Lösungsvorschläge, die indes sehr starke Gemeinsamkeiten
aufwiesen, nämlich der Sachverständigenrat
das »zielgerichtete Kombilohnmodell« in einer
Expertise im Jahr 2006 einerseits und HansWerner Sinn die »Aktivierende Sozialhilfe« an-
29
Edmund Phelps
HANS-WERNER SINN UND DEUTSCHLANDS
NATÜRLICHE ARBEITSLOSENRATE
Vom Linken zum Liberalen
Edmund Phelps ist Wirtschafts­
nobelpreisträger 2006, Direktor
des Center on Capitalism and
­Society an der Columbia University,
Dekan der New Huadu Business
School und Autor von Mass Flour­
ishing: How Grassroots Innovation
Created Jobs, Challenge and Change
(Princeton Univ. Press 2013).
30
Durch mehrere Aufenthalte in Deutschland
­begann ich, mich mit dem Land verbunden
zu fühlen. Trotz des beeindruckenden Wieder­
aufbaus in der Nachkriegszeit verspürte ich
bei manchen Ökonomen Besorgnis darüber,
welche Richtung die politische Ökonomie des
Landes einschlug. In einer Unterhaltung um
1975 sprach Herbert Giersch, damals Präsident
des Kieler Instituts für Weltwirtschaft, über die
Kosten des in Deutschland entstehenden Korporatismus, und in einer Unterhaltung um 1990
drückte Heinz König, der ehemalige Direktor
des ZEW in Mannheim, seine Sorgen über die
Entwicklungen der Corporate Governance aus.
Jetzt ist die nächste Generation – in der unser
Geehrter mittendrin ist (und ich am älteren
Ende) – für die Warnungen verantwortlich.
Hans-Werner Sinn – das kann man sicher
sagen – hat mehr als jeder Ökonom seiner Generation getan, um die Frage nach der Zukunft
Europas aufzuwerfen. Ich persönlich fand das
nicht überraschend. Ich traf ihn zum ersten
Mal, ich glaube 1983, in Mannheim, wo er eine
Vorlesung hielt und ich ein Lehrbuch fertigstellte. Er fiel mir als der klügste und treff­
sicherste der deutschen Ökonomen auf. Das
nächste Mal begegneten wir uns im Dezember
2002 auf einer Konferenz am ifo Institut, wo er
Präsident und ich der Keynote Speaker war. Ich
erinnere mich gut an den Abend mit ihm und
seiner bezaubernden Frau Gerlinde, an dem
wir den Münchner Christkindlmarkt besuchten und uns beim Abendessen darüber austauschten, was Deutschland fehlt. Als ich dann
einen Partner suchte, der mit mir und meinem
Center on Capitalism and Society 2006 eine
Konferenz zur Frage, woran Europa leidet, organisiert, war klar, dass Professor Sinn und sein
ifo Institut die Richtigen sind.
Die Veranstaltung im Sommer in Venedig
war wohl die erste große Tagung, die sich mit
dem in zahlreichen Daten angedeuteten Rückgang der Wirtschaftsleistung in Kontinental­
europa auseinandersetzte. Soweit ich weiß,
2000 – 2004 gesunken ist, stieg sie 2005 – 2009
wieder auf 81,20 % und 2010 – 2012 sogar auf
83,60 %. Die Wahrheit könnte sein, dass die,
die ihren Job verloren, eine Zeitlang durch den
Schock erschüttert waren, doch die meisten
weiter nach einem Job suchten und so im Arbeitskräftepotenzial blieben. Neue Arbeitgeber
fanden allmählich die richtigen Lösungen, so
dass sich die Beschäftigung erholte. Die »na­
türliche Rate« lebt ! Und Schröders Reformen
von 2004 könnten die natürliche verbesserte
Beschäftigung auf ein Niveau über das von
1990 – 1994 gehoben haben.
Doch die Welt entwickelt sich ständig weiter.
Niemand hätte vorhersehen können, dass der
Verlust der Wettbewerbsfähigkeit in Südeuropa zum Ende des letzten Jahrzehnts der deutschen Beschäftigung noch einmal Auftrieb geben würde – kurzfristig zumindest. Niemand
kann sich sicher sein, dass Deutschlands neuer
realer Wechselkurs langfristig nicht mit hö­
heren Preisaufschlägen, daraus resultierend
weniger Inlandsverkäufen und somit letztlich
niedrigerer Beschäftigung endet. Und niemand
kann sich sicher sein, dass Schröders Reformen diese neue Phase überleben werden. Sinn
könnte der sein, der zuletzt lacht.
Ich habe von Sinns These gelernt. Wir müssen uns fragen, ob sich der auffällige Auszug
der Amerikaner aus der Erwerbsbeteiligung als
dauerhaft erweist – unterstützt durch Regierungsprogramme –, oder ob die übrig gebliebene Dynamik der amerikanischen Wirtschaft
stark genug ist, alle Menschen, die ihren Job
während der Finanzkrise verloren haben, aufzunehmen. Fraglich ist auch, ob die griechische
Wirtschaft die Dynamik – schwach wie sie ist –
haben wird, die vielen Leute, die ihren Job in
der Krise verloren haben, in Beschäftigung zu
bringen.
Die Wissenschaft schreitet durch das Zusammenspiel der Ideen vieler Köpfe voran.
Vom Linken zum Liberalen: Hans-Werner Sinn und die deutsche Wirtschaftspolitik
wur­de hier zum ersten Mal diskutiert, dass das
Problem ein »Mangel an Dynamik« war, der zu
einer Innovationsgeschwindigkeit führte, die
neben der schnellen Innovation der glänzenden Jahrzehnte des Kontinents verblasste. Die
Teilnehmer suchten ausgiebig die Gründe für
den Verlust an Dynamik – nicht nur bei Marktkräften wie Alterung, Institutionen wie Cor­
porate Governance und Wirtschaftspolitiken
wie der Besteuerung und Wohlfahrtsprogrammen. Auch die ökonomische Kultur wurde in
Betracht gezogen : Wurden die Werte, die die
lange Epoche der Innovation in Deutschland
und Frankreich im 19. Jahrhundert entfachten,
durch andere, für Innovationen schädliche
Werte verdrängt ? Natürlich gab es nur wenige eindeutige Schlussfolgerungen, geschweige
denn Einigkeit unter den Teilnehmern. Dennoch stellten diese Konferenz und das daraus
entstandene Buch, Perspectives on the Perform­
ance of the Continental Economies, einen Wendepunkte für viele Teilnehmer dar – Professor
Sinn und mich eingeschlossen.
In seinem Beitrag konzentriert sich Sinn auf
das Zusammenspiel zweier Kräfte : die Globa­
lisierung und der Wohlfahrtsstaat. Seine These
ist, dass die Beschäftigung in Vollzeitäquivalenten im Verarbeitenden Gewerbe in Deutschland von 1995 bis 2005 um 1,21 Millionen gesunken ist. Wo sind sie geblieben ? Sie »gingen
in den Wohlfahrtsstaat, in staatlich finanzierte
Arbeitslosigkeit« (S. 419). Deutsche Leser wissen, dass dies ein Thema in seinem Bestseller
Ist Deutschland noch zu retten? ist. Auf der
Konferenz scheute er sich noch, auf dieses
Buch zu verweisen. (Ich erfuhr erst von dem
Buch, als er es mir in der englischen Version
von 2007 zuschickte.)
Hatte er Recht ? Die Wahrheit ist schwer zu
ermitteln. Während die Beschäftigungsquote
der männlichen Bevölkerung von 15 – 64 Jahren von 79,26 % in 1990 – 1994 auf 76,24 % in
31
James Poterba
RENTENREFORM: HANS-WERNERS FORSCHUNG
UND POLITISCHER EINFLUSS
Vom Linken zum Liberalen
James Poterba ist Mitsui Professor für Volkswirtschaftslehre am
Massachusetts Institute of Technology sowie Präsident und CEO
des National Bureau of Economic
Research. Er hielt die Munich
­Lectures in Economics im Jahr 2003
zum Thema »Government Policy
and Private Retirement Saving«.
32
Zwei der Kennzeichen von Hans-Werners langer und herausragender Forschungskarriere
sind sein verblüffendes Geschick, die wichtigsten ungelösten Probleme der Wirtschaftspo­
litik zu identifizieren, und seine bemerkens­
werte Fähigkeit, neue und aufschlussreiche
Analysen dieser Themen vorzulegen. Selbst bei
Fragen, die schon viele vor ihm untersucht
­haben, ist es Hans-Werner gelungen, neue Perspektiven aufzuzeigen und kreative Lösungen
anzubieten, womit er sowohl den akademischen Diskurs als auch die öffentliche Politikdebatte bereichert hat. Diese Talente werden
durch seine Analyse der staatlichen Renten­
reform gut veranschaulicht – ein Thema, das in
den späten 1990er Jahren seine Aufmerksamkeit auf sich zog.
Hans-Werner fing zu einer Zeit an, das Rentensystem zu untersuchen, in der es immer
klarer wurde, dass die gesetzliche Rente in
­
Deutschland eine untragbare Entwicklung
nahm. Die prognostizierten Steuersätze, die
auf zukünftige Erwerbstätige zukommen würden, schienen unzumutbar. Was sollte getan
werden ? Mit charakteristischer Klarheit und
Einsicht stellte Hans-Werner fest, dass die zentrale Herausforderung das Ergebnis des demographischen Wandels war. Ein Rückgang des
Bevölkerungswachstums in Deutschland, der
sich in Prognosen einer im Verhältnis zur Zahl
der aktiven Erwerbstätigen wachsenden Zahl
der Älteren und der Personen im Ruhestand
ausdrückte, war die wesentliche Quelle des
langfristigen Drucks auf das Rentensystem.
Hans-Werner kommunizierte diese Erkenntnis
an politische Entscheidungsträger.
Gleichzeitig gelang es ihm auf innovative
Weise, die Ana­lyse des staatlichen Rentensystems für die Forschungsgemeinschaft zu formulieren. Sein viel zitierter Aufsatz »Why a
Funded Pension System is Useful and Why it is
not Useful«, der 2000 in International Tax and
Public Finance veröffentlicht wurde, entwickelte das Konzept der expliziten und impliziten
und in vielen anderen Ländern anzuregen. Ihr
Einfluss war jedoch nicht auf die Forschungsgemeinschaft beschränkt. Sie trug auch entscheidend zu den 2001 verabschiedeten bedeutenden Reformen des deutschen Rentensystems
bei, den sogenannten »Riester-Reformen«. Die
Änderungen, die weg vom umlagefinanzierten
System führten und ein kapitalgedecktes Rentenkonto als Bestandteil der Altersversorgung
einführten, waren im Geiste der Reformvorschläge, die Hans-Werner analysiert hatte.
­Diese Reformen waren wegbereitend. Zusammengenommen stärkten die deutschen Rentenreformen von 2001 und 2004 wesentlich die
langfristige Tragfähigkeit des Rentensystems.
Hans-Werner ist einer der vielseitigsten Öko­
nomen seiner Generation. Immer wieder hat er
Leichtigkeit darin gezeigt, neue Kon­zepte und
Instrumente für die Analyse von besonders
drängenden Politikfragen zu meistern. Als das
Problem der Finanzierung des Rentensystems
ein zentrales Thema in der politischen Debatte
wurde, richtete er die Aufmerksamkeit seiner
Forschung darauf, die Ursache des Problems zu
verstehen, obwohl das kein Thema seiner vorherigen Forschung war. Er schlug auch mögliche Lösungen vor. Sobald die Renten­reformen
beschlossen waren, wandte sich Hans-Werners
Forschung anderen dringlicheren Themen zu.
Nur wenige Ökonomen haben zu so vielen
verschiedenen Themen Einsichten und kons­
truktive Politikberatung geliefert, von der Besteuerung über Klima- und Energie­politik, Ren­
ten, Migration, Geld- und Kreditpolitik bis zur
Arbeitsmarktreform. Noch weniger Ökonomen
schafften es, bahnbrechende Forschung durch­
zu­führen und gleichzeitig Politikanalysen zu
be­treiben, die den politischen Prozess kons­
truktiv vorangebracht haben. Hans-Werner ist
ein Mitglied dieser außergewöhnlichen G
­ ruppe.
Vom Linken zum Liberalen: Hans-Werner Sinn und die deutsche Wirtschaftspolitik
Steuerlast in einem staatlichen Rentenprogramm. Er zeigte, dass ein Übergang von e­ inem
umlagefinan­zierten zu einem kapitalgedeckten
Rentensystem ohne jegliche Änderung der
Leis­tungen, die den vorhandenen Beitragszahlern zugesagt wurden, die Summe der Belastungen nicht ändern würde – ein zentraler
Punkt, der bei Analysen von Politikreformen
berücksichtigt werden musste.
Hans-Werner beschränkte sich nicht auf
konzeptionelle Diskussionen des Rentensystems. Zusammen mit anderen Forschern am
CES entwickelte er ein Modell des deutschen
Rentensystems, das Analysen ermöglichte, wie
sich verschiedene Reformen, einschließlich ei­­
nes vollständigen oder teilweisen Übergangs
zu einem kapitalgedeckten System, auf die
Tragfähigkeit des Systems und die Abgabenlast für verschiedene Generationen auswirken
würden.
Hans-Werner machte auch auf mög­liche Reformen aufmerksam, die sich nicht direkt auf
die gesetzliche Rente konzentrierten, die jedoch wichtige Auswirkungen auf das Rentensystem hätten. Er schlug zum Beispiel vor, die
Abgaben- und Sozialleistungspolitik so zu ändern, dass höhere Fertilität begünstigt wird,
etwa dadurch, dass die Beitragssätze zum Rentensystem von der Anzahl der Kinder abhängen. Er verwies auch auf die potenziell wichtige
Rolle der Zuwanderungspolitik zur Bewältigung der langfristigen Herausforderungen der
Rentenfinanzierung. Dadurch, dass er die Herausforderung im Rentensystem in einen grö­ße­
ren ökonomischen Kontext einordnete, konnte
Hans-Werner neue politische Optionen in den
öffentlichen politischen Dialog einbringen.
Die Forschung, die Hans-Werner in den späten 1990er Jahren durchführte, spielte eine
Schlüsselrolle dabei, weiterführende Analysen
der staatlichen Rentenreform in Deutschland
33
Assaf Razin
ÜBER DEN JUNGEN, DEN POLITÖKONOMEN,
DEN UNTERNEHMER UND DEN FREUND
Vom Linken zum Liberalen
Assaf Razin ist seit 2008 Emeritus
der Tel Aviv University und war bis
2015 Friedman Professor of International Economics an der Cornell
University, New York. Er war von
2005 bis 2009 Vorsitzender des
Wissenschaftlichen Beirats am ifo
Institut, dem er bis heute als Forschungsprofessor verbunden ist.
34
Für viele von uns ist »das Leben – zumindest im
Tagesgeschäft – eher eine Abfolge von Aufgaben
als eine Kaskade von Inspirationen, eine Erfahrung, die mehr in Wiederholung statt in Offenbarung besteht. Es geht darum, die Arbeit gut zu
machen und Anerkennung selbst im Profanen
zu finden« (Roger Cohen). Nicht so bei HansWerner Sinn ! Er findet Anerkennung beileibe
nicht in den profanen und sich wiederholenden
Aufgaben. Für mich war HWS über die letzten
30 Jahre hinweg eine Quelle der Inspiration.
Am meisten beeindruckte mich, wie er fast
im Alleingang bürokratische Erstarrungen der
Wissenschaft in Deutschland aufgebrochen hat.
Der junge Hans-Werner Sinn
In seiner Dissertation an der Universität Mannheim befasste sich HWS mit ökonomischen
Entscheidungen unter Unsicherheit. Als Nebenprodukt der axiomatischen Analyse der Entscheidungstheorie wandte er sich der mehr politikorientierten Analyse von Entscheidungen
bei begrenzter Haftung zu. Das geschah paral­lel
zu den wegweisenden Ansätzen von Stiglitz und
Weiss; unabhängig von ihnen entwickelte er
ähnliche Ideen. Anschließend wandte er die Ergebnisse seiner Arbeiten über die beschränkte
Haftung auf die Theorie der Bankenregulierung
an. In seinen späteren Arbeiten setzte er sich mit
der stimulierenden Wirkung der beschleunigten Abschreibung und der Besteuerung des
einkommens auf die intertemporale,
Kapital­
nale und intersektorale Allokation
internatio­
auseinander. Diese Forschung ist der Goldstandard auf dem Gebiet der öffentlichen Finanzen
und hob ihn direkt in die Champions League
der politikorientierten Ökonomen.
HWS trug auch zur wissenschaftlichen Auseinandersetzung mit dem deutschen Rentensystem bei und zeigte, dass die niedrigen Renditen aus der gesetzlichen Rentenversicherung
keine wirklichen Effizienznachteile im Vergleich zu einer kapitalmarktfinanzierten Pen­
sionsversicherung haben.
handels ignorieren. In seinem Buch Das grüne
Paradoxon begründet er die Notwendigkeit der
Einbeziehung aller Länder der Welt in ein PostKyoto-Emissionshandelssystem.
Hans-Werner Sinns Einstieg
in das akademische Unternehmertum
Ich lernte HWS in Kiel auf einer Konferenz zur
Kapitaleinkommensbesteuerung kennen und
erkannte in ihm sofort einen aufsteigenden
Stern am akademischen Himmel : leidenschaftlich in ökonomischen Fragen streitend und clever. Er lud mich an das CES ein, damals noch
ein Startup-Unternehmen.
Die deutschen Hochschulen waren damals
vom Rest der Welt isoliert. HWS erkannte, dass
eine solche Isolation wissenschaftliche Stagna­
tion züchtet. Ihm gefiel nicht, was er vorfand, und
er war entschlossen, die deutsche Wissenschaft
zu modernisieren. Zweieinhalb Jahrzehnte später ist die deutsche akademische ­Szene dank der
Pionierarbeit Hans-Werners und einiger anderer nicht mehr wiederzuerkennen : Graduiertenprogramme im US-Stil, Forschungsseminare,
junge Fakultätsmitglieder, die in Top-Journals
publizieren, und anderes mehr.
HWS übernahm die Präsidentschaft des ifo,
krempelte es um und ergriff so manche Initia­
tive : Er rekrutierte erstklassige politikorientierte Ökonomen, schrieb europaweit relevante
Politikbeiträge und gründete CESifo, das sich
zu einem europa­
weiten Forschungszentrum
entwickelte.
Hans-Werner Sinn, ein Freund
Hans-Werner und Gerlinde sind ein gewichtiger Grund, warum ich immer gerne nach München komme. Sie laden mich in ihr reizendes
Haus ein und wir sprechen – oft mit anderen
Gästen – über vertrauliche Themen der Politik­
debatte. Die Sinns sind wunderbare Gastgeber !
Ich schätze ihre Freundschaft sehr.
Vom Linken zum Liberalen: Hans-Werner Sinn und die deutsche Wirtschaftspolitik
Hans-Werner Sinns Positionen
in der Wirtschaftspolitik
Im Jahr 2003 sah HWS die Attraktivität
Deutschlands als Investitionsstandort durch
zu hohe Arbeitskosten gefährdet und forderte
Strukturreformen auf dem Arbeitsmarkt. Dazu
zählten Öffnungsklauseln in den Tarifverträgen, die Abschaffung des gesetzlichen Kündigungsschutzes und längere Arbeitszeiten ohne
Lohnausgleich. Er kritisierte auch die negativen
Auswirkungen des deutschen Lohnersatzsystems auf die Beschäftigung. Dazu entwickelte
er 2002 das alternative Modell der Aktivierenden Sozialhilfe. Seine Politikempfehlungen beeinflussten die Agenda 2010.
Sinn hat die deutsche Wirtschaft eine »Basar­
ökonomie« genannt, weil der ausländische Anteil an der deutschen Industrieproduktion auf
dem Vormarsch ist. Sein Argument ist, dass
Deutschland zu stark auf den Export und die
Endphase der Produktion gesetzt hat. Das führe zu einem pathologischen Exportboom.
Laut HWS wurzelt die globale Krise von 2008
im Missbrauch der Haftungsbeschränkungen
durch die US-Investmentbanken. Der zu geringe
Eigenkapitalbedarf verführte die Finanztreuhänder zum Glücksspiel. Ähnlich führte das Fehlen
der persönlichen Haftung der Hauseigentümer
zu deren überzogener Risikobereitschaft und
verursachte so die Immobilienblase in den USA.
Was die Reformen in Deutschland betrifft,
verlangte HWS deutlich höhere Anforderungen an die Eigenkapitalausstattung, mehr Ausgewogenheit in den Offshore-Aktivitäten und
eine Rückkehr zu den Rechnungslegungsvorschriften des Niederstwertprinzips des deutschen Handelsgesetzbuches (HGB).
Auf Basis seiner wissenschaftlichen Arbeiten
zum grünen Paradoxon kritisierte HWS, dass
die Grünen ihre Umweltschutzpolitik mit ungeeigneten Mitteln verfolgen und die ökonomischen Gesetze des europäischen Emissions-
35
Carl Christian von Weizsäcker
HANS-WERNER SINNS HABILITATIONSSCHRIFT
Vom Linken zum Liberalen
Carl Christian von Weizsäcker
ist Senior Research Fellow am
Max-Planck-Institut zur Erforschung von Gemeinschaftsgütern
mit den Forschungsgebieten
­Welfare Economics, Globale
Makro­politik, Kapitaltheorie und
Industrieökonomik. Von 1965 bis
2003 war er Professor für VWL,
zuletzt an der Universität zu Köln.
36
Meine erste intensivere Befassung mit HansWerner Sinns wirtschaftstheoretischem und
wirtschaftspolitischem Wirken war die Lektüre
und Besprechung seiner Habilitationsschrift,
die als Buch unter dem Titel Kapitaleinkommensbesteuerung 1985 bei Mohr-Siebeck erschien. Sinn baut in dieser Arbeit auf der neoklassischen Theorie des optimalen Wachstums
auf, in der man sich insbesondere auch mit
den fiskalischen Instrumenten einer Einflussnahme auf den Wachstumsprozess auseinandergesetzt hatte. Was aber bis dahin fehlte,
war eine genaue Analyse der unterschiedlichen
Steuern auf unterschiedliche Formen der Kapitaleinkommen wie Zinsen für Darlehen, ein­
behaltene und ausgeschüttete Gewinne auf
­Eigenkapital, auf Kursgewinne etc. sowie der
verschiedenen Abschreibungsregeln bei der
Gewinnermittlung. Das große Verdienst von
Sinns Arbeit war es, dass sie hier eine detaillierte Wirkungstheorie dieser verschiedenen Besteuerungsinstrumente enthielt.
Der Rahmen war ein makroökonomisches
Einsektorenmodell mit den Produktionsfak­
toren Arbeit und Kapital in der Tradition des
Solow-Ansatzes. Das repräsentative Unternehmen und der repräsentative Haushalt wurden
als intertemporaler Maximierer einer Bestandsgröße »Gegenwartswert aller künftigen Gewinne« und einer Bestandsgröße »Nutzenintegral«
dargestellt. Verwendet wurden die Methoden
der intertemporalen Maximierung, wie zum
Beispiel die dynamische Programmierung. Indem dieser Rahmen möglichst einfach modelliert wurde, konnte Sinn dann mit umso mehr
Detail die Wirkungen der Handvoll von Besteuerungsinstrumenten untersuchen. Die Ergebnisse dieser wohl mehrere Jahre beanspruchenden Arbeit waren zum Teil überraschend.
Sie konnten aber gewisse in den Jahrzehnten
zuvor beobachtete Trends in der Unternehmensfinanzierung gut erklären, so insbeson­
dere den starken Trend in Richtung steigender
Fremdfinanzierung.
dem Sinn’schen Modell des repräsentativen
Haushalts, weil er aus ihm ableitete, dass es gar
keine »dynamische Ineffizienz« geben kann,
bei der »zu viel« investiert wird. Denn damit
wäre die auch von mir entdeckte Phelps’sche
»Goldene Regel der Akkumulation« unerheblich geworden. Der Gleichgewichtszins liegt im
Sinn’schen Modell immer oberhalb der Wachstumsrate. Ich habe dies jedoch in der Besprechung des Buches nicht moniert, da dies wie
ein »pro domo«-Argument hätte erscheinen
können. Die Ungleichung Zins > Wachstumsrate ist dann nicht mehr durchgängig gültig,
wenn man im intertemporalen Optimierungsmodell des repräsentativen Haushalts die Vorsorge für den Ruhestand mitberücksichtigt.
Heute, 30 Jahre später, wird niemand mehr
ernsthaft leugnen können, dass die Einbeziehung des Ruhestands in den intertemporalen
Kalkül des repräsentativen Haushalts unverzichtbar ist. Und die späteren eindrucksvollen
Beiträge Hans-Werner Sinns zu den Problemen
der gesetzlichen Rentenversicherung zeigen,
dass auch er von dem diesbezüglichen Manko
seines Modells Abstand genommen hat.
In der Zwischenzeit hat sich die Welt stark
verändert. Seit Jahren beobachtet man einen
steigenden Grad der Selbstfinanzierung der
Unternehmen. Und ich denke, auch HansWerner Sinn wird aus seiner damaligen Ana­
lyse andere Schlüsse für die Wirtschaftspolitik
ziehen als damals.
Sein beeindruckendes Œuvre seither hat ihn
zum heute führenden akademischen Begleiter
und Kommentator der Wirtschaftspolitik gemacht.
Vom Linken zum Liberalen: Hans-Werner Sinn und die deutsche Wirtschaftspolitik
Ich war von der Lektüre dieses Werks beeindruckt, da es mit höchster analytischer Kom­
petenz geschrieben war; es war klar, dass der
Autor damit im deutschsprachigen Raum einen Platz in der ersten Reihe der Wirtschaftstheorie erringen werde. So war der Autor denn
auch zum Zeitpunkt der Veröffentlichung des
Buches schon zum Ordinarius an der Univer­
sität München berufen worden. Ich war damals
sehr darauf aus, Hans-Werner Sinn als Kollegen an die Universität Bern zu holen. Aber
München war schneller als Bern.
Andererseits irritierten mich manche Er­
gebnisse von Sinns Analyse. So widersprach es
meiner Intuition, wenn Sinn zum Beispiel modellmäßig zeigen konnte, dass eine Senkung
der Zinsbesteuerung, kompensiert durch eine
erhöhte Besteuerung von Eigenkapital, das
Wachstum stimulieren würde. Ich war damals
als Gründungsmitglied des Kronberger Kreises
gerade damit beschäftigt, für eine steuerliche
Besserstellung von Eigenkapital zu kämpfen.
Aus dieser Irritation heraus entstand meine
kritische Besprechung des Sinn’schen Werks in
der Zeitschrift für die gesamte Staatswissenschaft. Die Kritik lief darauf hinaus, dass das
Rahmenmodell nur die Faktoren Arbeit und
Kapital enthielt. Es fehlt in diesem Modell der
Unternehmer, der bereit ist, Risiken einzu­
gehen. Was bei der Antwort auf die Frage nach
der optimalen Besteuerung von Eigenkapital
erforderlich ist, ist eine Modellierung des
unternehmerischen Risikos und seines Ver­
hältnisses zum gesamtwirtschaftlichen Wachs­
tumsprozess.
Ferner war ich auch nicht einverstanden mit
37
Roland Tichy
ZWISCHEN SINN-GAP UND TARGET-FALLE
GEBOFINGERT
Vom Linken zum Liberalen
Roland Tichy war von 1983 bis
1985 Mitarbeiter im Planungsstab
des Bundeskanzleramtes. Später
leitete er renommierte Wirtschaftsmagazine, zuletzt die
­WirtschaftsWoche. Er ist Vorsitzen­
der der Ludwig-Erhard-Stiftung.
Tichy ist Gründer und Heraus­
geber des Online-Magazins
www.TichysEinblick.de.
38
Warum eigentlich trägt Professor Dr. HansWerner Sinn einen so exzentrischen Bart ?
Wenn Sie jetzt schmunzeln oder verärgert die
Stirn in Falten legen, haben Sie schon die Antwort parat. Form follows function, und die
Funktion ist Steigerung der Durchschlagskraft
der wissenschaftlichen Darbietung. Die Kraft
des Arguments ist das eine; die Durchschlagskraft ergibt sich mit Hilfe der Inszenierung.
Die Umsetzung der Kraft des Arguments zur
Durchschlagskraft in der öffentlichen Debatte
ergibt sich nach einem Algorithmus, dessen
Darstellung ich lieber Einstein oder Google
überlasse. Das Phänomen Sinn jedenfalls erschließt sich sonst einem durchschnittlichen
VWLer nicht. Aber vielleicht gibt es auch gar
keinen eineindeutigen Zusammenhang, und es
ist eine Kunst.
Jedenfalls ist dies eine Kunst, die in der deutschen Volkswirtschaftslehre kaum verbreitet ist
und in ihrer Häufung nur bei Sinn zu beobachten ist. Vielleicht ist das Vorkommen an Durch-
schlagskraft auch nicht vermehrbar und damit
eine limitationale Ressource. Sollte dies so sein,
ist es um die Volkswirtschaftslehre in Deutschland in den nächsten Jahren eher schlecht bestellt. Sie hätte dann nichts mehr zu sagen.
Denn Professor Sinn hat dieses Land ordentlich in Schwung gehalten.
Es hat ja mit einer Art »Kaltstart« angefangen; der doch schon alle Merkmale des Sinn’­
schen Wirkens in aller Kraft und Herrlichkeit
vorführt : Inhaltlich gesehen ist es die schiere
ökonomische Vernunft. Diese stemmt sich gegen politische Entscheidungen, hinterfragt sie
und zweifelt sie an. Sinns Thesen sind eingängig, weil argumentativ brillant vorgetragen, gut
begründet und belegt, das Säulendiagramm
ist seine schärfste Waffe. Sinns Vortragsgranate
bewegt die Herzen und Köpfe der Menschen,
durchbricht die bleierne Unaufmerksamkeitswand mit einem rhetorischen Überschallknall,
saust durch die Eingangskörbchen der Politik,
die papierenen Ablagen der Bürokratie und ra-
drei Schritt voraus sind, und das Noch-nichtsSpüren als Beweis nimmt, dass es diese Wände
gar nicht gibt.
Und manchmal dreht der träge Wal der Politik ja doch bei, wenn ihn Käpt’n Ahabs Wurfspieß kitzelt – und arbeits- und sozialpolitische
Reformen entfalten eine Wirksamkeit, die dem
Gesagten Recht gibt. Aber da ist der Ansager
schon weiter, und Käpt’n Ahab hängt schon
­einem anderen weißen Wal an der Finne : etwa
der Klima- und Energiepolitik. Diese reagiert
ja auf die eigene Unvernunft damit, dass sie
ihre ursprünglich genannten Ziele (Ökologie,
Ökonomie, Klima, Nachhaltigkeit) einfach mit
einer Art umgekehrtem Zaubertrick wieder im
Zylinder verschwinden lässt, aus dem sie sie
­gerade hervorimaginiert hat. Zwischen Recht
haben und Recht kriegen liegt der Sinn-Gap,
und dessen Breite wie Tiefe sind durch die Zahl
der dort versenkten öffentlichen Mittel gestaltbar; damit gewinnt zunächst immer die politische Unvernunft.
Besonders gut beobachtbar war dies an der
Target-Falle. Diese konnte der Verfasser besonders gut beobachten. Da lag uns nun also eine
Aussage eines früheren Bundesbankpräsidenten über das rätselhafte Verschwinden ungeheurer Milliardenbeträge im Buchungssystem
der Zentralbanken vor. Ehrlich gesagt : Es hat
niemand verstanden. Anfragen an Bundesbank
und Europäische Zentralbank blieben wochenlang unbeantwortet und mündeten schließlich
in langen Texten, deren kryptischer Sinn verschlüsselt blieb. Nur so viel war klar : Es handelt
sich offenkundig um eine Ungeheuerlichkeit,
wenn auch eine unerklärliche. Professor Sinn
sprang kopfüber in die Verständnislücke, und
innerhalb kürzester Zeit feuerte er ganze Salven auf die Eurorettungspolitik ab; am Höhepunkt sogar ein umfangreiches Buch, das keine Frage mehr offen lässt. Nun kennen wir also
die Target-Falle, auch wenn sie bewusst ka-
Vom Linken zum Liberalen: Hans-Werner Sinn und die deutsche Wirtschaftspolitik
schelnden Zeitungsspalten; irrlichtert durch die
Tagesschau, um schließlich an der gusseisernen Außenhaut des deutschen politischen Systems abzuprallen und mit einem Röcheln zu
verenden wie eine feuchte Silvesterrakete.
Nun mögen Sie denken : Was für eine Herabwürdigung – und das in einer Festschrift !
Nein, so ist es nicht gedacht. Denn das sind die
ehernen Rahmenbedingungen, in denen Sinn
wirkt. Deutschland hat sich abgewandt von der
ökonomischen Realität. Die Schere öffnet sich
zwischen ökonomischer und politischer Realität. Das macht Sinn so unverzichtbar : Es gibt ja
noch einige, die marktwirtschaftliche Prinzipien betonen und für ökonomische Rationalität
werben. Aber deren Argumente werden schon
kurz hinter dem Schreibtisch der Vorzimmerdame gebofingert und weggefratzschert. Das
strahlende Feuerwerk der hellen Vernunft am
sozialdemokratischen Abendhimmel der Umverteilung und des Untergangs der Sonne der
Vernunft am fernen Horizont des Tales von
BIP – diese Erleuchtung verdanken wir den
­Papiergranatwerfern, Sinn und dem nach außen verborgenen Wirken seiner Ehefrau. Denn
ohne sie und ihre Klugheit, Weisheit und Führung ergäbe dies alles keinen Sinn. Doch dieses
Thema verlangt nach einer eigenen Behandlung und nicht nach einem Nebensatz.
Oder ist es ganz anders – wird nur der bestraft, der zu früh kommt ? Die Prognosen des
Kaltstarts, die mittlerweile 20-jährige, subventionsgepflegte Stagnation in den Beitrittsländern sind ja bittere Realität und nur deshalb
nicht besonders verhaltensauffällig, weil sich
die kritisierten Verhaltensmuster in weiten Teilen Westdeutschlands fortsetzen. Besser wird
es dadurch aber nicht. Die Gerontokratie bestätigt sich eindrucksvoll in der GroKo und
­ihrer Rentenpolitik, die dabei ist, mit dem Kopf
gegen demographische Wände zu rennen, und
sich damit tröstet, dass diese Wände ja noch
39
Vom Linken zum Liberalen
schiert wird, wie es eben bei großen Fallen so
üblich ist.
So einer wie Sinn ist lästig. So einer hat Feinde. Nicht zu wenige; und das ehrt ihn : Viel
Feind, viel Ehr. Es war ja amüsant zu beobachten, wie das Handelsblatt in seiner EZB-Willfährigkeit ein ganzes Erschießungspeloton unter dem Kommando seines Miet-Professors
antreten ließ, um Sinns Thesen zu zerfetzen. Es
blieb nicht viel übrig. Vom Peloton, seinem
Professor und einem versuchten wissenschaftlichen Rufmord, was ja allein schon die Größe
Sinns zeigt.
40
Und nun ? Wer wagt es, sich seinen Bart umzuschnallen, Rittersmann oder Knapp ? Wer
wagt es, die Rolle des Kritikers anzunehmen
und gegen den Sog des Mainstreams anzupaddeln ?
Eine Lücke öffnet sich. Aber vielleicht ist die
Zukunft nicht hoffnungslos. Eine Lücke ist
dazu da, aus ihr heraus zu schreiben, zu argumentieren und weiter zu wirken. Altersgrenzen
sind was für Bismarck, nichts für moderne
Männer.
Kai Diekmann
Kai Diekmann ist seit 2011 Chef­
redakteur bei der BILD-Zeitung
sowie Herausgeber von BILD und
BILD am SONNTAG. Seit 2008 ist
er Gesamtherausgeber der BILDGruppe und seit November 2013
Herausgeber der B. Z.
1. Wäre BILD eine Uni – Hans-Werner Sinn
wäre ihr Rektor.
Er ist der etwas andere Professor. Der Volksprofessor, der so spricht, dass die Menschen auf
der Straße ihn verstehen. Nicht, weil seine Gedanken so einfach wären. Im Gegenteil. Er beherrscht die hohe Kunst, komplizierteste Sachverhalte nachvollziehbar zu erklären. Er spricht
nicht in Rätseln. Er spricht in Bildern.
2. Er sah das Griechen-Drama kommen,
als andere die Augen schlossen.
Früh warnte Hans-Werner Sinn vor einer
Staatspleite Griechenlands. Er erklärte, warum
immer neue Rettungsmilliarden dem Land
nicht helfen werden. Mahnte, dass Deutschland einen Großteil der Kredite nicht wieder­
sehen wird.
3. Tabus sind für ihn nicht tabu.
Arbeitszeiten wie vor 30 Jahren ? Für Sinn ein
Weg, um Deutschland international im Wett-
bewerb halten zu können. Würden die Deutschen 42 statt 38 Stunden arbeiten, wäre es
­weniger Zeit im Job als bei den Briten – aber
mehr Lohn in der Tasche. Eine Überlegung
wert, oder ?
4. Er lässt nicht locker, wenn sich andere
vertrösten lassen.
Ausdauer ist die Tochter der Kraft, heißt es. Mit
unerschütterlicher Geduld weist Hans-Werner
Sinn immer wieder auf Fehlentwicklungen hin.
Kostprobe : »Die EZB betreibt in Griechenland
eine Konkursverschleppung zulasten der Steuerzahler in Europa.«
5. Sein Ansporn ist das Entzaubern
angeblicher Polit-Wahrheiten.
»Alternativlos« ? Diesen Begriff gibt es für
Hans-Werner Sinn nicht. Sinn erklärte früh :
»Der Austritt aus dem Euro wäre das kleinere
Übel.«
Vom Linken zum Liberalen: Hans-Werner Sinn und die deutsche Wirtschaftspolitik
25 GRÜNDE, WARUM HANS-WERNER SINN
ALS IFO-PRÄSIDENT FEHLEN WIRD
41
6. Er ist Kompass für ein ganzes Land.
Ist es Reform oder nur Reförmchen ? GigantenGesetz oder nur Gicksi-Gacksi ? Wer Einordnung sucht, wird Hans-Werner Sinn fragen.
7. Er kann austeilen . . .
8. . . . aber auch einstecken.
Er lächelt über Worte wie »Prof. Un-Sinn«. Es
ist okay für ihn, wenn nicht jeder seiner Meinung ist. Wichtiger für ihn ist, dass seine Ar­
gumente diskutiert werden – im Land. Nicht
im Elfenbeinturm der Wissenschaft.
9. Es geht ihm um die Sache, nicht um sich.
Hans-Werner Sinn : »Zorn erfüllt mich, wenn
ich sehe, wie die Zeit nutzlos verstreicht und
wir nicht vorankommen, wie Deutschland weiter absackt und dem Zustand näher kommt,
wo es als ein Land der kinderlosen Greise seine
Kraft verliert und sich schicksalsergeben aus
der Geschichte verabschiedet.«
Vom Linken zum Liberalen
10. Er sagt, was richtig ist.
Nicht, was jeder richtig findet.
Große Männer stehen zu ihrer Haltung auch
bei großer Kritik. Längere Arbeitszeiten, lockerer Kündigungsschutz, Kürzen von Sozialleistungen – in TV-Shows absolute Applaus-Killer.
Für Sinn dennoch absolut notwendig.
42
11. Er hat den Spaß nicht verloren,
immer neue Debatten anzustoßen.
Ein Vierteljahrhundert mit Sinn und Verstand :
Kein deutscher Ökonom hat es besser verstanden, politische und ökonomische Debatten anzustoßen. Seine Bücher sind Standardwerke,
seine Theorien Meilensteine.
12. Er hat den Blick nach vorne.
Klima-Wahn, Zuwanderung, europäischer
Schulden-Sumpf : Hans-Werner Sinn wies im-
mer wieder frühzeitig – und lange vor anderen – auf Probleme und Fehlentwicklungen hin.
13. Er denkt nicht im Klein-Klein
des Berliner Polit-Betriebs.
Mindestlohn von 8 Euro ? Oder 8,50 Euro ?
­Solche Debatten, mit großem Engagement von
Politikern geführt, nimmt Sinn bestenfalls zur
Kenntnis. Für ihn geht es um Grundsatzfragen : Schafft ein flächendeckender Mindestlohn
neue Jobs ? Oder vernichtet er Arbeitsplätze ?
Seine Antwort ist eindeutig.
14. Er ist seine eigene Marke.
Wie Mercedes-Benz.
Wie viele Ökonomen (er)kennen die Deutschen auf der Straße ? Sehen Sie . . .
15. Er geht den harten Weg,
nicht den leichten.
Mit seiner Warnung vor der Milliarden-Bombe
(Target-Saldo) in der Bundesbank-Bilanz löste
Sinn eine Welle der Empörung in der Euro-­
Debatte aus. Für ihn : keine leichte Zeit. Für
ihn : egal.
16. Er denkt pragmatisch.
Nicht dogmatisch.
Was schafft neue Jobs ? Was hilft Arbeitslosen
bei der Rückkehr ins Berufsleben ? Hans-Werner Sinn entwickelte das Modell, Langzeitarbeitslose bei der Aufnahme niedrig bezahlter
Jobs mit Lohnzuschüssen zu unterstützen. Sein
Credo : »Es muss weniger staatliches Geld fürs
Nichtstun geben und mehr fürs Mitmachen.«
17. Er lässt sich von Fakten leiten.
Nicht von Vorurteilen verleiten.
Der Atomausstieg war ein Fehler, die Energiewende führe »ins Nichts« ! Klartext von HansWerner Sinn gegen Öko-Romantik und AKWPhobie.
19. Für ihn ist sozial, was Arbeit schafft –
nicht, was sich sozial nennt.
»Die Gewerkschaften haben ihre Verhandlungsvollmacht benutzt, um Lohnkartelle gegenüber den Arbeitgebern durchzusetzen.
Durch das Erzwingen nicht marktgerechter
Löhne haben sie Arbeitslosigkeit erzeugt. Ein
Unternehmen muss die Preise und Löhne von
Konkurrenten unterbieten dürfen, wenn die
Belegschaft dies will«, sagte Sinn 2004.
20. Er baut Brücken, keine Mauern.
Sinn ist für Einwanderung, für Integration.
»Ohne Zuwanderer kollabiert das Rentensystem in 20 Jahren.« Sinn prognostiziert, dass
Deutschland in den nächsten 20 Jahren bis
zu 32 Millionen Zuwanderer braucht, um die
­Rente zu stabilisieren.
21. Er ist fair zu den Schwachen,
aber verachtet die Faulen.
»So sollten arbeitsfähige Personen, die nicht arbeiten, ein Drittel weniger Sozialhilfe bekommen und Geringverdiener, die einen Job annehmen, mehr Geld bekommen.«
22. Er ist Überzeugungstäter.
Das Neue fasziniert ihn, das Unbekannte reizt
ihn ! So wie bei den Recherchen zu den TargetMilliarden. »Am Anfang hatte ich ja auch nur
diese Zahl und wusste nicht so recht, was sie
bedeutet. Die Bundesbank sagte mir, das seien
irrelevante Salden. Aber das hat mich nicht beruhigt.« Deshalb fragte er andere Finanzexperten : »Jeder wusste ein bisschen was. Ich musste
mir das Bild zusammenpuzzeln. Das war richtige Detektiv-Arbeit.« Und machte Sinn weltberühmt.
23. Er traut den Menschen mehr zu
als der Staat.
Für Hans-Werner Sinn wissen die Menschen
selbst am besten, was gut für sie ist – und nicht
der Staat. Jeder solle selbst entscheiden, ob er
bis 70 arbeiten möchte und kann. Nicht der
Staat.
24. Er ist radikal, nicht ratlos.
Das alte Rentensystem muss weg, freie Kitas
müssen her. Er will einen Kinder-Bonus bei
Steuer und Rente. Es muss krachen im Geldbeutel, nicht nur zischen.
25. Er ist so weise, dass er seinen Bart
völlig zu Recht trägt.
Vom Linken zum Liberalen: Hans-Werner Sinn und die deutsche Wirtschaftspolitik
18. Die Number One für ihn ist der Steuer­
zahler. Nicht der Staat.
»Es ist richtig und wichtig, dass der Staat we­
niger Schulden macht. Es ist aber falsch, dafür
den Bürger durch neue und höhere Steuern zur
Kasse zu bitten.«
43
HWS mit den Nobelpreisträgern
James Mirrlees (links) und James J.
Heckmann (rechts) am 25. April 2008
bei einer Konferenz in München
anlässlich seines 60. Geburtstages.
HWS überreicht den früheren Vor­
sitzenden des Wissenschaftlichen Beirates des ifo Instituts (von links nach
rechts ) Robert ­Haveman und Assaf
Razin die Urkunden über deren Ehren­
mitgliedschaft im ifo Institut (2013).
HWS beim Start der von Minister-
präsident Horst Seehofer im Jahr
2009 ins Leben gerufenen Kommission »Zukunft Soziale Marktwirtschaft«: ( von links nach rechts )
Reinhard Kardinal Marx, Harald
Strötgen, Frieder C. Löhrer, HWS,
Stephan Götzl, Horst Seehofer,
Ann-Kristin A
­ chleitner, Manfred
Schoch und Hagen Pfundner.
44
HWS mit Roland Tichy (links) und
René Obermann (rechts) anlässlich
der ifo-Konferenz »Gestärkt aus
der Krise – Wachstumspotenziale
von Bildung, Innovation und IKTInfrastruktur« (22. April 2009).
Der damalige Bundeswirtschaftsminister Wolfgang Clement schaut
am 18. Februar 2004 auf den EEAGBericht zur wirtschaftlichen Lage
Europas, den HWS in der Bundespressekonferenz in Berlin zeigt.
Der damalige Bundespräsident
Horst Köhler bei seinem Besuch
des ifo Instituts am 5. August 2008
mit den ifo-Bereichsleitern ( von
­ arstensen,
links nach rechts ) Kai C
Thiess Büttner, Peter Egger und
Ludger Wößmann.
45
WirtschaftsWoche, 02.08.2010
2
KALTSTART:
Hans-Werner Sinn und die
Wiedervereinigung
Marcel Thum
EINLEITUNG
Kaltstart:
Hans-Werner Sinn und die Wiedervereinigung
Kaltstart
Marcel Thum ist Professor für
Finanzwissenschaft an der TU
Dresden und leitet die Nieder­
lassung Dresden des ifo Instituts.
Er hat bei HWS an der LudwigMaximilians-Universität München
promoviert und habilitiert. Kurz
nach der deutschen Wiederver­
einigung wurde er Mitarbeiter am
Lehrstuhl von HWS.
48
»Mein lieber Mann, die deutsche Einheit ist viel
zu wichtig, um sie den Politikern und Lobby­
isten in Bonn zu überlassen. Jetzt kannst du
dich nicht hinter Formeln und Tabellen für
eine Fachzeitschrift verstecken.« So oder so
ähnlich hätte die Geschichte des Kaltstarts beginnen können. Denn die Überschrift dieses
Kapitels ist irreführend. Richtigerweise müsste
sie heißen : »Gerlinde, Hans-Werner und die
Wiedervereinigung«. Gerlinde Sinn war nicht
nur Ko-Autorin des »Coming out«, wie das
mein Kollege Ludger Wößmann in der Ein­
leitung genannt hat. Sie war auch eine treibende Kraft, wenn es darum ging, die Erkenntnisse
der Volkswirtschaftslehre zum Thema Wiedervereinigung in die öffentliche Diskussion zu
tragen.
Gerade wegen dieser akademischen Aufbruchsstimmung in wirtschaftspolitisches Neuland denke ich gern an die Entstehungszeit des
Kaltstarts zurück. Etwas Besseres konnte einem
angehenden Doktoranden eigentlich gar nicht
passieren. Statt sich in den Verzweigungen
von längst ausgetretenen Modellpfaden zu
­verlieren, ging es jetzt darum, grundlegende
Erkenntnisse aus der volkswirtschaftlichen
Theorie auf ein reales und drängendes wirtschaftspolitisches Problem vor der eigenen
Haustür anzuwenden. Genau das haben Gerlinde und Hans-Werner Sinn dann mit großem
Enthusiasmus getan, der auch uns als Doktoranden ansteckte und inspirierte.
Die Debatten über den besten Weg zur ökonomischen Einheit begannen im Studenten­
seminar und waren beim Abendessen noch
lange nicht beendet. Neben dem üblichen akademischen Seminar zu Allokationsproblemen
im Versicherungsmarkt oder zur Ressourcenökonomik gab es jetzt eben auch ein Seminar
zu den ökonomischen Fragen der deutschen
Einheit. Hans-Werner Sinn brachte den Studenten nahe, wie man ökonomische Theorie
nutzen kann, um Klarheit in die für uns alle damals verwirrende Diskussion zu bringen, und
nomischen Mechanik vereinbar war. Der »Sozialpakt für den Aufschwung« sah vor, dass die
Löhne auf niedrigem Niveau eingefroren wurden, dass die Treuhand über Joint Ventures mit
privaten Investoren die Firmen mit neuem Kapital und Know-how versorgte und dass die
Ostdeutschen zum Ausgleich für die Lohnzurückhaltung Anteilsrechte an den neugeschaffenen Betrieben bekämen. Ich verkürze hier
ein wenig, schließlich sollen Sie das Buch noch
selbst lesen – die Lektüre lohnt noch immer.
Der wesentliche Punkt ist, dass mit diesem
Vorschlag der Lohn seine Funktion als Knappheitspreis im Arbeitsmarkt behalten und die
Ostdeutschen eine Anfangsausstattung an Vermögen bekommen hätten. Wie die Geschichte
ausging, wissen Sie : Die Politik wollte lieber
den Lohn als Verteilungsinstrument benutzen.
Das führte zu Massenarbeitslosigkeit, machte
die Ostbetriebe wertlos und vernichtete so das
Vermögen, das sonst den Ostdeutschen zugestanden hätte.
Das Buch wurde damals sowohl in der Fachwelt als auch in den Zeitungen überaus positiv
besprochen. Wolfram Engels bezeichnete es in
der WirtschaftsWoche als »die einzig gründ­
liche Analyse«. Und der Economist lobte : »This
is much the best book on the subject so far –
and no subject in applied economics is more
interesting or important.« Selbstverständlich
versuchten auch einige, die Politikvorschläge
als »praktisch wertlos« (Spiegel) und die Prognosen als zu pessimistisch beiseite zu schieben.
Diese Kritik ist verpufft. Die Entwicklung in
den neuen Ländern hinkt sogar noch hinter
dem her, was damals als pessimistisch galt.
Wenn man Gerlinde und Hans-Werner Sinn
überhaupt etwas vorwerfen kann, dann dass sie
unverbesserliche, aber wunderbar enthusiastische Optimisten sind, was die Kraft klarer ökonomischer Argumente betrifft.
Kaltstart: Hans-Werner Sinn und die Wiedervereinigung
wie man Lobby-PR von soliden ökonomischen
Argumenten unterscheidet. Und die Debatte
ging weiter, wenn – wie nach Gründung des
Center for Economic Studies (CES) sehr häufig – die internationalen Gastforscher bei Sinns
zum Abendessen eingeladen waren. An einem
besonders denkwürdigen Abend wurde die
Nachspeise von der Nachricht unterbrochen,
dass sich der Bundestag für Berlin als Hauptstadt entschieden hatte, und die Diskussion
flammte von neuem auf.
Die erste Auflage des Kaltstarts kam Ende
1991 heraus und ging mit dem von der KohlRegierung eingeschlagenen wirtschaftspolitischen Weg hart ins Gericht. Erstens würde
der Vorrang der Restitution, also der Rückgabe
an Alteigentümer, den Transformationsprozess
auf Jahre unnötig blockieren. Zweitens musste
der Versuch, den Kapitalstock einer ganzen
Volkswirtschaft auf einmal zu verkaufen, schon
deshalb scheitern, weil der Erwerb nur aus dem
sehr kleinen Strom von Ersparnissen erfolgen
konnte. Und drittens – und das ist wahrscheinlich der wichtigste Punkt – würde der Versuch,
die Löhne als Produktivitätspeitsche zu nutzen,
Arbeitslosigkeit erzeugen und zu einer Stagnation in der ostdeutschen Entwicklung führen.
Jeder einzelne dieser Kritikpunkte hat sich als
absolut berechtigt herausgestellt.
Die ökonomisch fundierte Analyse war messerscharf. Gerlinde und Hans-Werner Sinn
führten im Kaltstart dem Leser die Konsequenzen klar vor Augen, die sich aus einer Fortführung der eingeschlagenen Politik ergeben würden. Die Hoffnung war natürlich, dass sich die
Politik der Regierung bewegen würde. Und es
gab Alternativen. Gerlinde und Hans-Werner
Sinn selbst hatten in ihrem Buch eine gang­
bare Transformationsstrategie ausgearbeitet,
die eine »organische Systemtransformation«
ermöglichte und – anders als die Politik der
­Regierung – mit den Grundgesetzen der öko-
49
Georg Milbradt
VEREINIGUNG OHNE WIRTSCHAFTLICHEN
KOMPASS
Kaltstart
Georg Milbradt war von 1990 bis
2001 Finanzminister und von 2002
bis 2008 Ministerpräsident des
Freistaats Sachsen. Er lehrt an der
TU Dresden und ist stellvertretender Vorsitzender des Unabhängigen Beirats des Stabilitätsrats
sowie Chairman of the Board des
Forum of Federations, Ottawa.
50
Die Wiedervereinigung hatte mich im November 1990 nach Sachsen gebracht, wo ich als
Finanzminister eine neue Steuerverwaltung
­
aufbauen und die Staatsfinanzen auf eine nachhaltige Basis stellen sollte. Für beide Aufgabenbereiche war es unabdingbar, sich Gedanken zu
machen, mit welcher wirtschaftlichen Entwicklung zu rechnen war und welche wirtschafts­
politische Strategie Sachsen anstreben sollte.
Zwar lag die wirtschaftspolitische Verantwortung überwiegend beim Bund, der die Gesetzgebungskompetenz über die Steuerpolitik und
die wirtschaftlichen Rahmenbedingungen besaß und mit den Mitteln des Aufbaus Ost und
der Treuhand über wirksame Instrumente zur
Gestaltung des wirtschaftlichen Transforma­
tionsprozesses verfügte. Allerdings hatten die
wirtschafts- und finanzpolitischen Vorstellungen, die dem Einigungsvertrag zugrunde lagen,
mit der Realität nur wenig zu tun.
Die damals oft gebrauchten Vokabeln »Liquiditätshilfe« und »Anschubfinanzierungen«
machten deutlich, dass viele Akteure den
Transformationsprozess als ein kurzfristiges
Intermezzo ansahen. Man glaubte, mit der
Übernahme des bewährten westdeutschen po­
li­
tischen, rechtlichen, wirtschaftlichen und
­finanzpolitischen Systems sowie der D-Mark
im Osten eine Dynamik (wie nach der Währungsreform 1948 im Westen) auszulösen, die
den Osten schnell an das Westniveau heranführen würde. Der Osten sei nicht arm, aber
kurzfristig noch nicht liquide. Der Westen
müsste dem Osten nur einen Schubs geben,
vielleicht auch zwei. Das würde ausreichen. Die
fiskalischen Belastungen für den Westen seien
gering, da durch die hohen Vermögenswerte
der alten DDR, die sich der Bund durch den
­Einigungsvertrag gesichert hatte, mittelfristig
die anfängliche Belastung deutlich abnehmen
würde. Die Finanzierung der ostdeutschen
Länder und Gemeinden wurde durch eine Art
Finanzausgleich sichergestellt, der allerdings
auf der Geberseite (Bund und Länder) über
Sinns Buch an wichtige Entscheidungsträger
oder diskutierte mit ihnen darüber. Der Erfolg
war niederschmetternd. In Sachsen beschränkten wir uns dann darauf, soweit wir Einfluss auf
die Lohnpolitik hatten, die Anpassung zu bremsen, um negative Effekte zu verringern. Größere
Erfolge waren aber nicht zu erzielen. Die hohe
Lohndynamik war nicht mehr zu stoppen. In
den westdeutschen Wirtschafts- und Gewerkschaftskreisen fürchtete man nämlich, nicht zu
Unrecht, eine Lohnkonkurrenz des Ostens und
einen Lohndruck auf die westdeutsche Wirtschaft, den man auf jeden Fall verhindern wollte. Die schnelle Lohnanpassung wurde deshalb
begrüßt, da sie die Kaufkraft im Osten für westdeutsche Produkte erhöhte, aber die Lasten der
Arbeitslosigkeit auf den Staat verlagern konnte.
Übersehen wurde allerdings, dass sich der Staat
das Geld durch Steuer- und Beitragserhöhungen zurückholen und die Kosten wie ein Bumerang zurückkommen würden.
Viele, die es besser hätten wissen können,
konnten sich mit Sinns Thesen nicht anfreunden. Sie hätten den politischen Mainstream verlassen, einen Irrtum eingestehen und der Bevölkerung die wahren Dimensionen vor Augen
führen müssen. Davor schreckten sie zurück.
Die Konsequenzen einer hohen Arbeitslosigkeit und einer geringeren gesamtdeutschen
Wachstumsrate nahm man hin, sie wurden nur
nach und nach deutlich und nicht der Lohn­
politik zugerechnet. Erst mit der von Sinn angestoßenen Diskussion über die Aktivierende
Sozialhilfe und durch die Agenda 2010 wurden
einige Fehlentwicklungen korrigiert – für den
Osten aber 15 Jahre zu spät.
So wurde Kaltstart zwar mit erfreulich h
­ ohen
Stückzahlen verkauft, hatte aber kaum Auswirkungen auf die deutsche Politik. Die Übersetzungen in mehrere Sprachen, darunter Chi­nesisch
und Koreanisch, zeigen aber, dass sich Sinns
Analyse im Ausland großer Beachtung erfreut.
Kaltstart: Hans-Werner Sinn und die Wiedervereinigung
Kredit finanziert wurde, um eine Belastung der
öffentlichen Haushalte West zu vermeiden.
Schnell platzten die Illusionen. Nach der
Einführung der D-Mark befand sich die ostdeutsche Industrie im freien Fall. Der Wert
des DDR-Vermögens rutschte ins Negative, die
Forderungen des Bankensystems an die Unternehmen und die Wohnungswirtschaft erwiesen sich als wertlos. Man hatte die DDR viel zu
reich gerechnet !
In dieser Situation veröffentlichte Hans-Werner Sinn mit seiner Frau Gerlinde Anfang 1991
das Buch Kaltstart, in dem sie eine schonungslose Analyse der DDR-Wirtschaft vornahmen
und die volkswirtschaftlichen Kon­sequenzen
der schnellen Lohnanpassung offenlegten : Entwertung des vorhandenen Kapitalstocks, sehr
teurer Anpassungspfad durch weitgehenden
Ka­­pitalneuaufbau, chronische Massenarbeitslosigkeit. Ihr Alternativkonzept war kurz zusammengefasst : Subventionierung der Arbeitseinkommen, um eine produktivitätsorientierte
Lohnpolitik zu ermöglichen und gleichzeitig
eine schnellere Anpassung an das westliche
Wohlstandsniveau zu erreichen; dadurch Stabilisierung der Beschäftigung; Privatisierung
des vorhandenen Wirtschaftsvermögens an die
Bevölkerung.
Hans-Werner schenkte mir ein Buchexem­
plar. Die Lektüre überzeugte mich, dass wir in
der Politik auf dem falschen Weg waren. Ich
hatte zwar schon in den ersten Regierungs­
wochen eine schockartige Konfrontation mit
der ökonomischen Wirklichkeit hinter mir, die
ein ungutes Bauchgefühl hinterließ, aber noch
keinen Gesamtüberblick.
Leider wurde das Buch in den politischen
Kreisen kaum zur Kenntnis genommen. Ein Teil
der politischen Klasse hat keine großen wirtschaftswissenschaftlichen Kenntnisse und vertraute auf die »bewährten« Instrumente westdeutscher Krisenpolitik. Ich verschenkte damals
51
Marc Beise
DER TRABI-MANN
Kaltstart
Marc Beise leitet seit 2007 die
Wirtschaftsredaktion der Süddeut­
schen Zeitung. Gemeinsam mit
Hans-Werner Sinn verantwortet
und moderiert er die »Münchner
Seminare«, eine traditionsreiche
Vortragsveranstaltung von ifo und
Süddeutscher Zeitung.
52
Die Öffentlichkeit kennt Hans-Werner Sinn
dozierend im schwarzen Dreiteiler am Pult
oder im Talkshow-Sessel. Sie kennt ihn als
Theo­retiker mit klarer Meinung, die er gern
apodiktisch vorträgt, was ihm bei manchen
Gegnern den Ruf eingetragen hat, ein kalter
und gefühlloser Ökonom zu sein. Wer ihm
näher kommt, erlebt, dass der private Sinn
­
charmant sein kann, witzig und überraschend.
Wer weiß zum Beispiel, dass der langjährige
Präsident des ifo Instituts, dem zahlreiche In­
signien der Macht einschließlich eines Audi-­
A8-Dienstwagens zur Verfügung stehen, einmal ein stolzer Trabi-Besitzer war ?
Man hätte es vielleicht ahnen können beim
Blick auf das Cover der dtv-Taschenbuchausgabe des ersten Sinn’schen Bestsellers, Kaltstart : Dort sieht man einen hellblauen Trabi im
Schnee, der Starthilfe von einem weißen Mercedes bekommt, und man sieht ein junges Paar,
das sich an den Autos abmüht; es sind die
­Autoren selbst. Kaltstart ist das einzige Buch,
das das Ökonomenehepaar Gerlinde und HansWerner Sinn gemeinsam geschrieben hat. In
einem Interview mit der Süddeutschen Zeitung
im Herbst 2015, 25 Jahre nach der Wiederver­
einigung, haben sie sich daran in rührender
Art und Weise erinnert.
Ein Gemeinschaftswerk war das damals. So
gemeinsam, dass das Ehepaar sich heute nicht
mehr darauf einigen kann, wer denn damals
die Idee hatte, die Transformation der DDRWirtschaft in die westliche Marktwirtschaft
zu analysieren. Sicher ist : Der junge Münchner Ordinarius Sinn war auf USA-Gastreise, in
Stan­ford und später auch in Princeton, und
fand sich dort permanent der Frage ausgesetzt :
Was passiert da in Deutschland ? Da sammelte
seine Frau zu Hause Informationen, alles, was
sie finden konnte, und sandte sie ihrem Mann
per Fax nach Kalifornien, stapelweise, wochenlang. Sinn gab sein Wissen weiter, er durfte
­sogar beim Sachverständigenrat des US-Präsidenten vortragen, befragt unter anderem von
nicht funktionierten. Die Arbeiter konnten
mitbestimmen, das sah gut aus, aber sie verhinderten, dass neue Arbeiter eingestellt wurden.
Auch die Fragilität des ostdeutschen Wirtschaftssystems wurde Sinn zunehmend bewusst. Man konnte ja bei jedem Besuch in der
DDR mit Händen greifen, dass die Statistiken
der angeblich bedeutenden Wirtschaftsnation
dreist gefälscht waren. Als dann alles zusammenbrach, als eine neue Ordnung für ein völlig
heruntergewirtschaftetes System gesucht wurde, fand der Ökonom Sinn seine Berufung. Bis
dahin hatte er theoretisch gearbeitet, wie die
meisten Forscher, jetzt war der Sozialwissenschaftler gefragt, der Praktiker. Sinn gab Rat,
aber er wurde nicht gehört. Die Währungsumstellung 1 : 1 trug er mit, aber die Angleichung
der Löhne hielt und hält er für einen schweren
Fehler. Die DDR-Löhne waren auf 30 % des
Westniveaus, mehr war die Arbeit nicht wert.
Wäre es so geblieben bis zum Abschluss der
Privatisierung, dann wäre das ein starkes Ar­
gument gewesen für Ausländer, vorzugsweise
aus Fernost, in Ostdeutschland zu investieren.
Dass es so nicht kam, dafür macht Sinn die
­Tarifparteien verantwortlich : Die Gewerkschaf­
ten wollten keine Konkurrenz für ihre westdeutschen Mitglieder und die Arbeitgeber
­keine Konkurrenz in ihrem Hinterhof. All das
wird akribisch und wissenschaftlich aufgearbeitet in Kaltstart.
Den Trabi vom Titelbild, um darauf zurückzukommen, hatten sich die Autoren in München ausgeborgt. Als Hans-Werner Sinn ihn
persönlich zurückbrachte, fragte er den Eigentümer, wie viel dieser denn gezahlt habe. Der
konterte : »Wollen Sie ihn denn kaufen ?« Warum nicht, dachte Sinn. Und kam so zu einem
Trabi, der viele Jahre in der Familie seinen
Dienst tat, blaue Wolken aus dem Auspuff inklusive.
Kaltstart: Hans-Werner Sinn und die Wiedervereinigung
Paul Samuelson, dem ersten amerikanischen
Wirtschaftsnobelpreisträger – und alle wollten
ganz genau wissen : Wie machen die Deutschen
das mit der Vereinigung ? Was wird aus den
Löhnen in Ostdeutschland, die nicht durch
Produktivität gedeckt sind ? Dann gab es noch
ein anderes Thema, das den selbstbewussten
Ökonomen auf dem falschen Fuß erwischte :
die Privatisierung der volkseigenen Betriebe.
Albert O. Hirschman, der berühmte Soziologe,
der in der Weimarer Republik Mitglied der
Sozialistischen Arbeiterjugend gewesen war,
­
bevor er vor den Nazis floh, fragte : Was ist jetzt
mit den deutschen Junkern ? Kriegen die ihr
Land zurück ? Sinn war blank, das Thema war
ihm noch nicht untergekommen : »Ich hatte
nichts Sinnvolles zu sagen.« Diese beiden Fragen – Löhne und Privatisierung – haben später
das Buch Kaltstart maßgeblich beeinflusst.
Ein Buch, ein Thema, das für Hans-Werner
Sinn eine ganz besondere, eine biographische
Bedeutung hat. Den Mauerbau erlebte er »live«
mit. Der West-Jugendliche war mit seinen Eltern auf Verwandtenbesuch in Ost-Berlin. Am
12. August 1961 fuhren sie durchs Brandenburger Tor, nachmittags wollten sie zurück, da war
das Tor schon zu, überall lag der gerollte Stacheldraht. Deshalb, weiß Hans-Werner Sinn,
»ist der 12. August der Tag des Mauerbaus,
nicht der 13., wie es heute immer heißt.« Das ist
wieder Sinn, der Akkurate. Der, der alles besser
weiß. Und auch noch Recht hat; das mag man
ja nicht so gern.
Als Studenten, das kann sich auch nicht jeder vorstellen, haben die Sinns den dritten Weg
gesucht zwischen Kapitalismus und Sozialismus. Als junger Wissenschaftler in Mannheim,
in den 1970er Jahren war das, ist Sinn mit dem
Seminar nach Sarajevo gereist, 36 Stunden mit
dem Zug, um von Arbeitern selbstverwaltete
Betriebe zu besuchen. Aber er begriff bald, dass
die Ideale aus der Studentenzeit in der Praxis
53
Michael C. Burda
DIE DEUTSCHE WIEDERVEREINIGUNG
ALS ÖKONOMISCHE HERAUSFORDERUNG
Kaltstart
Michael C. Burda, US-amerikanischer Staatsbürger, hat seit 1993
den Lehrstuhl für Wirtschafts­
theorie an der Humboldt-Univer­
sität zu Berlin inne. Seit 1990 liegt
sein Forschungsschwerpunkt,
neben der Makroökonomie und
der Arbeitsmarktökonomik, bei
der volkswirtschaftlichen Integ­
ration Europas.
54
Trotz der allgemeinen Stimmung des Überschwangs und Übermuts nach der Wende hat
Hans-Werner Sinn eine eher nüchterne Frage
bemüht : »Wie können 17 Millionen Bürger der
ehemaligen DDR den Lebensstandard der alten
Bundesrepublik erreichen, ohne das Erfolgsmodell Deutschland zu gefährden ?« Aber nicht
einmal Hans-Werner hätte die massive Her­
ausforderung vorhersehen können, die die
deutsche Wiedervereinigung für die moderne
Wirtschaftstheorie und den deutschen Wohlfahrtsstaat darstellen würde.
Das mit seiner Frau Gerlinde verfasste Buch
Kaltstart schilderte bereits 1991 diese Probleme
mit Sorgfalt und Sachlichkeit. Sinns gingen zu
Recht davon aus, dass die realwirtschaftlichen
Fundamente für eine sofortige Konvergenz der
Ost-West-Lebensstandards nicht gegeben waren. Ein politisch bestimmter 1 : 1-Umtauschkurs für die Ost-Mark ließ die Industrieproduktion innerhalb von zwei Jahren um zwei
Drittel schrumpfen. Den stichhaltigen Beweis
für die fehlende Wettbewerbsfähigkeit der ostdeutschen Wirtschaft lieferte George Akerlof
bereits 1990 : Die vom DDR-Handelsministe­
rium errechneten »Richtkoeffizienten«, die den
Wert der Exporte in Ost-Mark abbildeten, um
eine Deutsche Mark zu erwerben, lagen im
Schnitt bei 4,0. Folglich war kaum ein ostdeutsches Kombinat wettbewerbsfähig. Für den
Aufbau marktfähiger Unternehmen mit produktiven Mitarbeitern brauchte die ostdeutsche Wirtschaft massive Transfers an Sachkapital und technischem Wissen.
Sinns zeigten mehrere Nebenbedingungen
auf, an denen die Transformation krankte. Die
rasche Privatisierung der ostdeutschen Wirtschaft war unabdingbar; ein »dritter Weg« hätte
zur Aufschiebung der nötigen Umstrukturierungen geführt und dadurch Dauertransfers
verursacht. Die Überführung des ostdeutschen
Kapitalstocks in Privatbesitz scheiterte gleichwohl am maroden Kapitalstock, an den starken
Lohnerhöhungen und an der schwachen Ren-
Umtauschkurses heruntergespielt. Ein günstigerer Wechselkurs hätte die ostdeutsche Industrie zwar kurzfristig vor dem Aus gerettet, die
Migration aber verstärkt und überdies die unverzichtbare Umstrukturierung der Wirtschaft
hinausgeschoben. Einen Aspekt der Wiedervereinigung hat Hans-Werner Sinn allerdings
verkannt : Nicht die von ihm angeprangerten
Gewerkschaften oder staatlichen Arbeitgeber,
sondern die hohe Arbeitskräftemobilität stellte
die wesentliche Begleitmusik dar. Die Ostdeutschen waren vom Schicksal der niedrigen Löhne und des »organischen Wachstums« befreit
und hatten hohe Opportunitätskosten des
Bleibens : die Einkommensmöglichkeiten im
­
Westen. Im Vergleich war die Mobilität des
Sachkapitals eher bescheiden. Die ungezügelte
Abwanderung hätte zweifelsohne zur Umwandlung Ostdeutschlands in einen riesigen
Nationalpark geführt und zwang die Politik
zum Handeln. Die hohen Löhne waren eine unausweichliche Folge der liberalen Wirtschaftsordnung, die sich die Ostdeutschen unter den
Nebenbedingungen der Wiedervereinigung
selbst gewünscht hatten. Wie bei der Euroeinführung setzte sich das politische Primat gegen
die ökonomische Räson durch.
Wie kaum ein anderer hat Hans-Werner
Sinn die deutsche Wiedervereinigung und die
Integration der beiden Teile Deutschlands als
ökonomisches und wirtschaftspolitisches Thema erkannt. Auch wenn die vollständige In­
tegration Ostdeutschlands ein Vierteljahrhundert nach der Wende noch ausbleibt, prägen
Hans-Werner Sinns Botschaften die Diskus­
sion um den Übergang von der Plan- zur
Marktwirtschaft. Mögliche Zukunftsprojekte
wie die Wiedervereinigung Koreas oder der
Umbau von planwirtschaftlich aufgestellten
Ländern in Asien und Lateinamerika würden
sehr von s­ einer Analyse der deutschen Erfahrungen profitieren.
Kaltstart: Hans-Werner Sinn und die Wiedervereinigung
tabilität der zu privatisierenden Betriebe. Letztere war deutlich an den geringen Privatisierungserlösen abzulesen. Dennoch wurde die
Transformation maßgeblich durch die Ansprüche der ostdeutschen Bevölkerung bestimmt.
Die neuen Bundesbürger hatten die Freiheit,
ihren Wohn- und Wirkungsort selbst zu wählen, und machten von dieser Option stark Gebrauch. Junge, gut ausgebildete und ambitionierte Mitarbeiter verließen ihre Firmen, die
wiederum gezwungen wurden, die Löhne zu
erhöhen und die Rentabilität neuer Investitionen zu schmälern. Die Gewerkschaften haben
diese Forderungen vorangetrieben. Ohne Widerstand der Arbeitgeberseite stieg der Durchschnittslohn in den Jahren nach der Wiedervereinigung auf 75 – 85 % des Westniveaus.
Das Ehepaar Sinn hat mit finanzwissenschaftlicher Stringenz mehrere wirtschaftspo­
litische Vorschläge unterbreitet, die leider zu
häufig von westdeutschen Partikularinteressen
abgelehnt wurden. Um die Effekte der realen
Abwertung abzufedern, brachten Sinns einen
befristeten Mehrwertsteuererlass ins Spiel. Um
die auf unvollständige Märkte zurückzufüh­
renden Liquiditätsengpässe aufzuheben, befürworteten sie verschiedene Privatisierungsmodelle, die die Eigentümerrechte direkt in die
Hände der Ostdeutschen gegeben hätten. Versteigerungen mit internationalen Bietern hätten
zu marktgerechteren Preisen geführt; die Streuung von Staatsbesitz unter die Bevölkerung –
vor ­allem Wohneigentum – hätte den Augenschein der Ausplünderung vermieden. Während
sich Sinns stark für Subventionen für beschäf­
tigungsfreundliche Anlageninvestitionen aussprachen, entschied sich die Bundesregierung
stattdessen für einen massiven Ausbau der Steuersubventionen für Bauinvestitionen, was den
Bausektor aufblähte und die Verteilungsproblematik zwischen Ost und West verschärfte.
Folgerichtig haben Sinns die Rolle des 1 : 1-
55
Holger Steltzner
DER KALTSTART VON PROFESSOR SINN
Kaltstart
Holger Steltzner ist seit 2002
­einer der Herausgeber der Frank­
furter Allgemeinen Zeitung. Nach
Banklehre, Wirtschafts- und Jurastudium, Mitarbeit im Familien­
unternehmen und im Investmentbanking der UBS wechselte er
1993 in die Finanz­redaktion der
F. A. Z. und wurde sechs Jahre
­später Ressortleiter.
56
Es gibt wenig, was Hans-Werner Sinn zum
Heulen bringen kann. »Der Fall der Mauer«,
sagt er, war das einzige politische Ereignis in
seinem Leben, zu dem ihm tatsächlich die Tränen kamen. Ausgerechnet ihm, der mit seiner
Frau 1991 das Buch Kaltstart schrieb, eine schonungslose Abrechnung mit den wirtschafts­
politischen Fehlern der Wiedervereinigung
Deutschlands. Wie alle anderen haben die beiden Ökonomen damals auch gefeiert. Dann
aber schnell dieses Buch geschrieben, mit großer Begeisterung, wie Gerlinde Sinn sagt.
Ihr Buch wurde eine Bestandsaufnahme und
ein Kompendium ökonomischer Empfehlungen, in der Hoffnung, die Politiker würden sie
hören. »Natürlich wollten wir Einfluss nehmen«, sagt Hans-Werner Sinn, der sich selbst
schon mal als Sozialingenieur bezeichnet, der
Spielregeln erdenkt, damit sich Menschen zum
eigenen Nutzen und zum Wohle aller verhalten. Als Volkswirt habe man schließlich ein
­gewisses Sendungsbewusstsein. Die Sinns wür-
den das Buch heute genauso wieder schreiben.
Denn vieles hat sich bewahrheitet : die prognostizierte Deindustrialisierung, die Abwan­
derung, die drastische Entwertung des Volksvermögens. »Vor allem die Entwertung des
Potenzials der Menschen durch die hohen Löhne«, fügt Gerlinde Sinn an, die immer auch den
Menschen im Blick hat.
Von allen Büchern, die sich mit den ökonomischen Folgen der deutschen Einheit befassen, hat Kaltstart in der Fachwelt die beste Aufnahme gefunden. Das Werk über die verfehlte
Wirtschaftspolitik dieser Zeit, die Hans-Werner Sinn als »Konkursabwicklung mit Sozialplan« bezeichnete, begründet seinen Ruf in der
Öffentlichkeit als scharfzüngiger Ökonom und
wichtiger Ratgeber der Politik. So gesehen war
das Buch auch ein »Kaltstart von Professor
Sinn«. Wenn die Autoren ein Vierteljahrhundert später Bilanz ziehen, ist die politische Vereinigung Deutschlands gelungen, die wirtschaftliche nicht. Eine Konvergenz gibt es nur
ren werden, und die Treuhandbetriebe sollten
mit interessierten Investoren aus dem In- und
Ausland Joint Ventures gründen, um so die Belegschaften möglichst rasch in eine moderne
Arbeitswelt zu überführen und mit neuen Produkten und Maschinen auszustatten. »Viele
Treuhandbetriebe wären dann werthaltig gewesen, und man hätte der ostdeutschen Bevölkerung verbriefte Anteilsrechte zum Ausgleich
für einen etwas langsameren Lohnanstieg zuteilen können. Doch als die Politik unsere Vorschläge zur Kenntnis nahm, hat sie nur noch
mehr Gas gegeben«, bilanzieren die Sinns traurig. Die Joint Ventures entstanden stattdessen
in Tschechien, Ungarn und der Slowakei. Die
Treuhandanstalt scheiterte, drei Viertel der
ihr anvertrauten Arbeitsplätze gingen verloren.
Später gestand Helmut Kohl, der Kanzler der
Einheit, wenigstens ein, die Wettbewerbsfähigkeit der DDR-Wirtschaft überschätzt zu haben,
um dann zu ergänzen, dass es aus politischen
Gründen keine Alternative gegeben habe.
»Das Primat der Politik gegenüber den ökonomischen Gesetzen führte bei der Vereinigungspolitik zu den absehbaren Problemen.
Jetzt wollen viele die Dinge schönreden. Aber
wo endet ein Land, das nicht einmal in der
Lage ist, die Realität zu erkennen ?« Diese Frage
stellt Hans-Werner Sinn heute auch für Europa. Wieder bezweifelt er, dass Politiker die
wirtschaftliche Tragweite ihrer Entscheidungen voll verstehen. »Sie sind dabei, die Fehler
zu wiederholen, die Deutschland nach der
Wiedervereinigung gemacht hat. Die Haltung,
das werde sich schon einpendeln, nannte man
Primat der Politik. Aber nichts pendelte sich
ein – im Gegenteil.« Dasselbe hört man heute
in der Eurokrise – Griechenland lässt grüßen.
Doch Hans-Werner Sinn und die verfehlte
Euro­rettungspolitik ist eine andere Geschichte.
Kaltstart: Hans-Werner Sinn und die Wiedervereinigung
bei den Reallöhnen und Haushaltseinkommen,
die zwischen 85 und 90 % des Westniveaus liegen. Die realen gesetzlichen Renten liegen im
Osten bei weit mehr als 100 %. Ein Ergebnis der
Transferunion ist auch, dass das privat erzeugte
Bruttoinlandsprodukt pro Einwohner in den
neuen Bundesländern bei gerade einmal zwei
Drittel des westdeutschen Niveaus liegt. Rund
1,6 Billionen Euro sind in den Osten geflossen,
schätzt das ifo Institut. Noch heute liegen die
Nettotransfers in die neuen Länder bei rund
60 Milliarden Euro im Jahr. Das Geld floss in
Sozialtransfers, einen aufgeblähten Staatssektor und in konsumtive Infrastruktur. Viele ostdeutsche Städte wurden wieder Schmuckstücke. Doch ein sich selbst tragender Aufschwung
kam bis heute nicht in Gang. Die neuen Bundesländer wuchsen nicht schneller als die alten,
von Konvergenz keine Spur.
Der Kardinalfehler war, dass die Politik
in der Wiedervereinigung eine ökonomische
Grundregel auf den Kopf gestellt hat. Will man
eine Marktwirtschaft aufbauen, darf man in
das freie Spiel der Preise und Löhne nicht eingreifen, weil es zentrale Lenkungsfunktionen
erfüllt. Die Politik hatte jedoch zugelassen,
dass westdeutsche Konkurrenten (Arbeitgeber
und Gewerkschaften) in den Treuhandfirmen
marktferne Lohnsteigerungen durchgesetzt
haben. Indem die ostdeutschen Löhne schnell
auf westdeutsches Tarifniveau gehievt wurden,
schützte der Westen die eigenen Arbeitsplätze
und verschreckte Investoren. Die Treuhand­
anstalt schaute zu, und es gab keinen ostdeutschen Unternehmer, der sich gegen diese Entwertung des Kapitals wehren konnte.
Das Ökonomenehepaar Sinn hatte 1991 eine
Alternative beschrieben. Danach sollten die
Löhne nach der 1 : 1-Umstellung der Währung
bis zum Abschluss der Privatisierung eingefro-
57
Charles B. Blankart
WAHLKAMPFKOSTEN 1990
Kaltstart
Charles B. Blankart ist ifo-Forschungsprofessor, Seniorprofessor
an der Humboldt-Universität zu
Berlin, Ständiger Gastprofessor an
der Universität Luzern und lehrt
an der Bucerius Law School in
Hamburg. Er ist Autor zahlreicher
Aufsätze sowie des Buches Öffent­
liche Finanzen in der Demokratie.
58
Die Freundschaft mit Hans-Werner Sinn begann mit einer Trennung. Hans-Werner kam
1984 nach München, und ich erhielt zum Wintersemester 1985/86 einen Ruf von München
an die Technische Universität in Berlin, damals
noch Berlin-West.
Der Oktober 1985 bescherte den Berlinern
sonnige Herbsttage. Frühmorgens ging die
Sonne im Osten auf. Sie grüßte : »Guten Morgen, Genosse Staatsratsvorsitzender. Ich wünsche Ihnen einen guten Tag.« Um die Mittagszeit stand die Sonne weit oben am Himmel. Sie
sagte : »Mahlzeit, Herr Staatsratsvorsitzender.
Ich wünsche Ihnen einen guten Appetit. Heute
gibt es Kaliningrader Klopse mit Rotkraut, wie
gestern.« Am Abend stand die Sonne schon
tief am Himmel. Sie sagte : »Guten Abend, Herr
Staatsratsvorsitzender : Ich hau jetzt ab in den
Westen !« Das war die deutsche Teilung vor
1989. Jeder Ostdeutsche hatte einen stummen
Begleiter, den Wessi, neben sich, der ihm zuflüsterte : »Die gute Seife, die du suchst, gibt’s
nur im Westen.« Dann verabschiedete sich die
Sonne. Sie musste noch zum Bahnhof Zoo, um
dort für morgen ihre West-Mark im Verhältnis 1 : 5 in Ost-Mark umzutauschen. »Nicht zur
Ausfuhr bestimmt«, stand auf dem Zettel.
Als die Mauer fiel und sich 1990 die Einheit
Deutschlands abzeichnete, waren die Tage der
Wechselstube am Bahnhof Zoo gezählt. Es soll­­­­
te ja nur noch die D-Mark geben. Doch zu welchem Kurs ? Bislang durfte die DDR-Export­
industrie 5 OM (Ost-Mark) ausgeben, um dafür
1 DM zu erwirtschaften. Nicht zufällig galt dieser
Kurs auch am Bahnhof Zoo. Damit anerkannte
die DDR Jevons’ Gesetz des einen Preises.
Die ökonomische Logik hinderte die Bundesregierung nicht daran, Jevons’ Gesetz zu missachten, als sie sich Anfang 1990 dazu anschickte, die Währungsunion vorzubereiten. Hierfür
sollte der »Primat der Politik« gelten ! Da tauchte in der Diskussion plötzlich die Formel 1  OM =
1 DM auf. Sie verbreitete sich in Windeseile und
übte eine magische Kraft aus. Mahnungen der
nen Betrag von 100 000 Euro, also insgesamt
1,7 Billionen Euro, ausschütten können und hätte dabei die tatsächlichen Wiedervereinigungskosten von 2 Billionen Euro inkl. 80 Mrd. Euro
für die Infrastruktur im Osten nicht erreicht.
Doch Kohl zog es vor, die Löhne und Gehälter im Osten hoch anzusetzen, was die Kosten
vervielfachte. Mit dieser Politik übertraf er die
historisch einmaligen Wahlkampfkosten von
852 589 Gulden, die Kaiser Karl V. im Jahr 1520
für seine Kaiserwahl aufwendete, umgerechnet
um das 105-Fache.
Die Überlegung von Einmalzahlungen führt
zu Gerlindes und Hans-Werners Buch Kaltstart
(1991). Auch sie empfehlen, die Währungs­
umstellung mit den Bestandsgrößen statt mit
Stromgrößen vorzunehmen. Ihr Plan sieht vor,
den ostdeutschen Arbeitern bei der Währungsumstellung Realkapitalanteile aus der ostdeutschen Industrie zu geben, wenn diese dafür auf
Lohnforderungen verzichten. Sie schreiben :
»Der Kern des Paktes besteht in der Verlagerung des Verteilungsproblems von den Faktorpreisen auf die Erstausstattungen« (S. VIII).
Leider fand der Sinn-Plan nicht die Gnade
der Tarifpartner. Ein Blick auf Westdeutschland erklärt auch warum : Franz Steinkühler
und seine westdeutsche IG Metall fürchteten
die Konkurrenz der Metaller aus dem Osten.
Die Wettbewerbsfähigkeit des Ostens sollte
durch hohe Kostenbarrieren (raising rival’s
costs) auf Sparflamme gehalten werden. So
setzte Steinkühler in den Tarifverhandlungen
von 1990 50 % mehr Lohn für jeden Ost-Metaller durch. Damit kumulierte sich die durch
die Währungsunion verursachte und durch die
Gewerkschaft erzwungene Lohnsteigerung auf
zusammen 650 % (nämlich 400 % durch die Parität von 1 : 1 und 50 % durch die IG-Metall). Die
Rechnung ging auf : Die Bundestagswahl wurde
gewonnen, und die Konkurrenz aus den neuen
Bundesländern wurde verhindert.
Kaltstart: Hans-Werner Sinn und die Wiedervereinigung
Ökonomen verhallten wirkungslos. Ihnen blieb
nur noch die Möglichkeit, ihre Ansicht durch
die Presse zu dokumentieren, damit es nicht
dereinst heißt : Die Politik entschied sich so, weil
die Ökonomen schwiegen.
Daher veröffentlichte ich am 12. März 1990
einen kurzen Aufsatz in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung mit dem Titel : »Aufwertung
der Ost-Mark um 400 % ?« In der Tat steckt
zwischen den beiden Kursen von 1 : 5 und 1 : 1
eine Spanne von 400 %. Bundeskanzler Helmut
Kohl antwortete mir in einem Brief, man müsse den Menschen im Osten eine Chance geben,
ob­wohl er diese mit dem Kurs von 1 : 1 verunmöglichte.
Doch Kohls Argumentation hatte einen politisch-ökonomisch richtigen Punkt. Zwar hätte
jeder Kurs niedriger als 1 : 1 in Ostdeutschland
Arbeitsplätze gerettet. Ein solcher aber gefährdete Kohls Mehrheit in der Bundestagswahl
vom 2. Dezember 1990. Kohl erkannte, dass er
für einen Wahlsieg am 2. Dezember den Ostdeutschen zum 1. Juli 1990 (dem Tag der Währungsumstellung) einen unmittelbaren Kaufkraftzuwachs gewähren musste. Hätte Kohl
diese Kaufrauschpolitik nicht verfolgt, so hätte
die Opposition die Enttäuschung in der Be­
völkerung aufgegriffen und damit vielleicht die
Wahl gewonnen.
Hätte Kohl einen Ökonomen gefragt : »Wie
erzeuge ich zu geringstmöglichen Kosten einen
Kaufrausch ?«, so hätte dieser empfohlen : Gewähren Sie Einmalzahlungen. Die kosten weniger als laufende Zahlungen. Kohl hätte sich
das vielleicht gemerkt. Er wäre bei Geldver­
mögen großzügig und bei Löhnen und Gehältern zurückhaltend gewesen. Tatsächlich ging
Kohl gerade umgekehrt vor. Löhne und Gehälter wurden 1 : 1 umgestellt, Geldvermögen (jenseits einer Mindestsumme) im Verhältnis 1 : 2.
Da hätte Kohl viel großzügiger sein können. Er
hätte jedem der 17 Millionen Ostdeutschen ei-
59
Karl-Heinz Paqué
DEUTSCHE EINHEIT IM MODELL
Kaltstart
Karl-Heinz Paqué ist Volkswirt
und Dekan der Fakultät für Wirtschafswissenschaft der Otto-vonGuericke-Universität Magdeburg.
Er war von 2002 bis 2006 Finanzminister des Landes Sachsen-­
Anhalt. Er ist Autor des Buches
Die Bilanz. Eine wirtschaftliche
­Analyse der Deutschen Einheit,
München 2009.
60
Kaltstart – so der geniale Titel des Buches, das
Hans-Werner Sinn mit seiner Frau Gerlinde
im August 1991 veröffentlichte. Thema : volkswirtschaftliche Aspekte der deutschen Vereinigung, wie es im Untertitel hieß.
Das Buch machte Hans-Werner Sinn schlagartig berühmt, weit über die Fachgrenzen hinaus. Dies hatte zwei Gründe, einen sachlichen
und einen politischen. Der sachliche Grund
lag in der Qualität der professionellen Analyse.
Erstmalig legte ein Ökonom eine Studie vor,
die den wirtschaftlichen Teil der Deutschen
Einheit, den sogenannten Aufbau Ost, um­
fassend untersuchte, und zwar in all seinen
­wichtigsten Dimensionen : von der Erblast der
­Planwirtschaft über die Währungsunion, die
Tarifpolitik und die Privatisierung des Kapitalbestandes durch die Treuhandanstalt bis hin
zum Entwurf alternativer Strategien. Ein grandioses Buch : gespickt mit Fakten und Deutungen in einem neoklassischen Modellrahmen,
packend geschrieben und trotz der zum Teil
spröden Materie auch für den interessierten
Laien durchaus zugänglich.
Der zweite Grund für den Erfolg des Buches
lag in seiner politischen Brisanz. Kaltstart lieferte eine überaus scharfe Kritik an der Wirtschaftspolitik der deutschen Wiedervereinigung, und zwar nicht in irgendwelchen wenig
aufregenden technischen Details der Gestaltung, sondern im Kern. Im Vorwort der zweiten Auflage des Buches, datiert 1. Juli 1992,
sprechen die Autoren von »einer utopischen
Grundkonzeption der Wirtschaftspolitik, die
elementare Regeln der Volkswirtschaftslehre
missachtet hat«, und sie bezeichnen ihr Buch
als einen »Appell an die wirtschaftspolitischen
Entscheidungsträger, das Steuer noch einmal
herumzureißen«. Kurzum : ein gnadenloser
Verriss der Politik. Kein Wunder also, dass die
Öffentlichkeit in hohem Maße aufmerksam
wurde.
Was war die Kritik, die Hans-Werner Sinn
bis heute unverändert aufrechterhalten hat ? Sie
auch kein frühes deutliches Signal, wer künftig
beschäftigt bliebe und wer arbeitslos würde.
Stattdessen auf breiter Front zunehmender politischer Druck in Richtung Dauersubventionen für den Betrieb total veralteter Maschinenparks sowie die Herstellung unverkäuflicher
Produkte. Und im Falle der Verteilung von
­Anteilsscheinen, wie sie Sinn forderte, auch
noch verbunden mit deren Wertverfall und
­damit weit verbreiteter Frustration in der Bevölkerung – statt Jubel über realisiertes Volkseigentum ! Wahrlich ein marktwirtschaftliches
Horrorbild, abschreckend genug für die Politik
und die Treuhandanstalt, um auf die schnelle
und pragmatische Veräußerung zu setzen, und
zwar an branchenkundige Investoren und nicht
an global tätige anonyme Beteiligungsfonds,
wie es im Kaltstart empfohlen wurde.
Ähnlich realitätsfern war Sinns Vorschlag,
im Osten die Löhne der unmittelbaren Nachwendezeit (etwa ein Drittel des Westens) einfach beizubehalten. Würden Fachkräfte mit
gleicher Sprache und Kultur sowie fast gleichwertiger Ausbildung wirklich motiviert im
­Osten weiterarbeiten, wenn sie wenige Kilo­
meter westlich das Dreifache an Einkommen
erzielen konnten ? Tatsächlich pendelte sich
das industrielle Lohnniveau im Zuge der Privatisierung – und zumeist außertariflich – sehr
schnell bei zwei Drittel des Westniveaus ein :
höher als Sinns präferierte Lösung, aber auch
weit von der ursprünglich deklarierten OstWest-Lohnangleichung entfernt. Wahrscheinlich war genau dies der vernünftige Mittelweg
zwischen betrieblicher Notwendigkeit und Bereitschaft zur Mobilität.
Fazit : Das Buch Kaltstart lieferte eine Benchmark der Theorie, intellektuell anregend und
gesellschaftlich provokant. Auf die Richtung
der Politik und den Gang der Wirtschaftsgeschichte hatte es dagegen keinerlei Einfluss –
aus guten Gründen.
Kaltstart: Hans-Werner Sinn und die Wiedervereinigung
betrifft im Wesentlichen zwei Punkte : die Privatisierung und die Tarifpolitik. Die Privatisierung, so Sinn, lief viel zu schnell und über­
hastet. Sie sprengte die Aufnahmefähigkeit des
Kapitalmarkts und zerstörte somit wertvolles
Vermögen – auf Kosten der ehemaligen DDRBürger, denen eigentlich die Verkaufserlöse aus
»ihren« ehemaligen volkseigenen Betrieben
zustanden, eine krasse Verschwendung und
Ungerechtigkeit. Was die Tarifpolitik betrifft,
verschlechterte die früh avisierte Ost-WestLohnangleichung der staatlich alimentierten
Treuhandanstalt die ohnehin schwierige wirtschaftliche Ertragslage der Unternehmen; sie
ruinierte deren Chancen auf Wettbewerbs­
fähigkeit und rentable Veräußerung. Sinns
­Lösungsvorschläge : zeitliches Strecken der Veräußerung und Rücknahme der Pläne zur Lohnangleichung.
Waren Sinns Kritik berechtigt und seine Lösungsvorschläge zielführend ? Dies ist bis heute
umstritten geblieben – kaum verwunderlich in
einer Welt, in der ein kontrafaktisches historisches Experiment nicht möglich ist. Ein faires
Urteil darüber lässt sich am ehesten bilden,
wenn man auf die uralte Dichotomie zwischen
Theorie und Praxis zurückgreift : Theorie als
durch einfache Annahmen gestütztes Gedankengebäude, die Politik dagegen als die Kunst
des Möglichen in einer komplexen Realität. In
dieser Dichotomie stand und steht Sinn auf der
Seite der Theorie, die Politik auf der Seite der
Wirklichkeit.
Besonders deutlich wird dies bei Sinns harscher Kritik an der Privatisierung. Viele Beobachter und Entscheidungsträger sahen damals
die Hauptgefahr in einer Verschleppung des
Prozesses, die zur Perspektivlosigkeit der Belegschaften geführt hätte : keine frühzeitig klaren Geschäftsmodelle und Investitionspläne,
keine früh erkennbaren neuen Produktpaletten mit langfristigen Chancen im Weltmarkt,
61
Reinhold Festge
EIN ABSEHBARER NIEDERGANG –
DIE OSTDEUTSCHE INDUSTRIE
NACH DER WIEDERVEREINIGUNG
Kaltstart
Reinhold Festge ist persönlich
­haftender Gesellschafter der ­Haver &
Boecker OHG. Er ist seit 2013
­Präsident des Verbands Deutscher
Maschinen- und Anlagenbau
(VDMA) und seit 2014 Vizepräsi­
dent des Bundesverbands der
­Deutschen Industrie (BDI).
62
Hans-Werner Sinn hat das, was mit dem Mauerfall 1989 in und mit der ostdeutschen Wirtschaft geschah, als »Kaltstart« bezeichnet. Aus
heutiger Sicht und insbesondere mit Blick
auf den Maschinen- und Anlagenbau hat er
Recht. Und das, obwohl wir alle heiß waren auf
das ­gemeinsame Deutschland und die damit
verbundenen Chancen, insbesondere zur Osterweiterung.
Aber unsere Wünsche, die am 10. November
1989 mit Tausenden bunten Luftballons voll
Freude in den Himmel stiegen, platzten. Und
das, obwohl die Ausgangslage in den neuen
Bundesländern nicht schlecht war : qualifizierte
Arbeiter und Angestellte, gerade in den tech­
nischen Berufen, hoher Investitionsbedarf und
nicht zuletzt die enge Bindung an die sich öffnenden Märkte im Osten Europas. Märkte, die
für uns im Westen zuvor nur mit Schwierig­
keiten erreichbar waren. Eine vielversprechende Basis, dachten wir. Aber der Osten, allen
­voran Russland, kaufte lieber direkt im Westen
als in den neuen Bundesländern. Diese alten
Märkte kannte man, und jetzt wollte man etwas
Neues.
Der Niedergang der industriellen Wertschöpfung im Osten Deutschlands war daher
nicht aufzuhalten. Es gab bestimmt viele Fak­
toren für diesen Niedergang. Wesentlich waren
dabei sicherlich die Überkapazitäten in den
­alten Bundesländern und auch weltweit. Wir
konnten die Wünsche im europäischen Osten
auch ohne neue Kapazitäten in den neuen Bundesländern erfüllen.
Die Voraussetzungen waren also schwierig,
und sie wurden nicht besser durch einige
­wirtschaftspolitische Fehlentscheidungen und
Fehlentwicklungen, die dann rasch folgten.
Gerlinde und Hans-Werner Sinn beschrieben
sie schon sehr früh in ihrer vielbeachteten Veröffentlichung Kaltstart.
Erschreckend kam hinzu, dass die Strukturen der Betriebe – in der ehemaligen DDR war
der Maschinenbau überwiegend in Kombina-
Andere Wirtschaftszweige – insbesondere
die Konsumgüterindustrie – profitierten in den
späteren Nachwendejahren auch von einem
Revival ihrer Produkte. Die Präferenz für die
traditionsreichen ostdeutschen Produkte stieg
wieder. Dieser Effekt blieb im Maschinenbau
jedoch leider aus.
Erschwerend kam auch hinzu, dass sich die
Rezession im westdeutschen Maschinenbau
negativ auf die Risikobereitschaft der Banken
und damit auf den Zugang zu Finanzierungsmöglichkeiten auch im Osten auswirkte. Kredite waren nur sehr restriktiv und dann auch
nur mit hohen Risikozuschlägen zu erhalten.
Die Wiedervereinigung war ein Experiment
ohne Vorbereitung; ein Kaltstart eben. Für
Ökonomen bieten die Wende- und Nachwendejahre einiges Anschauungsmaterial. Dass
man es hätte besser machen können, wissen
wir heute. Wir hätten es früher wissen können, wenn wir Hans-Werner Sinns Thesen
nicht nur als wissenschaftliche Beiträge, sondern vielmehr als »Gebrauchsanweisung« verstanden hätten.
Was folgte, ist bekannt : Die Wirtschafts­
leistung je Einwohner der neuen Länder erreichte zwar schon Mitte der 1990er Jahre etwa
65 % des Westniveaus; sie stagniert aber seit der
Jahrtausendwende bei gut 70 %. Damit ist zumindest eine Prognose Hans-Werner Sinns
: Er gehörte Anfang der
nicht eingetreten 1990er Jahre zu den weniger optimistischen
Ökonomen und sagte eine Angleichung der
Wirtschaftsleistung je Einwohner »erst« für
20 Jahre später voraus. Hätte er doch auch hier
Recht behalten !
Kaltstart: Hans-Werner Sinn und die Wiedervereinigung
ten mit mehreren Tausend Mitarbeitern und
über verschiedene Sektoren organisiert – dem
deutschen Mittelstand fremd und nicht fassbar
erschienen. Die komplizierte Arbeit der Treuhand tat das ihre dazu, um insbesondere die
mittelständischen Maschinenbauer zögern zu
lassen. Und wenn sie dann doch – oft aus sentimentalen Gründen – einen Teil eines Altbetriebes übernahmen, stellten sie sehr schnell fest,
dass sie im wahrsten Sinne des Wortes einen
Altbetrieb gekauft hatten : in alten Mauern,
mit alten Maschinen, mit alten Produkten. Es
mangelte an Wettbewerbsfähigkeit und Effi­
zienz. Diese Produktivitätslücke wurde dann
durch die Tarifpolitik nicht schnell genug
überwunden.
Im Jahr 1992 wurde im ostdeutschen Maschinenbau bereits knapp die Hälfte des westdeutschen Stundenlohns gezahlt, der Umsatz
pro Stunde erreichte aber erst ein Drittel des
vergleichbaren westdeutschen Wertes. Zwei
Jahre später lag der Stundenlohn bei 63 %, der
Umsatz pro Stunde bei 49 % des Westniveaus.
Die Lücke wurde zwar kleiner; sie blieb aber
­alles in allem viel größer, als es die wirtschaft­
liche Vernunft erlaubt hätte. Und so sind in­
zwischen viele der damaligen Unternehmen
wieder vom Markt verschwunden.
Hans-Werner Sinn hat diese Problematik
und ihre langfristigen Folgen früh erkannt.
Offensichtlich wurde der Niedergang schon
­
wenige Jahre nach der Wiedervereinigung.
Während die ostdeutsche Wirtschaft im Jahr
1990 noch etwa ein Fünftel zum Umsatz im gesamten Verarbeitenden Gewerbe Deutschlands
beitrug, sank dieser Anteil bis 1994 auf lediglich ein Zehntel. Im ostdeutschen Maschinenbau betrug die Produktion im Jahr 1994 noch
ein Viertel derjenigen im Jahr 1989.
63
Gregor Gysi
EIN SCHARFSINNIGER KOPF
UND EIN MARKTRADIKALER
AUSSERIRDISCHER DIMENSION
Kaltstart
Gregor Gysi ist seit 2005 direkt
gewählter Abgeordneter und Vorsitzender der Fraktion Die Linke
im Deutschen Bundestag. Von
1990 bis 1993 war er Vorsitzender
der Partei des Demokratischen
Sozialismus (PDS) und der Abgeordnetengruppe im Deutschen
Bundestag.
Vor langer Zeit gehörte es zum gepflegten liberalen Standpunkt, für Erbschaften eine 100%ige
Steuer zu fordern. Denn der unverdiente Reichtum gefährde das Leistungsprinzip und untergrabe die Freiheit einer Gesellschaft, meinte
beispielsweise John Stuart Mill im 19. Jahr­
hundert. Anfang der 1970er Jahre, als erneut
Grundfragen des Liberalismus gestellt wurden,
schrieb Karl-Hermann Flach, der damalige
­Generalsekretär der FDP : »Der Kapitalismus
als vermeintlich logische Folge des Liberalismus lastet auf ihm wie eine Hypothek. Die Befreiung des Liberalismus aus seiner Klassen­
gebundenheit und damit vom Kapitalismus ist
daher die Voraussetzung seiner Zukunft.«
Sind Liberale heute noch willens und fähig,
solche radikalen Freiheitsgedanken auszusprechen ? In der Sphäre der Politik wohl nicht.
­Jedenfalls war in den vergangenen 25 Jahren
nicht einmal ansatzweise zu hören, worin denn
die Perspektiven eines zu Ende gedachten Individualismus bestehen müssten. Steuern runter,
weniger Bürokratie, Vorfahrt für den Markt –
das waren und sind die billigen Überbleibsel
auf der Resterampe einer dahindämmernden
politischen Strömung. Anders als die Politik,
die immer von Rücksichten vielfältiger Art geprägt ist und selten klare Gedanken äußert,
darf die Wissenschaft kein Blatt vor den Mund
nehmen : sagen, was ist, und empfehlen, was
sein soll. Dabei könnte den Ökonomen, die
sich mehrheitlich einem individualistischen
Menschenbild verpflichtet fühlen, die Aufgabe
zufallen, den liberalen Standpunkt zeitgemäß
und im Sinne des allgemeinen und dauerhaften, folglich nachhaltigen Wohls mit sachverständiger Substanz zu füllen.
Wer, wenn nicht Hans-Werner Sinn, hätte
diese Denkleistung vollbringen können ? Er ist
scharfsinnig, eloquent und unabhängig. Wenn
es ihm geboten erschien, hat er seine Stimme
erhoben. Anfang der 1990er Jahre, als die ostdeutsche Wirtschaft rasant und flächendeckend
kollabierte, verlangte Hans-Werner Sinn, haar-
64
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für die Finanzmärkte gerade nicht gelten. Sie
brauchen die hart regulierende und sichtbar
gestaltende Hand des Staates. Das aber bedeutet : Man muss mächtigen Interessen auf die
Füße treten und unbeirrt von den Einflüsterungen der Fonds- und Bankenwelt Gesetze erlassen, die nicht mehr erlauben, was als unproduktiv und unmoralisch erkannt worden ist.
Gemessen an den geistigen Herausforderungen, die spätestens seit der Weltfinanzkrise auf
der Tagesordnung stehen, fällt die Bilanz der
deutschen Wirtschaftswissenschaft nach meinem Eindruck bescheiden aus. Während im
angelsächsischen Orbit intensiv über grund­
legende Fehler des eigenen Tuns diskutiert
wird, gefällt sich ein beträchtlicher Teil der
deutschen Ökonomenszene in der selbst zu
verantwortenden Isolation langweiliger Rechthaberei. Während aus Frankreich ein dickes
und weltweit diskutiertes Werk über die zunehmende Ungleichheit kommt, verharren allzu viele deutsche Wirtschaftswissenschaftler
im starren Gerüst ihrer schematischen Mo­
delle. Während Nobelpreisträger Joseph Stiglitz
kollegial und im Sinne gemeinsamen Erkenntnisfortschritts mit Yanis Varoufakis diskutiert,
ertönt aus so mancher deutscher Fakultät Begleitmusik für das Griechenland-Bashing.
Angesichts dieser offenkundigen Mängel
wünsche ich mir von Hans-Werner Sinn ein
Werk, das nochmals die Grundlagen rein
marktwirtschaftlichen Denkens kritisch überprüft und das eigene bisherige Schaffen nicht
schont. Möge er die ruhigere Zeit dafür nutzen,
im Geiste des ehrwürdigen Liberalismus neu
zu formulieren, wie Wirtschaft nicht zum Vorteil unverdienter Privilegien, sondern zum
Wohle der großen Mehrheit der Menschen und
im Angesicht ökologischer Grenzen funktionieren sollte.
Kaltstart: Hans-Werner Sinn und die Wiedervereinigung
sträubende Fehler der Wirtschaftspolitik rasch
zu beseitigen. Der Grundsatz »Rückgabe vor
Entschädigung«, der für die Alteigentümer eine
Bereicherungsparty und für Ostdeutschland
ein lähmendes Investitionshemmnis war, müsse umgedreht werden, meinte Sinn und war damit ganz nah an der PDS-Position in jener Zeit.
Ebenso treffend war seine Kritik am Doppelmotto der Treuhandanstalt. Wer nur die Alternative »schnell privatisieren oder schnell liquidieren« kennt, der zerstört auch die Betriebe,
die mit etwas längerem Atem gute Überlebenschancen gehabt hätten. Nicht zuletzt war die
­finanzielle Bilanz der Treuhandanstalt wegen
ihres absurd hohen Veräußerungstempos so
schlecht. Unter diesem Druck könne man nur
schlechte Preise erzielen, meinte damals HansWerner Sinn völlig zu Recht.
In krassem Gegensatz zu den Anfangsjahren
der deutschen Einheit, als die Neuartigkeit der
auftretenden Probleme zumindest bei einigen
kreativen Ökonomen unkonventionelles Denken förderte, erschien mir später Professor
Sinn wie ein Marktradikaler außerirdischer
­Dimension. Präzise zu errechnen, um wie viel
das Lohnniveau fallen müsse, um Vollbeschäftigung zu erreichen – dieser Versuch, den Arbeitsmarkt wie einen Kartoffelmarkt zu betrachten –, war aus meiner Sicht von Anfang
an zum Scheitern verurteilt. Die Zeit nach dem
großen Crash von 2008 hat in Südeuropa und
anderswo gezeigt, wie katastrophal die Folgen
sind, wenn man über drastische Lohnsenkungen aus Krisen herauskommen will.
Als falsch erwiesen hat sich der Glaube an
die segensreichen Wirkungen des freien Spiels
von Angebot und Nachfrage auch auf einem
anderen zentralen Feld. Liberalisieren, deregulieren und die Marktkräfte wirken lassen – das
sollte, wie heute eigentlich jeder wissen müsste,
65
Harold James
HANS-WERNER SINN, KASSANDRA UND
DIE LESBOS-REGEL DES ARISTOTELES
Kaltstart
Harold James ist Claude and Lore
Kelly Professor für Europäische
Studien an der Princeton Univer­
sity. Er ist Autor des Buches
­Making the European Monetary
Union (2012). 2004 erhielt er den
Helmut-Schmidt-Preis für Wirtschaftsgeschichte, 2005 den
­Ludwig-Erhard-Preis für Wirtschaftspublizistik.
66
Hans-Werner Sinn ist der mit Abstand einflussreichste deutsche Ökonom der vergangenen 25 Jahre, und es ist eine Freude, seinen
substanziellen positiven Einfluss auf den wirtschaftswissenschaftlichen Diskurs und die Politik in Deutschland zu würdigen. Er hat in
­vielen Bereichen herausragende Beiträge geleistet – insbesondere zu den Kosten der deutschen Wiedervereinigung in den 1990er Jahren,
zu der deutschen Wirtschafts- und Industriestruktur, zum Versuch der Reduktion von CO2Emissionen und erst kürzlich zu den Kosten
der Europäischen Währungsunion. Seine Herangehensweise beruht auf soliden ökonomischen Gedankengängen und folglich auf der
rigorosen Anwendung logischer Prinzipien.
Oft allerdings erscheint er als leibhaftige Kassandra, die Prophetin, deren Warnungen nicht
ernst genommen werden.
Zum Teil ist dies der Tatsache geschuldet,
dass die Logik der Kassandra naturgemäß den
Ökonomen zufällt : Deren Aufgabe ist es, einen
glaubhaften vereinfachten Analyserahmen zu
schaffen, der die Identifikation eines zentralen
Problems ermöglicht. Im Fall Hans-Werner
Sinns besteht dieser Analyserahmen in der Berechnung von impliziten Zahlungsverpflichtungen und oftmals auch in der Analyse der
Logik kumulativer Transferzahlungen, häufig
mit dem Ergebnis der Aufdeckung einer »Falle«. Deutschland wurde in der Vergangenheit
durch verschiedene Entscheidungen in die
­Falle gelockt; in Bezug auf Lohnsetzungsprozesse, in Bezug auf die ehemalige DDR oder
durch die Ankündigung von CO2-Zielen. Oder
durch das Target-2-System zum Ausgleich von
Zahlungsbilanzen innerhalb der Eurozone, wo­
durch deren Kernländer in eine Falle geraten
sind, in der sie kontinuierlich fiskalische Transfers leisten müssen, um den Wert ihrer Forderungen zu erhalten.
Fallen zu identifizieren ist von Natur aus unbeliebt – aus politischer wie aus intellektueller
Sicht –, denn aus ihnen auszubrechen scheint
eines drohenden Kollapses des Finanzsystems
das Vertrauen in eine Lage zurückgewonnen
werden könnte, die jederzeit in ein schlechtes
Gleichgewicht umkippen konnte.
Die Fixierung auf ein einzelnes großes Problem – zusammengefasst in einem umfang­
reichen Statement – übt oftmals weniger Einfluss auf die Politik aus als die Diskussion und
Präsentation einer Reihe von Optionen. Debatte und Diskussion leben von der sorgfältigen
Betrachtung der Unterschiede vielfältiger Lösungsansätze.
Hans-Werner Sinn denkt richtigerweise über
sichere Regelwerke zur Eindämmung von moralischem Fehlverhalten und zur Durchsetzung des Verantwortungsprinzips nach. In dieser Hinsicht übernimmt er die Kernaussage der
deutschen ordoliberalen Tradition, obwohl er
grundsätzlich ein pragmatischer Denker ist.
Hier liegt jedoch ein altes Problem, das bereits
Aristoteles benannte. In der Nikomachischen
Ethik legt er die Logik der dehnbaren Regel
dar. Er betrachtet sie analog zur Blei-(anstatt
zur Eisen-)Regel, die die Bildhauer von Lesbos
nutzten : »Wenn also das Gesetz eine allgemeine Bestimmung trifft, ein einzelner Fall aber
vorkommt, auf den die allgemeine Bestimmung nicht passt, dann ist es ganz angemessen,
da wo der Gesetzgeber versagt und mit der allgemeinen Bestimmung dieser Art den besonderen Fall nicht getroffen hat, das von ihm
Übersehene zu ergänzen durch einen Spruch,
wie ihn der Gesetzgeber selbst fällen würde,
wenn er zugegen wäre, und wie er die Bestimmung getroffen haben würde, wenn er den Fall
vorausgesehen hätte.« Es kann gut sein, dass
achtsame Verhandlung nachhaltiger Flexibi­
lität – Aristoteles’ Lesbos-Regel – nicht in eine
Falle führt, sondern einen Ausweg aus Situationen bietet, die entstehen, wenn einst geschaffene Regeln zu rigide geworden sind.
Kaltstart: Hans-Werner Sinn und die Wiedervereinigung
radikale Maßnahmen zu erfordern. Politiker
bevorzugen, sich durchzuwinden, und tendieren dazu, harte Entscheidungen zu vermeiden,
die zwangsläufig zum Verlust eines Teils ihrer
Wählerschaft führen. In der akademischen
Sphäre begegnen Politologen Auftritten von
Kassandra tendenziell mit Ablehnung. Wenn
überhaupt, tendieren sie zur Rolle des Dr. Pangloss und glauben, dass alles nur zu unserem
Besten ist, in der besten aller möglichen Welten.
Oder, um es mit Hegel zu sagen, dass die Äußerung des Wirklichen das Wirkliche selbst ist.
Auch aus historischer Sicht ist die Erfolgs­
bilanz von Ökonomen, denen es gelungen ist,
zahlreiche Mitstreiter zu einer öffentlichen Stellungnahme über etablierte Ansichten der Disziplin zu bewegen, eher bescheiden. Der wohl
bekannteste Fall ist der Aufruf von 1028 USÖkonomen gegen den Smoot-Hawley-Zoll im
Jahr 1930. Dieser schaffte es zwar auf die Agenda des Kongresses, hatte aber keinen sichtbaren
Einfluss auf die Politik. Kein ernstzunehmender Ökonom würde die Glaubhaftigkeit der
grundlegenden Argumente für freien Handel
in Zweifel ziehen. Aber im Rückblick herrscht
unter Wirtschaftshistorikern Konsens, dass der
Zoll nicht für die Ausbreitung der Großen Depression verantwortlich gemacht werden sollte.
Weitere berühmte Erklärungen kollektiven
ökonomischen Wissens, wie der Brief 364 britischer Ökonomen an die London Times, in
dem sie Margaret Thatchers Deflations- und
Austeritätspolitik verdammen, wirken retro­
spektiv fragwürdig. In der Tat haben einige der
Unterzeichner eingestanden, dass der Wechsel
zu einem deflationären Regime genau das war,
was das Vereinigte Königreich damals brauchte. Die Appelle von 160 bzw. 172 deutschen
Ökonomen gegen die europäischen Rettungsmaßnamen im Jahr 2012 geben ein ähnliches
Bild ab : Logisch korrekt dargestellt, aber ir­
relevant in Bezug auf die Frage, wie angesichts
67
Berlin 1999: Konferenz 10 Jahre deutsche Wiedervereinigung. HWS mit
( von links nach rechts ) Karel Dyba,
Kurt ­Vogler-Ludwig, Georg Milbradt
und Rüdiger Dornbusch.
Der ehemalige sächsische
­Ministerpräsident Georg Milbradt
im Februar 2014 bei einer Tagung
des ifo Instituts in München.
Michael Burda und der GossenPreisträger Georg Nöldeke beim
Empfang im Festsaal des Alten
­Rathauses in München, Jahres­
tagung des Vereins für Socialpolitik,
Oktober 2007.
68
Die ifo-Bereichsleiter ( von links
nach rechts ) ­Niklas Potrafke, Helmut Rainer, ­Oliver Falck, Ludger
Wößmann, Gabriel Felbermayr,
Karen Pittel, Panu Poutvaara und
Timo ­Wollmershäuser.
HWS mit dem ehemaligen polnischen Finanzminister, Vizepremier
und Zentralbankchef Leszek
­Balcerowicz bei einem Münchner
Seminar der CESifo-Gruppe und der
Süddeutschen Zeitung im Juli 2015.
HWS mit Horst Teltschik ( links )
und dem damaligen tschechischen Staatspräsidenten Václav
Klaus ( Mitte ) beim Munich
­Economic Summit 2003 im Foyer
des Hotels ­Bayerischer Hof.
69
WirtschaftsWoche, 29.04.2004
3
GERONTOKRATIE:
Hans-Werner Sinn und die
Rentenreformen
Niklas Potrafke
EINLEITUNG
Gerontokratie:
Hans-Werner Sinn und die Rentenreformen
Gerontokratie
Niklas Potrafke ist Professor für
Volkswirtschaftslehre, insb. Finanzwissenschaft an der Ludwig-Maximilians-Universität München und
leitet das ifo Zentrum für öffent­
liche Finanzen und politische Ökonomie.
72
In den Medien wird oft behauptet, dass in
Deutschland nun die Alten herrschen. Auf einen Rentner kommen gegenwärtig weniger als
drei Menschen im erwerbsfähigen Alter. Rentner beteiligen sich besonders rege an Wahlen,
und ihre Wünsche haben im politischen Prozess großes Gewicht. Ökonomen verwenden
für diese Altenherrschaft gern den Fachbegriff
Gerontokratie. Eine Abkehr von der Gerontokratie ist nicht abzusehen. Im Gegenteil : Durch
den demographischen Wandel werden in Zukunft immer weniger junge Menschen immer
mehr alte Menschen finanzieren müssen. Für
das Rentenversicherungssystem ist das ein
­Problem. Die gesetzliche Rentenversicherung
funktioniert nach dem Umlagesystem (ULV),
d. h., die heute ausgezahlten Renten werden –
von den steuerfinanzierten Bundeszuschüssen
abgesehen – aus den heute eingezahlten Bei­
trägen der Erwerbstätigen bezahlt.
In den 1990er Jahren hat in Deutschland
deshalb eine Debatte zu einer Reform des
­
­ eutschen Rentenversicherungssystems einged
setzt. Wesentliches Element dieser Debatte war,
­inwieweit von dem ULV zu einem Kapital­
deckungsverfahren (KDV) übergegangen werden sollte bzw. ob dies überhaupt möglich
wäre. Beim KDV legt jeder Bürger während
der Erwerbsphase Erspartes beiseite und legt es
am Kapitalmarkt an. Das KDV ist dem ULV
vorzuziehen, wenn die Rendite des KDV, der
Kapitalmarktzins, größer als die Rendite des
ULV, die Wachstumsrate der Lohnsumme (die
Summe aus der Wachstumsrate der Bevölkerung und der Löhne), ist. Weil Kapitalmarktrenditen über viele Jahre größer als die Wachstumsrate der Lohnsumme waren, hatte das
KDV viele Befürworter. Ein Übergang vom
ULV zum KDV hätte jedoch verlangt, dass die
heute junge Generation nicht nur ihre eigene
Rente selbst anspart, sondern darüber hinaus
die Renten der alten Generation bezahlt.
Schließ­lich hat die alte Generation in der Erwerbsphase Beiträge ins ULV eingezahlt, aber
die ebenfalls beschlossene Möglichkeit des vorzeitigen Renteneintritts ohne Abschläge im
­Alter von 63 Jahren bei Vorliegen von 45 Ver­
sicherungsjahren als verfehlt betrachtet, weil
sie ausschließlich den Betroffenen und nicht
dem System zugutekommt.
Als Student im Hauptstudium an der Humboldt-Universität zu Berlin bin ich auf den politisch-ökonomischen Aufsatz »Pensions and
the path to gerontocracy in Germany« von
­Silke Übelmesser und HWS aufmerksam geworden. Zwar macht der demographische
Wandel Reformen, die die Nachhaltigkeit des
Rentenversicherungssystems sichern, notwendig. Doch ist davon auszugehen, dass der immer älter werdende wahlentscheidende Wähler
(Medianwähler) Rentenreformen ablehnt, die
zu weniger Transfers von den Jungen zu den
Alten führen. Der Aufsatz von Übelmesser und
HWS, publiziert 2002 im European Journal of
Political Economy, hat bei mir Spuren hinter­
lassen. Meine Diplomarbeit schrieb ich über
intergenerationelle Umverteilung in der deutschen Rentenversicherung. Mein Interesse für
politisch-ökonomische Fragen war geweckt.
Das Modell von Übelmesser und HWS sagt
die Gerontokratie für nach dem Jahr 2016 voraus. Viele Leser werden sich damals gefragt haben, warum ausgerechnet nach 2016 die Alten
in Deutschland herrschen sollten. Schließlich
war HWS beim Publizieren des Aufsatzes 2002
noch nicht der Superstar, der er im Laufe seiner
ifo-Präsidentschaft wurde, und seine Treffge­
nauigkeit mag nicht für jedermann offensichtlich gewesen sein. Deutschland fragt sich, was
HWS als Pensionär wohl machen wird. Still­
halten ? Wohl weniger. Der Grund für die Gerontokratie in Deutschland nach 2016 ist folglich ganz offensichtlich : HWS geht in Pension.
Nun herrschen wirklich die Alten.
Gerontokratie: Hans-Werner Sinn und die Rentenreformen
eben noch nicht selbst für die eigene Rente gezahlt, wie es das KDV vorsieht.
Hans-Werner Sinn hat sich Ende der 1990er
Jahre in diese Debatte eingeschaltet. Einen
vollständigen Übergang vom ULV zum KDV
hat er abgelehnt und vielmehr Reformszena­
rien befürwortet, die Mängel des ULV ausbessern und Elemente des KDV integrieren. 1998
hat der Wissenschaftliche Beirat beim Bun­
desministerium für Wirtschaft ein Gutachten
vorgelegt, das eine grundlegende Reform der
Rentenversicherung aufzeigt. Bei diesem Gutachten war HWS federführend. Die Vorschläge
beinhalteten z. B. eine Sparförderung für eine
kapitalgedeckte Zusatzrente, wie sie dann auch
bei der nächsten Rentenreform der rot-grünen
Bundesregierung umgesetzt worden ist (Riester-Rente). Als ebenso unabdingbar wurde eine
Verlängerung der Lebensarbeitszeit gefordert.
Die Simulationen im Gutachten beruhten auf
den ersten Versionen des CESifo Pension Models, das seinerzeit Marcel Thum einführte und
Martin Werding in den Folgejahren weiterentwickelte.
HWS hat früh angeregt, das Großziehen von
Kindern im gesetzlichen Rentenversicherungssystem zu berücksichtigen. Die Idee : Wer Kinder hat, trägt zum Selbsterhalt des umlage­
finan­zierten Rentenversicherungssystems bei.
HWS und Martin Werding haben vorgeschlagen, dass Rentner mit weniger als drei Kindern
Abschläge bei der Rente in Kauf nehmen müssen. Diese Kinderkomponente hat HWS seit
Jahr und Tag befürwortet. Dem ist er auch treu
geblieben, als die große Koalition Ende 2013
beschlossen hat, eine »Mütterrente« einzuführen. HWS’ Sicht der Dinge war klar : Die Mütterrente ist sinnvoll, weil sie das Großziehen
von Kindern belohnt, wodurch im Umlagesystem die Rente der zukünftigen Generationen
gesichert wird. Im Gegensatz dazu hat HWS
73
Axel Börsch-Supan
ELTERN UND KINDER:
WAS UNS IM INNERSTEN BEWEGT
Gerontokratie
Axel Börsch-Supan ist Direktor des
Munich Center for the Econom­ics
of Aging im Max-Planck-Institut für
Sozialrecht und Sozialpolitik und
Professor for the Economics
of Aging an der TU München.
Er ist Mitglied der Nationalen,
­Berlin-Brandenburgischen und
Öster­reichischen Akademie der
Wissenschaften.
74
Was sind die großen Themen dieser Welt ? Was
verbindet Thomas Mann, Hans-Werner Sinn
und, in aller Bescheidenheit, diesen Autor ?
Sex, Kinder und das liebe Geld, da besteht kein
Zweifel, stehen ganz oben auf der Liste. Wofür
Thomas Mann seitenlange Sätze in vielen Büchern gebraucht hat, lässt sich kaum in den
5500 Zeichen kondensieren, die ich zur Ver­
fügung habe. Halten wir also fokussierend fest :
Sex, Kinder und das liebe Geld dominieren
auch die Themen Gerontokratie und Rentenpolitik, die Hans-Werner und mich das Leben
lang begleitet und im Innersten bewegt haben.
Zutiefst teilen wir die zugrunde liegende Wertvorstellung : Eine Gesellschaft ohne Kinder ist
zukunftslos, so wie eine Gesellschaft ohne die
Weisheit des Alters richtungslos wird. Auf die
Kombination kommt es an : Eltern und Kinder
bilden gemeinsam das Fundament unserer Gesellschaft.
Hans-Werner Sinn hat in einem die Gemüter bewegenden Zeitungsartikel (F. A. Z., 8. Juni
2005, S. 41) für die Einführung der Kinder­
rente, d. h. eine nach der Kinderzahl gestaf­
felte Rentenleistung, plädiert. Zur Motivation
schreibt er : »Die drei klassischen Motive für
Kinder sind Sex, Kinderliebe und Alterssicherung. Die Medizin hat den Sex abgekoppelt,
Bismarck die Alterssicherung. Nur noch die
Kinderliebe blieb übrig, aber offenkundig
reicht sie nicht aus, die für den Erhalt der Bevölkerung und die Sicherung der Renten hinreichende Kinderzahl zu gewährleisten.«
Hans-Werner Sinn und ich sind uns einig :
Aus ökonomischer Sicht gibt es viele und gute
Gründe, eine »hinreichende Kinderzahl« zu
fördern. Erstens stehen die Jüngeren für Ver­
änderung und Innovation. Zweitens fangen die
Jüngeren mit ihrem Leben neu an und helfen
damit ganz banal dem Strukturwandel, weil sie
nicht erst in einen aufstrebenden Wirtschaftssektor wechseln müssen. Drittens sind wir darauf angewiesen, dass Kinder die Lasten tragen,
die ihnen ihre Eltern aufgebürdet haben, weil
S. 153 – 158). In der Kurzfassung des ifo Schnelldienstes (28/2000, S. 20) heißt es : »Die Verschiebung der Altersverteilung macht es immer
schwieriger, die Rentenansprüche zu befriedigen, und sie verringert das Stimmgewicht der
Jungen im demokratischen Entscheidungs­
prozess.«
Zum Glück scheint die Sorge vor einem
»Krieg der Generationen« (L. C. Thurow, 1996 :
»The birth of a revolutionary class«. New York
Times Magazine, 19. Mai, S. 46 – 47) oder einem
»Aufstand der Alten« (ZDF 2007) zumindest
derzeit unbegründet zu sein. Börsch-Supan,
Heller und Reil-Held (2011 : »Is Intergenerational Cohesion Falling Apart in Old Europe ?«.
Public Policy and Aging Report, 21, 4, S. 17– 21)
setzen die Altersstruktur europäischer Regionen (d. h. Bundesländer, Provinzen oder Bezirke) in Relation zu einer großen Zahl von Indikatoren intergenerativen Zusammenhalts wie
beispielsweise Stärke von familiären Beziehungen, außerfamiliäre Bindungen, Werte und politische Vorlieben, die im European Social Survey (ESS) und im Survey of Health, Ageing and
Retirement in Europe (SHARE) erfasst wurden.
Von den 22 untersuchten Dimensionen waren
nur acht konform mit der Gerontokratie-Hypothese, während 16 das Gegenteil aufzeigten.
Der generationsübergreifende Zusammenhalt
hängt also nicht systematisch von der Altersstruktur ab. Viele Aspekte des Zusammenhalts
fallen in älteren Gesellschaften sogar stärker
aus, und die Grundprämisse der rein egoistischen politischen Präferenzen wird ausdrücklich falsifiziert, wie mehrere Indikatoren zeigen.
Noch ist das Denken im Familienzusammenhang also groß. Das sind gute Nachrichten
für alle, die Hans-Werner Sinns Wertvorstellungen teilen, dass eine Gesellschaft durch den
Zusammenhalt der Generationen gestärkt wird
und dass Eltern und Kinder gemeinsam das
Fundament unserer Gesellschaft bilden.
Gerontokratie: Hans-Werner Sinn und die Rentenreformen
sie nicht nachhaltig genug gewirtschaftet haben. Kinder müssen den Großteil der expliziten
und impliziten Schulden abtragen, die durch
die vielen Umlageverfahren unserer Gesellschaft entstanden sind : Staatsschuld, Rentenversprechen, Versprechen der Kranken- und
Pflegeversicherung, die Umlagen im Steuer­
system und die vielen als natürlich aufgefassten
Umlagen, die sich in unserer Gesellschaft eingebürgert haben wie die noch vielerorts erhältlichen Seniorenermäßigungen.
Eltern mit Kindern müssen daher auf Kosten
der Personen, die keine Kinder haben, unterstützt werden, weil Kinder der Gesamtgesellschaft zu mehr Wohlstand verhelfen, was auch
den Kinderlosen zugutekommt, die keine Kindererziehungskosten tragen müssen. Ob aber
eine nach der Kinderzahl gestaffelte Rente das
richtige Instrument ist ? Hier sind sich Sinn
und ich uneinig. Weil das komplexe Gewebe
der Gesamtgesellschaft Umlagen beinhaltet, die
auf Kinder bauen, ist der Ausgleich m. E. eine
gesamtgesellschaftliche Aufgabe, die im allgemeinen Steuersystem anzusiedeln ist, nicht in
der Rentenversicherung. Auch überzeugt die
unterstellte Kausalität nicht. Auslöser des Geburtenrückgangs ist der wirtschaftliche Wohlstand und nicht die Rentenversicherung. Gegenbeispiele sind Länder wie Korea, Singapur
oder Taiwan, die reich geworden sind, ohne
dass sie eine Rentenversicherung eingeführt
haben, und deren Geburtenrate dennoch dramatisch sank. Umgekehrt weisen viele Länder mit umlagefinanzierter Rentenversicherung hohe Geburtenraten auf, etwa Frankreich,
Schweden oder die USA.
Rentenpolitik ist eng verbunden mit der
Furcht vor Gerontokratie. Auch hier hat
Hans-Werner Sinn wichtige Beiträge geliefert
(H. W. Sinn und S. Übelmesser, 2002 : »Pen­
sions and the path to gerontocracy in Germany«. ­European Journal of Political Economy, 19,
75
Friedrich Breyer
WEM DIENT NACHHALTIGKEIT
IN DER RENTENFINANZIERUNG?
Gerontokratie
Friedrich Breyer lehrt Wirtschaftspolitik an der Universität
Konstanz, ist seit 2000 Mitglied
des Wissenschaftlichen Beirats
beim Bundesministerium für
­Wirtschaft und Energie (BMWi)
und war 2012 Vorsitzender der
Deutschen Gesellschaft für
­Gesundheitsökonomie.
76
Das deutsche Rentensystem ist nicht nachhaltig finanziert : Nach 2030 wird der Beitragssatz
zur gesetzlichen Rentenversicherung deutlich
über die im Gesetz erlaubten 22 % steigen, während das Rentenniveau unter die Grenze von
43 % absinken wird. Wer sind dann die Dum: die junge Generation, deren Beiträge
men schneller steigen werden, oder die alte Generation, die ihre Ansprüche auf ein auskömmliches
Rentenniveau nicht mehr durchsetzen kann ?
Wem also dient es, wenn wir heute Reformen
vornehmen, die die Nachhaltigkeit stärken ?
Hans-Werner Sinn und Silke Übelmesser haben darauf in ihrem viel zitierten Aufsatz »Pensions and the path to gerontocracy« (European
Journal of Political Economy, 19, 2002) eine
ebenso klare wie einleuchtende Antwort ge­
geben : Da schon nach 2016 die Rentner gemeinsam mit den rentennahen Jahrgängen die
Mehrheit der wahlberechtigten Bürger bilden
werden, sind Kürzungen des Rentenniveaus im
Parlament dann nicht mehr durchsetzbar (The-
se 1). Wenn wir die Reformen für mehr Nachhaltigkeit dagegen bereits heute beschließen,
solange es noch möglich ist, schützen wir die
zukünftigen jungen Generationen vor Überforderung durch untragbare Beiträge (These 2).
So plausibel diese Überlegung zu sein
scheint, leidet sie doch unter zwei Denkfehlern. Den Fehler in These 2 haben die Autoren
selbst in ihrer Schlussbemerkung erkannt :
Selbst wenn die notwendigen Reformen vor
Ende 2016 durchgeführt würden, was hinderte
spätere, von Rentnern dominierte Parlamente
daran, diese wieder rückgängig zu machen ?
­Insofern ist das Fazit aus dem Artikel sehr
­pessimistisch : Solange unsere Geburtenraten
so niedrig sind, mutiert unser politisches System irgendwann bis auf weiteres zu einer Gerontokratie, und die bedeutet, dass die Alten
die Jungen ungehemmt ausbeuten werden.
Dass auch These 1 auf einem Denkfehler beruht, legte ich mit Klaus Stolte in dem Auf­
satz »Demographic Change, Endogenous Labor
ƒƒ Ein Jahr vor der Bundestagswahl 2009 wurde
eine Stufe der »Riester-Treppe«, d. h. eine gesetzlich vorgeschriebene Kürzung der jähr­
lichen Rentenanpassung um 1 Prozentpunkt,
ausgesetzt und auf das Jahr 2012 verschoben.
Damit wurde eine Rentenreform von 2001
schon sieben Jahre später teilweise rückgängig gemacht, um die 20 Millionen Rentner
in der Wählerschaft der damals regierenden
Großen Koalition gewogen zu machen.
ƒƒ Ebenso wurde 2014 durch die Einführung der
»abschlagsfreien Rente mit 63« die sieben Jahre zuvor verabschiedete schrittweise Anpassung der Regelaltersgrenze auf 67 Jahre abgeschwächt – wieder von einer Großen Koalition.
ƒƒ Schließlich wurde 2014 auch noch die Zahl
der Mütterjahre für vor 1992 geborene Kinder von eins auf zwei erhöht und damit die
Renten vieler Frauen erhöht.
Sind diese Beobachtungen als Bestätigung oder
als Widerlegung der Thesen von Sinn und Übelmesser zu werten ? Ich meine, sie zeigen zweierlei :
1. Einmal beschlossene Rentenreformen können auch wieder zurückgenommen werden,
was These 2 widerspricht.
2.Mit zunehmendem Gewicht der Rentner in
der Wählerschaft wird eine rentnerfreund­
lichere Politik gemacht – im Einklang mit
These 1.
In beiden Fällen lagen aber günstige konjunkturelle Situationen vor, so dass der Beitragssatz
nicht erhöht werden musste. Die Wahlgeschenke an die Rentner waren also scheinbar »kostenlos«. Ein echter Test von These 1 wird erst
um 2040 herum möglich sein, wenn die Budgetrestriktion der Rentenversicherung entweder deutliche Beitragssteigerungen oder drastische Rentenkürzungen erfordert. Ich wünsche
!
Hans-Werner (und mir) ein langes Leben Dann werden wir noch erfahren, wer letztlich
Recht behalten hat.
Gerontokratie: Hans-Werner Sinn und die Rentenreformen
Sup­ply and the Political Feasibility of Pension
Reform« (Journal of Population Economics, 14,
2001) dar : Selbst in einer perfekten Geronto­
kratie, in der nur Rentner wählen, besitzt die Erwerbsgeneration andere Mittel als das Stimmrecht an der Wahlurne, um ihre Interessen
durchzusetzen. Sie reichen von einem Rückzug
in die Selbständigkeit (solange Sozialabgaben
lohnbezogen erhoben werden) über politisch
motivierte Streiks bis hin zur Auswanderung.
Sogar eine Rentnergeneration, die mit der gesamten politischen Macht ausgestattet ist, wird
diese so einsetzen, dass sie die maximalen Sozialleistungen für sich erzielt. Dies bedeutet jedoch,
dass nicht der maximale Beitragssatz gewählt
wird, sondern der, der das Beitragsaufkommen
maximiert, und dabei müssen Anreizwirkungen und Abgabenwiderstände beachtet werden.
Sinkt in einer solchen Situation die Fertilität
(und steigt damit der Rentnerquotient) permanent, so steigt zwar der optimale Beitragssatz,
aber nicht genug, um das Rentenniveau konstant
zu halten (ebenda, S. 419). Sinkt die Fertilität nur
vorübergehend, so bleibt der Beitragssatz stabil
und nur das Rentenniveau sinkt !
Aus dieser Überlegung folgt, dass nicht (nur)
die jungen, sondern zumindest auch die alten
Generationen den Schaden haben, wenn die Finanzierung des Sozialsystems nicht nachhaltig
ist. Deren gesetzlich verankerte Leistungsansprüche würden dann wegen mangelnder Finanzierbarkeit zurückgeschraubt, so wie bereits
in den Rentenreformen zwischen 2001 und
2007 zuvor bestehende Leistungsversprechen
zurückgenommen wurden. Folglich sind es gerade die heutigen Beitragszahler und morgigen
Rentner, die von Reformen zur Stärkung der
Nachhaltigkeit der Finanzierung profitieren.
Wie bei allen Streitfragen kann auch hier nur
die Empirie entscheiden, welche Hypothese die
richtige ist. Dazu liegen schon jetzt einige Beobachtungen vor :
77
Peter Diamond
DIE RIESTER-RENTE
Gerontokratie
Peter Diamond ist Institute Professor Emeritus am MIT und Träger
des Wirtschaftsnobelpreises des
Jahres 2010. In seinen Publikationen bespricht er die Rentensysteme in Deutschland und vielen
anderen Ländern. Sein aktuelles
Buch (mit Nicholas Barr) hat den
Titel Pension Reform: A Short Guide.
78
Ich möchte mich einem wichtigen Artikel aus
Hans-Werner Sinns umfangreicher Analyse
zur Altersvorsorge widmen : »Why a funded
pension system is needed and why it is not
need­ed« (International Tax and Public Finance,
7, 2000, S. 389 – 410). Die Zusammenfassung
besagt : »Der Artikel kritisiert die Auffassung,
dass das Umlageverfahren wirtschaftliche Ressourcen verschwendet. Ein Wechsel zu einem
kapitalgedeckten System ist nicht zweckmäßig,
obwohl es eine dauerhaft höhere Rendite verspricht. . . . Dennoch bietet die Einführung
­einer zusätzlichen kapitalgedeckten Rentenver­
sicherung die Möglichkeit, die gegenwärtige
demographische Krise zu überwinden . . .«
Sinn zeigt, dass ein Rentensystem dann
nachhaltig ist, wenn der Gegenwartswert der
Einzahlungen dem der Rentenauszahlungen
entspricht. Das System wird dadurch finanziert, dass das Gros der Einzahlungen zu einem
früheren anstatt zu einem späteren Zeitpunkt
geschieht. Da die Rentenzahlungen an frühere
Generationen über dem Wert ihrer Einzahlungen liegen, erhalten spätere Generationen eine
Rente unterhalb ihres Einzahlungswertes. Sinn
schlussfolgert, dass die Höhe der Kapitalrendite aus einer Verteilungsentscheidung folgt statt
aus einer Ineffizienz des Umlageverfahrens.
Sinn hält die Einführung einer zusätzlichen
kapitalgedeckten Altersvorsorge für geeignet,
um der Untragbarkeit des umlagefinanzierten
Rentensystems zu begegnen. Auch hält er es für
verteilungstechnisch richtig, der heutigen Generation, die weniger Kinder als ihre Eltern bekommt, höhere Rentenzahlungen abzufordern.
In Sinns Worten : »In der gegenwärtigen demographischen Krise kann nur eine zusätzliche
kapitalgedeckte Absicherung zur Entlastung
des Rentensystems führen : Wo es an Human­
kapital fehlt, sind Kapitalgüter essentiell, um
die Lücke zu schließen.«
Sinn diskutiert das Risiko, dass Aktien Teil
einer kapitalgedeckten Altersvorsorge sind :
»Die bloße Tatsache, dass Aktien unter an­
Die Chilenen setzen auf stark beschränkten
und regulierten Wettbewerb, was die Kosten
verringert hat. Allerdings offenbaren die ex­
orbitant höheren Kosten in anderen Ländern,
die dem chilenischen Vorbild gefolgt sind, wie
wichtig eine professionelle Umsetzung ist.
Historisch haben staatliche Fonds oftmals
zu schlechten Ergebnissen in Entwicklungs­
ländern geführt. Bolivien war dem chilenischen Vorbild gefolgt, allerdings ohne Wahlmöglichkeiten für die Bürger. Dies führte zwar
zu niedrigen Kosten, aber auch zu einem un­
befriedigenden Depotangebot. Im Gegensatz
dazu ist das schwedische Rentensystem mit seiner zentralisierten Verwaltung kosteneffizient,
gegen Pleiten abgesichert und bietet eine große
Auswahl an unterschiedlichen Fonds. Insbesondere gibt es ein staatliches Grundmodell zu
niedrigen Kosten und mit einem guten Lebenszeit-Portfolio, das über 98 % der Neueinsteiger
anzieht.
Das Rentensystem für Angestellte der USRegierung, TSP, lässt zwar wenig Wahlmöglichkeit, hat aber niedrige Gebühren und stellt
nur geringe finanztechnische Anforderungen
an seine über drei Millionen Kunden. Während
solch ein System für ein ganzes Land sicherlich höhere Kosten verursachen würde, wäre es
wohl dennoch eine viel günstigere Lösung als
eine privatwirtschaftliche Alternative.
Die Verwaltungskosten und die Qualität der
Depots sind zentrale Fragen bei der Gestaltung
einer kapitalgedeckten Altersvorsorge. Die
Um­setzung ist hierbei entscheidend; das Beispiel Chile lehrt, dass es wichtig ist, Regeln zu
modifizieren, die zu schlechten Resultaten geführt haben. Der Wettbewerb zwischen staatlichen und privaten Anbietern, wie er in Schweden und Chile praktiziert wird, erscheint
ebenfalls nützlich. Es wäre ein Leichtes, die
Riester-Rente für Arbeitnehmer zu verbessern.
Gerontokratie: Hans-Werner Sinn und die Rentenreformen
gemessener Berücksichtigung des volkswirtschaftlichen Risikos eine [voraussichtlich] höhere Rendite als Anleihen erzielen, heißt noch
nicht, dass eine höhere Investition [in Aktien]
zur Verbesserung der allgemeinen Wohlfahrt
führt.« Ausschlaggebend sind die administra­
tiven Kosten der Depotverwaltung und das Risiko für die individuellen Portfolios.
Ich betrachte nun drei Modelle der kapitalgedeckten Altersvorsorge. Im ersten Modell wird
die Rentenversicherung von privaten Versicherungsanbietern übernommen, die allgemeine
und einige spezielle Regeln zur Depotverwaltung einhalten müssen. Die deutsche RiesterRente und die amerikanischen IRA-Renten­
absicherungen entsprechen diesem Prinzip. Die
zweite Möglichkeit besteht aus wenigen lizensierten Privatunternehmen unter strikter Regulierung des Staates, wie in Chile und anderen
südamerikanischen Ländern. Drittens könnte
der Staat die Depotverwaltung übernehmen.
Eine Marktlösung mit mehreren privaten
Anbietern ist teuer, und vielen Menschen fehlt
das Fachwissen, um informierte Portfolio-Entscheidungen zu fällen. So wird oft die Bedeutung von Gebühren übersehen. Jedoch würde
unter plausiblen Annahmen eine Verwaltungsgebühr von nur 1 % die Rente nach 40 Bei­
tragsjahren bereits um 20 % reduzieren. Berechnungen zeigen, dass die Riester-Rente im
% der Lebenseinzahlungen
Durchschnitt 12 kostet, aber mit hohen Schwankungen und
ohne Transparenz. Die hohen Kosten für die
amerikanischen IRA-Versicherungen sind bekannt, ohne dass bislang ein Lösungsansatz
vorgeschlagen wurde.
Das zweite Problem betrifft das fehlende
Fachwissen der Bevölkerung in langfristigen
Finanzfragen. Diese Situation wird oftmals von
Finanzberatern verschärft, die aufgrund von
Interessenskonflikten kaum Anreize haben,
den Mangel an Informationen zu beheben.
79
David E. Wildasin
HANS-WERNER SINN: EIN TRIBUT AN
SEINE BEITRÄGE ZUR FORSCHUNG IN
VOLKS­W IRTSCHAFTSLEHRE UND POLITIK
Gerontokratie
David E. Wildasin, langjähriger
CESifo Affiliate, ist Professor für
Volkswirtschaftslehre und hält eine
Stiftungsprofessur für öffentliche
Finanzen an der University of Kentucky. Sein Hauptforschungsgebiet
ist die öffentliche Öko­nomie mit
dem Fokus auf ö
­ konomische
­Integration und Föderalismus.
80
Von seinen vielen Interessensgebieten und
­Beiträgen ist Hans-Werner Sinns Arbeit auf
dem Gebiet der öffentlichen Finanzen vielleicht
am bemerkenswertesten. Besonders seine Forschung zum Sozialstaat ist breitgefächert, tiefgreifend und politisch höchst relevant.
So zum Beispiel seine Aufsätze »A Theory of
the Welfare State« und »Social Insurance, Incentives, and Risk Taking«; diese Abhandlungen erläutern die Verteilungswirkungen der –
oftmals lediglich als Umverteilungsinstrumente
betrachteten – Sozialversicherung und des
Steuersystems. Sie reduzieren zwar Anreize zu
Lohnarbeit und Investitionen, fördern dafür
aber Risikobereitschaft – insbesondere Unternehmertum, Investitionen in Humankapital
und Innovation. Da es für den privaten Sektor
schwierig bis unmöglich ist, Menschen gegen
solche Risiken zu versichern, könnte der Sozial­
staat hier auf wichtige Weise sozial effiziente
Risikoübernahme fördern. So wird eine dynamische, im Grundsatz marktgetriebene Volks-
wirtschaft gestärkt. Allerdings beobachtet Sinn
auch, dass die erfolgreiche Umsetzung einer
solchen Politik unterminiert werden kann,
wenn die finanziell erfolgreichen Hauptbeitragszahler dem System durch Migration entfliehen.
Dies bringt mich zum nächsten Thema, denn
Hans-Werner Sinn hat sich auch intensiv mit
dem demographischen Wandel und dessen finanziellen Konsequenzen auseinandergesetzt.
Die kritische Bedeutung von Migration, Fer­
tilität und Sterblichkeit für die öffentlichen Finanzen sollte mittlerweile offensichtlich sein.
Aufgrund der anhaltend stark sinkenden Geburtenrate wohlhabender Länder altern deren
Bevölkerungen rapide. Beständige Einkommensunterschiede, verbunden mit geringeren
Barrieren zur ökonomischen Integration, führen zudem zu erhöhten Migrationsflüssen, besonders hin zu reicheren Ländern. Wenn nichts
geschieht, werden sich diese Trends noch jahrzehntelang fortsetzen, zwangsläufig mit tief-
der schrumpfenden arbeitenden Bevölkerung
s­tetig erhöhen. Künftige Finanzierungskrisen
könnten zumindest abgemildert werden, wenn
Politiker notwendige und längst überfällige
Reformen verabschieden könnten. Vielleicht
­
ist das zu viel verlangt von den heutigen (zunehmend gerontokratischen) Demokratien –
ein beängstigender Gedanke.
Auf der ganzen Welt profitieren Forscher
immens von Hans-Werner Sinns akademi­
schen Beiträgen zu fundamentalen Problemen
der Wirtschaftspolitik. Dabei dürfen auch seine
außerordentlichen Leistungen zugunsten der
gesamten Disziplin nicht vernachlässigt werden, insbesondere seine Förderung des ­CESifo,
einer Einrichtung, die weltweit Impulse für
eine ergiebige Wirtschaftsforschung gesetzt
und ihre Früchte der Politik sowie der breiten
Öffentlichkeit zur Verfügung gestellt hat.
Ich erinnere mich noch sehr gut an meinen
ersten von vielen Besuchen des neu gegründeten CES im Jahr 1991, der in dem CES Working
Paper Nr. 2 resultierte – in der erhabenen Gesellschaft von keiner Geringeren als Richard
Musgraves Nr. 1 (mittlerweile gibt es über 5000
Working Papers) ! Der Besuch führte außerdem zu einer Forschungszusammenarbeit mit
Dietmar Wellisch, damals aus Tübingen, zum
Thema Umverteilung und Immigration, publiziert zuerst auf Englisch und später auf Deutsch
in den ifo Studien – ein Beispiel des vielfältigen
fruchtbaren Gedankenaustauschs, der von der
CESifo-Gruppe gepflegt wurde. Ein Ökonom,
der erfolgreich durch die umfassenden und
manchmal turbulenten Strömungen der institutionellen Entwicklungen sowie der akademischen und politischen Forschung navigieren
kann, hat Seltenheitswert. Mit großer Freude
drücke ich daher meine Bewunderung und
Dankbarkeit an Hans-Werner Sinn aus, in Anerkennung einer bemerkenswerten Laufbahn
und fachlichen Leistung !
Gerontokratie: Hans-Werner Sinn und die Rentenreformen
greifenden Auswirkungen auf die stark umverteilungsbasierten, extrem alters- sowie einkom­
mensabhängigen Steuersysteme reicher Länder.
Sinn gehört hier zu einem kleinen Kreis von
Ökonomen, die diese Entwicklung bereits seit
über zwei Jahrzehnten aufmerksam verfolgen.
Er war ein Vorreiter in der Diskussion der weitreichenden Folgen von Bevölkerungsalterung
und ökonomischer Integration. Seit den 1990er
Jahren verdeutlichen uns seine Abhandlungen
nicht nur, wie scharfsinnig Sinn sich andeu­
tende politische Herausforderungen vorher­
gesehen hat, sondern auch, wie konstruktiv er
unser Verständnis möglicher Optionen gefördert hat. Seine vor mehr als 15 Jahren verfassten
Aufsätze zum deutschen Rentensystem zeigen,
wie Reformen die Kosten des Erhalts eines
­solchen Systems so fair wie möglich verteilen
können. Eine Möglichkeit ist die sofortige, vergleichsweise geringe Erhöhung der Beiträge.
Alternativ dazu könnte mit einer verbindlichen, durch die Behörden überwachten privaten Vorsorge eine finanzielle Reserve aufgebaut
werden, mit der künftige Rentenverbindlichkeiten bedient werden können. Letzteres ist dabei vorzuziehen, da man, so Sinn, die »Begierde«, mit der Politiker auf eine solche Reserve
blicken würden, nicht übersehen dürfe : »Öffentliche Gelder sind eine große Versuchung.«
Eine weise Bemerkung eines Politökonomen,
der erkennt, wie imperfekte politische Prozesse
die Wirtschaftspolitik unweigerlich prägen.
Wir können nur hoffen, dass Politiker – und
wichtiger, die Öffentlichkeit – sich diese Erkenntnisse zu Herzen nehmen, besser früher
als später.
Leider bleibt das Zeitfenster für Politikänderungen nicht ewig geöffnet. Wie in seiner neueren Forschung diskutiert, könnten alternde
Gesellschaften zu Gerontokratien werden, in
denen die Forderungen einer immer älter
­werdenden Empfängergesellschaft die Lasten
81
Ursula Engelen-Kefer
DISKURS ZU DEMOGRAPHIE UND
GENERATIONENGERECHTIGKEIT
Gerontokratie
Ursula Engelen-Kefer war von
1984 bis 1990 Vizepräsidentin der
Bundesanstalt für Arbeit und von
1990 bis 2006 Stellvertretende
Vorsitzende des DGB. Sie lehrt
Beschäftigungspolitik an mehreren renommierten Hochschulen
und leitet den Arbeitskreis Sozialversicherung im Sozialverband
Deutschland (SoVD).
82
Mit großem Respekt habe ich während vieler
Jahre als Stellvertretende Vorsitzende des DGB
die Wirtschafts- und Finanzanalysen des ifo
Instituts verfolgt – ebenso wie die eloquente öffentliche Darstellung seines Präsidenten Prof.
Hans-Werner Sinn. Dabei bestanden die gravierenden Unterschiede der politischen Bewertung auf beiden Seiten – aber immer getragen
von der Bereitschaft für den wissenschaftlichen
und politischen Diskurs.
Es war mir daher eine besondere Freude und
Ehre, als HWS 2007 fragte, ob er mich als Mitglied des Verwaltungsrates des ifo Instituts vorschlagen könne. Seither habe ich einen noch
umfassenderen Zugang vor allem auch zu den
analytischen Arbeiten des ifo erhalten.
Besonders schätze ich Sinns Darstellungen
der eskalierenden Finanzkrisen, ihrer Hintergründe und ihrer dramatischen Folgen, auch
für die Bundesbürger. Allerdings hatte ich lange Zeit Zweifel an der politischen Verantwortbarkeit seines schon frühzeitig propagierten
»Grexit«. In jüngster Zeit bin ich dabei allerdings auch zunehmend unsicher geworden.
Mit besonderem Interesse konnte ich verfolgen, dass es ifo gelingt, interessante und fähige
Wissenschaftler aus aller Welt zu gewinnen
und bei der eigenen Arbeit weit über den nationalen Tellerrand hinauszublicken. Dabei hat
sich HWS auch immer als Person mit großem
Erfolg eingebracht.
In seiner Rede auf der letzten ifo Jahresversammlung am 12. Juni 2015, der letzten in seiner Amtszeit als Präsident, hat HWS keinen
Zweifel an der Ablehnung der von den Gewerkschaften durchgesetzten Lohnsteigerungen in den neuen Bundesländern wie auch der
Alternativlosigkeit der Renten- und Arbeitsmarktreformen von Gerhard Schröder und seiner Agenda 2010 gelassen. Im Vorfeld der langwierigen Auseinandersetzungen um den von
»Schwarz-Rot« 2015 eingeführten gesetzlichen
Mindestlohn von 8,50 Euro wurde HWS nicht
müde, die seiner Meinung nach drohende Ver-
derte, dass er die gesetzliche Altersrente einschränkte – eine Entwicklung, die HWS ebenso
wie der vormalige »Rentenpapst« Prof. Bert
Rürup als alternativlos ansah.
Wie ich glaube, aus seinen jüngsten Äußerungen bei der ifo Jahresversammlung 2015
entnehmen zu können, ist allerdings auch bei
HWS die Erkenntnis gereift, dass infolge der
eskalierenden Finanzkrisen die Erwartungen
an die kapitalgedeckte Alterssicherung nicht
erfüllt werden können. Allerdings würde ich
keinesfalls zu hoffen wagen, dass sich HWS
meiner Auffassung anschließt, dass die gesetzliche umlagefinanzierte Altersrente trotz der
dramatischen demographisch bedingten Zusatzbelastungen der jüngeren Generationen
immer noch die bessere Alternative darstellt.
Eine zukünftige Lösung könnte daher sein,
dass zusätzliche eigene Rentenleistungen nicht
in die private Kapitalanlage abgefordert werden, sondern deren Einzahlung in die gesetz­
liche Rentenversicherung erweitert und ge­
fördert werden sollte. Auch dies würde die
jüngeren Generationen entlasten, ohne die
Mehrheit der Arbeitnehmer den intransparenten und häufig überteuerten Alterssicherungsprodukten der privaten Finanzbranche aus­
zusetzen. Allerdings habe ich nach meinen
jahrzehntelangen Erfahrungen und Erkenntnissen in der Sozialpolitik keine Illusionen,
dass sich ein so »eingefleischter« Ökonom mit
einer solch gewaltigen Innen- und Außenwirkung wie HWS in derartige »Niederungen« der
Verteilungs- und Sozialpolitik begeben könnte.
Es fehlte dann ja auch das Salz in der Suppe
für den wissenschaftlichen wie politischen Diskurs.
Ich bin sicher, dass HWS auch in Zukunft in
Deutschland, Europa und weltweit ein bekannter und anerkannter Ökonom bleiben wird,
der sich in die Wissenschaft und Politik einmischt.
Gerontokratie: Hans-Werner Sinn und die Rentenreformen
nichtung von Arbeitsplätzen in die Öffentlichkeit zu bringen. All dies hat er eindringlich in
seinen umfassenden Publikationen belegt. Es
wird nicht verwundern, dass uns gerade bei
diesen Themen, die ich auch als jahrzehnte­
lange alternative Vorsitzende von Vorstand
und später Verwaltungsrat der Bundesagentur
für Arbeit verantwortlich vertreten habe, politische Welten trennen.
In den letzten Jahren hat sich HWS einem
weiteren Themenbereich zugewandt, den dramatischen Veränderungen in der Demographie und ihren wirtschaftlichen, sozialen und
gesellschaftlichen Auswirkungen. Dabei gibt es
unmittelbare Berührungspunkte mit meiner
eigenen Neuorientierung nach Beendigung
meines Mandats als Stellvertretende Vorsitzende des DGB 2006. Als Honorarprofessorin an
der Hochschule der Bundesagentur für Arbeit
(HdBA) mit verschiedenen Lehraufträgen, insbesondere an der Freien Universität Berlin, bin
ich wieder dahin zurückgekehrt, wo ich meine
Berufslaufbahn in der wissenschaftlichen Beratung der Politik vor jetzt viereinhalb Jahrzehnten einmal begonnen habe.
Dabei befasse ich mich vor allem mit den
drängender werdenden Problemen des Rückgangs und der Alterung von Bevölkerung und
Erwerbstätigen. Auch hier gab es zwischen
HWS und mir lange Zeit erhebliche Differenzen bei der Bewertung der Zukunft der sozialen Sicherungssysteme – vor allem der Rentenversicherung. Ich war und bin immer eine
überzeugte Verfechterin der gesetzlichen umlagefinanzierten Altersrente, die immerhin die
Schrecken von zwei Weltkriegen überdauert
hat. Damit war ich auch als zeitweilige alter­
native Vorsitzende des Vorstandes der gesetz­
lichen Rentenversicherung eine entschiedene
Gegnerin der Rentenreformen des damaligen
Bundesarbeitsministers Walter Riester, der die
private kapitalgedeckte Zusatzrente damit för-
83
Rita Süssmuth
»KINDER KRIEGEN DIE LEUTE IMMER« – ODER?
Gerontokratie
Rita Süssmuth ist Politikerin und
Wissenschaftlerin. Sie war von
1985 bis 1988 Bundesministerin
für Familie, Frauen, Jugend und
Gesundheit und von 1988 bis 1998
Präsidentin des Deutschen Bundestags. Sie ist heute Präsidentin
des Konsortiums der TürkischDeutschen Universität (TDU) in
Istanbul.
84
Was wäre die Welt nur ohne Altersversicherung ? Bis Ende des 19. Jahrhunderts war man
darauf angewiesen, von seinen eigenen Kindern im Alter versorgt zu werden. Somit hieß
es für die aktive Phase des Lebens : arbeiten, die
eigenen Eltern versorgen und vor allem Kinder
bekommen. Denn ohne Kinder keine Altersversorgung.
Die Rentenversicherung überwand diesen
über Jahrhunderte unumstößlichen Zusammenhang. Doch genau hierin besteht das Dilemma.
Mit der ersten deutschen Sozialgesetzgebung legte Bismarck den Grundstein für die
­gesetzliche Rentenversicherung. Das Risiko, im
Falle des langen Lebens nicht versorgt zu sein,
wurde abgefedert, die direkte Abhängigkeit
von den eigenen Nachkommen zwar gelockert,
jedoch nicht aufgegeben. Dies geschah erst mit
der Rentenreform 1957 unter Adenauer. Dessen Rentenreform geht auf ein Papier des Kölner Privatdozenten Wilfrid Schreiber zurück.
Dieses sah vor, die Abhängigkeiten im Lebenszyklus in beide Richtungen zu lösen : Zum
­einen sollten Ältere nicht länger allein auf die
eigenen Nachkommen angewiesen sein, zum
anderen sollten aber auch Kinder von der Gesellschaft getragen werden. Die familiäre Solidarität sollte – ganz im Sinne einer Versicherung – in Form eines Generationenvertrages
auf die ganze Breite der Gesellschaft übertragen werden. Die »Kindheits- und Jugendrente«
wurde jedoch nicht verwirklicht. Adenauer
schloss einen Zweigenerationenvertrag. Die
Belastung der Kindererziehung blieb weiterhin
bei den Eltern, obwohl das so geschaffene System auf Nachwuchs angewiesen war und ist.
Unter dem Motto »Kinder kriegen die Leute
immer« sah Adenauer keine Notwendigkeit,
sich um Kinderwünsche zu sorgen.
War damit ein gesundes System geschaffen
worden ? Anfangs schien es zumindest so. Die
erwerbstätige Generation war stark vertreten
im Vergleich zu den finanzierungsbedürftigen
beziehen. Dazu sollen kinderlose Familien geringere Ansprüche an die umlagefinanzierte
Rente haben, dies jedoch durch privates Sparen
kompensieren. So soll jeder, der in das Erwerbsleben eintritt, privat vorsorgen müssen.
Wird ein Kind geboren, wird ein Teil der Ersparnis ausgeschüttet sowie ein Teil der weiteren Sparpflicht erlassen. Bei drei Kindern muss
nicht mehr gespart werden. Die weggefallene
private Vorsorge wird durch höhere umlage­
finanzierte Rentenansprüche kompensiert. Auf
diese Weise würden die Lasten aus Kinder­
erziehung und Altersversorgung in der Gesellschaft wieder gerechter verteilt und die durch
das Rentensystem verlorenen Anreize in der
Familienplanung wiederhergestellt.
Die Dringlichkeit von Rentenreformen ist
jedoch nicht allein auf die drohenden Finanzierungsprobleme des Rentensystems zurückzuführen. Die alternde Gesellschaft selbst gibt
aus politökonomischer Perspektive eine strenge Frist vor. Bereits im Jahr 2002 berechnete
Hans-Werner Sinn zusammen mit Silke Übelmesser, dass die politischen Mehrheiten in
Deutschland etwa Mitte dieses Jahrzehnts
­zugunsten der älteren Generation »kippen«.
Dann nämlich stellen die Über-50-Jährigen die
Mehrheit der Wähler. Diese Bevölkerungsgruppe wird – bezogen auf ihr Lebensein­
kommen – stärker von höheren Rentenaus­
zahlungen profitieren, als sie durch höhere
Einzahlungen belastet wird. Reformen zuungunsten dieser Gruppe werden dann politisch
nicht mehr durchsetzbar sein. Das Zeitfenster
für Reformen beträgt – wenn überhaupt – nur
noch einige wenige Jahre.
Gerontokratie: Hans-Werner Sinn und die Rentenreformen
Alten. Bis Mitte der 1960er Jahre dauerte der
Babyboom an. Heute zeigt sich jedoch, dass das
umfangreiche Rentensystem eine Zeit geringer
Geburten einläutete. Schließlich war man nicht
auf eigene Kinder angewiesen, sondern konnte
einen Rentenanspruch gegenüber der nachfolgenden Generation geltend machen, der umso
höher war, je mehr man verdient hatte. Bekamen Frauen in den 1950er Jahren durchschnittlich noch über zwei Kinder, sank diese Zahl ab
1970 rapide ab und verharrt seither bei etwa 1,4.
In Kombination mit gestiegener Lebenserwartung hatten die Älteren somit ein immer höheres Gewicht in der Gesellschaft. Im Jahr 1970
mussten 100 Personen im Alter von 20 bis 64
lediglich 25 Personen im Rentenalter finanzieren. 2013 lag diese Zahl bereits bei 34, und für
2035 ist laut Angaben des Statistischen Bun­
desamtes (Bevölkerung Deutschlands bis 2060:
13. koordinierte Bevölkerungsvorausberechnung,
2015) aufgrund der Babyboomer mit etwa
55 Rent­nern pro 100 Personen der mittleren
Generation zu rechnen. Das niedrigere Ren­
ten­niveau lässt sich zwar behandeln, jedoch
nur zu Lasten eines höheren Beitragssatzes.
Um die demographische Krise durch den
Renteneintritt der Generation der Babyboomer abzufedern, gab Hans-Werner Sinn Ende
der 1990er Jahre mit dem Wissenschaftlichen
Beirat beim Bundesministerium für Wirtschaft
die Empfehlung, auf ein teilkapitalgedecktes
System umzustellen. Wenig später ergänzte
Sinn diesen Vorschlag um einen konkreten
Mechanismus, Fertilitätsanreize wiederherzustellen. Ähnlich wie in Schreibers Vorschlag
will Sinn alle Generationen in das System ein-
85
Bernd Raffelhüschen
WAS WAR, WAS IST, WAS KOMMT?
Gerontokratie
Bernd Raffelhüschen ist seit 1995
Professor für Finanzwissenschaft
an der Universität Freiburg und
seit 1994 Prof. II an der Universität
Bergen, Norwegen. Er studierte in
Kiel, Berlin und Aarhus Volkswirtschaftslehre und promovierte und
habilitierte sich in diesem Fach an
der Universität Kiel.
86
Als deutsche Politiker seriöse Wissenschaftler
als demographische Katastrophentheoretiker
und Bevölkerungsauguren abtaten und den
Pillenknick für eine vorübergehende Sache
hielten, war eigentlich schon längst bekannt :
Der doppelte Alterungsprozess würde in – damals noch ferner – Zukunft dazu führen, dass
immer mehr zukünftige Rentner immer länger
von immer weniger zukünftigen Beitragszahlern versorgt werden müssen. Inzwischen werden Erkenntnisse wie diese fast gebetsmühlenartig in allen Medien rauf und runter geleiert.
Tatsächlich ist die Aussage falsch ! Oder besser
gesagt, eigentlich ist das Adjektiv falsch. »Zukünftig« sind nämlich weder die Rentner noch
die Erwerbstätigen des nächsten Vierteljahrhunderts – sie sind alle schon da. Und genau
deshalb ist der pilzförmige Aufbau der Bevölkerungsstruktur im Zeitraum 2030 – 2045 auch
nicht etwas Zukünftiges, das unsicher ist und
sein muss, sondern es handelt sich um eine
»Reflexion der Vergangenheit«, die in der Zu-
kunft liegt. Und die Vergangenheit hat eine
ganz dumme Eigenschaft : Man kann sie nicht
ändern ! Auch wenn es verwirrend klingt : Der
zukünftige Alterungsprozess unserer Gesellschaft ist nicht etwas, was kommt, sondern etwas, was schon war, was also eigentlich schon
gewesen ist, obwohl es noch kommt ! Und
­ändern kann man daran nichts mehr, weder
»durch Kinder noch durch Inder«. Überspitzt
ausgedrückt : Auch wenn der geneigte Leser
nach Lektüre dieser Festschrift noch versuchen
wollte, an seinen Reproduktionsziffern zu arbeiten, allein, es ist verlorene Liebesmüh’, die zu
spät kommt.
Und wer hat das alles nun verursacht ? Die
Antwort ist relativ einfach zu geben : Es sind die
Babyboomer und deren Nachkommen, also
jene, die sich gegenwärtig im Alter 65 – befinden. In diesen Jahrgängen gibt es grob vereinfacht drei Gruppen : Ein Fünftel dieser Menschen verlässt die Welt kinderlos, ein weiteres
Viertel hält eine Familie dann für komplett,
fall der gut betuchte männliche Facharbeiter
mit ununterbrochener Erwerbsbiographie.
Aber zurück zur Mütterrente, die im Prinzip
nicht falsch ist, auch wenn der Begriff zu revidieren wäre. Kinderrente im echten HWS-Sinn
wäre das bessere Wort ! Sinnvoll ist nämlich
nur ein umlagefinanziertes Steuer/TransferSystem, in das jeder einzahlt und auch jeder
dafür Rentenansprüche erhält, also auch Beamte und Selbständige. Die entsprechenden
Ein- und Auszahlungsströme wären dann für
die gesetzliche Rentenversicherung quasi ein
durchlaufender Posten. Über die relativen Größenordnungen sowie über das institutionelle
Ineinandergreifen von familienpolitischem
Steuer/Transfer-Mechanismus und beitragsfinanziertem Rentensystem muss natürlich noch
trefflich gestritten werden. Allerdings dürften
die individuellen Positionen in höchstem Maße
mit der Kinderzahl korreliert sein. Damit würde dann die gesetzliche Rente für Kinderlose
maximal bei etwa jenem Basisversorgungsniveau landen, das bereits durch die vergangenen
Reformen beschlossen wurde. Nachhaltigkeitsfaktor und »Rente mit 67« würden ihnen ganz
klar vermitteln : Sie müssen länger arbeiten für
weniger Rente, und die Lebensstandardsicherung ist Sache ihrer privaten oder betrieblichen
Alterssicherung. Dagegen werden die Renten
jener, die den Generationenvertrag in all seinen Facetten erfüllt haben, durch die steuer­
finanzierten Transfers aufgestockt – natürlich
für jedes Kind gleich, versteht sich. Dem Verursacherprinzip wäre damit ein großer Gefallen getan, allerdings nur, wenn das alles finanziert wird, ohne sich neu zu verschulden. Die
neuen Schulden müssten sonst nämlich unsere
wenigen Kinder bedienen – Kinderlose und
deren nicht geborene Kinder zahlen wenig bis
nichts.
Gerontokratie: Hans-Werner Sinn und die Rentenreformen
wenn zum Einzelkind der Hund hinzukommt,
und nur gut die Hälfte funktioniert im Sinne
der Generationenverträge und schafft ausreichend zukünftige Steuer- und Beitragszahler.
Was diese dann später einzahlen, gehört allen
und wird sozialisiert – die Kosten tragen die
Familien, zwar nicht allein, aber doch zu weitaus grö­ßeren Teilen als die anderen. Trittbrettfahrer nennt man das ! Und genau hierin lag
immer schon der Ansatzpunkt für Rentenreformen à la HWS, der immer wieder betonte,
dass zumindest das Ausmaß dieser Sozialisierung unserer Kinder wieder auf ein vernünf­
tiges Maß zurückgefahren werden sollte. Das
Vehikel dazu sind die von der Kinderzahl abhängigen Rentenansprüche. Für den renten­
politischen Puritaner ist dies ein rotes Tuch,
denn in den Haushalt der Rentenversicherung
gehören seiner Meinung nach keine familienpolitischen Leistungen – sonst würde man ja
Beamte und Selbständige bei der Finanzierung
nicht be­teiligen. Schließlich sind sie in aller Regel keine Mitglieder der gesetzlichen Rentenversicherung. Darüber hinaus könnten Beamte
wie auch Selbständige Kinder haben, die selbst
­rentenversicherungspflichtig werden, ohne
dass die entsprechenden Transfers den Eltern
zugutekämen. Paradebeispiel für eine solche,
schlicht falsche familienpolitische Umverteilung ist die Erhöhung der Mütterrente für Kinder, die vor 1992 geboren wurden, durch das
aktuelle Rentenreformpaket von Arbeitsmi­
nisterin Nahles. Überspitzt ausgedrückt verbeitragt sie das Taschengeld unserer Kinder
­zugunsten der Mütter ! Und auch die abschlagsfreie Rente mit 63 dürfte familienpolitisch eher
in die falsche Richtung gehen. Davon profitierten nämlich nur die Jahrgänge 1952 – 1963 und
darunter auch nicht die Frauen mit mehreren
Kindern, die bekommen nämlich oft keine
45 Jahre zusammen. Nutznießer ist im Regel-
87
Thiess Büttner
POSITIVE EXTERNE EFFEKTE DER ERZIEHUNG
UND AUSBILDUNG VON KINDERN
Gerontokratie
Thiess Büttner ging nach der
Promotion an der Uni Konstanz
1997 an das ZEW in Mannheim.
2004 wurde er an die LMU München berufen und leitete den
­Bereich »Öffentlicher Sektor« am
ifo Institut. 2010 wechselte er an
die FAU Erlangen-Nürnberg. Er ist
Vorsitzender des Wissenschaft­
lichen Beirats beim BMF.
88
Im Vergleich zu anderen für die Wirtschafts­
politik bedeutsamen Entwicklungen ist die demographische Entwicklung zumindest abseits
von Wanderungen gut zu prognostizieren. So
ist seit langem bekannt, dass der Trend zu späteren Geburten, die längere Lebenserwartung
und die geringe Zahl der Kinder Anpassungen
im Rentensystem erfordern. Einer konsequenten Anpassung der Rentenversicherung an die
voraussehbare Entwicklung hat sich die Politik
immer wieder verweigert, und selbst mühsam
erzielte Fortschritte werden mitunter konter­
kariert (für einen Überblick der Rentenreformen siehe Axel Börsch-Supan, »Lehren aus den
Rentenreformen seit 1972«, Wirtschaftsdienst,
95, 2015, S. 16 – 21). Zugleich wird das umlage­
finanzierte Rentensystem auch mit Hinweis auf
die geringe Rendite der Beiträge in diesem System kritisiert.
Hans-Werner Sinn hat sich in einer Reihe
von grundlegenden Beiträgen mit der Thematik der Rentenversicherung befasst. So beteilig-
te er sich an der Debatte um den Wechsel von
einem umlagefinanzierten zu einem kapital­
gedeckten System. In einer dieser Arbeiten
­betont er, wie auch andere deutschsprachige
­Autoren, dass der Renditevergleich zwischen
kapitalgedeckten und umlagefinanzierten Rentenversicherungssystemen kein aussagefähiges
Kriterium zur Beurteilung der Systeme ist (siehe Hans-Werner Sinn, »Why a funded pension
system is useful and why it is not«, Internation­
al Tax and Public Finance, 7, 2000, S. 389 – 410).
Auch wenn die Rentenbeiträge wegen der geringen Rendite zum Teil den Charakter einer
Steuer haben, die sich auf die Leistungsbereitschaft der Arbeitnehmer negativ auswirkt, ist,
wie Sinn zeigt, von einem Übergang auf ein
­kapitalgedecktes System keine Verbesserung zu
erwarten. Die Finanzierungslast für die bereits
erworbenen Rentenansprüche müsste schließlich anderweitig durch höhere Steuern gesichert werden.
Die Problematik der umlagefinanzierten Ren­
liegt aber vor allem in dem Nachweis, dass die
Entscheidung für Kinder und die Anstrengungen einer Familie im Rahmen der Kindererziehung in einem umlagefinanzierten Renten­
versicherungssystem positive externe Effekte
auf die anderen Versicherten ausüben. Die Familien leisten mit anderen Worten mehr für
das System als das, was in den Beitragszahlungen angerechnet wird. Die von Sinn propagierte kinderbezogene Rente ist vor diesem Hin­
tergrund konsequent, auch wenn dies mögli­
cherweise keine wesentlichen Effekte auf die
Demographie hätte.
Die im Rentensystem angelegte intergene­
rationale Umverteilung jedoch erschwert das
Zustandekommen von geeigneten Reformen.
In einer weiteren Arbeit zeigt Sinn, dass es im
Zuge des demographischen Wandels immer
schwerer werden dürfte, solche Reformen politisch durchzusetzen (siehe Hans-Werner Sinn
und Silke Übelmesser, »Pensions and the path
to gerontocracy in Germany«, European Journal of Political Economy, 19, 2002, S. 153 – 158).
Auf der Basis der Vorausberechnungen des Statistischen Bundesamts zeigt diese Arbeit, dass
der Medianwert des Lebensalters in der Wählerschaft immer weiter ansteigt und dass nach
dem Jahr 2016 nur noch geringe Möglichkeiten
bestehen, eine politische Mehrheit zugunsten
einer fundamentalen Reform zu gewinnen.
Es ist kurios, dass der Wechsel von HansWerner Sinn in den Ruhestand nun ausge­
rechnet in das Jahr fällt, für das er selbst den
Wechsel Deutschlands zur Gerontokratie prognostiziert hat. So obliegt es nun anderen, auf
Anpassungen im Rentensystem hinzuwirken.
Hans-Werner Sinn hat die Problematik jedenfalls frühzeitig erkannt und so grundlegend
analysiert, dass der nachfolgenden Generation
die Vor- und Nachteile der Entscheidungsalternativen deutlicher geworden sind.
Gerontokratie: Hans-Werner Sinn und die Rentenreformen
t­ e ist demgegenüber bei Hans-Werner Sinn
mit dem demographischen Wandel verbunden.
Diese Thematik greift er insbesondere in einer
2004 erschienenen Arbeit auf (siehe HansWerner Sinn, »The pay-as-you-go pension system as fertility insurance and an enforcement
device«, Journal of Public Economics, 88, 2004,
S. 1335 – 1357). Sie geht historisch zutreffend
von der Überlegung aus, dass die gesetzliche
Rentenversicherung vor allem eine Versicherung der Älteren ist, die keine Kinder haben
bzw. von den Kindern nicht ausreichend unterstützt werden. Wie auch bei anderen Versicherungen könnte es allerdings durch die Absi­che­
rung zu Verhaltensänderungen kommen. In
der stringenten ökonomischen Logik der Analyse schwinden die Anreize, Kinder in die Welt
zu setzen und familiäre Anstrengungen zugunsten der Erziehung und Ausbildung der
Kinder zu leisten.
Zwar spielen keineswegs nur ökonomische
Motive eine Rolle bei der Entscheidung, eine
Familie zu gründen und sich um die Erziehung
und Ausbildung der Kinder zu bemühen, und
es lassen sich viele andere überzeugende Motive gerade auch für den Rückgang der Geburten
anführen. Auch ist der empirische Nachweis
wohlfahrtsstaatlicher Effekte auf familiäre Entscheidungen schwierig und die empirische Literatur zu diesen Effekten entsprechend schmal
(siehe z. B. Vinzento Galasso, Roberta Gatti
und Paola Profeta, »Investing for the old age,
pensions, children, and savings«, International
Tax and Public Finance, 16, 2009, S. 538 – 559).
Die historische Forschung belegt indessen die
Bedeutung des Vorsorgemotivs für die Fertilität (siehe z. B. Kristina Lilja und Dan Bäcklund,
»To depend on one’s children or to depend on
oneself : savings for old-age and children’s impact on wealth«, The History of the Family, 18,
2013, S. 510 – 532).
Die Bedeutung des Sinn’schen Ergebnisses
89
HWS mit der langjährigen Stellvertretenden Vorsitzenden des DGB
Ursula Engelen-Kefer und dem
SPD-Politiker Joachim Poß bei der
ifo Jahresversammlung 2010.
Gruppenfoto: 90. Geburtstag von
Richard Musgrave und zehn­
jähriges Jubiläum des von HWS ins
Leben gerufenen Center for Economic Studies im November 2001.
Krönender Abschluss des
ifo-­Betriebsausflugs 2014
im ­Garten der Familie Sinn.
90
HWS und der damalige Bayerische
Ministerpräsident Edmund Stoiber
in tiefer Diskussion beim Munich
Economic Summit 2003.
Nobelpreisträger Robert Solow
spricht anlässlich der Amtsein­
führung von HWS als ifo-Präsident
am 21. Juni 1999.
HWS mit dem damaligen Minister-
präsidenten Baden-Württem­
bergs Günther Oettinger beim
­Munich Economic Summit 2006
zur g
­ lobalen Arbeitsteilung.
91
WirtschaftsWoche, 21.12.2009
4
IST DEUTSCHLAND NOCH
ZU RETTEN?
Hans-Werner Sinn und die arbeitsund sozialpolitischen Reformen
Helmut Rainer
EINLEITUNG
Ist Deutschland noch zu retten ? Hans-Werner Sinn
und die arbeits- und sozialpolitischen Reformen
Helmut Rainer leitet das ifo Zentrum für Arbeitsmarktforschung
und Familienökonomik und ist
Professor für Volkwirtschaftslehre
an der Ludwig-Maximilians-­
Universität München. Seine Forschungsschwerpunkte liegen in
den Bereichen Familienökonomik
und Bevölkerungsökonomik.
Ist Deutschland noch zu retten?
HWS stand am Fuße einer Felswand. Er war
94
spät dran gewesen, hatte sich von seinem Fahrer an einem Parkplatz absetzen lassen und
wollte seine Mitarbeiter einholen, die sich auf
dem jährlichen ifo-Betriebsausflug Richtung
Gipfel aufgemacht hatten. Da er den Weg nicht
kannte, hatte er zum Mobiltelefon gegriffen, einen engen Mitarbeiter angerufen und sich den
Weg erklären lassen. Der genannte Weg war
­jedoch zu lang, deshalb hatte er sich entschieden, direttissimo zum Gipfel zu gehen. Noch
vor zwei Stunden hatte er einem Journalisten
die »Aktivierende Sozialhilfe«, das neue ifoReformkonzept, erklärt, ihm klargemacht, dass
bei den derzeitigen Hinzuverdienstmöglichkeiten kein Anreiz für Langzeitarbeitslose bestand, eine Beschäftigung aufzunehmen. Die
hohen Grenzsteuersätze von bis zu 100 % würden dies unmöglich machen. Verdeutlicht ­hatte
er dies am Beispiel eines Bergsteigers, der vergeblich versucht, die Eiger-Nordwand zu erklimmen. Nun stand er selbst am Fuße einer
Dieser Beitrag ist unter maßgeb­
licher Mitarbeit von Christian
­Holzner entstanden, der seit über
14 Jahren am ifo Institut ­arbeitet
und den Lehrstuhl für Finanz­
wissenschaft an der Ludwig-­
Maximilians-Universität München
vertritt.
Felswand und musste erkennen, dass er diese
nicht bezwingen konnte.
Die Arbeitslosigkeit in Deutschland war seit
dem ersten Ölpreisschock in den 1970er Jahren
in Rezessionen stetig angestiegen, in Booms
ging sie lediglich leicht zurück, nie hatte ein
Aufschwung zu einem signifikanten Abbau der
Arbeitslosigkeit geführt. Ende der 1990er Jahre
stieg die Zahl der Arbeitslosen in Deutschland
auf über 4 Millionen. Grund genug für HWS,
nach Antritt seiner ifo-Präsidentschaft im Jahr
1999 die ifo-Arbeitsmarktgruppe auszubauen.
Nachdem Gerhard Schröder in seiner ersten
Amtsperiode lange untätig gewesen war, wuchs
Anfang 2002 die Bereitschaft in der Politik,
grundlegende Reformen in Angriff zu nehmen,
und eine Expertenkommission unter der Leitung von Peter Hartz wurde beauftragt, Vorschläge zu erarbeiten. Mit seinem Gespür für
den richtigen Zeitpunkt versammelte HWS
noch im Februar 2002 eine Gruppe von ifoForschern, um ein eigenes Reformkonzept zu
kommunalen Jobs bzw. Leiharbeitsfirmen zur
Einkommenssicherung von arbeitswilligen
Hilfebedürftigen nicht notwendig und nicht
vorgesehen. HWS kritisierte die Hartz-IV-Reform als unzureichend und forderte weiterhin
bessere Hinzuverdienstmöglichkeiten. Seine
Kritik schien voll berechtigt zu sein, als die
Zahl der Arbeitslosen im Jahr 2005 auf mehr
als 5 Millionen kletterte. Im Laufe des Jahres
2006 begannen die Reformen jedoch zu greifen, und die Arbeitslosigkeit begann zu sinken.
Im Jahr 2007 wurde dieser Trend deutlicher,
die Kritik an den Hartz-IV-Gesetzen trat in
den Hintergrund und wurde abgelöst von der
Genugtuung über das Erreichte. Dies ging
­sogar so weit, dass HWS einmal sagte, dass
»Hartz IV nicht nach Peter Hartz benannt sein
sollte, sondern eigentlich ifo IV genannt werden müsste«. Als Deutschland die Finanzkrise
2008 und die anschließende große Rezession
ohne Arbeitsmarktkrise überstand und die
Zahl der Arbeitslosen unter 3 Millionen sank,
da war allen klar, dass der »kranke Mann Europas« gerettet war.
Als HWS im Jahr 2002 am Fuße der Felswand stand, wusste er natürlich noch nicht,
welche Reformen dem deutschen Arbeitsmarkt
bevorstehen würden und wie sich die deutsche
Wirtschaft daraufhin entwickeln würde. HWS
entschied sich damals, seinen Fahrer anzu­
rufen und sich zu dem Gasthof bringen zu lassen, an dem der ifo-Betriebsausflug mit einem
Abendessen ausklingen sollte. Einige Mitarbeiter, die den Gipfel erreicht hatten, meinten,
HWS hätte die Lage zu pessimistisch eingeschätzt. Er entgegnete jedoch : »Es sei wichtig,
sich die Gefahren vor Augen zu führen und
sich ihrer bewusst zu werden; lieber schätze er
die Situation zu pessimistisch ein und drehe
um, als blindlings darauflos zu klettern und abzustürzen.«
Ist Deutschland noch zu retten? Hans-Werner Sinn und die arbeits- und sozialpolitischen Reformen
erarbeiten. Das Ziel lautete, das ifo-Konzept
rechtzeitig zu veröffentlichen, damit die Anregungen noch in die Hartz-Kommission einfließen konnten.
Angesichts der extrem hohen Arbeitslosenrate unter Geringqualifizierten von über 20 %
lautete die Diagnose, dass der Lohnabstand,
insbesondere von Niedrigqualifizierten, zur
Arbeitslosen- bzw. Sozialhilfe zu gering und die
Transferentzugsraten bei Hinzuverdienst viel
zu hoch waren, um den Empfängern von Arbeitslosen- bzw. Sozialhilfe einen Anreiz zu geben, nach Arbeit zu suchen bzw. eine solche anzunehmen. Mitte Mai 2002 präsentierte HWS
das Konzept der »Aktivierenden Sozialhilfe«
der Öffentlichkeit. Es sah vor, die Arbeitslosenlegen und
hilfe und Sozialhilfe zusammenzu­
Jobzentren auf kommunaler Ebene zu schaffen.
Um Transferempfänger zur aktiven Arbeits­
suche zu animieren, wurden bes­sere Hinzu­
verdienstmöglichkeiten bei einer gleichzeitigen Absenkung des Basissatzes vorgeschlagen.
Um das Einkommensniveau der arbeitswilligen Hilfebedürftigen zu sichern, sollten Kommunen oder Leiharbeitsfirmen diejenigen beschäftigen, die in der kurzen Frist keine Arbeit
finden würden. Bei Umsetzung der »Aktivierenden Sozialhilfe« sollte die Zahl der Arbeitslosen um 2 Millionen sinken. Als die HartzKommission im August 2002 ihren Bericht
vorstellte, fanden sich darin fast alle diese Elemente wieder. 2003 veröffentlichte HWS das
Buch Ist Deutschland noch zu retten?, in dem er
die Notwenigkeit der vorgeschlagenen Reformen einer breiten Öffentlichkeit erklärte.
Auch die Schröder-Regierung setzte viele
der in der »Aktivierenden Sozialhilfe« vorgeschlagenen Elemente im Hartz-IV-Gesetz, das
Anfang 2005 in Kraft trat, um. Die Hinzuverdienstmöglichkeiten wurden jedoch weniger
großzügig ausgestaltet, da man den Basissatz
nicht absenken wollte. Deshalb waren auch die
95
Wolfgang Wiegard
HWS: »FALSCHER PROPHET« ODER
IDEENGEBER FÜR DIE AGENDA 2010?
Ist Deutschland noch zu retten?
Wolfgang Wiegard war bis 2011
Professor für Volkswirtschaft in
Regensburg und Tübingen. Seit
1990 gehört er dem Wissenschaftlichen Beirat beim BMF und seit
2003 der Bayerischen Akademie
der Wissenschaften an. Von 2001
bis 2011 war er Mitglied und von
2002 bis 2005 Vorsitzender des
Sachverständigenrates.
96
1. Prolog
»Die Wirtschaft stagniert, die Hiobsbotschaften häufen sich. Monat für Monat gibt es neue
Pleiterekorde, viele Unternehmen stecken in einer schweren Krise, die Arbeitslosigkeit nimmt
immer bedrohlichere Ausmaße an … Deutschland ist der kranke Mann Europas, ist nur noch
das Schlusslicht beim Wachstum …«
Mit dieser Zustandsbeschreibung der deutschen Wirtschaft beginnt der Prolog (S. 13)
in Hans-Werner Sinns legendärem, erstmals
im Oktober 2003 veröffentlichtem Buch Ist
Deutschland noch zu retten?. Als Medizin verabreicht HWS der kränkelnden deutschen
Volkswirtschaft ein »6 + 1-Programm«, bestehend aus drei arbeitsmarktpolitischen, zwei
­sozialpolitischen Komponenten sowie einem
Steuerreformvorschlag und einer Reformagenda für die neuen Bundesländer.
Nach wenig mehr als einer Dekade fällt eine
Bestandsaufnahme der deutschen Wirtschaft
völlig anders aus : Deutschland ist seit einigen
Jahren zur Wachstums- und Konjunkturlokomotive Europas geworden, die (harmonisierte)
Arbeitslosenquote ist die niedrigste in der EU,
die deutschen Unternehmen behaupten sich
im internationalen Wettbewerb, die öffentlichen Haushalte weisen Finanzierungsüberschüsse aus.
War oder ist HWS ein Schwarzmaler, ein
»­falscher Prophet« (Handelsblatt, 16. – 18. Ja­nuar
2015), ein »Prof. Propaganda« (SPIEGEL 29/
2012) ? Im Gegenteil : Seine damaligen Analysen
und Reformvorschläge haben mit dazu beigetragen, dass die Wirtschaftspolitik auf die desolate
Lage reagiert und mutige Reformen implementiert hat. Dies gilt vor allem im Hinblick auf den
Arbeitsmarkt und die Sozialpo­litik.
2. Arbeitsmarkt- und sozialpolitische
Reformen
Arbeitsmärkte und Sozialpolitik stehen im Mittelpunkt der Sinn’schen Reformagenda für die
Anfang bis Mitte des letzten Jahrzehnts dahin-
mit soll rein umverteilungsbedingten Wanderungsanreizen begegnet werden, indem der
Bezug bestimmter steuerfinanzierter Sozialleistungen während einer Übergangsfrist begrenzt wird. Der Wissenschaftliche Beirat beim
Bundesministerium der Finanzen hat in ­seinem
Gutachten »Freizügigkeit und soziale Sicherung« (2000) ganz ähnliche Überlegungen und
Reformoptionen vorgestellt. Die Aktualität dieser Überlegungen zeigt sich im Übrigen in der
im Zusammenhang mit dem angekün­digten
Re­ferendum zur britischen EU-Mitgliedschaft
aufgestellten Forderung von Pre­mierminister
David Cameron, Zuwanderer aus anderen
EU-Ländern vorübergehend vom Bezug steuer­
finanzierter Sozialleistungen auszuschließen.
Vorschläge zur Reform der Rentenversicherung (Kapitel 3) und für eine radikale Steuer­
reform rundeten das Programm für einen Neuanfang der deutschen Wirtschaft ab. Mit dem
Konzept der »Dualen Einkommensteuer« sind
dabei die Vorstellungen von HWS, ifo Institut
und Sachverständigenrat über ein investitionsund wachstumsfreundliches Steuersystem einmal mehr nahezu deckungsgleich.
3. Epilog
Mit einer Auflage von insgesamt über 110 000
Exemplaren, mit einer eigenen Fernsehreihe
in BR Alpha und einer Hörbuch-Version mit
­einer Laufzeit von 15 : 30 Stunden gehört Ist
Deutschland noch zu retten? zu den erfolgreichsten deutschsprachigen Wirtschaftsbüchern überhaupt. Der Einfluss auf wissenschaftliche Mitstreiter, etwa in den Beiräten
oder im Sachverständigenrat, war enorm. Auch
in der Wirtschaftspolitik hat die damalige Reformagenda tiefe Spuren hinterlassen, indem
die Hartz-Reformen und die Agenda 2010 zentrale Ideen von HWS aufgenommen haben.
Von derartigen Erfolgen kann man als Ökonom nur träumen.
Ist Deutschland noch zu retten? Hans-Werner Sinn und die arbeits- und sozialpolitischen Reformen
siechende deutsche Wirtschaft. Zu hohe Lohnkosten, ein rigider Kündigungsschutz, vor allem
aber Fehlanreize im Lohnersatzsystem des deutschen Sozialstaats werden als Hauptgründe für
die zu Beginn des Jahrtausends dramatisch hohe
und zunehmende Arbeitslosigkeit in Deutschland identifiziert. Als Heilmittel werden zum
­einen die Forderung nach einer Senkung der
Stundenlöhne über eine Verlängerung der Arbeitszeiten (ohne Lohnausgleich) sowie über flexible Öffnungsklauseln in den Tarifverträgen
empfohlen. Derartige Öffnungs­klauseln sind
mittlerweile fester Bestandteil nahezu aller Tarifverträge. Zum anderen hat das ifo Institut als
Reaktion auf die hohe Arbeitslosigkeit speziell
unter Niedrigqualifizierten mit der »Aktivie­
renden Sozialhilfe« schon 2002 ein innovatives
­Reformkonzept vorgelegt. Sowohl der Wissenschaftliche Beirat beim Bundesministerium für
Wirtschaft als auch der Sachverständigenrat –
und damit zwei der wichtigsten Gremien des institutionalisierten wirtschaftswissenschaftlichen
Sachverstands in Deutschland – haben diesen
Vorschlag mit einigen Modifikationen übernommen und ergänzt. Die grundlegende Idee ist
dabei ebenso einfach wie bestechend : Produk­
tivitätsbedingt niedrige Löhne werden durch
staatliche Lohnzuschüsse aufgestockt, so dass
gleichzeitig mehr Arbeitsplätze im Niedrigqualifikationssegment angeboten und Anreize zur
Annahme einer entsprechenden Beschäftigung
ausgeübt werden. Im Kern wurden diese Ideen
mit der Agenda 2010 und der Hartz-IV-Gesetzgebung auch von der Politik aufgegriffen, allerdings nicht vollständig umgesetzt.
Ebenfalls in der Schnittmenge von Arbeitsmarkt- und Sozialpolitik liegt der im Vorfeld
der EU-Osterweiterung von HWS und Mit­
arbeitern des ifo Instituts ausgearbeitete Vorschlag einer »selektiv verzögerten Integration«
von Zuwandernden aus EU-Ländern in die sozialen Sicherungssysteme der Gastländer. Da-
97
Dieter Hundt
AUF DEM ERREICHTEN NICHT AUSRUHEN,
SONDERN HERAUSFORDERUNGEN ANNEHMEN
Ist Deutschland noch zu retten?
Dieter Hundt war von 1996 bis
2013 Präsident der Bundesvereinigung der Deutschen Arbeitgeberverbände. Seit Januar 2008 amtiert
er als Präsident der Deutschen
Handelskammer in Österreich.
2010 wurde ihm von der Landes­
regierung Baden-Württemberg
der Ehrentitel Professor verliehen.
98
Es ist über zehn Jahre her : »Kranker Mann
­Europas« – so urteilte das Ausland damals über
Deutschland. Verkrustete Strukturen am Arbeitsmarkt, starres Besitzstandsdenken sowie
zu hohe Steuern und Sozialabgaben produ­
zierten wirtschaftlichen und gesellschaftlichen
Stillstand und steigende Arbeitslosigkeit. Die
wirtschaftliche Misere war auch eine soziale
Misere. Über 5 Millionen Menschen hatten
keine Arbeit – Tendenz steigend.
An grundlegenden arbeits- und sozialpolitischen Reformen führte daher kein Weg vorbei.
Diese verlangten allerdings Mut und Entschlossenheit. Dafür stand vor allem die Agenda 2010. Sie brachte die Wende zum Besseren.
Besonders bedeutsam ist aus heutiger Sicht
die damit geschaffene Flexibilität am Arbeitsmarkt – gepaart mit funktionierender Sozialpartnerschaft und verantwortungsvoller Tarifpolitik. Das ist gelungen und hat Wirtschaft
und Gesellschaft in Deutschland neu belebt.
Die Erfolge kamen mit Zeitverzögerung, sie
sind aber längst deutlich messbar und vorzeigbar : Noch nie konnten so viele Menschen in
Deutschland einer Erwerbstätigkeit nachgehen
wie heute. In kaum einem anderen Land Europas sind anteilig so viele exzellent qualifizierte
Frauen beschäftigt wie in Deutschland. Die
­Beschäftigung Älterer ist seit 2000 von 37 %
auf 66 % gestiegen. Heute sind fast 4 Millionen
Menschen mehr sozialversicherungspflichtig
tätig als 2005. Die Zahl der Arbeitslosen ist in
diesem Zeitraum um über ein Drittel gesunken,
die der Langzeitarbeitslosen hat sich halbiert.
Früher ging die Entwicklung in die entgegengesetzte Richtung. Die gesamte Nachkriegsgeschichte unseres Landes war geprägt durch
eine ständig steigende Sockelarbeitslosigkeit.
Zu den Schwächsten einer Gesellschaft zählen die dauerhaft von Erwerbsarbeit Ausgeschlossenen. Diese Gruppe wurde mit jedem
Konjunkturzyklus größer. Erst die Agenda 2010
brach diesen unter sozialen Gesichtspunkten
skandalösen Trend und kehrte ihn um : Lang-
Professor Sinn hat für die Agenda 2010 intensiv
geworben und sie mit seiner exzellenten ökonomischen Kompetenz immer eng begleitet.
Das rechne ich ihm hoch an.
Unser Land darf sich jedoch nicht auf dem
Erreichten ausruhen, sondern muss sich weiterhin ständig veränderten Herausforderungen
stellen. Es bleibt viel zu tun – sei es bei der weiteren Verbesserung der Arbeitsmarktchancen
von Geringqualifizierten und Langzeitarbeitslosen, einer zeitgemäßen Gestaltung der Arbeitswelt, einer weiterhin dringend notwendigen Entbürokratisierung oder der Senkung der
Arbeitskosten. Nicht minder bedeutsam ist die
Bekämpfung des Fachkräftemangels, der uns
vor wachsende Aufgaben stellt. Ihn nicht zu
meistern hieße, hinter die Zeit vor der Agenda
2010 zurückzufallen.
Deutschlands Kapital sind seine Fachkräfte.
Umso mehr sehe ich mit Sorge, dass die Politik
in der jüngsten Vergangenheit Entscheidungen
getroffen hat, welche die Erfolge der Vergangenheit und die Lage auf dem Arbeitsmarkt gefährden. Dazu zählt vor allem die Einführung
des gesetzlichen Mindestlohns oder die abschlagsfreie Rente mit 63. Professor Hans-Werner Sinn hat auch dies zu Recht moniert und
immer wieder vor Risiken für den Arbeitsmarkt gewarnt. Wir dürfen die derzeit erfreu­
liche wirtschaftliche Lage in Deutschland nicht
als gottgegeben betrachten, sondern müssen
auf der Hut sein.
Wir haben die Pflicht, über den Tellerrand
zu schauen, an kommende Generationen zu
denken und Sorge zu tragen, dass wir unseren
mühsam erarbeiteten Status nicht nur be­
wahren, sondern unsere Wettbewerbsfähigkeit
weiter und stetig steigern.
Die Politik ist gut beraten, verstärkt in diesem »Sinn« zu handeln.
Ist Deutschland noch zu retten? Hans-Werner Sinn und die arbeits- und sozialpolitischen Reformen
zeitarbeitslose sowie nicht oder nur Gering­
qualifizierte haben seitdem deutlich bessere
Chancen auf einen Einstieg in Arbeit und notwendige Qualifizierungsförderung.
Unternehmen müssen sich heute blitzschnell
auf plötzlich veränderte Marktgegebenheiten
einstellen, wenn sie sich im harten Wettbewerb
erfolgreich behaupten wollen. Für diese Anpassungsfähigkeit brauchen sie flexible Beschäftigungsformen – nicht massenhaft, aber in angemessenem Umfang. Auch das erkannten die
Reformer der Agenda 2010. Zeitarbeit, Teilzeit,
Befristungen, Minijobs wurden zu Recht bürokratisch entrümpelt. Nachweislich falsch ist es,
wenn behauptet wird, sie verdrängten in großem Stil Normalarbeitsverhältnisse. Im Ge­
genteil : Gerade die flexiblen Erwerbsformen
schaffen gesamtwirtschaftlich zusätzliche Beschäftigung.
Wer den Eindruck erweckt, das Aufbrechen
verkrusteter Strukturen produziere vor allem
Verlierer, sendet fatalerweise das falsche Signal
gerade in die Länder Europas, die heute gegen
hohe Arbeitslosigkeit ankämpfen. Dies ist verantwortungslos gegenüber all den Ländern, die
zu Reformen bereit sind und diese auch dringend benötigen. Die Erfahrung des letzten
Jahrzehnts in Deutschland beweist : Der Turn­
around ist zu schaffen, auch wenn Reformen
zweifelsohne teilweise schmerzhaft sind. Dafür
steht die Agenda 2010, die nicht kopierbar ist,
aber anderen Ländern Mut machen kann, den
eigenen Weg zu notwendigen Strukturreformen beherzt zu gehen.
Natürlich meldeten sich bei der Einführung
der Agenda 2010 neben Befürwortern auch viele Kritiker zu Wort. Professor Hans-Werner
Sinn gehört zu denjenigen, die frühzeitig die
Notwendigkeit für Veränderungen erkannten
und nicht müde wurden, diese einzufordern.
99
Peter Hartz
DIE LANGZEIT- UND JUGENDARBEITSLOSIGKEIT
IST IN DER SOZIALEN MARKT WIRTSCHAFT
LÖSBAR
Ist Deutschland noch zu retten?
Peter Hartz, Diplom-Betriebswirt,
war Vorstand und Arbeitsdirektor
im Volkswagenkonzern und in der
saarländischen Stahlindustrie. Er
war Vorsitzender der Regierungskommission »Moderne Dienstleistungen am Arbeitsmarkt« und ist
Stifter und Gründer der SHS Foundation für regionale Entwicklungen.
100
Hans-Werner Sinn schrieb in einem Beitrag
Wie Deutschland zu retten wäre im Oktober
2005 :
»Jeder muss nach seinen Fähigkeiten arbeiten,
wenn er ein auskömmliches Einkommen erhalten will, und wer dabei nicht genug verdient, der
bekommt vom Staat noch etwas hinzu. Das ist
die neue Devise !«
So kann man eine der Leitideen der Arbeitsmarktreform unter Bundeskanzler Gerhard
Schröder erklären : Leistung auslösen – Sicherheit einlösen. Arbeit bedeutet für jeden Menschen, gebraucht zu werden, seine Würde und
seine Selbstachtung nicht zu verlieren. Jeder
Mensch braucht eine Perspektive für sich, seine
Arbeit, sein Einkommen. Besteht diese Per­
spektive oder lässt sie sich entwickeln und gestalten, so wird man auch mit der temporären
Zumutbarkeit neuer Entwicklungen ganz anders umgehen.
Die Zumutbarkeit für die Aufnahme einer
neuen Arbeit wurde in der Arbeitsmarktreform
neu definiert und verschärft. Dies ist eine der
Kernideen der Reform : Was ist für einen Arbeitslosen zumutbar ? Die Reformkommission
hat dies nach geographischen, materiellen,
funktionalen und sozialen Kriterien neu formuliert. Zum Beispiel : Kann einem jungen
­alleinstehenden Arbeitslosen hinsichtlich der
Mobilität mehr zugemutet werden als einem
Familienvater mit Kindern und einer kranken
Frau ?
In der neuen Zumutbarkeit ist ein Paradigmenwechsel enthalten. Bisher musste die Arbeitsagentur beweisen, dass die Arbeit für den
Arbeitslosen zumutbar war. Nun gilt, dass der
Arbeitslose beweisen muss, warum die abgelehnte Beschäftigung für ihn unzumutbar ist.
Minijobs sind zumutbar und ein effizientes
Flexibilisierungsinstrument der Wirtschaft.
Ihre Einkommensmöglichkeiten sollten atmen
mit der Absicherung einer menschenwürdigen Grundsicherung durch das Arbeitslosengeld II.
style-Entwicklung für jedes (Sinus-)Milieu
der Bevölkerung in Beschäftigung münden
können. Rund 150 neue und entwickelbare
Dienstleistungen wurden in die sieben folgenden Jobfamilien : Familien-Dienste, Nachhilfe,
Zu Hause betreut, Gesundheit + Wohlgefühl,
­Natur  +  Garten, Kleinunternehmer-Dienste,
Handgemacht, aggregiert. Sie bilden die Basis
für eine Markterhebung im Umkreis des Lebensmittelpunktes der jobsuchenden Talente.
Neue zusätzliche Arbeitsplätze entstehen –
marktwirtschaftlich organisiert. Wenn ein Arbeitsloser sich selbst zum Projekt macht und
die Selbständigkeit wagt – ein Minipreneur
wird –, sollte er in der Startphase befristet in
einer Staffelung unterstützt werden. Mit dem
Minijob und als Aufstocker beginnt er und
baut ihn aus zum Vollzeitjob mit Sozialver­
sicherung. Die volkswirtschaftlich vertretbare
Grenze der Förderung könnte bis zur Höhe des
»Aktiv-Passiv-Tausches« der Kosten seiner Arbeitslosigkeit und des ALG II gehen.
Dank und Anerkennung gebühren Professor
Hans-Werner Sinn. Ein neuer Horizont tut sich
für ihn auf. Die Aufhebung der Altersgrenze
und ein neu entwickeltes Arbeitszeitmodell für
Longinos/Longinas. Die Hochaltrigen beginnen als Longino-Junior von 70 bis 75 Jahren,
als Longino-Klassik von 76 bis 85 Jahren, als
Longino-Senior von 86 bis 95 Jahren open end,
das hinzugewonnene Lebensalter wertschöpfend oder altruistisch mit ihren Talenten neu
zu ­leben. Schöne Perspektiven für ihn heute als
Anwärter.
Ist Deutschland noch zu retten? Hans-Werner Sinn und die arbeits- und sozialpolitischen Reformen
Übrigens hatte die Kommission der Arbeitsmarktreform in diesem Zusammenhang schon
2002 einen durchschnittlichen Regelsatz in
Höhe von 511,00 Euro vorgeschlagen, was dem
damaligen Durchschnitt der Arbeitslosenhilfe
entsprach.
Seit der Arbeitsmarktreform sind nun mehr
als zehn Jahre vergangen. Wissenschaft und
Forschung haben sich gottlob stürmisch weiterentwickelt. Zwei neue Tools entstanden bei
den Neuentwicklungen, die besonders viel­
versprechend sind : die Talentdiagnostik und
der Beschäftigungsradar.
Heute ist es mit Hilfe von Big Data und einer
entwickelten Software möglich, die Talente jedes Menschen – und jeder Mensch hat Talente – aufzuspüren und in der Gesamtheit seiner
Erfahrungen zu erfassen, was er damit noch
machen kann, auch bei gebrochenen Lebensläufen. Dies ist besonders hilfreich für Langzeitarbeitslose und jugendliche Arbeitslose. Die
Talentdiagnostik ermöglicht für diese Gruppen, in einem Matching-System zu erfahren, in
welchem Ranking sie für einzelne Tätigkeiten
geeignet sind – eine wirksame Unterstützung
bei der Neuorientierung für eine Beschäftigung, insbesondere wenn bei der Dauer der
Arbeitslosigkeit eine »erlernte Unsicherheit«
durch Verhaltensänderung eingetreten ist.
Wenn Sie die Talente kennen, wo ist nun der
neue Job ? Wo entsteht er ? Mit Hilfe des neu
entwickelten Beschäftigungsradars können wir
nun bis auf Straßenebene eines Ortsteils herausfinden und messen, welche neuen Bedürfnisse und Dienstleistungen aufgrund der Life-
101
Peter Birch Sørensen
HANS-WERNER SINNS BLAUPAUSE
FÜR EINE ARBEITSMARKTREFORM UND
DIE SKANDINAVISCHE ALTERNATIVE
Ist Deutschland noch zu retten?
Peter Birch Sørensen ist Professor für Volkswirtschaftslehre an
der Universität Kopenhagen. Er
war Vorsitzender des dänischen
Sachverständigenrates, Chefvolkswirt der dänischen Zentralbank
und diente in Regierungsausschüssen in Skandinavien. Zurzeit
sitzt er dem dänischen Rat für
Klimapolitik vor.
102
In seinem Bestseller Ist Deutschland noch zu
retten? beschreibt Hans-Werner Sinn vier
Wege, die ein Land gehen kann, um dem internationalen Niedriglohnwettbewerb zu entgegnen. Erstens, den deutsch-französischen Weg
mit starken Gewerkschaften und hohen Sozialleistungen, die die Lohnverteilung stauchen
und Arbeitsplätze vernichten, die sonst vorhanden wären. Zweitens, den britischen von
Thatcher mit einer vollständigen Liberalisierung des Arbeitsmarktes, einer Bekämpfung
der Gewerkschaften, einer höheren Lohnspreizung sowie einem Abbau des Sozialstaats. Drittens, den skandinavischen Weg einer Sozialpartnerschaft mit den Gewerkschaften, die die
Arbeitsnachfrage hoch hält, indem denjenigen
Arbeitsplätze im öffentlichen Dienst angeboten
werden, die keine Beschäftigung in der Privatwirtschaft finden. Viertens, den amerikanischen Weg, einen freien Arbeitsmarkt durch
Lohnzuschüsse zu ergänzen.
Sinn bemerkte, dass das deutsch-französi-
sche Modell bis dahin insofern erfolgreich war,
als es Geringqualifizierten ein gewisses Lohnniveau erhielt, jedoch zu hoher Arbeitslosigkeit
führte. (Er schrieb sein Buch, bevor die HartzReformen ihre Wirkung entfalteten.) Das britische und das amerikanische Modell waren zwar
erfolgreicher bei der Schaffung neuer Arbeitsplätze. Sie produzierten aber auch eine große
Gruppe von Erwerbsarmen, die trotz Lohnzuschüssen aufgrund ihrer niedrigen Löhne kein
annehmbares Leben führen können. Das skandinavische Modell vermeidet Armut und hohe
Arbeitslosigkeit, aber nach Sinns Ansicht nur,
weil eine große Zahl wenig produktiver Arbeitsplätze im öffentlichen Dienst geschaffen
wurde, die immer schwerer zu finanzieren ist.
Vor diesem Hintergrund schlug Sinn eine
Reform des Arbeitsmarktes nach amerikanischem Vorbild vor, aber mit großzügigeren
Lohnzuschüssen, um den kontinentaleuropäischen Präferenzen gerecht zu werden. Er empfahl eine Schwächung der Gewerkschaftsmacht
dass dies unter der Annahme von Skalenvor­
teilen und positiven Externalitäten Effizienz
fördern kann.
Zugegeben, eine Stauchung der Lohnver­
teilung macht es Geringqualifizierten schwerer,
einen Job zu finden, und verringert die private
Rendite auf Weiterbildung. Aber durch die erhöhten Qualifikationsanforderungen der Unternehmen und die Gefahr der Arbeitslosigkeit
steigern relativ hohe Löhne auch den Anreiz,
sich die geforderten Fähigkeiten anzueignen,
die nötig sind, um einen Arbeitsplatz zu finden.
Die skandinavischen Wohlfahrtsstaaten unterstützen daher die Erwachsenenbildung und die
Weiterbildung Geringqualifizierter sehr. Es ist
ein Fakt, dass die Arbeitslosigkeit unter geringqualifizierten Skandinaviern im internatio­
nalen Vergleich nicht hoch ist.
Hans-Werner Sinn behauptet, dass die offi­
ziellen Statistiken für das Bruttoinlandsprodukt pro Kopf die relativ hohe Prosperität der
skandinavischen Länder überzeichnen, da in
anderen Ländern ein größerer Anteil von Aktivitäten wie der Kinderbetreuung und Altenpflege im inoffiziellen Haushaltssektor erbracht
werden. Jedoch sind die staatlichen Einrichtungen für Kinder und ältere Menschen ein
wichtiger Faktor für die hohe Frauenerwerbsquote in Skandinavien, die eine breite steuer­
liche Basis sicherstellt und die Finanzierung
des Wohlfahrtsstaates ermöglicht.
Das skandinavische Sozialmodell ist bei weitem nicht perfekt. Jedoch hat es bis heute einen
hohen Beschäftigungsstand und eine geringe
Ungleichheit ermöglicht. Beides ist verant­
wortungsvollem gewerkschaftlichem Verhalten, verschiedenen staatlichen Mechanismen
der Risikoteilung sowie Arbeitsmarktreformen
im Sinne von Hans-Werner Sinn zu verdanken.
Skandinavien ist ein Stück in die von ihm vorgeschlagene Richtung gegangen, aber ohne das
Kind mit dem Bade auszuschütten.
Ist Deutschland noch zu retten? Hans-Werner Sinn und die arbeits- und sozialpolitischen Reformen
durch eine dezentralere Lohnfindung und eine
Lockerung des Kündigungsschutzes. Ein wei­
teres Element seines Reformpakets war das
Konzept des ifo Instituts für eine Aktivierende
Sozialhilfe. Sie beinhaltete eine Kürzung von
Sozialleistungen in Kombination mit einem
Lohnzuschuss für Geringverdiener, die einen
Job finden.
Ich bezweifle nicht, dass eine solche Arbeitsmarktreform in dem Sinne erfolgreich sein
könnte, dass sie neue Arbeitsplätze für Geringqualifizierte schaffen würde. Ich fürchte
aber, dass sie mehr Härten mit sich bringen
würde für jene, die weiterhin arbeitslos blieben. Und obgleich das skandinavische Modell
seine Schwächen hat, glaube ich, dass Sinns Beurteilung diesbezüglich zu negativ ist.
Erstens wurde die anhaltend hohe Beschäf­
tigung in Skandinavien in der jüngsten Phase
der Globalisierung nicht durch eine Ausdehnung des öffentlichen Sektors erreicht. Seit 1980
ist der Anteil der Staatsbediensteten an der Gesamtbeschäftigung nahezu konstant.
Zweitens ist der öffentliche Sektor kein »Arbeitgeber der letzten Instanz« für Geringqualifizierte. Der Anteil der Staatsbediensteten mit
höherer Bildung ist deutlich größer als irgendwo sonst in der OECD. Es sind überwiegend
Fachkräfte wie Krankenschwestern und Lehrer.
Drittens haben die starken Gewerkschaftsbündnisse ein hohes Maß an Koordination
bei den Tarifverträgen ermöglicht, was einer
Lohnzurückhaltung in Krisenzeiten Vorschub
geleistet hat.
Viertens kann die Stauchung der Lohnverteilung infolge großer Gewerkschaftsmacht
dazu beitragen, dass hochproduktive Unternehmen zulasten geringproduktiver expandieren, da innerhalb der ersten Gruppe die Löhne
unter der Arbeitsproduktivität liegen und innerhalb der zweiten darüber. Der verstorbene
schwedische Ökonom Jonas Agell hat gezeigt,
103
Alfred Gaffal
MIT »SINN« UND VERSTAND:
LEIDENSCHAFTLICHER VERTEIDIGER
DER SOZIALEN MARKT WIRTSCHAFT
Ist Deutschland noch zu retten?
Alfred Gaffal ist Präsident der
vbw – Vereinigung der Bayerischen
Wirtschaft e. V. sowie der bayerischen Metall- und Elektroarbeit­
geberverbände bayme vbm. Er
war viele Jahre lang Vorsitzender
der Geschäftsführung der Wolf
GmbH. Seit 2011 steht er dem Aufsichtsrat des Unternehmens vor.
104
Bayern, Deutschland und Europa gehen durch
bewegte Zeiten. Unser erfolgreiches System der
Sozialen Marktwirtschaft wird mehr und mehr
in Frage gestellt. Diese tiefgreifenden Prozesse
haben Auswirkungen auf unsere gesamte Gesellschaft – spürbar in jeder Kommune genauso
wie in der gesamten Europäischen Union, spürbar in jedem mittelständischen Unternehmen
genauso wie bei einem »Global Player«. Positive
wirtschaftliche Entwicklungen hängen in hohem Maße von Planungssicherheit und Vertrauen in die Handlungsfähigkeit der Politik ab.
Reformen des Gemeinwesens und der Arbeitswelt sind angesichts des digitalen und gesellschaftlichen Wandels in den Industrienationen
unausweichlich und müssen kraftvoll umgesetzt werden. Die zunehmende Emotionalisierung der dazu notwendigen öffentlichen De­
batten behindert oder verhindert oft wich­tige
Entscheidungen und zukunftsweisende Weichenstellungen. Sachliche Inhalte und fundierte
Argumente treten davor oft in den Hintergrund.
Gerade deshalb ist Hans-Werner Sinn ein
herausragender Wissenschaftler, der mit dem
ifo Institut einen großen Beitrag leistet, ökonomische Debatten zielführend zu versachlichen.
Sein jahrzehntelanges akademisches Wirken in
den Wirtschaftswissenschaften, seine exzellente Arbeit an der Spitze des ifo Instituts und seine persönliche Integrität haben ihn zu einer
anerkannten Persönlichkeit über politische
und gesellschaftliche Grenzen hinweg werden
lassen.
Das Hauptaugenmerk der vbw – Vereinigung
der Bayerischen Wirtschaft e. V. liegt auf der
Wahrung der Wettbewerbsfähigkeit der Unter­
nehmen in Bayern. Gerade vor dem Hintergrund
der jüngsten politischen Entscheidungen, die
diese Konkurrenzfähigkeit beeinträchtigen, war
und ist es wohltuend, in Hans-Werner Sinn
­einen der einflussreichsten Wirtschafts­exper­
ten des Landes zu wesentlichen Fragen der
Ausrichtung und Gestaltung der Wirtschaftspolitik an unserer Seite zu wissen.
haltig. Seine Forderung, die Löhne an der realen Nachfrage nach einer bestimmten Arbeit
zu orientieren, entspricht dabei einmal mehr
der Ansicht der vbw.
Nicht nur Sinns Beiträge zu aktuellen poli­
tischen Entwicklungen treffen nach Überzeugung der vbw ins Schwarze, sondern auch seine
begründeten Warnungen vor den Folgen des
demographischen Wandels. Politik reagiere
meist erst, wenn das Kind schon in den Brunnen gefallen ist, so Sinn. Recht hat er : Die Bevölkerungsentwicklung in der Bundesrepublik
stellt die Unternehmen zunehmend vor Probleme. Nicht zuletzt dank seiner Warnung hat
die Politik das Thema in der letzten Dekade auf
die politische Agenda gesetzt. Langfristig wird
es elementarer arbeits-, bildungs- und sozialpolitischer Veränderungen bedürfen, um den
Anforderungen der Arbeitswelt im 21. Jahrhundert gerecht zu werden und den Wohlstand
der Nation zu sichern. Dabei werden auch die
Digitalisierung unserer Lebens- und Arbeitswelt sowie die Frage, wie wir unser Zusammenleben innerhalb der Europäischen Union weiter gestalten, eine zentrale Rolle spielen.
Hans-Werner Sinn versteht es wie kein Zweiter, den Finger in die Wunde zu legen. Seine
pointierte Meinung polarisiert und hat bisher
stets Anstoß zur Diskussion in Wirtschaft, Politik und Gesellschaft gegeben – Mission erfüllt ! Die vbw hat in ihm stets einen Streiter
für das gemeinsame Anliegen gefunden : die erfolgreiche Gestaltung unseres Gemeinwesens
auf Basis der Sozialen Marktwirtschaft.
In diesem Sinne wünschen wir Hans-Werner Sinn für die Zukunft nur das Beste, in der
Überzeugung, dass er weiter Sachwalter der
Sozialen Marktwirtschaft bleibt. Seinem Nachfolger, Clemens Fuest, und dem ifo Institut
wünschen wir, ihren großen ökonomischen
Sachverstand gewinnbringend für unsere globale Wirtschaft einzubringen.
Ist Deutschland noch zu retten? Hans-Werner Sinn und die arbeits- und sozialpolitischen Reformen
Die große Koalition hat seit Beginn ihrer
­ egislaturperiode vor rund zwei Jahren ReforL
men angestoßen, die das Wirtschaftswachstum
und damit den Wohlstand aller im Lande bedrohen.
Die Rente mit 63 entzieht den Unternehmen
Fachkräfte, ohne an anderer Stelle für Ausgleich zu sorgen. Das niedrigere Renteneintrittsalter erhöht den Mangel an gut ausgebildeten Arbeitnehmern drastisch und vollkommen
ohne Not. Hans-Werner Sinn schaltete sich
hier mit zukunftsgerichteten Vorschlägen ein,
denen wir uns als Vertreter der bayerischen
Wirtschaft vorbehaltslos anschließen können :
Eine Flexibilisierung des Rentenalters würde
dem einzelnen Arbeitnehmer die Selbstverantwortung zugestehen, die andere Bereiche des
Lebens ohnehin einfordern. Zudem ließe sich
eine übermäßige Belastung der Staatskasse verhindern, und es würde ein Beitrag zur Fachkräftesicherung geleistet.
Die gleiche treffsichere Analyse hat Sinn in
der emotional geführten Diskussion um die
Einführung eines flächendeckenden gesetzlichen Mindestlohns geliefert : Auch hier wurde
ohne Rücksicht auf realwirtschaftliche Umstände ein Wahlversprechen eingelöst. Verlierer
dieser Neuregelung sind insbesondere Langzeitarbeitslose und Geringqualifizierte. Für sie
erhöht der Mindestlohn die Hürden für den
Eintritt in den Arbeitsmarkt, statt sie abzusenken. Professor Sinn verweist zudem treffend
auf die gesamtgesellschaftlichen Probleme, die
sich durch den Mindestlohn ergeben : Das
künstliche Anheben des Lohnniveaus führt
dazu, dass die mühsam aufgebaute internationale Wettbewerbsfähigkeit Deutschlands wieder sinkt. Es ist gerade das politisch initiierte
Anschieben von wirtschaftlichen Prozessen,
was Sinns zutiefst marktwirtschaftlicher Überzeugung entgegensteht. Zu Recht vertritt er
diese Position auch gegenüber Kritikern nach-
105
Joachim Möller
REIBEFLÄCHEN: HANS-WERNER SINN
UND DIE UNVOLLKOMMENHEIT
DES ARBEITSMARKTES
Ist Deutschland noch zu retten?
Joachim Möller ist Direktor des
Instituts für Arbeitsmarkt- und
Berufsforschung (IAB), der Forschungseinrichtung der Bundesagentur für Arbeit in Nürnberg,
außerdem hat er den Lehrstuhl
für Volkswirtschaftslehre an der
Universität Regensburg inne.
106
Die Ökonomie als Wissenschaft kennt nicht
die eine Wahrheit. Ökonomen sind Anwälte
von Ideen. Und Hans-Werner Sinn ist zweifellos ein Staranwalt. Seine Plädoyers zwingen zur
Präzisierung des eigenen Arguments, insbeson­
dere wenn es im Widerspruch zu seinen steht.
Das ökonomische Prinzip und die Selbst­
regulation des Marktsystems über Wettbewerb,
Preis- und Lohnmechanismen sind faszinierende Ideen, die seit 200 Jahren Ökonomen in
ihren Bann ziehen. Dieses Prinzip bildet die
Grundlage unseres Wirtschaftssystems und
steht letztlich für seinen Erfolg. Bei den apotheotischen Ansätzen wird den wirtschaftlich
Handelnden jedoch ein sehr weitgehendes Optimierungsverhalten unterstellt. Nutzen und
Gewinne werden nicht nur momentan maximiert, sondern intertemporal. Dies bringt in der
Theorie die beste aller Wirtschaftswelten hervor.
Die real existierende Marktwirtschaft führt
jedoch keineswegs immer und überall zu Ef­
fizienz und Leistungsgerechtigkeit, und sie
trägt – wie wir in der Finanzkrise 2008/2009
erlebt haben – eine Krisentendenz in sich. Die
Hochglanz-Modellwelt steht oft allzu sehr im
Kontrast zur rauen Wirklichkeit, und die Logik
der ungeregelten Marktmechanik ist vielfach
alles andere als eine gesellschaftlich optimale
Lösung.
Ein Markt mit besonders ausgeprägten Unvollkommenheiten ist der Arbeitsmarkt. Hier
bestehen hohe Transaktionskosten und Informationsdefizite. Kann man dennoch davon
ausgehen, dass er grundsätzlich wie ein Wettbe­
­werbsmarkt funktioniert ? Hans-Werner Sinns
Sicht des Arbeitsmarktes unterstellt dies, und
hier bieten sich meine größten Reibe­flächen
mit ihm. Die Beschäftigung wird nach seiner
Denkweise so angepasst, dass der Lohn dem
Wertgrenzprodukt entspricht. Wenn zum Beispiel durch Gewerkschaftsmacht oder durch
­einen Mindestlohn zu hohe Löhne festgelegt
werden, verlieren die am wenigsten Produk­
tiven ihren Arbeitsplatz. Konsequenterweise
deutlichen Beschäftigungseffekt gegeben. Herz­
stück der ursprünglichen Hartz-Reformen war
es, alle Arbeitslosen billig an die Privatwirtschaft zu verleihen.« Dies wirkt aus heutiger
Sicht eher wie eine bizarre Idee : Ein durch öffentliche Institutionen betriebenes Leiharbeitsgeschäft mit der Privatwirtschaft zu Niedriglöhnen (»30 % unter Tarif«) als Motor des
Arbeitsmarktentwicklung. Tatsache ist, dass es
ganz ohne dieses »Herzstück« der Reformen
im Zeitraum 2005 bis 2008 zu einem Abbau der
Arbeitslosigkeit um 40 % kam.
Vieles, was Hans-Werner Sinn und sein ifo
Institut entwickelt haben, ist bedenkenswert.
So das Konzept einer Aktivierenden Sozialhilfe,
das Elemente einer negativen Einkommensteuer aufnimmt. In Kombination mit einem
kompromisslosen Workfare-Ansatz ist der
Vorschlag allerdings aus meiner Sicht sozial­
politisch indiskutabel.
Ein Mindestlohn ist Sinn zufolge »des Teufels« – durchaus konsequent, wenn der Arbeitsmarkt als Wettbewerbsmarkt gesehen wird.
Tatsächlich führt diese Sicht aber zu einer
­eklatanten Fehleinschätzung seiner Beschäftigungswirkung. Die Einführung des flächen­
deckenden Mindestlohns in Deutschland hat
sich bekanntlich weitgehend geräuschlos vollzogen, von einem massiven Beschäftigungs­
einbruch kann keine Rede sein.
Hegel hat über die kantische Philosophie gesagt, sie habe zu große Zärtlichkeit für die Welt
der Dinge und so den Widerspruch von ihr entfernt. Vielleicht hat Hans-Werner Sinn zu große Zärtlichkeit für die Welt des Marktes und so
die Unvollkommenheiten von ihr entfernt.
Er ist ein herausragender Ökonom und glänzender Rhetoriker, der bisweilen auch provoziert und polarisiert. Seine arbeitsmarktpoli­
tischen Positionen sind für mich jedoch wenig
überzeugend.
Ist Deutschland noch zu retten? Hans-Werner Sinn und die arbeits- und sozialpolitischen Reformen
lautet Hans-Werner Sinns arbeitsmarktpolitisches Mantra, dass zu hohe Löhne und zu geringe Lohnspreizung die Wurzel jeder Unterbeschäftigungsmisere sind. Das beste Rezept
gegen Arbeitslosigkeit sind Lohnsenkungen.
Ein Mindestlohn ist kontraproduktiv, weil er es
unmöglich macht, Personen mit niedriger Produktivität rentabel zu beschäftigen, und deshalb hohe Jobverluste nach sich zieht.
In Deutschland setzte allerdings bereits Mitte der 1990er Jahre eine Lohnmoderation ein,
und die Lohnspreizung nahm so stark wie in
keinem anderen OECD-Land zu. Dennoch
wollten sich Beschäftigungserfolge nicht einstellen. Waren die zum Teil einschneidenden
Reallohneinbußen für viele Arbeitnehmer
nicht genug ? Auch Jahre nach der Trendwende
in der deutschen Lohnpolitik forderte HansWerner Sinn weitere Lohnsenkungen und plädierte für eine noch stärkere Ausweitung des
Niedriglohnsektors, dessen soziale Akzeptanz
durch einen staatlichen Lohnzuschuss erhöht
werden sollte. Die Möglichkeit, dass auch
Marktmacht auf der Unternehmensseite und
andere Unvollkommenheiten eine Rolle spielen könnten, wird in dieser Sichtweise völlig
ausgeblendet. Wenn aber der Arbeitsmarkt tatsächlich wie ein Wettbewerbsmarkt funktionierte, hätte es aufgrund der Lohnentwicklung
schon ab Mitte der 1990er Jahre einen nennenswerten Beschäftigungszuwachs geben müssen.
Interessanterweise gab es diesen aber erst nach
den Arbeitsmarktreformen zehn Jahre später.
Obwohl Hans-Werner Sinn für sich geistige
Urheberschaft bei zentralen Elementen der
Hartz-Reformen reklamiert, zweifelt er in einem Interview von 2005 an deren Beschäftigungserfolg. Ihm zufolge liegt dies am Fehlen
einer zunächst vorgesehenen Komponente des
Reformpakets : »Wenn das gemacht worden
wäre, was Hartz wollte, dann hätte es einen
107
Matthias Wissmann
WETTBEWERBSFÄHIGKEIT –
DER SCHLÜSSEL ZUM ERFOLG
Ist Deutschland noch zu retten?
Matthias Wissmann ist Präsident
des Verbands der Automobil­
industrie und BDI-Vizepräsident.
Er studierte Jura, VWL und Politik.
1976 – 2007 war er Mitglied des
Deutschen Bundestages. In den
1990er Jahren war er zunächst
Bundesminister für Forschung
und Technologie und dann
­Bundesminister für Verkehr.
108
Arbeitsplätze fallen nicht vom Himmel. Ebenso wenig können Beschäftigung und Wachstum einfach von staatlicher Ebene verordnet
werden. Solche planwirtschaftlichen Konzepte
haben sich stets als illusorisch erwiesen. Vielmehr gilt : Einzig und allein Unternehmen, die
sich erfolgreich im internationalen Wettbewerb
behaupten können, sind in der Lage, dauerhaft
ein hohes Beschäftigungsniveau zu gewähr­
leisten. Diese Betriebe, gerade auch solche des
Mittelstands, erwirtschaften erst die finanziellen Mittel, die die öffentliche Hand benötigt,
um ein tragfähiges soziales Sicherungsnetz aufspannen zu können.
Während diese Kausalität in verteilungspolitischen Diskussionen allzu gern vernachlässigt
wird, ist sie für Hans-Werner Sinn der Ausgangspunkt seiner arbeits- und sozialpolitischen Forschung. Für ihn ist klar : Gegen die
Kräfte der Globalisierung lässt sich keine erfolgreiche Politik bestreiten. Nostalgie und
Schlaraffenländer sind ihm suspekt. Er beklagt
nicht, dass der internationale Wettbewerb den
Druck auf die industrielle Wertschöpfungs­
kette stetig erhöht, sondern er will Wege aufzeigen, wie sich die zahlreichen Vorteile und
Chancen des globalen Handels nutzen lassen.
Dabei lehrt er nicht aus den realitätsfernen Höhen des Elfenbeinturms, sondern er geht den
ökonomischen Problemen der Praxis auf den
Grund.
Entsprechend intensiv widmet sich HansWerner Sinn während der Regierungszeit
Schröders den Ursachen für die hohe deutsche
Arbeitslosigkeit : Wie kann der arbeitsmarktpolitische Rahmen gestaltet werden, um neues
Beschäftigungswachstum zu ermöglichen ? Wel­
chen Beitrag kann die Politik zur Wettbewerbsfähigkeit des Wirtschaftsstandorts leisten ? Wie
kann der Kuchen insgesamt vergrößert werden, bevor die Stücke verteilt werden ?
Seine Forschungsergebnisse sind wahrlich
nicht bequem, zumal er sie stets pointiert zu
präsentieren weiß : Ist Deutschland überhaupt
Heute wissen wir : Hans-Werner Sinn hat
eine klare und zutreffende Analyse für das
deutsche Beschäftigungsproblem geliefert. Die
strukturellen Reformen zugunsten von Flexibilität und Wettbewerbsfähigkeit waren zweifellos schmerzhaft, aber ebenso unausweichlich.
Das belegt ein aktueller Blick in unsere euro­
päischen Nachbarländer. Hier haben sich die
Arbeitskosten zuletzt ungebremst von der Produktivität entkoppelt – mit fatalen Auswir­
kungen auf die Wertschöpfung, wie die Produktionsstruktur der Automobilindustrie zeigt.
Hierzulande konnte die inländische Produk­
tion von Pkw seit 2000 nicht nur stabil gehalten, sondern sogar leicht ausgebaut werden.
Völlig anders dagegen das Bild in Italien : Hier
brach die Inlandsproduktion von 1,4 Millionen
Einheiten im Jahr 2000 auf 400 000 Fahrzeuge
im Jahr 2014 ein. Ähnlich in Frankreich : Nach
2,9 Millionen Pkw 2000 nur noch 1,5 Millionen
produzierte Einheiten 2014. Zum Vergleich : In
der Slowakei wurden 2014 über 840 000 Autos
gebaut – das sind mehr als doppelt so viele wie
in Italien. Im Jahr 2000 lag das Produktions­
niveau in der Slowakei noch bei 180 000 Ein­
heiten.
Die Beispiele der südeuropäischen Partnerländer und unsere eigene Erfahrung sollten
uns Warnung genug sein. Klar ist : Europa kann
wirtschaftlich nur eine Zukunft haben, wenn
es seine Wettbewerbsfähigkeit stärkt. Auch
Deutschland muss achtgeben. Denn die aktu­
ellen Wettbewerbsvorteile sind schneller verspielt als erarbeitet. Um in schlechten Zeiten
auf eine Ernte zurückgreifen zu können, müssen wir in guten Zeiten die Saat in die Erde
bringen. In diesem Sinne wird Hans-Werner
Sinn hoffentlich weiterhin seine mahnende
Stimme erheben – sein Sachverstand ist für unseren Industriestandort Gold wert.
Ist Deutschland noch zu retten? Hans-Werner Sinn und die arbeits- und sozialpolitischen Reformen
noch zu retten ? Als entscheidende Variable
identifiziert er die Lohnkosten, die aus dem
Ruder gelaufen sind. Die Tarifstrukturen sind
starr, die staatliche Abgabenlast ist erdrückend.
Um Produktionsverlagerungen ins Ausland zu
verhindern, fordert er tiefgreifende Reformen.
Er empfiehlt, den Kräften von Angebot und
Nachfrage auf dem Arbeitsmarkt mehr Spielraum zu geben und negativen Anreizwirkungen des Sozialstaats gezielt entgegenzuwirken.
Das Konzept der »Aktivierenden Sozialhilfe«
ist zweifellos ein wichtiger Diskussionsbeitrag
in der Zeit, in der sich die deutsche Arbeits­
losigkeit ihrem Rekordstand nähert. Natürlich
erzeugen seine Rezepte politisch keine Beifallsstürme. Dennoch finden sie Gehör. So werden
in der Agenda 2010 richtigerweise einige der
reformpolitischen Überzeugungen Hans-Werner Sinns aufgegriffen. Der Arbeitsmarkt wird
flexibilisiert und das Prinzip des »Förderns
und Forderns« eingeführt.
Das Resultat der Reformen kann sich sehen
lassen : Deutschland hat mit einem gemeinsamen Kraftakt einen beschäftigungspolitischen
Aufschwung erreicht, dem international eine
große Aufmerksamkeit zuteilgeworden ist. Die
lohnpolitische Zurückhaltung der Sozialpartner hat den Unternehmen die Luft zum Atmen
verschafft, die ihnen auszugehen drohte. In der
globalen Finanz- und Wirtschaftskrise haben
die Entscheidungsträger erneut Seite an Seite
gestanden. In den einzelnen Betrieben wurden
innovative und vielfältige Flexibilitätsoptionen
geschaffen, um die Beschäftigung zu stabilisieren. Die Kurzarbeiterregelung hat sich für die
Stammbelegschaften in der Industrie als eine
unverzichtbare Brücke erwiesen. Klug handelten die Unternehmen, die Kosten einsparten,
zugleich aber nicht ihre Investitionen kürzten.
So konnte Deutschland mit seinem starken industriellen Fundament gestärkt aus dem tiefen
Konjunkturtal herausfahren.
109
Ronnie Schöb
FÜR EINEN AKTIVIERENDEN SOZIALSTAAT
Ist Deutschland noch zu retten?
Ronnie Schöb war von 1989 bis
2000 Mitarbeiter von Hans-Werner
Sinn und hat bei ihm promoviert
und habilitiert. In arbeitsmarkt­
politischen Fragen war er sich mit
Hans-Werner Sinn in der Ursachen­
analyse der Langzeitarbeitslosigkeit weitgehend einig, nicht jedoch
bezüglich des besten Lösungs­
weges.
110
Wer scharf kritisiert, muss zeigen, wie es besser
geht ! Deshalb beließen es Hans-Werner Sinn
und seine Koautoren im Mai 2002 nicht dabei,
zu analysieren, was die Arbeitslosenraten von
Rezession zu Rezession immer weiter in die
Höhe trieb und einen immer größeren Anteil
gering produktiver Arbeitnehmer dauerhaft
vom Arbeitsmarkt ausschloss. Vielmehr stellten sie gleichzeitig mit der Analyse der Ursachen einen sehr konkreten und detailliert ausgearbeiteten Vorschlag einer Aktivierenden
Sozialhilfe der breiten Öffentlichkeit vor.
Für Sinn war der Sozialstaat, so wie er sich
vor den Hartz-Reformen präsentierte, Teil des
Problems, denn die staatlich garantierte, bedarfsorientierte Grundsicherung sah vor, dass
man nur Anspruch auf staatliche Hilfe hatte,
wenn man nicht arbeitete. Ein solches System
vernichtet damit alle Jobs, bei denen man
­weniger verdient, als man als Arbeitsloser an
­Arbeitslosenunterstützung erhalten konnte. Je
großzügiger die Unterstützung für die Arbeits-
losen ausfällt desto größer die Arbeitslosigkeit.
Für Sinn tritt der Sozialstaat damit als Konkurrent der privaten Wirtschaft auf, weil er »ansprechende Löhne fürs Nichtstun auszahlt«.
Da es in den privaten Unternehmen zu wenige
­Arbeitsplätze gab, die rentabel genug waren,
um einem Vollzeitbeschäftigten einen existenzsichernden Lohn zu zahlen, waren die Unternehmen schlicht nicht mehr gegenüber dem
Sozialstaat konkurrenzfähig.
Einen Ausweg aus dieser Situation bietet
ein Kombilohn, ein staatlicher Lohnkostenzuschuss, mit dem sich der Keil zwischen den Arbeitskosten für die Unternehmen und dem
Nettoeinkommen für die Arbeitnehmer verringern lässt. Damit werden Unternehmen
wieder konkurrenzfähiger gegenüber dem Sozialstaat und stellen wieder mehr Arbeitskräfte
ein, ohne dass deshalb die Nettolöhne fallen
müssen. Dieser Grundidee folgend wollte die
Aktivierende Sozialhilfe den Sozialstaat in die
Pflicht nehmen, die Lohnersatzleistungen durch
Wissenschaftler des IAB von den Gegnern der
Aktivierenden Sozialhilfe ungleich wohlwollender aufgenommen wurde. Dieser Vorschlag
sah ein »abgabenfreies Grundeinkommen« bis
zu einer Obergrenze von 750 Euro für Alleinstehende und 1300 Euro für Paare vor. Die Arbeitnehmer sollten damit »mehr Netto vom
Brutto« bekommen, eine Formel, die sich in
der Tat sehr gut vermarkten lässt. Dabei wurde
in der Öffentlichkeit geflissentlich übersehen,
dass ein Alleinstehender bei einem Arbeitseinkommen von nur 750 Euro weniger verdient,
als ihm nach den Alg-II-Regelungen zusteht.
Nimmt er jedoch das höhere ergänzende Alg II
in Anspruch, dann dürfte er von den 750 Euro
brutto gerade einmal 15 % behalten. Unter dem
Strich kommt er dabei auf ein Nettoeinkommen, das geringer ist als bei der Aktivierenden
Sozialhilfe. Tatsächlich zeigt ein Vergleich, dass
die Niedriglohnbezieher bei diesem Vorschlag
im gesamten sozialversicherungspflichtigen
Niedriglohnbereich mit weniger Einkommen
nach Hause gehen würden als bei der Aktivierenden Sozialhilfe. Die Vehemenz, mit der sich
vor allem gewerkschaftsnahe Politiker für diesen Vorschlag ausgesprochen haben und sich
gleichzeitig gegen den ifo-Vorschlag wehrten,
kann vor diesem Hintergrund nur verwundern. Aber so läuft es manchmal in der Politik.
Nachtrag : Mit der Einführung des Mindestlohns hat die Aktivierende Sozialhilfe ausgedient, denn durch Lohnergänzungsleistungen
lassen sich die Bruttolöhne nicht mehr absenken und damit auch keine neuen Arbeitsplätze
schaffen. So wie ich Hans-Werner Sinn kenne,
ist dies Ansporn für ihn, sich mit neuen Vorschlägen dafür einzusetzen, den Sozialstaat
auch in Zukunft dadurch zu stärken, dass knappe Ressourcen möglichst sinnvoll eingesetzt
werden. Ökonomen sprechen in diesem Zusammenhang von Effizienz.
Ist Deutschland noch zu retten? Hans-Werner Sinn und die arbeits- und sozialpolitischen Reformen
Lohnergänzungsleistungen zu ersetzen. Nied­
rige Lohneinkommen sollten durch Lohnsubventionen aufgestockt werden. Im Gegenzug
sollten die Regelleistungen abgesenkt werden.
Die Verbindung von abgesenkter Regelleistung
und Lohnsubvention stellt sicher, dass, wer
­Arbeit findet, bei der Aktivierenden Sozialhilfe
in der Regel mehr Geld mit nach Hause nehmen dürfte, als es beispielsweise die heute geltenden Hartz-IV-Regelungen vorsehen. Wer
keine Arbeit auf dem freien Markt findet, kann
jedoch weiterhin ein existenzsicherndes Einkommen durch die Aufnahme einer Arbeit in
einer kommunalen Beschäftigungsgesellschaft
sicherstellen. Damit stellt er sich finanziell
nicht schlechter als zuvor, muss jedoch eine
Gegenleistung erbringen.
Damit die Lohnergänzungsleistungen helfen, neue Arbeitsplätze zu schaffen, müssen jedoch die Bruttolöhne im Niedriglohnbereich
deutlich fallen, denn nur dann sind Unternehmen bereit, mehr Arbeitskräfte einzustellen.
Damit machte sich Sinn keine Freunde, selbst
wenn er immer wieder betonte, dass dies keinesfalls zu einem Sozialabbau führen würde,
da die Aktivierende Sozialhilfe sicherstellen
würde, dass die Beschäftigten einen höheren
Anteil ihres Bruttogehalts behalten dürften.
Um die notwendigen Lohnsenkungen auf dem
Arbeitsmarkt durchzusetzen, müsste, so Sinn,
der Staat tariffreie Zonen erzwingen, sofern die
Tarifparteien nicht mitziehen würden. Das war
für die Gewerkschaften und viele Sozialdemokraten unannehmbar – der Vorschlag wurde
als Kampfansage an die Arbeitnehmer ver­
standen und entsprechend heftig politisch bekämpft.
Interessant dabei ist, dass der 2006 vorge­
legte Alternativvorschlag »Existenz sichernde
Beschäftigung im Niedriglohnbereich« des
Sachverständigen Peter Bofinger und mehrerer
111
HWS bei der Verleihung des
Corine-Buchpreises im Jahr
2004 in München.
Aufzeichnung einer
­Sendung der BR-alpha-­
Sendereihe »Ist Deutschland
noch zu retten?« im Münchner Gasteig (­Januar 2006).
Zwei Finanzminister und Deutschlands führender Finanzwissenschaftler auf der ifo Jahres­
versammlung im Jahr 2007.
112
( von links nach rechts ) Wolfgang
Wiegard, Paul Kirchhof, N
­ ikolaus
Piper, Friedrich Merz und HWS auf
der ifo Jahres­versammlung 2004.
ifo Branchen-Dialog 2010:
Alle Kurven zeigen nach unten,
doch ifo-Chef HWS bleibt guten
Mutes.
( von links nach rechts ) Der Wirtschaftshistoriker Harold James aus
Princeton, der ­langjährige
­ irtschaftsweise Wolfgang
W
­Wiegard und der ehemalige
S­ ächsische Minister­präsident
­Georg Milbradt auf der
ifo ­Jahresversammlung 2015.
113
WirtschaftsWoche, 15.10.2012
5
BASARÖKONOMIE:
Hans-Werner Sinn und die
Globalisierung
Gabriel Felbermayr
EINLEITUNG
Basarökonomie: Hans-Werner Sinn und die Globalisierung
Basarökonomie
Gabriel Felbermayr leitet das
ifo Zentrum für Außenwirtschaft
und ist Professor für Volkswirtschaftslehre an der Ludwig-Maximilians-Universität München.
Er wurde vor fünf Jahren nach
München berufen und forscht zu
Fragen der Handelspolitik und
zu den Arbeitsmarkt­effekten der
­Globalisierung.
116
Deutschland am 25. Oktober 2004 : Das Titelblatt des Spiegel zieren ein rostiger Container
und die Aufschrift Deutschland: Exportweltmeister (von Arbeitsplätzen). Die Titelstory
greift ein scheinbares Paradox auf : Wie kann
es sein, dass Deutschland mehr exportiert als
jedes andere Land der Welt und andererseits
unter einer Rekordarbeitslosigkeit von 5 Mil­
lionen Personen leidet sowie die rote Laterne
beim Wirtschaftswachstum trägt ?
Für Hans-Werner Sinn kein Widerspruch –
ganz im Gegenteil. In seinem Buch Die Basar­
ökonomie. Deutschland: Exportweltmeister oder
Schlusslicht? organisiert er seinen Angriff auf
den selbstgefälligen Exportfetischismus vieler
Zeitgenossen in zwei Wellen.
Erstens, hohe und wachsende Exporte sind
nicht zwangsläufig mit hoher heimischer Wohlfahrt und starkem Wirtschaftswachstum verbunden. So exportiert eine als »Basar« organisierte Volkswirtschaft Güter, deren wesentliche
Bestandteile sie vorher importiert hat, ohne
dass dabei maßgeblich Wertschöpfung in Form
von Löhnen, Kapitalrenditen oder Steuern im
Inland anfällt. Eine solche Entwicklung führt
zu boomenden Exporten und einem stagnierenden Bruttoinlandsprodukt. Das scheinbare
Paradox ist keines.
Zweitens, auch Exportweltmeistertum und
Rekordarbeitslosigkeit stehen in keinem Widerspruch. Hans-Werner Sinn zeigt, dass beide
auf das deutsche Kernproblem zurückzuführen
sind : zu hohe Löhne. Für viele Bundesbürger
im Jahr 2004 ist diese These eine Pro­vokation :
Wenn die Löhne zu hoch seien, wie kann dann
die deutsche Wirtschaft so wettbewerbsfähig
sein, dass kein Land höhere Exporte aufweist ?
Die Antwort folgt aus dem Standardmodell der
Außenhandelstheorie. Das relativ kapitalreiche
Deutschland exportiert kapital­
intensive Güter – Autos, Maschinen, Chemie – und importiert arbeitsintensive Güter. Löhne über dem
markträumenden Niveau schaffen Arbeitslosigkeit, reduzieren die Beschäftigung und lassen
Seit dem Erscheinen des Buches im Jahr
2005 hat sich Deutschland stark verändert : Das
Kernproblem des vormals »kranken Mannes
Europas« (Economist), starre und überhöhte
Löhne, wurde mit den Hartz-Reformen überwunden. Dass es zu dieser Wende kam, hat
auch mit Hans-Werner Sinns Gabe zur Provokation zu tun. Nur so wurden technische volkswirtschaftliche Argumente zum Gegenstand
einer breiten wirtschaftspolitischen Debatte.
Mit der Entzauberung Deutschlands als Exportwunderland nahm er der Politik und den
Wählern die letzten Illusionen und ebnete den
Weg für schmerzhafte Reformen, die die drohende Deindustrialisierung aufgehalten haben.
Heute hat Deutschland nicht mehr die PolePosition in den Exportstatistiken inne. In
den Wachstumsstatistiken hat sich das Land
aber vorgeschoben : Seit den Weltmeisterjahren
2003 – 2008 hat sich das jährliche Wachstum
von weniger als 1,5 % auf mehr als 2 % pro Jahr
(seit 2010) beschleunigt. Die rote Laterne in
dieser Statistik tragen nun andere.
Das heißt aber noch lange nicht, dass alles
gut ist am Geschäftsmodell BRD. Seit einigen
Jahren ist Deutschland wieder Weltmeister :
Kein Land der Welt hat einen höheren Leistungsbilanzüberschuss. Doch auch dies ist kein
Anlass für Freudenfeiern. Im Gegenteil : Die
Überschüsse sind kein Anzeichen von Stärke,
sondern resultieren, wie auch der pathologische Exportboom, aus einer fehlgelei­teten Politik. Die Verzerrung der Zinsniveaus durch
­verschiedene Maßnahmen der Eurorettungspolitik leitet deutsche Ersparnis ins Ausland,
wo sie für den Kauf deutscher Güter auf Pump
verwendet wird. An der Werthaltigkeit vieler
dieser Anlagen muss gezweifelt werden. Was es
heute braucht, ist wieder eine entschlossene
Reform. Diesmal hat aber Deutschland sein
Schicksal nicht allein in der Hand. Denn es
geht um die Reform der Eurozone.
Basarökonomie: Hans-Werner Sinn und die Globalisierung
das Land noch kapitalreicher erscheinen, als es
ohnehin ist. Es spe­zialisiert sich notgedrungen
noch mehr auf kapitalintensive Exportgüter.
Diese pathologische Überspezia­lisierung geht
einher mit mehr Exporten von Autos, Maschinen, Chemie. Und das alles wegen – und nicht
trotz – überzogener Löhne.
Die beiden Punkte stehen in einem engen
Zusammenhang : Die zunehmende Kapital­
intensität der heimischen Produktion ist ja nur
dadurch möglich, weil die Produktion arbeitsintensiver Zwischenprodukte ins Ausland verlagert wird und Deutschland mehr und mehr
zu einer Basarökonomie wird. Für beide Phänomene sind zu hohe Löhne ursächlich.
Vor allem der Begriff des Basars hat die Gemüter in Deutschland jahrelang erregt. Viele
exportstarke Unternehmen fühlten sich angegriffen, weil sie ihre Hightech-Produkte semantisch in die Nähe von Ramsch und Trödel
gerückt sahen. Hans-Werner Sinn in der Financial Times Deutschland (6. Mai 2005) : »In diesem Punkte bekenne ich freilich tiefe Reue und
versichere, dass auch mir die deutschen Produkte sehr leid tun. Ich bitte für meine blas­
phemische Begriffswahl um Vergebung.«
Was aber die Fakten angeht, so hat HansWerner Sinn ein wichtiges empirisches Phänomen erstmals belegt. Von 1995 bis heute ist der
Anteil heimischer Wertschöpfung an den deutschen Exporten von circa 74 % auf 63 % abgesunken. Klar ist : Je höher der Anteil importierter Vorleistungen an den deutschen Exporten,
umso weniger eignet sich die amtliche Exportstatistik als Gradmesser wirtschaftlicher Stärke.
OECD und WTO haben dies erkannt und tragen dem Phänomen seit zwei Jahren mit einer
eigens konstruierten Datenbank Rechnung.
Und die aktuelle wissenschaftliche Forschung
bemüht sich um ein besseres Verständnis des
Wertschöpfungsgehaltes der internationalen
Handelsströme.
117
Peter Egger
VON VERLAGERUNGS- UND EXPORT­
WELTMEISTERN
Basarökonomie
Peter Egger ist Inhaber des Chair
of Applied Economics: Innovation
and Internationalization an der
ETH Zürich. Er war zuvor CESifoProfessor für Ökonomie an der
LMU München und Bereichsleiter
am ifo Institut. Er promovierte an
der Universität Linz und habili­
tierte an der Universität Innsbruck.
118
Das zunehmende Auseinanderklaffen von Brut­
toproduktionswerten und Wertschöpfung zieht
das Interesse sowohl von Ökonomen als auch
von Wirtschaftspolitikern seit etwa zwei De­
kaden auf sich. Es reflektiert die zunehmende
Spaltung der Wertschöpfungskette und die
steigende Arbeitsteilung. Seit der multilate­
ralen Handelsliberalisierung im Rahmen der
Uruguay-Runde sowie aufgrund vielzähliger
bilateraler Handelsliberalisierungen im Rahmen von präferentiellen Handelsabkommen
findet die Suche nach größerer Effizienz der
Produktion zunehmend Rückhalt im interna­
tional arbeitsteiligen Prozess. Die gestiegene
Mobilität, nicht nur von Kapital, sondern auch
von Arbeitskräften, erhöht den unternehme­
rischen Mehrwert, dieser konzentriert sich
­allerdings weniger denn je am Ort multinationaler Unternehmenszentralen oder dort, wo
das Kerngeschäft von sogenannten Industrieländern – die nunmehr eigentlich Dienstleistungsländer heißen sollten – noch vor wenigen
Jahrzehnten lag. Dieser Trend findet darin
Ausdruck, dass zwar heimisch und insbesondere grenzüberschreitend gehandelte Bruttoproduktionswerte über das letzte Vierteljahrhundert stark stiegen, der dahinterstehende
Zuwachs an Wertschöpfung aber wesentlich
geringer war.
Die OECD und die WTO gemeinsam widmen sich diesem Thema mit einer Initiative, die
das Phänomen mit Daten untermauert (Trade
in Value Added). Laut der entsprechenden Statistik wuchs die Wertschöpfung zwischen 1995
und 2005 bzw. 2010 im Export ­weltweit um
6,4 % bzw. 6,7 % pro Jahr. Für Deutschland
­lagen diese Zuwachsraten bei 5,0 % bzw. 4,9 %
relativ niedriger. Deutschlands Zuwächse lagen
auch unter denen der EU 15 mit 4,8 % bzw.
4,5 % knapp über und mit 5,2 % und 4,9 %
knapp unter denen der EU 28 im Vergleichszeitraum. Große Gewinner des Wertschöpfungswettlaufs waren über die genannten Pe­
rioden Ostasien und Südamerika. Dort wurden
lich stärker an Wertschöpfung gewann, als dies
für die gesamte Wertschöpfung des Landes –
gemessen am Bruttoinlandsprodukt – der Fall
war. Die Reduktion des Wertschöpfungsanteils
bei den Güterexporten wurde also durch den
Zuwachs an Bruttoexporten mehr als kom­
pensiert. Der Zuwachs von 5,0 % bzw. 4,9 %
an Wertschöpfungsexporten pro Jahr zwischen
1995 und 2005 bzw. 2010 wurde nicht durch
einen gegenläufigen arbeitssparenden tech­
­
nischen Fortschritt vollständig kompensiert.
Noch immer darf also gesagt werden, dass die
Exportwirtschaft – und damit das Ausland – in
Deutschland netto Arbeitsplätze schafft.
Hans-Werner Sinns Diagnose basierte auf
dem gleichzeitigen Auftreten von Exportboom
und hoher Arbeitslosigkeit. Die vorhin genannten Zahlen legen nahe, dass Sinns Diagnose des Auseinanderklaffens von Bruttoproduktion und Wertschöpfung im Kern richtig
ist, aber den Umstand des gleichzeitigen Zuwachses an Wertschöpfungsexporten und Arbeitslosigkeit nicht erklären kann.
Für ein Verständnis der jüngeren Prozesse in
Deutschland ist eine geographische Verortung
des Exportbooms und der Arbeitslosigkeit hilfreich. Ersterer entstammte wie nach der Wende
vor allem den alten Ländern, während Letztere
überdurchschnittlich in den neuen Ländern
entstand. Damit gründen simultaner Erfolg
und Misserfolg des Landes zum Teil in der Koexistenz von (noch immer) relativ unproduk­
tiverem Arbeitsangebot in den neuen Ländern
mit geringer Exportbeteiligung und relativ
produktivem Arbeitsangebot in den alten Ländern mit hoher Exportbeteiligung, bei relativ
ähnlichen Löhnen. Das deutsche Phänomen
findet damit wohl mit der Zusammenführung
zweier Sinn’scher Thesen eine bessere Erklärung als mit nur einer.
Basarökonomie: Hans-Werner Sinn und die Globalisierung
Wertschöpfungszuwächse im Export von 6,1 %
bzw. 8,1 % (Ostasien) und von 13,9 % bzw. 14,7 %
(Südamerika) erzielt.
Zuwachsraten bei den Wertschöpfungsexporten spiegeln einerseits einen Konvergenzprozess im Pro-Kopf-Einkommen als auch
­Änderungen in der relativen Wertschöpfungsintensität wider. Daher gewährt ein Blick auf
die Veränderungen der Wertschöpfungsanteile
bei den Exporten im Vergleichszeitraum zusätzliche Einsichten. Für Deutschland sanken
diese zwischen 1995 und 2005 bzw. 2010 um 6,5
bzw. 8,5 Prozentpunkte, während diese Anteile
in der gesamten Welt um 4,7 bzw. 5,4 Prozentpunkte abnahmen. Deutschland verlor also
stärker an Wertschöpfung am Export als der
Rest der Welt.
Die »Exportweltmeister« von ehedem – darunter insbesondere Deutschland – werden
durch diesen Prozess zunehmend auch zu »Importweltmeistern«, und was vormals von heimischen Arbeitskräften verdient wurde, landet
nun zunehmend in den Taschen der Mitbewerber in sogenannten Transitionsländern. HansWerner Sinn belegte dieses Phänomen mit den
Begriffen »Basarökonomie« und »pathologischer Exportboom«. Trotz rekordverdächtiger
Zuwächse bei den Bruttoexporten kann mit
dem Wachstum ein Prozess der Aushöhlung
der heimischen deutschen Wirtschaft durch
Verlust an Wertschöpfung, Beschäftigung und
Lohneinkommen einhergehen. Damit ist der
Zusammenhang »mehr Export, mehr Beschäftigung« (bzw. »mehr Einkommen«) möglicherweise gebrochen.
Freilich ist an dieser Stelle festzuhalten, dass
Deutschlands Export an Wertschöpfung zwar
als Anteil am Bruttoexport abgenommen, aber
im Gesamtvolumen doch auch stark zugenommen hat, so dass weiterhin gilt, dass Deutschland durch den Güterexport jährlich wesent-
119
Wilhelm Kohler
HANS-WERNER SINNS THESE DES
PATHOLOGISCHEN EXPORTBOOMS
Basarökonomie
Wilhelm Kohler ist Professor für
Internationale Wirtschaftsbeziehungen an der Eberhard Karls
Universität Tübingen. Davor war er
Professor an den Universitäten
Linz und Essen. Seine Forschungsschwerpunkte sind die Theorie
des internationalen Handels und
der Migration sowie Europäische
Integration.
120
Am 2. Juni 1999 titelte der Economist mit Blick
auf Deutschland »The sick man of the euro«.
Seit 1993 war Deutschland im Schnitt jährlich
real um 0,8 Prozentpunkte weniger gewachsen
als die anderen EU-15-Länder. Die Arbeits­
losenrate lag um 1,1 Prozentpunkte über den
anderen EU-15-Ländern. Bis 2005 stieg der
­Abstand von 1,1 auf 4,43 Prozentpunkte; der
Wachstumsrückstand stieg auf mehr als einen
Prozentpunkt.
Einzig die traditionelle Exportstärke schien
Deutschland geblieben zu sein : Von 2000 bis
2005 waren die deutschen Exporte von Waren
und Dienstleistungen im Durchschnitt jährlich
um 7,4 % gewachsen, im Vergleich zu 5,1 % der
anderen EU-15-Länder. Diese ungebrochene
Exportstärke schien dagegenzusprechen, dass
die enorme Zunahme der Arbeitslosigkeit in
Deutschland etwas mit überhöhten Löhnen zu
tun haben konnte. Man stand vor einem Rätsel :
Der »kranke Mann« Deutschland, strotzend
vor Wettbewerbsstärke im Export ?
In dieser Situation meldete sich Hans-Werner Sinn mit einer provozierenden Hypothese
zu Wort : Der Exportboom war, so Sinn, kein
Zeichen deutscher Wettbewerbsstärke, sondern
erklärbar als Teil der Pathologie des »kranken
Mannes«. Der Boom selbst war gewissermaßen
»pathologisch«; nicht ein Zeichen wirtschaft­
licher Stärke, sondern ein Symptom der Krankheit.
Sinn trug die These des »pathologischen Exportbooms« als theoretischen Exkurs im Zusammenhang mit der Präsentation eines empirischen Befundes vor : Er hatte nachgewiesen,
dass von dem 18%igen Zuwachs (1995 – 2003)
des realen Produktionswertes der deutschen
Industrie nur ein kleiner Teil (2 Prozent­punkte)
Zuwachs heimischer Wertschöpfung darstellte,
den größeren Teil machten gestiegene heimische bzw. ausländische Vorleistungen aus (7
bzw. 9 Prozentpunkte). Deutsche Firmen konzentrierten sich auf einen ständig kleiner werdenden Anteil der mit Industrieprodukten ver-
Falle Deutschlands, kapitalintensive Güter exportiert, führt das dort zu einem Exportboom.
Und dieser ist »pathologisch«, weil er ursächlich mit einem überhöhten Reallohn verbunden ist.
Der zweite Punkt beinhaltet eine brisante
wirtschaftspolitische Botschaft. In dem eben
geschilderten Fall kommt es nämlich zu einem
höchst merkwürdigen internationalen Austausch zwischen Ländern mit unterschiedlichen Arbeitsmarktinstitutionen. Das Land mit
Lohnrigidität »exportiert« die damit implizierten Veränderungen der relativen Güterpreise,
ja sogar den höheren Reallohn selbst, in Länder, die an sich gar keine Lohnstarrheit aufweisen. Und es »importiert« von diesen Ländern
das damit verbundene weltweite Überangebot
an Arbeit in Form von Arbeitslosigkeit. Die
Preiswirkungen der Lohnstarrheit werden also
internationalisiert, während der damit verbundene Mengeneffekt – das weltweite Überangebot an Arbeit – nationalisiert wird. Das Land
mit der Reallohnstarrheit zieht die gesamte Arbeitslosigkeit der Welt auf sich.
Sinns These des »pathologischen« Exportbooms ist eine elegante Anwendung etablierter
Theorie zur potenziellen Auflösung eines empirischen Rätsels. Offen ist indes der empirische Erklärungsgehalt dieses Arguments für
die damalige Situation Deutschlands. Die Situation Deutschlands hat sich ja inzwischen zum
Besseren gewendet, aber Sinns Punkt ist grundlegenderer Natur. Zu wünschen wäre, dass sich
die empirisch orientierten Handelsökonomen
der empirischen Bedeutung jener Mechanismen zuwenden, die der Idee des pathologischen
Exportbooms zugrunde liegen. Zu zeigen wäre,
dass exogene Reallohnerhöhungen in großen
Ländern auch in Handelspartnerländern ohne
Reallohnstarrheit zu Reallohnerhöhungen führen, gepaart mit einer Reallokation hin zu kapitalintensiven Sektoren.
Basarökonomie: Hans-Werner Sinn und die Globalisierung
bundenen Wertschöpfung. Ähnliches galt für
die Exporte. Man mag darüber streiten, ob dieser Trend mit dem von Sinn geprägten Bild
Deutschlands als »Basarökonomie« zutreffend
bezeichnet war. An der Notwendigkeit der damit initiierten Umorientierung hin zur Betrachtung der Wertschöpfungsanteile im internationalen Handel besteht hingegen kein Zweifel.
Mit diesem Bild der »Basarökonomie« wollte Hans-Werner Sinn der etwas selbstgefälligen
Verwendung der Statistik des Exportbooms
zur Relativierung der Metapher des »kranken
Mannes« auch von empirischer Seite entgegenwirken, sozusagen parallel zu seinem theoretischen Argument, dass dieser Boom pathologischer Natur sei.
Sein theoretischer Argumentationsstrang be­
inhaltete zwei Punkte. Der erste war, dass das
Argument der boomenden Exporte als Evidenz
gegen die klassische Erklärung der enorm
­hohen Arbeitslosigkeit in Deutschland theo­
retisch nicht haltbar war. Etwas vereinfacht
­formuliert, lautet das Argument wie folgt : Ein
über dem Gleichgewichtsniveau liegender Reallohn verursacht zum einen höhere Preise arbeitsintensiver Güter und führt damit zu einer
verstärkten Nachfrage nach kapitalintensiven
Gütern. Zum anderen kommt es bei allen Gütern zu einer kapitalintensiveren Produktionsweise. Beide Effekte betreffen in Zeiten der
Globalisierung aber nicht nur das Inland, sondern auch die Handelspartner. Und wenn in
den Partnerländern keine Reallohnstarrheit
herrscht, dann ist dort die kapitalintensivere
Produktionsweise mit einer Reallokation in
Richtung arbeitsintensiverer Güter verbunden;
dadurch bleibt in diesen Ländern Vollbeschäftigung erhalten. Damit entsteht aber weltweit
eine Überschussnachfrage nach kapitalinten­
siven Gütern, und diese wird – gewissermaßen
residual – durch das Land mit Reallohnstarrheit befriedigt. Und wenn dieses Land, wie im
121
Thomas Fricke
EXPORT WUNDER IN DER BASARÖKONOMIE
Basarökonomie
Thomas Fricke ist Chief Economist
der European Climate Foun­dation,
Kolumnist der Süddeutschen
­Zeitung und Leiter des Internet­
portals WirtschaftsWunder. Er war
Chefökonom der Financial Times
Deutschland, in der er von 2000 bis
2012 mehr als 500 Folgen seiner
Freitagskolumne geschrieben hat.
122
Als im Spätsommer 2003 Hans-Werner Sinns
Buch über die deutsche Krise erschien, herrschte im Land Untergangsstimmung. Ein paar Monate zuvor hatte Kanzler Gerd Schröder seine
Agenda 2010 vorgestellt. Wenn es um Deutschland ging, war vom letzten Platz die Rede, von
Exportkrise und von immer neuen Rekorden
bei der Arbeitslosigkeit. Und es verging kein
Sonntag, an dem die Republik nicht bei Sabine
Christiansen das eigene Leid beklagte.
In diese Stimmungslage passte jene rhetorisch
wirkende Titelfrage von Hans-Werner Sinns
Buch : Ist Deutschland noch zu retten ? Da hatte
der Münchner Professor den richtigen Riecher, da
setzte er dem konfusen Gefühl vom Abstieg noch
ein ökonomisch elaboriertes obendrauf – und
ward seitdem gefragter Talkshow-Gast. Hauptthese : Die Deutschen verlieren ihre Wettbewerbsfähigkeit. Da können nur noch viel radikalere Reformen samt drastisch sinkenden Löhnen helfen.
Was zum Zeitgeist zu passen schien, war offenbar auch durch die Wirklichkeit gedeckt.
Die deutsche Wirtschaft stagnierte. Einen Haken hatte die Sache nur : Just als das Buch auf
den Markt kam, meldete eine Zeitung, dass
Deutschland laut amtlicher Statistik im Sommer 2003 erstmals seit vielen Jahren wieder
mehr exportierte als die USA, nicht weniger.
Na so was. Die Nachricht hatten wir bei der
­Financial Times Deutschland durch Nachrecherchieren in den aktuellen Daten zum Welthandel gefunden. Und wir haben damit auf
­Seite 1 dann auch aufgemacht : »Deutsche sind
(wieder) Exportweltmeister« – eine Zeile, die
ganz ungewollt am selben Tag erschien, als
Hans-Werner Sinn sein Buch präsentierte. Ich
glaube, kurzzeitig war der Professor da nicht so
gut auf uns zu sprechen.
Die Frankfurter Allgemeine Zeitung versuchte tags darauf die Krisenlaune noch zu retten,
indem sie andere Zahlen zum Export präsentierte – Deutschland sei doch nicht Weltmeister. Das Problem : Die Kollegen hatten saisonbereinigte US-amerikanische und unbereinigte
Teile ihrer Produktion nach Osteuropa und anderswohin verlagerten – oder dort zumindest
neue Anlagen schufen. Was Experten weniger
überzeugte, waren die vermeintlichen Größenordnungen – und die Interpretation als tiefes
Krisenphänomen. Wie die amtlichen Statistiker
damals ermittelten, war der Anteil der importierten Exportgüterteile zwar gestiegen, nur bei
weitem nicht so stark, dass »Made in Germany«
dadurch zum reinen Etikettenschwindel ge­
worden ist. Seitdem hat sich auch gezeigt, dass
deutsche Exporteure sogar deutlich gewonnen
haben, indem sie ihre Produktions­ketten auf
Niedriglohnländer erweiterten. Zum Vorteil des
deutschen Arbeitsmarkts – nicht zum Nachteil.
Es gehört schon, sagen wir, etwas Phantasie
dazu, die These vom abstürzenden deutschen
Export nachträglich als treffend einzustufen.
Mit Abstand betrachtet, drängt sich die Vermu­
tung eher auf, dass Deutschlands Export 2003
bereits in einem historischen Boom steckte, der
Mitte der 1990er Jahre eingesetzt hatte (und
dass die Krise Anfang der 2000er Jahre andere
Gründe gehabt haben muss). Ein Boom, der
vor allem damit zu tun hatte, dass – allen Kostennachteilen zum Trotz – kein Land eine so
perfekt auf diese Zeit zugeschnittene Export­
industrie hatte wie die Deutschen. Die traditionelle Spezialisierung auf hochwertige Maschinen und Fahrzeuge passte einfach zum Bedarf
jener rasant aufsteigenden Schwellenländer
wie China, die ihre Wirtschaft erst einmal mit
solchen Investitionsgütern ausstatten mussten.
Alles in allem haben sich die deutschen Verkäufe rund um den Globus in dieser Zeit glatt
verdoppelt. Was auch die inländische Wertschöpfung befördert – und eine Menge Arbeitsplätze geschaffen hat.
Aber Hans-Werner Sinn wäre nicht HansWerner Sinn, wenn er nicht wüsste, dieser Diagnose mit anspruchsvoller Argumentation zu
widersprechen.
Basarökonomie: Hans-Werner Sinn und die Globalisierung
deutsche Daten für den August verglichen.
Und im August passiert saisonbedingt – Ferien­
pause – eben relativ wenig. Sinns Reaktion war
da deutlich anspruchsvoller.
Nun wäre Hans-Werner Sinn ja in der Tat
nicht Hans-Werner Sinn, wenn er seine These
vom abstürzenden Export wegen so einer Statistik einfach zurückgenommen hätte. Zumal
die These vom Absturz in den Talkshows über
Jahre hinweg schier unkaputtbar schien; im
Jammern sind wir ja nun auch Weltmeister
(ebenso wie im Hochjubeln, wenn es wie heute
plötzlich läuft). Sinns Antwort auf das Exportweltmeister-Dilemma folgte schon im Dezember 2003 – ein Aufsatz mit dem Titel : »Basar­
ökonomie«. Ein Begriff, mit dem Sinn erneut
Gespür für den damaligen emotionalen Bedarf
seiner Landsleute bewies. Nur dass die Sache
deutlich komplizierter wurde – und für Experten nicht unbedingt überzeugender.
Auch Sinn räumte jetzt ein, dass wir mit unserem Export gar nicht so schlecht dastanden.
Nur zähle das nichts mehr. Denn : Deutschland
baue da nur seine Position als »Basar der Welt«
aus. Was wir da so exportieren, werde »zu
wachsenden Wertanteilen in Niedriglohn­
ländern vorfabriziert«. Das »Made in Germany« sei »mehr und mehr Etikettenschwindel«.
Grundthese gerettet.
Das Phänomen hatte zwar weniger mit einem orientalischen Basar zu tun, dafür zog der
wenig freundlich daherkommende Begriff prima. Und Sinn gelang es, das Ding mit lebensnahen Beispielen auch einem Nicht-Fachpublikum nahezubringen. Da gab es das Auto, dessen
Einzelteile im Osten gebaut und in Deutschland nur noch montiert würden. Schon schien
die Basarvermutung belegt. Im Oktober 2005
erschien Hans-Werner Sinns Buch zur These :
Basarökonomie.
Nun ließ sich auch nicht leugnen, dass deutsche Unternehmen nach dem Fall der Mauer
123
Michael Heise
DIE THESE DER BASARÖKONOMIE:
EIN POLITISCHER WECKRUF
Basarökonomie
Michael Heise ist Chefvolkswirt
der Allianz SE. Er berät den Vorstand der Allianz SE in volkswirtschaftlichen und strategischen
Fragen und ist verantwortlich für
die Erstellung von Analysen und
Prognosen zur deutschen und
internationalen Wirtschafts- und
Finanzmarktentwicklung.
124
Hans-Werner Sinn hat im Jahr 2003 bezogen
auf Deutschland den Begriff der Basarökonomie geprägt und damit eine ökonomische Debatte ausgelöst, wie wir sie hierzulande bisher
selten erlebt haben. Sie besagt in der Sprache
des Ökonomen, dass der inländische Wertschöpfungsanteil an der Industrieproduktion
zugunsten des Auslands fällt und in Deutschland überwiegend die kundennahen Endstufen
der Produktion verbleiben. In der Öffentlichkeit wurde die Bezeichnung Deutschlands als
Basarökonomie natürlich als eine Grundsatzkritik am Wirtschaftsmodell Deutschland verstanden, einem Wirtschaftsmodell, das mit
Inflexibilität auf die Herausforderungen der
­
Globalisierung reagiere. Deutschland sei zwar
im Export stark, schaffe das aber nur, weil es
gleichzeitig Arbeitsplätze in billigere Standorte
exportiere.
Aus meiner Sicht war Sinns These in erster
Linie ein Weckruf an alle wirtschaftlich und
politisch Verantwortlichen, in einer Zeit der
Globalisierung nicht in Selbstzufriedenheit zu
verharren und sich gegen unumgängliche Reformen zu wehren. So wurde der selbsterkorene
Titel des Exportweltmeisters damals vielfach
als Beleg der Leistungskraft und Wettbewerbsfähigkeit Deutschlands gewertet. Hans-Werner
Sinn ist es gelungen, dieses Exportmärchen zu
entzaubern und den Blick auf die strukturellen
Schwächen Deutschlands und sein unzuläng­
liches Wirtschaftswachstum zu lenken. Der in
der ersten Hälfte des vergangenen Jahrzehnts in
Gang gekommene Reformprozess in Deutschland hat durch ihn Unterstützung erhalten.
An der fachlichen Diskussion um die Basar­
ökonomiethese nahmen neben vielen Einzelstimmen auch das Statistische Bundesamt und
der Sachverständigenrat teil. Immerhin ging
der Sachverständigenrat auf das Thema Basar­
ökonomie in einen Abschnitt von über zehn
Seiten in seinem Jahresgutachten 2004/05 ein.
Selten hat sich der Rat mit der These eines Ökonomen wohl in einer so ausführlichen Analyse
tem nicht mehr so schnell wie in den 1990er
Jahren. In den letzten Jahren konnte sich der
An­
teil sogar stabilisieren. Bei alledem hat
Deutschland einen sehr hohen Leistungsbi­
lanzüberschuss und einen hohen Kapitalexport
ins Ausland.
Können wir also das Thema Basarökonomie
zu den Akten legen ? Trotz aller Erfolge am Arbeitsmarkt in den letzten Jahren ist ein unübersehbares Manko in unserer Wirtschaft ge­
blieben : Die Investitionstätigkeit im Inland
lässt nach wie vor zu wünschen übrig, so bewegt sich die Investitionsquote bei Ausrüstungsgütern nahe langjährigen Tiefständen.
Gleichzeitig erhöhten inländische Unternehmen ihre Direktinvestitionen im Ausland 2014
um 88,7 Mrd. Euro, während ausländische Unternehmen die Direktinvestitionen in Deutschland ­
lediglich um 5,5 Mrd. Euro steigerten.
Der Netto­
kapitalabfluss bei Direktinvestitionen ist also nach wie vor gewaltig und wirft
kein ­po­sitives Licht auf den Wirtschaftsstandort Deutschland. Ein Land, das in hohem Maße
(per saldo) Kapital exportiert, muss auch in der
Leistungsbilanz erhebliche Überschüsse aufweisen. Solche Überschüsse im Güterhandel
sollten also nicht als Ausdruck der Stärke fehlinterpretiert werden.
Leider dominieren in der öffentlichen und
der wirtschaftspolitischen Diskussion in
Deutschland Fragen der Einkommensverteilung. Überlegungen, wie wir unseren Standort
attraktiver machen und die Einkommen der
Zukunft sichern können, spielen dagegen eine
nur untergeordnete Rolle. Es wäre gut, wenn es
nicht einer erneuten Krise bedürfte, um diese
Diskussion und wirtschaftspolitische Reformen zu initiieren. Provokant kritische Stimmen wie die von Hans-Werner Sinn sind daher
unverzichtbar. Er hat es immer wieder vermocht, Weckrufe an die Politik zu senden.
Basarökonomie: Hans-Werner Sinn und die Globalisierung
auseinandergesetzt. Allein dies ist eine Anerkennung.
In der Diskussion zeigte sich, dass der Begriff Basarökonomie – wenig überraschend –
unterschiedlich interpretiert und somit der
These dementsprechend zugestimmt oder widersprochen werden konnte. Zudem brachte
die Debatte eine Reihe von wenig beachteten
Indikatoren wie beispielsweise den Import­
anteil der Exporte und die exportinduzierte
Wertschöpfung in den Mittelpunkt des Interesses, die sonst wohl nicht so intensiv analysiert
worden wären. Über ein Fazit der Debatte
dürfte aus meiner Sicht weitgehend Konsens
bestehen : Die Tendenz als solche, in einer globalisierten Ökonomie Teile der Wertschöpfungsketten in ausländische Unternehmensteile zu verlagern (Offshoring) und bei Zulieferern
im Ausland zu kaufen (Outsourcing), ist in einer immer stärker globalisierten Ökonomie
eine Selbstverständlichkeit. Sie ist für sich genommen nicht problematisch, es sei denn, sie
geht (wie 2003 in Deutschland) mit einer hohen Arbeitslosigkeit und einer ausgeprägten
Investitionsschwäche im Inland einher.
Rund zehn Jahre nach der Debatte um die
Basarökonomie hat sich viel in der Weltwirtschaft und in Deutschland verändert. Deutschland scheint – anders als der Begriff der Basar­
ökonomie andeutet – wirtschaftlich voller Kraft
zu sein. Wir haben die rote Laterne abgegeben,
das Wirtschaftswachstum beschleunigen können und liegen nun unter den Industrieländern
im guten Mittelfeld. Die Arbeitslosigkeit ist im
internationalen Vergleich heute klar unterdurchschnittlich, in der Europäischen Union
ist Deutschland sogar das Land mit der niedrigsten Arbeitslosenquote. Der inländische
Wertschöpfungsanteil an der Industrieproduktion ist angesichts der zunehmenden interna­
tionalen Arbeitsteilung seit Anfang des letzten
Jahrzehnts weiter gesunken, allerdings bei wei-
125
Rupert Stadler
ERFOLG AUF DEM BASAR
Basarökonomie
Rupert Stadler ist seit 2007 Vorstandsvorsitzender der Audi AG.
Er lehrt strategische Unternehmensführung an der Universität
St. Gallen und an der TU München.
2015 hat ihn der Verband der
­Hochschullehrer für Betriebs­
wirtschaftslehre (VHB) zum Wissen­
schaftsorientierten Unternehmer
des Jahres gewählt.
126
Manager und Wirtschaftswissenschaftler – oft
eine Beziehung mit Hürden. Uns Entscheidern
der Praxis erscheint graue Theorie oft abstrakt.
In unserem Geschäft spielt praktische Erfahrung, gepaart mit gesundem Bauchgefühl, eine
dominante Rolle. Dennoch ist Theorie eine
wichtige Grundlage unserer hochentwickelten
Ökonomie. Damit die Wirtschaftswissenschaft
nicht im Elfenbeinturm eingesperrt bleibt, damit Theorie und Praxis miteinander reden,
dazu bedarf es Persönlichkeiten wie HansWerner Sinn. Er schlägt Brücken und zwingt
mit provokanten Thesen Praxis und Politik zur
Stellungnahme. Dabei fühlt er unserer Ökonomie den Puls, stellt exakte Diagnosen, formuliert klare Empfehlungen zur Behandlung des
Patienten. Für mich sind seine Analysen ein
Gewinn. Hans-Werner Sinn seziert die Wirklichkeit. Und er verändert sie.
Ein herausragendes Beispiel ist für mich seine volkswirtschaftliche Hypothese der »Basar­
ökonomie«. Seine Analyse von 2003 hat bis
heute nicht an Aktualität eingebüßt und bleibt
messerscharf : Die Fertigungstiefe – der Anteil
inländischer Wertschöpfung an der Industrieproduktion – geht Jahr um Jahr zurück. Die
Exportwertschöpfung deutscher Unternehmen
in anderen Regionen nimmt deutlich zu. Zudem wachsen die Exporte schneller als die
­Binnenwirtschaft. Dies veranlasste Sinn bereits
zu Beginn des Jahrtausends, von einem »patho­
logischen Exportboom« zu sprechen : Deutschland nannte sich damals noch stolz »Exportweltmeister« und war zugleich auf bestem
Wege, der kranke Mann Europas zu werden.
Wie auf einem orientalischen Basar drohten
wir, zu erfolgreichen Händlern von Waren zu
werden, die außerhalb Deutschlands hergestellt sind und dort Arbeitsplätze schaffen.
Das Bild der Basarökonomie ist provokant,
denn die aufgeworfenen Fragen bergen sozialen Sprengstoff. Hängen wir etwa bestimmte
Gesellschaftsschichten vom Wohlstand ab, weil
wir Deutschland zu einer Art Basar für Güter
Der Beste setzt sich durch. Dieses Prinzip ist
uns von den Automeilen am Rand der Großstädte vertraut. In einem internationalen Fer­
tigungsverbund geht es neben zollrechtlichen
Vorgaben wie einer Mindestwertschöpfung vor
Ort auch um Kosteneffizienz und Flexibilität.
Das ist ein wichtiger Grund, warum Audi von
China bis Brasilien, von Mexiko bis Belgien,
von Deutschland bis Indonesien weltweit fertigt. Die Zahlen müssen stimmen. Doch sie
sind nicht das entscheidende Erfolgskriterium.
Der A8 von Hans-Werner Sinn ist in Neckar­
sulm vom Band gefahren. Deutsche Ingenieurs- und Handwerkskunst sowie deutsche
Maßstäbe stützen unser Markenversprechen
weltweit. Vorsprung durch Technik erlebbar
zu machen ist unser Geschäftsmodell. Daraus
ziehen wir unseren Return on Investment.
Und zwar international, mit einer Exportwertschöpfung, um die uns die Welt beneidet.
Um die Aufgaben zu Hause muss sich die
deutsche Wirtschaft auch kümmern, damit unsere Binnenwirtschaft an Kraft gewinnt, damit
viele Jobs entstehen und damit die Wohlstandsbasis erhalten bleibt. Dass unser Land heute
besser dasteht, ist auch das Verdienst eines zuweilen unbequemen Denkers wie Hans-Werner Sinn.
Gerade in der Politik neigen manche Akteure dazu, die Sinn’sche Medizin wieder zu verwässern. Ich hoffe auf eine neue »Deutsche
Rede«, wie Professor Sinn sie 2003 in Neuhardenberg gehalten hat, in der er erstmals den
Begriff der Basarökonomie prägte.
Übrigens : Es gibt noch einen guten Grund,
warum Hans-Werner Sinns Analysen so bedeutend für Deutschland sind : Er formuliert
und verteidigt sie mit Leidenschaft. Wenn alles
andere stimmt, dann entscheidet genau diese
Passion letztlich über den Erfolg. Das gilt für
die ökonomische These genauso wie für einen
Audi A8 – auf dem Basar der besten Angebote.
Basarökonomie: Hans-Werner Sinn und die Globalisierung
aus ausländischer Wertschöpfung degenerieren ? Wer in unserem Land Verantwortung trägt,
dem muss so ein Szenario Sorgen bereiten.
Hans-Werner Sinns Analyse hat damals heftige
Diskussionen angestoßen, vielen die Augen geöffnet und am Ende die Handelnden bewegt.
Am Arbeitsmarkt ist seither viel geschehen.
Gezielte Lohnzuschüsse, Aktivierende Sozialhilfe und eine längere Lebensarbeitszeit sind
nur drei Beispiele für den Bewusstseinswandel
in der Sozialpolitik, den der Chef des ifo Instituts angestoßen hat. Auf Arbeitnehmerseite ist
eine neue Flexibilität entstanden, die den Industriestandort Deutschland wieder attraktiver
machte. Beides zusammen hat die Jobmaschine
auch in der Autobranche im vergangenen Jahrzehnt in Schwung gebracht. Bei Audi haben wir
seit 2004 allein in Deutschland 11 500 neue
­Arbeitsplätze geschaffen. Dies hat unser globales Wachstum ermöglicht – und nicht etwa verhindert.
Niemand wünscht sich einen Basar, von dem
Teile der einheimischen Bevölkerung ausgeschlossen sind. Wir sind stolz darauf, dass sich
2015 im ersten Quartal 73 208 Menschen allein
in Deutschland für einen neuen Audi entschieden haben – das ist ein Sechstel aller AudiKunden weltweit. Wir sind glücklich, dass sich
auch Hans-Werner Sinn persönlich für einen
Audi A8 begeistert – er hat eben Gespür für
Qualität. Gerade unser Flaggschiff unter den
Limousinen ist im Spiegel der Diskussion um
die »Basarökonomie« ein interessantes Beispiel
für Globalisierung bei uns. Denn seine Neu­
auflage als Langversion haben wir von Peking
aus der Welt vorgestellt, auf die Bedürfnisse
des chinesischen Kunden zugeschnitten.
Handeln wie im Orient, das ist Marktwirtschaft pur : viele Anbieter mit vergleichbarer
Ware, in einer engen Gasse direkt nebeneinander. Angebot, Nachfrage, Qualität und Überzeugungskraft bestimmen allein über den Preis.
127
Manfred Wittenstein
HANS-WERNER SINN: PARTYKILLER
MIT GUTEM GRUND
Basarökonomie
Manfred Wittenstein ist Aufsichtsratsvorsitzender der WITTENSTEIN
AG , Weltmarktführer auf dem
­Gebiet der mechatronischen
­Antriebstechnik. Der ehemalige
Präsident des VDMA und BDI-Vizepräsident ist »Entrepreneur des
Jahres« und Mitglied in der Hall of
Fame der weltbesten Unternehmer.
128
Das Typische am »Geschäftsmodell Deutschland« ist der starke industrielle Kern der Wertschöpfung insgesamt sowie die auffallend
hohe Weltmarktorientierung der einschlägigen
Branchen. Der Erfolg beruht dabei oft auf wissensintensiven und individualisierten Lösungen, die in einer eng vernetzten Landschaft aus
Wirtschaft und Wissenschaft günstige, schwer
kopierbare Voraussetzungen finden. Selbstverständlich ist dieser Erfolg jedoch nicht, er muss
täglich neu errungen werden. Die Globalisierung sowie technologische Entwicklungen stellen bestehende Netzwerke auf den Prüfstand –
zunehmend mobile Produktionsfaktoren wie
Kapital und Wissen, rasant sinkende Trans­
aktionskosten und die Grenzenlosigkeit von
Produzenten- und Konsumentenentscheidungen strafen Defizite über kurz oder lang ab.
Nur durch ein intelligentes und verantwortungsvolles Miteinander von Wirtschaft, Wissenschaft, Politik und Gesellschaft wird es
­gelingen, als Standort attraktiv für knappe Res-
sourcen zu bleiben und innovative Spitzen­
leistung in Wohlstand und Beschäftigung umzumünzen. Auch für die kommenden Generationen soll dies eine realistische Perspektive,
eine mögliche Zukunft sein.
Gerade deshalb ist es mehr als fahrlässig,
wenn wir uns selbst feiern und bei der Party
den Blick für Risiken und Gefahren verlieren.
So wird in der Tat nach wie vor und allzu oft die
internationale Wettbewerbsfähigkeit Deutschlands mit ein paar oberflächlichen Zahlen der
Außenhandelsstatistik und zum Bruttoinlands­
produkt bewiesen. Die Logik dabei ist ebenso
einfach wie einleuchtend : Beeindruckende Exporterfolge und ein im internationalen Vergleich relativ hoher Wertschöpfungsanteil der
Industrie am Bruttoinlandsprodukt zeigen
doch eindeutig, dass wir der große Profiteur
der Globalisierung und offenkundig auf den
Weltmärkten auch nicht zu teuer sind ! Einfach
einleuchtend und einleuchtend einfach – aber
leider einfach falsch. Zum Teil erfolgen die In-
stufen der Fertigung beschränkt, der Rest sukzessive über Outsourcing und Offshoring abgewickelt wird. Dann haben wir zwar womöglich – zumindest für einige Zeit – erfolgreiche
Unternehmen und hübsche Exportstatistiken,
aber immer weniger Wertschöpfung, die zu
Wohlstand und Beschäftigung bei uns im Land
führt, zumindest in der Breite. Denn vielfältige strukturelle Verkrustungen sorgen für mangelnde Flexibilität, gerade auch auf dem Arbeitsmarkt – und ebendort liegt die wahre
­Antwort auf die Frage, ob Deutschland Globalisierungsgewinner ist. Man muss erkennen :
Nicht alle Arbeitnehmer geraten gleichermaßen unter die Räder, sondern vor allem solche,
die einfachere Tätigkeiten ausüben. Das ökonomische Gesetz des Faktorpreisausgleichs
lässt sich politisch nicht aushebeln, allenfalls
teuer und zu Lasten einzelner Arbeitnehmergruppen temporär vertuschen – oft sogar noch
mit dem Argument, gerade diejenigen schützen zu wollen, die es dann nachher mit voller
Wucht trifft. Ein klein wenig Morphium macht
das Ganze noch leichter.
Die Unternehmen sind gefordert, durch innovative Produkte und Dienstleistungen – auch
fundamentale Geschäftsmodellinnovatio­nen –
dem globalen Wettbewerbsdruck die Stirn zu
bieten. Die Politik ist gefordert, den rechtlichinstitutionellen Rahmen so zu setzen, dass die
notwendigen und ökonomisch sinnvollen Spezialisierungsvorteile dabei nicht zwangsläufig
mit einer Entkopplung der Wettbewerbsfähigkeit von Branchen, Unternehmen und Arbeitern einhergehen. Wir dürfen es nicht zulassen,
dass die Globalisierung ganze Bevölkerungsgruppen vom Rest der Gesellschaft abkoppelt.
Globalisierung erfolgreich meistern heißt auch,
möglichst alle daran zu beteiligen. Das hat uns
Hans-Werner Sinn dorthin geschrieben, wo es
hingehört : hinter die Ohren !
Basarökonomie: Hans-Werner Sinn und die Globalisierung
terpretationen vorsätzlich unwahr, größtenteils
jedoch fehlt es wohl schlicht an einem hin­
reichenden Verständnis, an substanzieller Beschäftigung mit der Materie. Die schönen Zahlen sind das Morphium, das den Blick auf die
Wahrheit und den dringenden Handlungs­
bedarf vernebelt.
Und ich gebe es zu : Sowohl für mein eigenes
Unternehmen als auch meine Branche, den
Maschinen- und Anlagenbau, hatte ich lange
ebenso eine leicht vernebelte Sicht. Als HansWerner Sinn mittlerweile schon vor vielen Jahren dann sehr exponiert auf den Nebel hinwies
und ihn vertreiben wollte, da war das auch
für mich zunächst etwas irritierend. Aber es
­gelang – mit starken Begrifflichkeiten wie »Ba­
sar­
ökonomie« und »pathologischer Exportboom« –, mein weiterführendes Interesse zu
wecken und eine inhaltliche Auseinandersetzung und damit Erkenntnis zu provozieren. Ich
kann mich noch gut an meine ersten Gespräche und Schriftwechsel mit Hans-Werner Sinn
zu diesen Themen erinnern, und ich weiß aus
eigener Erfahrung : Hans-Werner Sinn ist unbequem, er möchte überwunden werden, mit
Argumenten, er bietet es an, und er macht es
sich selbst dabei niemals leicht. Genau so entstehen Mehrwert, Erkenntnis und die Bereitschaft, etwas zu unternehmen – wenn man sich
darauf einlässt.
Und unsere Gesellschaft muss sich auf diese
(und weitere) Diskussionen dringend einlassen, um zukunftsfähig zu bleiben. Denn wir
haben längerfristig nichts davon, wenn unsere
Industrie in dem oben skizzierten Sinne erfolgreich ist, allerdings dies mehr und mehr dadurch, dass flächendeckend die Kapitalintensität der Produktion nach oben geschraubt wird,
nur noch sach- und humankapitalintensive
Sektoren überlebensfähig sind und sich zudem
die Wertschöpfung zunehmend auf die End-
129
Ilse Aigner
DIE GLOBALISIERUNG ALS ERFOLGSFAKTOR
FÜR BAYERN
Basarökonomie
Ilse Aigner ist seit Oktober 2013
Bayerische Staatsministerin für
Wirtschaft und Medien, Energie
und Technologie sowie Stellver­
tretende Ministerpräsidentin.
Sie ist Mitglied des Bayerischen
Landtags. Von 2008 bis 2013 war
sie zudem Bundesministerin für
­Ernährung, Landwirtschaft und
Verbraucherschutz.
130
»Die zunehmende weltweite wirtschaftliche
Integration kann für Deutschland auch im
­
21. Jahrhundert eine Erfolgsstory werden, wenn
wir uns wieder mehr auf unsere Stärken be­
sinnen und anpacken. Wir haben im globalen
Wettbewerb nach wie vor gewaltige Potenziale,
gerade hier in Bayern : eine breite Schicht engagierter, leistungsfähiger Unternehmen; qualifizierte Arbeitnehmer; auf breiter Front gute bis
sehr gute Forschungskapazitäten; eine Präsenz
auf den Weltmärkten wie wenige andere Länder.« Diese Einschätzung stammt vom damaligen bayerischen Wirtschaftsminister Otto Wies­
heu, als er im Herbst 2004 an den Münchner
Seminaren von CESifo und der Süddeutschen
Zeitung teilgenommen hat.
Gut zehn Jahre später kann ich diesen Blick
eines meiner Amtsvorgänger auf Deutschlands
und Bayerns Chancen durch die Globalisierung nur bestätigen. Gerade das letzte Jahrzehnt hat gezeigt, welche Erfolgsgeschichte die
Globalisierung für Bayern schon ist.
Jährlich neue Exportrekorde, florierender
Handel mit den neuen EU-Beitrittsländern in
Osteuropa sowie mit vielen aufkommenden
Märkten weltweit – und das alles ohne die befürchteten Arbeitsplatzverluste. Das zeigen die
Zahlen sehr deutlich : 3,8 % Arbeitslosenquote
im Jahr 2014 und immer neue Rekordwerte
bei den sozialversicherungspflichtig Beschäftigten in Bayern sprechen klar dagegen, dass
die g­ lobale Wettbewerbsfähigkeit der bayerischen Wirtschaft auf Kosten der Arbeitsplätze
hierzulande ausgetragen wurde.
Hinzu kommt, dass sich die Deindustrialisierungsbefürchtungen für Bayern bisher nicht
bewahrheitet haben. Die Bruttowertschöpfung
im Verarbeitenden Gewerbe lag in Bayern im
Jahr 2013 mit 25,8 % sogar über dem Wert von
1995. Auch Deutschland insgesamt konnte sich
gegen den Trend wehren, der viele andere traditionelle Industrieländer getroffen hat. Mit
Thailand, Korea und China weisen derzeit nur
drei Wettbewerbsländer Bayerns einen noch
derungen und Trends rechtzeitig zu erkennen
und anzugehen. Dies wird uns auch bei der
Digitalisierung ge­lingen.
ƒƒ Die wirtschaftlichen Vorteile der Globalisierung beruhen auf den Wohlfahrtsgewinnen
durch den freien internationalen Handel. Es
wäre deshalb geradezu fahrlässig, wenn wir
die Potenziale von TTIP nicht nutzen würden, die nicht zuletzt auch die Studien des ifo
Instituts aufzeigen. Die USA sind nach wie
vor Bayerns wichtigster Exportmarkt. Der
Abbau tarifärer und nichttarifärer Handelshemmnisse ist – bei entsprechender Berücksichtigung unserer europäischen, deutschen
und bayerischen Schutzstandards – eine große Chance, insbesondere auch für viele bayerische Mittelständler.
ƒƒ Wir müssen uns in Deutschland wieder
für mehr wirtschaftspolitische Impulse und
a­ n­­reizkompatible Standortvoraussetzungen
für unsere Unternehmen einsetzen. Auf viele
Rahmenbedingungen der Globalisierung
haben wir nur wenig Einfluss. Aber die Möglichkeiten zur Stärkung der Wettbewerbs­
fähigkeit, die wir in Deutschland haben,
sollten wir stärker nutzen. Ordnungspolitische Prinzipien wie »Verantwortung und
Haftung«, »Erwirtschaften kommt vor dem
Verteilen« sowie »Eigeninitiative und Risiko­
bereitschaft« müssen sich wieder stärker in
den politischen Maßnahmen in Deutschland widerspiegeln.
Ich bin mir sehr sicher, dass ich bei diesen Anliegen in Hans-Werner Sinn einen Mitstreiter
habe. Und auch nach der ifo-Präsidentschaft
wird er sich zu all diesen Themen weiterhin
kompetent, ohne Konfliktscheue und sehr authentisch zu Wort melden – so wie wir ihn
eben kennen und schätzen. Und so wie wir
ihn auch in Zukunft als wirtschaftspolitischen
Mahner und Berater gerne erleben wollen.
Basarökonomie: Hans-Werner Sinn und die Globalisierung
höheren Industrieanteil an der Wertschöpfung
auf.
Hans-Werner Sinn hat beim Thema Globa­
lisierung insbesondere mit seiner Theorie zur
Basarökonomie vor gut zehn Jahren für Auf­
sehen gesorgt. Etliche Studien zeigen durchaus
auch aktuell : Die Internationalisierung der
Wertschöpfungsketten hat deutlich zugenommen. Gerade im exportstarken Verarbeitenden
Gewerbe sehen wir, dass der aus dem Ausland
importierte Anteil an Vorleistungsgütern nach
wie vor sehr hoch ist. Nicht zuletzt durch Lohnzurückhaltung in Folge der Agenda 2010 ist es
uns jedoch gelungen, den Verlust an Arbeitsplätzen zu begrenzen. Daneben haben die hohe
Innovationskraft und Forschungsintensität der
bayerischen Industrie dabei entscheidend geholfen. Dass wir um so viel besser sein müssen,
wie wir teurer sind, hat insbesondere die bayerische Wirtschaft schon lange verinnerlicht.
Wie können wir sicherstellen, dass die bis­
herigen Erfolge durch die Globalisierung auch
in Zukunft erhalten bleiben ? Wie können wir
die deutsche und bayerische Wettbewerbs­
fähigkeit unter fortschreitender Internationa­
lisierung der Wertschöpfungsketten auch in
Zukunft sichern ?
Ich will hier auf einige Aspekte eingehen :
ƒƒ Den aktuellen Megatrend Digitalisierung
müs­sen wir in allen Wirtschaftsbereichen und
in der Arbeitswelt so fördern, dass die hohen
Wertschöpfungspotenziale in diesem Bereich
tatsächlich umgesetzt werden. Wir werden
deshalb Forschung und Entwicklung in wichtigen Schlüsselfeldern der Digitali­sierung wie
Industrie 4.0, vernetzte Mobilität, digitale Gesundheit, Energie und Bildung voranbringen.
Gleichzeitig wollen wir unsere mittelständischen Betriebe bei der Suche nach neuen Produktionsprozessen und Geschäftsmodellen
unterstützen. Bayern hat sich schon immer
dadurch ausgezeichnet, die neuen Herausfor-
131
John Whalley
HANS-WERNER SINN UND
DIE GLOBALISIERUNG
Basarökonomie
John Whalley ist Direktor des
Centre for the Study of Inter­
nation­al Economic Relations
(CSIER) an der Western University
in Kanada. Er ist Distinguished
Fellow des Centre for International
Govern­ance Innovation (CIGI) und
Direktor der CESifo Area on Global
Economy.
132
Während seiner langen und illustren wissenschaftlichen Karriere hat Hans-Werner Sinn
auf vielerlei Art und Weise zur Globalisierungsdebatte beigetragen. Natürlich hat der
Begriff Globalisierung in unterschiedlichen
Disziplinen unterschiedliche Bedeutung, doch
die allumfassenden Auswirkungen sind bereits
seit langem Thema in Sinns Arbeiten. Für
P
­ o­litikwissenschaftler bedeutet Globalisierung
eine Schwächung inländischer Institutionen
und eine progressive Übertragung von Autorität auf transnationale oder globale Instanzen.
Sie ist das moderne Äquivalent des marxistischen Absterbens des Nationalstaates oder, anders ausgedrückt, der nächste Schritt nach dem
Westfälischen Frieden und 200 Jahren Nationenbildung. Für Soziologen bedeutet Globalisierung die Vermischung und Verschmelzung
diverser Kulturen, Sprachen und Gesellschaftssysteme. Globalisierung weist also in Richtung
der Entstehung einer einzigen allumfassenden
Monokultur. Für Ökonomen schließlich ist es
die zunehmende grenzübergreifende ökonomische Integration von freierem Handel von
Gütern, Dienstleistungen, Kapital und Arbeitskräften bis hin zu integrierten Kommunika­
tionssystemen. Freihandel, so Hans-Werner
Sinn, wird als Synonym für Globalisierung
wahrgenommen.
Allerdings handelt es sich bei der Globalisierung laut Sinn auch um einen langfristigen
Prozess, für dessen Erfolg noch viel getan werden muss. In den Nachkriegsjahren erlebten
wir zwar eine progressive Verringerung der
Handelshemmnisse für Industriegüter, in den
Bereichen Landwirtschaft und Dienstleistungen bestehen hingegen weiterhin große Barrieren. Wie die jüngste Literatur zu Handelskosten außerdem betont, ist eine Verminderung
der tarifären Handelshemmnisse allein nicht
ausreichend, um alle Vorteile der Globalisierung zu realisieren. Andere Handelsbarrieren
wie Sprache, Transportkosten und Produktbzw. Prozessstandards (und Regulierung im
geprägten »Beggar thy neighbour«-Politik der
1930er Jahre. Die Kräfte des nationalen Interesses, die der Literatur zufolge solchen Vergeltungsmaßnahmen zugrunde liegen, wurden
durch die Globalisierung geschwächt. Dies
zeigt sich vor allem im grenzübergreifenden
Kapitalbesitz, der eine Vergeltungspolitik unrentabel macht. Des Weiteren erlaubt das
Heranwachsen neuer Volkswirtschaften im
­
Vergleich zu den 1930ern eine ökonomische
Diversifizierung, die die Wirkung und damit
die Vorteile bilateraler Abschottungsmaßnahmen reduziert.
Auch zur Diskussion um die verschiedenen
Teilaspekte der Globalisierung hat Hans-Werner Sinn wesentliche Beiträge geleistet. Einer
davon ist die »Glokalisierung«. Dieser Begriff
beschreibt eine Welt, die gleichzeitig globaler
und lokaler wird. Auf ökonomischer Ebene beobachtet man eine stetig tiefer greifende In­
tegration in immer größeren Einheiten – beispielsweise die EU und NAFTA. Auf politischer
Ebene gibt es hingegen einen Drang hin zur
Fragmentierung politischer Strukturen in kleinere Einheiten. So gibt es die Schotten und ihre
Unabhängigkeitsbewegung, das britische Referendum zur EU-Mitgliedschaft, Quebecs mögliche Abspaltung von Kanada sowie den Versuch Kataloniens und des Baskenlandes, mehr
Autonomie gegenüber Spanien zu erlangen.
Hans-Werner Sinn hat stets betont, wie wichtig
es ist, bei der Globalisierung die Rolle Bayerns
in Deutschland und das Verhältnis Deutschlands zur EU zu berücksichtigen und sich nicht
nur in Richtung einer einzigen Einheit und der
Entstehung globaler Institutionen zu bewegen.
Sinn ist also nicht nur ein Globalisierer, sondern auch ein »Glokalisierer«.
Im Ruhestand kann der globalisierte HansWerner Sinn nun auf eine mehr und mehr globalisierte Welt blicken, eine Welt, die er mit seinen Ideen mitgeprägt hat.
Basarökonomie: Hans-Werner Sinn und die Globalisierung
Allgemeinen) bleiben bestehen und segmentieren die Märkte nach wie vor. Zwar mögen
die Kapitalmärkte der OECD-Länder eng integriert sein, doch der chinesische Renminbi und
die indische Rupie sind nach wie vor nicht
­vollständig konvertibel. Im Hinblick auf die Arbeitsmärkte führen Beschränkungen bei Visaund Arbeitsgenehmigungen zu starken Marktsegmentierungen. Als Integrationsprozess, wie
Sinn betont, ist Globalisierung ein andauernder Vorgang und wird dies vermutlich auch
noch viele Jahrzehnte bleiben.
Globalisierung ist außerdem ein Prozess, der
sowohl Umkehr als auch Fortschritt bedeutet.
So können rigide Regeln auf den Arbeits­
märkten als Antwort auf grenzüberschreitende
­Arbeitnehmerströme den Vorteil der Globali­
sierung ins Gegenteil verkehren. Gleichzeitig
wird der Nutzen sinkender Zölle durch die
­zunehmende Verwendung spezieller Antidumpingzölle unterminiert.
Natürlich hat Globalisierung auch ihre
schlechten Seiten, die von Sinn – zusammen
mit möglichen Abhilfen – offen diskutiert werden. Ein klarer Nachteil ist die Ausbreitung von
Schocks über Landesgrenzen hinaus in Form
des Ansteckungseffekts. Die Finanzkrise 2008
machte diese Gefahr deutlich und zeigte außerdem die Notwendigkeit einer globalen Finanzaufsicht. Sinn war stets in der vordersten Reihe
bei der Forderung nach entsprechenden Reformen. Ein weiterer negativer Aspekt, der oft mit
Globalisierung verbunden wird, ist, dass stärkere Integration nicht nur zu mehr Ungleichheit führt, sondern gleichzeitig die Effektivität
von Politikinstrumenten zur Bekämpfung derselben einschränkt. Sinn nennt hier als Beispiel
den Steuerwettbewerb.
Positiv ist hingegen, dass die Globalisierung
die weltweite Finanzkrise 2008 größtenteils
überstanden hat, trotz der Bedenken einer
möglichen Rückkehr zur vom Protektionismus
133
John Peet
VOM FREIHANDEL
Basarökonomie
John Peet war von 2003 bis 2015
Redakteur der Rubrik Europa des
Economist und ist nun politischer
Redakteur. Seine Expertise be­
inhaltet u. a. Spanien, die EU, EWU,
Irland, Italien, die Türkei und
Frankreich. Im Mai 2014 veröffentlichte er Unhappy Union: how the
euro crisis – and Europe – can be
fixed.
134
Während der vielen vergnüglichen Jahre als
Teilnehmer und Diskussionsleiter beim Munich Economic Summit (MES) hatte ich einige
Differenzen mit Hans-Werner Sinn, so z. B. zu
Aspekten der Eurokrise, zur exzessiven Sparpolitik und zum Klimawandel. Stets korrekt
waren seine Analysen meiner Meinung nach
im Hinblick auf den Freihandel. Dieses Thema
ist gerade für den Economist von besonderer
Bedeutung, da unsere Zeitschrift 1843 gegründet wurde, um für Freihandel und gegen die
protektionistischen Korngesetze Großbritanniens zu kämpfen.
Die gedankliche Auseinandersetzung mit
und die Argumentation für Freihandel bleiben
weiterhin essentiell, gerade weil sie für den
­Laien nicht intuitiv verständlich sind. So wird
David Ricardos auf den Ideen von Adam Smith
aufbauende Abhandlung zur Theorie des komparativen Vorteils oftmals als der wichtigste –
von Zynikern als der einzige – intellektuelle
Fortschritt der Volkswirtschaftslehre bezeich-
net. Bemerkenswert ist außerdem, dass trotz
dieser Erkenntnis des 19. Jahrhunderts nachfolgende Generationen von Politikern und
­Geschäftsleuten weiterhin den Sinn des Frei­
handels hinterfragen, für Protektionismus und
gegen Freihandelsabkommen eintreten.
Deutschland ist dabei einer der Hauptkampfschauplätze. Seit Bismarcks Argumentation von
der »jungen Industrie« gibt es in Deutschland
laute Stimmen gegen den immer freieren Handel. Nichtsdestotrotz setzt sich Deutschland seit
1945 vorbildlich für immer weitere GATT- und
WTO-Handelsrunden und für mehr Libera­
lisierung im Europäischen Binnenmarkt ein.
Bis jetzt. Denn eine der Schlussfolgerungen des
MES 2014 in Bezug auf den Handel im Allgemeinen und das Transatlantische Freihandelsabkommen (TTIP) zwischen Europa und den
Vereinigten Staaten im Besonderen war, dass
die öffentliche Meinung in Deutschland zu einem erheblichen Teil in Richtung Antiglobalisierung und Antifreihandel tendiert.
mungen, die so vielen unserer ­Lebensmittel-,
Gesundheits- und Sicherheitsstandards zugrunde liegen, zu verwässern, um mehr Handel und
Wettbewerb zu schaffen. Gerüchte über die
möglichen Gefahren von TTIP sind weit verbreitet – in Amerika wie in Eu­ropa. So wird
in Großbritannien behauptet, TTIP würde das
nationale Gesundheitssystem unterminieren.
­
Überall in Europa gibt es Sorgen, TTIP könne zu
Importen von genmani­pulierten Organismen,
Hormonfleisch sowie Chlorhühnchen führen.
Trotzdem gehen die TTIP-Verhandlungen
weiter. Wenn überhaupt, haben sie sogar an
Bedeutung gewonnen. Bei begrenztem Inter­
esse an breiten multilateralen Verhandlungen
sind TTIP und sein pazifisches Gegenstück,
das transpazifische Partnerschaftsabkommen,
die einzigen veritablen Optionen. TTIP könnte
für die beiden größten Handelsblöcke Europa
und Amerika außerdem die letzte Möglichkeit
sein, sich über Standards zu einigen, bevor
China seinen rechtmäßigen Platz als weltgrößte Handelsnation einnimmt. Außerdem beeinflusst TTIP die britische Entscheidung zur EUMitgliedschaft : Ist TTIP erfolgreich, so ist dies
ein wesentlicher Grund für Großbritannien,
in der EU zu bleiben. Sollte TTIP scheitern,
so werden Euroskeptiker verlangen, das Land
s­ olle die EU verlassen und ein eigenes Abkommen mit Amerika schließen.
Hier sind die Argumentationskraft und Leidenschaft von Ökonomen wie Hans-Werner
Sinn von großer Bedeutung. Die öffentliche
Meinung in Deutschland mag zunächst gegen
TTIP sein, doch hat die Vergangenheit gezeigt,
dass sie offen für überzeugende Argumente ist.
Kanzlerin Merkel wie auch der britische Premier Cameron sind fest von TTIP überzeugt.
Politiker brauchen jede Unterstützung, die sie
bekommen können – von Wissenschaftlern,
Journalisten und anderen Meinungsbildnern –,
wenn sie das Abkommen realisieren wollen.
Basarökonomie: Hans-Werner Sinn und die Globalisierung
Seit 1999, als Demonstranten die Handels­
gespräche in Seattle störten, sind die Gegner
des freien Handels wie Pilze aus dem Boden geschossen. Mit TTIP hingegen gibt es ein grundlegenderes Problem. Es handelt sich nicht mehr
um ein klassisches Handelsabkommen zur
­Reduzierung von Zöllen und anderen Formen
des Protektionismus gegen den freien Güterverkehr, sondern es geht um die Eliminierung
nichttarifärer Handelshemmnisse, die durch
unterschiedliche Standards in Bereichen wie
Gesundheit, Tier- und Pflanzenschutzrecht
verursacht werden. Außerdem soll eine Dis­
kriminierung ausländischer Investoren verhindert werden, indem diesen gestattet wird, Regierungen unter bestimmten Umständen zu
verklagen. Wie einige andere Handelsabkommen betrifft TTIP sowohl den Handel mit Gütern als auch den mit Dienstleistungen.
Dies scheint die deutschen Empfindlichkeiten am meisten zu treffen. Das Land hat eine
der ältesten Umweltbewegungen in Europa. So
waren die Grünen lange Zeit Europas erfolgreichste grüne Partei, mit Regierungsbeteiligung auf Bundesebene von 1998 bis 2005. Die
Ablehnung von Chlorhühnchen und -salaten
oder genmanipulierten Nahrungsmitteln ist in
vielen europäischen Ländern tief verwurzelt,
aber wahrscheinlich am tiefsten in Deutschland. Folglich ist die Vermittlung eines Freihandelsabkommens, von dem – fälschlicherweise – angenommen wird, dass es einige
dieser Dinge zuließe, für politische Entscheidungsträger besonders schwierig.
Der frühere Generaldirekter der WTO, Pascal
Lamy, hat diese Situation mit der Bemerkung,
Handelsverhandlungen befassten sich mittlerweile weniger mit Protektionismus als mit Vorsichtsmaßnahmen, gut zusammengefasst. Es ist
wesentlich leichter, Wähler (und Konsumenten)
davon zu überzeugen, Protektio­nismus abzuschaffen, als davon, Verbraucherschutzbestim-
135
Karlhans Sauernheimer
HANS-WERNER SINN IM
AUSSENWIRTSCHAFTSAUSSCHUSS
Basarökonomie
Karlhans Sauernheimer ist Emeritus der VWL. Er lehrte und forschte
in Essen, München und Mainz zur
Außenwirtschaftstheorie, war
­Mitherausgeber des Jahrbuchs für
Wirtschaftswissenschaften, Vorsitzender des Außenwirtschaftsausschusses im VfS und Mitglied des
Wissenschaftlichen Beirats im ifo
Institut.
136
Hans-Werner Sinn wäre nicht Hans-Werner
Sinn, wenn er sich, von Hause aus eigentlich
­Finanzwissenschaftler, bei den Außenhandels­
ökonomen im Verein für Socialpolitik, dessen Vorsitzender er später werden sollte, nicht
mit einem Paukenschlag eingeführt hätte. Bei
der Jahrestagung ihres Ausschusses 1984 in
Regensburg präsentierte er seinen später in
Kyklos publizierten Beitrag »Die Bedeutung
des Accelerated Cost Recovery Systems für
nationalen Kapitalverkehr«. Das
den inter­
­System war in den USA 1981 von Präsident
­Reagan eingeführt worden. Allerdings schien
der auf technische Details wie Abschreibungsmodalitäten hinweisende Titel des Beitrags nur wenig Zündstoff zu bieten. Dies
galt umso mehr, als der Referent mit seinen
bis­herigen Publikationen Ökonomische Entscheidungen bei Ungewißheit und Kapital­
einkommensbesteuerung sowie seiner gerade
erfolgten Berufung auf einen versicherungswissenschaftlichen Lehrstuhl an die LMU
München nicht gerade als Außenhandelsökonom hervorgetreten war.
Seine zunächst wenig kontrovers erscheinenden allokativen Überlegungen gewannen
rasch an Dramatik, als er klarmachte, welche
Dimension der zu erwartende Kapitalabfluss
aus Deutschland haben würde und welch unangenehme Handlungsoptionen Deutschland
verbleiben würden, um die drohende Kapitalflucht abzuwenden. HWS rechnete vor, dass
7 % des Weltkapitalstocks und damit 14 % – 21 %
des Welt-BIP in die USA umgelenkt würden,
was Leistungsbilanzdefizite in Höhe von 4 %
p. a. des US-BIP über eine Dauer von zehn Jahren nach sich ziehen werde. Er schloss seinen
Vortrag mit den Worten : »Wenn Deutschland
die Wahl hat, den Rechtsgrundsatz einer nutzungsdaueradäquaten Abschreibung aufzugeben oder seine kapitalintensiven Industrien zu
verlieren, sollte die Entscheidung nicht schwerfallen.« Nun, ganz so schlimm kam es dann
doch nicht. Die Leistungsbilanz der USA ver-
deduzierten, dauerhaften, internationalen Reallokationseffekten des Kapitalbestandes die
zu ihrer Realisation erforderlich werdenden
temporären, aber u. U. langjährigen Leistungsbilanzeffekte ab : Die Kapitalbilanz führt, die
Leistungsbilanz folgt. So prognostizierte er im
genannten Beitrag für die 1980er Jahre die anhaltenden Leistungsbilanzdefizite der USA. Im
Zusammenhang mit der Öffnung Osteuropas
sowie der Schaffung der Eurozone verwies er
auf die zu erwartende Kapitalreallokation zugunsten Ost- und Südeuropas, die in Deutschland hohe Leistungsbilanzüberschüsse zur
­Folge haben müsse. Infolge der hohen Reallohnstarrheit in den 1990er Jahren hierzulande
und dem zinssenkungsbedingten Konsumboom im Süden der Eurozone seien, so sein
Argument, die deutschen Exporte ineffizient
hoch. Die Wohlfahrtseinbußen zeigten sich im
ersten Fall in wachsender Arbeitslosigkeit, im
zweiten Fall im Erwerb von wertlosen Nettoauslandsforderungen. Der erste Problemkreis
ist in seinen Arbeiten zur Basarökonomie angesprochen, der zweite in seinen Arbeiten zu
den Verwerfungen in der Eurozone im Allgemeinen und zu den Target-Salden im Beson­
deren.
Last but not least enthält viertens der ausgewählte Beitrag – für eine ausführlichere Würdigung der an der Volkswirtschaftlichen Fakultät
und dem ifo Institut verbrachten gemeinsamen
Zeit fehlt hier der Raum – eine hübsche personelle Pointe. Sinn zitiert als erste seiner Quellen im Beitrag einen Aufsatz von W. Fuest und
R. Kroker, Steuerliche Förderung von Investition
und Innovation im internationalen Vergleich,
Köln 1981. Der erstgenannte Autor ist der
­Onkel jenes Clemens Fuest, der 35 Jahre später
Sinns Nachfolge im ifo Institut antritt.
Basarökonomie: Hans-Werner Sinn und die Globalisierung
schlechterte sich ab 1982 zwar in der Tat erheblich. Das Defizit blieb aber in den 1980er Jahren
im Durchschnitt bei 2 %.
Der Beitrag enthielt erstens bereits all jene
allgemeinen Ingredienzen, die Sinns Beiträge
bis heute ausmachen : ein modelltheoretisches
Gerüst, Kenntnis der für die aufgeworfenen
Fragen relevanten faktischen und institutionellen Sachverhalte sowie eine unmissverständ­
liche, nicht selten verblüffende wirtschaftspolitische Botschaft, all das verpackt in eine klare,
kraftvolle Diktion. Unter deutschen Ökonomen haben in den letzten 50 Jahren nur Karl
Schiller und Herbert Giersch über eine vergleichbar bildhafte und wirkmächtige Sprache
verfügt wie Hans-Werner Sinn.
Der Beitrag beinhaltete zweitens einen speziellen Anwendungsfall jenes Kapitalalloka­
tionsmodells, anhand dessen Sinn in seiner
Habilitationsschrift die intersektoralen, internationalen und intertemporalen Wirkungen
der Besteuerung studiert hatte. Die Logik des
Modells, die Sinn dort im Detail entfaltete, bot
eine Fülle höchst überraschender, zu konven­
tionellem Denken querstehender Einsichten.
Krause-Junk kommentierte das Buch in seiner
Besprechung in der Zeitschrift für Wirtschaftsund Sozialwissenschaften 1987 dann auch wie
folgt : »Wo das Übliche trivial erscheint, fas­
ziniert das Unvermutete. So herrscht in der
ökonomischen Theorie mehr Freude an einem
Paradox als an hundert Orthodoxien. Das
­
Sinn­’sche Buch ist voller Freuden.« Den Paradoxien in den Wirtschaftswissenschaften hatte
Sinn schon 1981 einen auch heute noch höchst
lesenswerten Artikel im Jahrbuch für Sozial­
wissenschaft gewidmet.
Der Beitrag leitet drittens, ebenfalls nicht
untypisch für das Sinn’sche Denken, aus den
137
Der Chef der BMW Stiftung
­ erbert Quandt, Michael Schaefer,
H
bei der letzten gemeinsam mit
HWS organisierten Veranstaltung
des Munich Economic Summit im
Mai 2015.
Zwei nachdenkliche Gesichter bei
einem gemeinsam von der CESifoGruppe und der Süddeutschen
Zeitung veranstalteten Münchner
Seminar im Frühjahr 2013: die
­bayerische Wirtschaftsministerin
Ilse Aigner und der ifo-Präsident.
ifo-Bereichsleiter Gabriel Felbermayr und HWS beim sechsten
Brussels International Economic
Forum (BrIEF) des ifo Instituts mit
dem Ausschuss der Regionen in
Brüssel, Oktober 2012.
138
Sie haben den Munich Economic
Summit von 2006 bis 2013 gemeinsam geleitet: Jürgen Chrobog,
ehemaliger Staatssekretär im
­Auswärtigen Amt, und HWS.
Hier beim MES im Mai 2015.
Der erste Wissenschaftliche Beirat
des CES (1992/93): ( von links nach
rechts ) Hans Möller, Franz Gehrels,
Karlhans Sauern­heimer, Martin
Beckmann, HWS (nicht im Drei­
teiler !), Edwin von Böventer,
­Richard Musgrave, Otto Gandenberger, Agnar Sandmo, Klaus
­ immermann.
Z
April 2008: Der damalige
­Bayerische Ministerpräsident
­Günther Beckstein zeichnet
HWS mit dem Maximiliansorden
für Wissenschaft und Kunst aus.
139
Süddeutsche Zeitung, 2012
6
DAS GRÜNE PARADOXON:
Hans-Werner Sinn und die Klimaund Energiepolitik
Karen Pittel
EINLEITUNG
Das grüne Paradoxon: Hans-Werner Sinn
und die Klima- und Energiepolitik
Das grüne Paradoxon
Karen Pittel leitet seit 2010 das
ifo Zentrum für Energie, Klima
und erschöpfbare Ressourcen und
ist Professorin für Volkswirtschafts­
lehre an der Ludwig-MaximiliansUniversität München. Ihre
Forschung umfasst Fragen der
langfristigen Wirtschaftsentwicklung, Ressourcennutzung und
Energiepolitik.
142
In meinen nunmehr fünf Jahren am ifo Institut
habe ich es häufig erlebt, dass Hans-Werner
Sinn für einen »Klimawandelskeptiker« gehalten wird. Wer dies behauptet, hat ihm allerdings nie wirklich zugehört. Seine Kritik an der
heutigen Klima- und Energiepolitik wird gern
mit einer generellen Skepsis gegenüber ihrer
Notwendigkeit verwechselt. Eine solche Argumentation erspart es seinen Kritikern dabei
häufig, sich mit seinen Argumenten genauer
auseinanderzusetzen. Sie zeigt aber auch, wie
emotional und losgelöst von ökonomischer
Rationalität die Debatte um Klimaschutz und
Energiepolitik häufig geführt wird. Was aber
sagt Hans-Werner Sinn tatsächlich ? Er wagt es,
in einer Zeit, in der mehr häufig mit besser verwechselt wird, darauf hinzuweisen, dass auch
in der Klima- und Energiepolitik mehr durchaus nicht immer besser sein muss. Dass seine
Argumente stringenter ökonomischer Logik
folgen, wird dabei gerne ignoriert.
Hans-Werner Sinn hat schon früh begonnen,
sich mit Ressourcen- und Energiethemen auseinanderzusetzen. Bereits Anfang der 1980er
Jahre, als die Diskussion um den Klimawandel
noch in den Kinderschuhen steckte, wies er darauf hin, dass wohlmeinende Politiken, die den
Abbau von Öl, Kohle oder Gas verlangsamen
sollen, genau das Gegenteil erreichen können.
Das Hauptargument ist, dass eine drohende
Entwertung der Ressourcen durch nachfragereduzierende Politiken Anreize schafft, diese
eher heute als morgen aus dem Boden zu holen. Hans-Werner Sinn bezeichnet diesen Effekt als das »grüne Paradoxon« der Klimapolitik. Er erkannte damit früher als viele andere,
dass die Vernachlässigung des Angebotsver­
haltens von Ölscheichs, Gaszaren und Kohle­
baronen zu fundamentalen Fehleinschätzungen von Politiken führen kann.
Es überrascht kaum, dass seine theoretischen Ergebnisse lange Zeit wenig Resonanz in
der ›realen Welt‹ fanden. Dies änderte sich radikal mit Erscheinen seines Buches Das grüne
J­ahre bezeichnet. Die Überfrachtung mit sich
teilweise widersprechenden Zielen und Instrumenten kritisiert er dabei ebenso wie den überhasteten Atomausstieg. Seine stringente gesamtwirtschaftliche Argumentation steht dabei
in krassem Gegensatz zu der oft einzelwirtschaftlich und an technischer Effizienz ausgerichteten politischen Debatte. Die Forderung
einer Orientierung an Grundprinzipien ökonomisch effizienter Regulierung wird zwar von
der überwältigenden Mehrheit der Ökonomen
geteilt, trifft aber im politischen Raum unweigerlich auf Skepsis. Ungeliebte und daher gern
vernachlässigte Probleme, wie die Frage nach
der Sinnhaftigkeit von Elektromobilität bei
­einem kohlelastigen Strommix oder auch die
schwankende Einspeisung von Wind- und Solarenergie in Abwesenheit geeigneter Speicher,
bringt er mit Begriffen wie »Kohleautos« und
»Zappelstrom« ins öffentliche Bewusstsein.
Das originäre Ziel der Energiewende, die
Reduktion von Treibhausgasen, stellt HansWerner Sinn dabei nicht in Frage. Seine Kritik
richtet sich gegen die Mittel. Ist die globale Reduktion der Emissionen das übergeordnete Ziel
der Energiewende, sollte die Wahl der Vermeidungstechnologien – bei Setzung geeig­neter
Rahmenbedingungen – dem Markt überlassen
werden. Darüber hinausgehende Eingriffe und
Steuerungsversuche setzen lediglich die Koordinationskräfte des Marktes außer Kraft und
verteuern so die Transformation unnötig.
Hans-Werner Sinns Positionierung in der
Energie- und Klimadebatte kann kaum überraschen. Sie reflektiert grundsätzliche Prinzipien
des Ordoliberalismus, die sein gesamtes Werk
durchziehen. Um es mit den Worten von Karl
Schiller zu sagen : »So viel Markt wie möglich
und so viel Staat wie nötig.«
Das grüne Paradoxon: Hans-Werner Sinn und die Klima- und Energiepolitik
Paradoxon – Plädoyer für eine illusionsfreie Klimapolitik im Jahr 2008. Für seine kritische
­Abrechnung mit der heutigen Energie- und
Klimapolitik erntete er – auch wenig überraschend – nicht nur Beifall. So wurde er bereits
ein Jahr später vom Naturschutzbund Deutschland als »Dinosaurier des Jahres« ausgezeichnet. Wer Hans-Werner Sinn kennt, der weiß,
dass ihn diese Einschätzung eher anspornen
dürfte, sich umso mehr für eine rationale und
theoriefundierte Klimapolitik einzusetzen. Seit
Erscheinen des Buches ist die wissenschaftliche
Literatur zu diesem Thema förmlich explodiert. Von der Politik dagegen wird das grüne
Paradoxon immer noch gern als theoretisches
Kunstprodukt abgetan, da es empirisch nur
schwer nachzuweisen ist. In die Analysten­
etagen der Banken hat es allerdings längst Einzug gehalten. Die Erwartung eines Rückgangs
der zukünftigen Ressourcennachfrage wird
dort als eine der Ursachen für die zurzeit niedrigen Ölpreise diskutiert.
Für Das grüne Paradoxon gilt grundsätzlich
das Gleiche wie für andere Bücher von HansWerner Sinn : Wissenschaftler, Politiker und
Bürger reiben sich an seinen Aussagen, widersprechen ihm und werfen ihm eine übermäßige Vereinfachung komplexer Sachverhalte vor.
Aber auch mit diesem Buch ist ihm gelungen,
was keinem anderen deutschsprachigen Ökonomen in gleicher Weise gelingt : Erkenntnisse
der ökonomischen Forschung in die gesellschaftliche Debatte einzubringen. Dabei seziert
er die Sachlage mit chirurgischer Präzision und
identifiziert Schwachstellen wie auch Herausforderungen von Politiken punktgenau.
Die deutsche Energiewende verfolgt HansWerner Sinn mit unverhohlener Skepsis, wenn
nicht sogar mit Grauen. Als »Energiewende ins
Nichts« hat er die Entwicklung der letzten
143
Rick van der Ploeg
DIE POTENZIELLE KONTRAPRODUKTIVITÄT
VON SECOND-BEST-MASSNAHMEN IN DER
KLIMAPOLITIK
Das grüne Paradoxon
Rick van der Ploeg ist Professor
für Volkswirtschaftslehre an der
Universität Oxford und Wissenschaftlicher Leiter des Oxford
­Centre for the Analysis of Resource
Rich Economies. Zudem lehrt er an
der Freien Universität Amsterdam
und leitet das Fachgebiet Public
Sector Economics im CESifo-Netzwerk.
144
Das grüne Paradoxon und die mögliche Kontraproduktivität von nicht durchdachter Klimapolitik wurden von Hans-Werner Sinn 2008 in
seinem Buch und in einem wissenschaftlichen
Artikel vorgestellt. Tatsächlich gehen die Ideen
auf frühere theoretische Arbeiten aus den
1980er Jahren zurück, in denen er zeigt, dass
eine über die Zeit steigende Wertsteuer auf fossile Brennstoffe zu einer Beschleunigung des
Brennstoffabbaus führt. Wie es für ihn typisch
ist, hat er auch in der deutschen politischen
Debatte in klaren Worten vor dem grünen Paradoxon gewarnt. Zumindest teilweise müssen
ihn dazu die hohen Subventionen für Solarenergie in Deutschland angeregt haben. In
­Anbetracht seiner herausragenden Leistungen
auf dem Gebiet der Finanzwissenschaft und
der Ressourcenökonomie ist es keine Über­
raschung, dass das ökonomische Prinzip des
Zweitbesten die Grundlage des grünen Paradoxons bildet. Politiker schrecken vor erstbesten
Politikmaßnahmen zur Bekämpfung des Kli-
mawandels zurück, wie etwa einem CO2-Preis.
Eher warten sie ab, verschieben eine Bepreisung von CO2 und versuchen stattdessen, ihre
Nachfolger zu verpflichten. Zudem arbeiten
Politiker lieber mit Zuckerbrot als mit Peitsche :
Lieber subventionieren sie erneuerbare Ener­
gien – weit über das notwendige Maß hinaus,
das die positiven Externalitäten von learningby-doing internalisieren würde –, als dass sie
ehrlich handeln und einen ökonomisch rich­
tigen CO2-Preis durchsetzen.
Zweitbeste Politiken wie das Verschieben
von CO2-Bepreisung und die Subventionierung von erneuerbaren Energien haben die
­ungewollte Folge, fossile Brennstoffpreise zu
senken, sowohl in der Zukunft als auch, über
intertemporale Arbitrage, in der Gegenwart.
Im Ergebnis steigen die Nachfrage nach fossilen Brennstoffen und die CO2-Emissionen, und
der Klimawandel wird beschleunigt. Dies hätte kurzfristig negative Auswirkungen auf die
Wohlfahrt. In der längeren Frist allerdings
dern, Emissionsgrenzwerte für Autos festzu­
legen oder strenge Energieeffizienzstandards
für Gebäude durchzusetzen, nichts am unablässigen Anstieg der CO2-Emissionen geändert
haben. Durchaus zu Recht betont Sinn, dass
eine Politik, die vormals landwirtschaftlich
­genutzte Flächen zur Biokraftstoffproduktion
umwidmet, die Ärmsten auf unserem Planeten
hungriger macht und schlechter stellt. Sein Plädoyer ist daher, nicht zu versuchen, die Nachfrage nach fossilen Brennstoffen zu regulieren,
sondern direkt das fossile Brennstoffangebot zu
begrenzen, indem mehr davon im Boden belassen wird – und somit die kumulativen Emissionen zu senken. Das kommt einem CoaseAnsatz nahe, bei dem die Anbieter fossiler
Brennstoffe Geld erhalten, um sie nicht abzubauen.
Sein ehrgeiziger Vorschlag ist, alle Netto­
importeure von fossilen Brennstoffen in einem
globalen Kartell mit einem glaubwürdigen und
koordinierten Cap-and-trade-System zu organisieren und dies zu ergänzen durch eine Quellensteuer auf Kapitaleinkommen der Öl- und
Gasscheichs. Sein leidenschaftliches Plädoyer,
den Klimawandel an der Wurzel des Problems
anzugehen, sollte in politischen Kreisen besser
Fuß fassen und ist beispielhaft für seine einzigartigen Fähigkeiten als politikgetriebener Intellektueller und Wissenschaftler. Obwohl lautstarke grüne Aktivisten in Deutschland und
anderswo oft Anstoß genommen haben an
Sinns unwillkommener Kritik an schlecht gestalteter Energie- und Klimapolitik, würden sie
gut daran tun, sich seine Analyse anzueignen,
um effiziente und effektive Wege zu finden, den
Klimawandel zu bekämpfen. Unsere Enkel­
kinder und ihre Nachkommen würden uns
nicht vergeben, wenn wir nicht umgehend
Maßnahmen ergreifen würden für die vielleicht
wichtigste Herausforderung unserer Zeit.
Das grüne Paradoxon: Hans-Werner Sinn und die Klima- und Energiepolitik
würden selbst solche zweitbesten Politiken
mehr fossile Brennstoffe unter der Erde belassen und somit die kumulierten Emissionen begrenzen, so dass der letztliche Anstieg der globalen Erwärmung eingeschränkt würde. Diese
positiven Wohlfahrtseffekte sind stärker als
die negativen kurzfristigen Wohlfahrtseffekte,
wenn die Preiselastizität der fossilen Brennstoffnachfrage klein, die des fossilen Brennstoff­
angebots groß und die ökologische Diskontrate
klein ist.
Wenn das aber nicht der Fall ist, dann sind
zweitbeste Maßnahmen tatsächlich kontraproduktiv; unter diesen Umständen schlägt Sinn
vor, die von Produzenten fossiler Brennstoffe
gehaltenen finanziellen Vermögenswerte zu be­
steuern. Solch eine Steuer bremst das Bestreben der Brennstoffproduzenten, Finanzvermögen aufzubauen, und hat den gegenteiligen
Effekt einer verschobenen CO2-Steuer. Man
kann das grüne Paradoxon als intertemporale
Ver­sion von carbon leakage betrachten, dem
Gedanken, dass ein in einer Anzahl Länder geltender CO2-Preis die Preise für fossile Brennstoffe drückt und somit die Nachfrage nach
fossilen Brennstoffen in allen anderen Ländern
und den Klimawandel beschleunigt. Der »paradoxe« Effekt einer verschobenen CO2-Bepreisung führt zu carbon leakage, sowohl in der
Gegenwart als auch in der Zukunft.
Das grüne Paradoxon hat eine umfangreiche,
eher technische akademische Literatur hervorgebracht, mit wenig fundierten angewandten
Studien, die einen überzeugenden Nachweis
für signifikante und substanzielle negative Effekte von zweitbesten Klimapolitiken auf die
reale Welt erbringen würden. Dennoch : Das
Gewicht von Sinns Worten zeigt sich in dem
viel weiteren Blickwinkel, den er in seinem
Buch einnimmt. Darin erörtert er teilweise
recht provokativ, dass die Bemühungen vieler
Regierungen, etwa alternative Energien zu för-
145
Nicholas Stern
HANS-WERNER SINN, DER KLIMAWANDEL
UND DAS GRÜNE PARADOXON
Das grüne Paradoxon
Nicholas Stern ist IG Patel Professor an der LSE. Er war Chefökonom
bei EBRD und Weltbank, Leiter des
Government Economic Service
und leitete den Stern-Report zur
Ökonomik des Klimawandels.
2004 wurde er zum Ritter geschlagen, 2007 zum Life Peer ernannt.
Sein jüngstes Buch ist Why Are We
Waiting?.
146
Hans-Werner Sinn ist seit rund vier Jahrzehnten führend in der Analyse der Grundlagen
von Finanzwissenschaft und Public Policy.
Ebenso führt er die öffentliche Diskussion an.
Er ist wahrhaftig ein öffentlicher Intellektueller,
im besten Sinn des Wortes : in hohem Maße bewundert von seinen wissenschaftlichen Kollegen und ein mächtiger und konstruktiver Einflussfaktor auf der öffentlichen Bühne. Ich hatte
das Privileg, mich zu vielen Gelegenheiten und
Themen mit ihm auszutauschen und mit ihm
zusammenzuarbeiten – unter anderem bei der
Herausgabe des Journal of Public Economics,
bei den Munich Lectures, die ich 2002 gehalten
habe, und, in den letzten Jahren, rund um die
Ökonomik des Klimawandels.
Seine Arbeit zur Ökonomik des Klimawandels, insbesondere Das grüne Paradoxon, mein
Thema hier, zeigt sein großes Können in der
Anwendung theoretischer Modelle ebenso
wie seine Weisheit und sein Urteilsvermögen
darüber, wie die Welt funktioniert oder funk­
tionieren könnte. Wie immer setzte er einen
­erfrischend anderen Schwerpunkt als der Rest
der Literatur, in diesem Fall durch seine Konzentration auf die Angebotsseite. Dadurch
zeigte und betonte er, wie scheinbar wohlmeinende Politikmaßnahmen ihr Ziel verfehlen
können. Ein Beispiel, das er hervorhob, war die
fehlgeleitete Nutzung einiger (nicht aller) Biokraftstoffe, wie etwa der auf Mais basierenden,
die sehr ineffizient sein und Ressourcen von
der Nahrungsmittelproduktion abziehen können.
Sehr einsichtig argumentierte er, dass es zwei
Mechanismen gibt, um den Anstieg des Kohlendioxidgehalts in der Atmosphäre zu bremsen oder zu mindern. Erstens können wir weniger fossile Brennstoffe abbauen und nutzen,
und zweitens können wir das CO2 abscheiden
und speichern (carbon capture and storage,
CCS). Sein Fokus lag auf Ersterem : auf der
­Frage, ob unsere Preis- und Politikanreize da­
zu führen, dass Anbieter weniger abbauen – er
neuesten Untersuchungen der Carbon Tracker
Initiative (gemeinsam mit dem Grantham In­
stitute der LSE und anderen, wie etwa der
­internationalen HSBC-Bank) würden die bekannten Kohlenstoffressourcen bei einer Verbrennung ohne carbon capture and storage etwa
dreimal so viel CO2 ausstoßen, wie mit dem
­internationalen 2 °C-Ziel, das eine Obergrenze
für den Anstieg der mittleren globalen Oberflächentemperatur seit dem 19. Jahrhundert
vorsieht, vereinbar wäre – dessen Überschreitung nach wissenschaftlicher Erkenntnis einen
»gefährlichen Klimawandel« bedeuten würde,
so die Ausdrucksweise in den Sachstandsberichten des Intergovernmental Panel on Cli­
mate Change (IPCC). Die Welt ist bereits bei
der höchsten Temperatur des Holozäns angelangt, der Periode, in der sich seit der letzten
Eiszeit unsere Zivilisationen herausgebildet
­haben. Wir steuern auf einen Anstieg von deutlich mehr als 3 °C zu, das bedeutet zu einer
Tem­peratur, die die Welt seit drei Millionen
Jahren nicht gesehen hat – der Homo sapiens
existiert erst seit einer Viertelmillion Jahren.
Hans-Werner Sinn erkannte die drohenden
Gefahren. Er zeigte uns, dass wir uns mit der
Angebotsseite ebenso wie mit der Nachfrage­
seite beschäftigen müssen, und betonte die Gefahren einer Politik, die sich nur auf Letztere
konzentriert. Auch wies er darauf hin, wie
wichtig der Fokus auf Ressourcensteuern und
Ressourcenrenten ist, was die Anlagen-, Port­
folio- und Investitionsseite einschließt. Heute
sehen wir vielerlei Diskussionen um die De­
karbonisierung von Portfolios oder Desinves­
titionen. Im Laufe der Zeit ist die Welt, wie bei
so vielen anderen Themen, auf dem von HansWerner Sinn vorgeschlagenen Weg angekommen.
Das grüne Paradoxon: Hans-Werner Sinn und die Klima- und Energiepolitik
fragte also direkt nach der Angebotsseite, was
zuvor viel zu wenige getan hatten.
Sein grünes Paradoxon lag in dem poten­
ziellen Problem, dass sich die Eigentümer von
Kohlenstoffvorräten veranlasst sehen, ihre Ressourcen in der nahen Zukunft schneller ab­
zubauen, da sie eine Verschärfung der Klimapolitik in der Zukunft antizipieren. Im Grunde
bedeutet ein Preis für CO2 – z. B. durch eine
CO2-Steuer –, dass sich eine Schere öffnet zwischen den Preisen, die die Produzenten erhalten, und denen, die die Verbraucher zahlen.
Allgemein müssen die Produzentenpreise fallen und die Konsumentenpreise steigen, wenn
ein Anreiz geschaffen werden soll, weniger zu
fördern und weniger zu verbrauchen. Somit ergibt sich das Problem, dass Rohstoffförderer/­
-produzenten einen Rückgang ihrer Preise in
der Zukunft vorausahnen und versuchen, in
der Gegenwart mehr zu fördern.
In solch einem Fall sollten mengenbasierte
Politikmaßnahmen eine große Rolle spielen.
Also läge die Priorität bei Cap-and-trade-Systemen, bei denen die Politik ein Mengenziel
setzt und Preise für CO2 endogen bestimmt
werden. Damit solch ein System effektiv ist, argumentierte er, müssten sich die Nachfrager
zusammentun und die Politikmaßnahmen gemeinsam durchsetzen. Dadurch könnten sie
auch Rohstoffrenten und den Preis, den sie
zahlen, beeinflussen; gleichzeitig würden die
Kosten der Klimapolitik gesenkt. Natürlich
würde man von Seiten derer Widerstand erwarten, deren Einkommen dadurch reduziert
würden.
In vielerlei Hinsicht hat Hans-Werner Sinn
den »Divestment«-Diskussionen rund um die
sogenannte »Keep it in the ground«-Kampagne
(dt. »Lass es im Boden«) vorgegriffen. Laut den
147
Christoph M. Schmidt
MISSIONAR DER RATIONALITÄT:
HANS-WERNER SINN UND DAS »GRÜNE PARA­
DOXON« IN DER ENERGIE- UND KLIMAPOLITIK
Das grüne Paradoxon
Christoph M. Schmidt wurde
1991 in Volkswirtschaftslehre an
der Princeton University promoviert und habilitierte sich 1995
an der Universität München. Seit
2002 leitet er das RWI in Essen und
ist seit 2009 Mitglied des Sachverständigenrates zur Begutachtung
der gesamtwirtschaftlichen Entwicklung.
148
Gut gemeint ist nicht automatisch auch gut gemacht ! Das ist die häufig auf wenig Gegenliebe
stoßende Botschaft, die Hans-Werner Sinn in
der Debatte um Energie- und Klimapolitik wieder und wieder ins Feld geführt hat, prägnant
kondensiert im Begriff des »grünen Paradoxons«. Es hat die Auseinandersetzung ungemein bereichert, dass er derart vehement eine
rationale Analyse der Probleme und ihrer Ursachen eingefordert und so pointiert unzureichende Lösungsvorschläge kritisiert hat. Denn
auch gute Argumente können sich in der gesellschaftlichen Debatte nur dann durchsetzen,
wenn sie mit hohem Einsatz vertreten werden.
Diese Mission erforderte von Hans-Werner
Sinn aber auch ein hohes Maß an Leidensfä­
higkeit, denn das Streiten mit beseelten Überzeugungstätern oder mit knallharten Interessenvertretern ist oft kein Vergnügen. Er hat es
dadurch geschafft, die öffentliche Debatte über
wirtschaftspolitische Themen zu beflügeln,
häufig sogar zu prägen und zugleich eine so
Der Autor dankt Nils aus dem
Moore und Lina Zwick für Unterstützung beim Erstellen des
­Manuskripts mit konstruktiven
Kommentaren.
hohe Anerkennung in der Fachwelt zu bewahren, wie sie nur wenigen Ökonomen zuteil
wird. Drei Eigenschaften haben ihm diese gewaltige Lebensleistung ermöglicht :
ƒƒ Originalität: Es ist ihm ein ums andere Mal
gelungen, ganz neue Themen zu identifizieren oder bestehende Diskurse aus einer ganz
neuen Perspektive zu beleuchten und damit
den Trend der wissenschaftlichen und der
wirtschaftspolitischen Debatte zu setzen.
Dabei hat er immer wieder prägende Begriffe geschaffen – etwa »Kaltstart«, »Basarökonomie« oder »grünes Paradoxon«.
ƒƒ Konsequenz: Er hat dabei die aus ökonomischem Denken erwachsenden Botschaften
konsequent durchdekliniert, aufbauend auf
seiner Meisterschaft der ökonomischen Theorie. Dies führte häufig zu unbequemen
Schlussfolgerungen – etwa der Einsicht, dass
bei einer Analyse des weltweiten Energiemarkts gleichermaßen Angebot und Nachfrage zu berücksichtigen sind.
Einer seiner wichtigsten Beiträge, der diese
drei Eigenschaften zusammengeführt hat, betrifft verschiedene Facetten des großen Projekts »Energiewende«. Als diese für die Politik
noch nicht im Entferntesten ein Thema war,
hat sich Hans-Werner Sinn bereits mit der
Ökonomik nicht-erneuerbarer Ressourcen beschäftigt. Frühe Beiträge stammen aus den
1980er Jahren, motiviert durch Sorgen um die
baldige Erschöpfung wichtiger Rohstoffe, wie
sie etwa der Club of Rome im Jahr 1972 ge­
äußert hatte. Bereits damals zog er den Schluss,
dass eine Analyse des globalen Energiemarktes
ohne Berücksichtigung der Anpassungsreaktio­
nen auf der Angebotsseite unvollständig und
letztlich völlig fehlgeleitet ist.
Dieses Grundmotiv war die Basis der Arbeiten
zum späteren »grünen Paradoxon« : Eine Einschränkung der Nachfrage nach fossiler Energie
in Europa kann – wenngleich gut gemeint – im
schlimmsten Falle sogar zu einer Verschärfung
des Klimaproblems führen. Denn falls die Ressourcenbesitzer die Ankündigung einer grünen
Politik für glaubhaft halten und von einer künftig
sinkenden Nachfrage und e­inem Preisverfall
ausgehen, dann werden sie ihre Öl-, Gas- und
Kohlequellen entsprechend schneller ausbeuten.
Zugleich lässt Hans-Werner Sinn in seinen
Analysen keinerlei Zweifel daran, dass er das
Klimaproblem für eine der großen Heraus­
forderungen der Menschheit hält. Viele seiner
Kritiker liegen daher in ihrer Ablehnung seiner
Positionen als ewig gestrig, als Leugnen des
Problems völlig falsch. Ganz im Gegenteil hat
er die Dimension der Herausforderung erst so
richtig bewusst gemacht. Erfolgreicher Klimaschutz kann eben nicht im deutschen oder
­europäischen Alleingang erreicht werden, sondern ist nicht zuletzt aufgrund des »grünen Paradoxons« nur möglich in einer breiten internationalen Kooperation. Folgerichtig wirbt
Hans-Werner Sinn seit Jahren für ein weltweites CO2-Handelssystem. Umso bedauerlicher
ist es, dass bei der deutschen Energiewende
nach dem Motto »Viel hilft viel« der Emissionshandel durch die parallele Förderung der Erneuerbaren konterkariert wird.
Das »grüne Paradoxon« illustriert pars pro
toto die von Hans-Werner Sinn bei zahlreichen
Themen auf unnachahmliche Weise geleistete
Verknüpfung von wissenschaftlicher Erkenntnis und wirtschaftspolitischer Kommunika­
tion. Wie kein anderer deutscher Ökonom hat
er auch dank der sprachlichen Kraft seiner öffentlichen Beiträge intensive Emotionen, positive wie negative, ausgelöst und sich so zu einer
eigenständigen »Marke« entwickelt.
Dieses Erfolgsrezept ist jedoch nur bedingt
übertragbar. Denn die Zukunft der Ökonomik
dürfte nicht zuletzt darin liegen, das gewachsene
Bewusstsein über die Grenzen der eigenen Erkenntnis noch stärker in die Kommunika­tion
ihrer Schlussfolgerungen und Empfehlungen
einfließen zu lassen. Wenn der Eindruck entsteht, dass Ökonomen nach der Überzeugung
»Was ökonomisch keinen Sinn ergibt, kann niemals sinnvoll sein« argumentieren und zu keinerlei Kompromiss bereit sind, führt dies eher
zum Ausschluss der ökonomischen Rationalität
aus der Debatte. Doch bleibt es immer eine Gratwanderung : Im Zweifelsfall sind leidenschaft­
liche Konfrontation und »klare Kante« nach wie
vor besser als die weit verbreitete »Anschmiegsamkeit« an die Mächtigen oder den Zeitgeist.
Das grüne Paradoxon: Hans-Werner Sinn und die Klima- und Energiepolitik
ƒƒ Streitbarkeit: Er hat vehement dafür gestritten, wirtschaftspolitische Fragen rational zu
diskutieren, auf der Basis von wirtschaftswissenschaftlichen Überlegungen und nicht
als Gegenstand von Wille und Vorstellung.
Dabei hat er sich nicht davor gescheut, gegen
den Zeitgeist und gegen massive Partikular­
interessen anzutreten, etwa bei der Kritik an
der Subventionierung der Solarenergie.
149
Martin Faulstich
HWS UND DIE ENERGIEWENDE
Das grüne Paradoxon
Martin Faulstich ist Ordinarius
für Umwelt- und Energietechnik
an der TU Clausthal und war zuvor
Ordinarius für Rohstoff- und Energietechnologie an der TU München.
Er ist Vorsitzender des Sachver­
ständigenrats für Umweltfragen
der Bundesregierung und Mitglied
im Kuratorium des ifo Instituts.
150
Die große Schaffenskraft und hohe Produktivität von Hans-Werner Sinn sind hinlänglich bekannt; unzählige Bücher, Artikel, Essays und
Kommentare ergeben ein beeindruckendes Ge­
samtwerk. Beim Verfassen seines klimapolitischen Buches Das grüne Paradoxon durfte ich
die Genese eines seiner Bücher einmal hautnah
miterleben. Ich hatte die Ehre, das Manuskript
vorab vollständig zu lesen, Kapitel für Kapitel,
jeweils schreibfrisch aus dem Rechner. HWS
hat dabei bisweilen schneller geschrieben, als
ich lesen konnte.
HWS lässt keinen Zweifel aufkommen, dass
die Erde immer wärmer wird, der Klimawandel
dramatische Folgen haben wird und »dass die
Menschheit auch aus ökonomischer Perspek­
tive handeln muss, um den Klimawandel zu
stoppen«. 25 Jahre Klimaschutzbemühungen
und zahlreiche Klimaschutzkonferenzen haben
es jedoch nicht vermocht, den Ausstoß an Kohlendioxidemissionen zu mindern. Selbst im
Vorreiterland Deutschland sind die Treibhaus-
gasemissionen zeitweise wieder gestiegen. Die
Aufnahmefähigkeit der Atmosphäre für Treibhausgasemissionen ist die neue Limitation der
Industriegesellschaft, und nicht mehr die Verfügbarkeit der fossilen Rohstoffe Kohle, Öl und
Gas. Nahezu sämtliche fossilen Reserven und
Ressourcen müssen schlichtweg im Boden bleiben, wenn wir das international verbindliche
Zwei-Grad-Ziel noch einhalten wollen. Die
Knappheit Atmosphäre findet mittlerweile
auch Eingang in die ökonomische Theorie.
Über die Notwendigkeit zum Klimaschutz
sind wir uns einig, über die Wege dahin
schon weniger und bei der Energiewende noch
gar nicht. Wir haben diese oft diskutiert und
in Streitgesprächen dokumentiert, zuletzt am
13. Mai 2015 auf der viel beachteten gemeinsamen Veranstaltung Energiewende: Konsequenzen für den Industriestandort Deutschland?
vom ifo Institut und dem Sachverständigenrat
für Umweltfragen (SRU) in Berlin.
Die Energiewende bezieht sich derzeit noch
energie haben beeindruckende Lernkurven;
steigende Stückzahlen, Serienfertigung und intensive Forschung lassen diese immer preiswerter werden. Das ist der entscheidende Grund
für das EEG, das Erneuerbare-Energien-Gesetz.
Dieses hat die technologischen und ökonomischen Lernkurven erst möglich gemacht und
ergänzt sinnvoll den Emissionshandel.
Neben der Stromerzeugung muss langfristig
auch der Wärme- und Kraftstoffsektor auf fossile Energieträger verzichten. Das wird teils
durch Elektrifizierung gelingen und darüber
hinaus mit den technischen Optionen Powerto-Gas und Power-to-Liquid. So lassen sich regenerative Gase, Kraftstoffe und Chemikalien
für Haushalte, Verkehr und Industrie aus re­
generativem Strom erzeugen. Damit wachsen
elektrische und stoffliche Welt zusammen und
schaffen vielfältige Flexibilisierungsoptionen.
Die nachhaltige Industriegesellschaft wird also
mehr denn je eine Stromgesellschaft sein. Die
Energiewende lässt sich zudem durch die eingesparten Kosten für fossile Brennstoffe finanzieren und wird langfristig die niedrigsten Systemkosten haben.
Jeder Wissenschaftler wünscht sich natürlich, dass seine Prognosen zutreffen. Hier muss
ich HWS wohl enttäuschen. Die von ihm prophezeite »Energiewende in Nichts« wird es
nicht geben, denn die Energiewende schreitet
erfolgreich voran. Auch die von ihm befürch­
tete »Verspargelung« wird es nicht geben. Lediglich rund 2 % der Landesfläche werden bei
einer regenerativen Vollversorgung für Windkraftanlagen benötigt. Im wohlverdienten Unruhestand wird Hans-Werner Sinn trotz der
Energiewende die von ihm geschätzten Landschaftsbilder eines Caspar David Friedrich weiterhin in der Wirklichkeit bestaunen dürfen.
Denn im Epilog des Grünen Paradoxons bekennt er : »Wie viele meiner Landsleute denke
und fühle ich grün.«
Das grüne Paradoxon: Hans-Werner Sinn und die Klima- und Energiepolitik
weitgehend auf die Stromerzeugung. Welche
Klimaschutzoptionen sind hier möglich ? Fossil
betriebene Kraftwerke scheiden langfristig
zwangsläufig aus. Auch die Nachrüstung mit
CCS, also die Abscheidung von Kohlendioxid
und Verpressung in unterirdische Gesteinsformationen, ist keine dauerhafte Lösung, da diese
Lagerstätten gerade einmal für 30 Jahre reichen.
Bleiben als Optionen also die Atomenergie und
die erneuerbaren Energien. HWS ist bekanntermaßen ein überzeugter Verfechter der Atom­
energie und ich der erneuerbaren Energien.
Trotz vieler Diskussionen konnte bislang keiner den anderen überzeugen, das Lager zu
wechseln. So reizt es mich nun doch, es hier
noch einmal zu versuchen. Denn ich hege die
Hoffnung, dass HWS nach seiner Emeritierung
sämtliche Beiträge dieses Buches lesen wird.
HWS hat nicht nur die Revidierung des
Atomausstiegs gefordert, sondern sogar den
Ausbau zu einer Stromversorgung, die weit­
gehend auf Atomenergie setzt. Dazu wäre der
Bau von über 60 neuen Atomkraftwerken in
Deutschland erforderlich. Das wird wohl nicht
einmal der kühnste Atomvisionär für möglich halten. Nun lässt sich über Sicherheit und
Endlager trefflich streiten. Es gibt keine alle
möglichen Schäden abdeckende Haftpflichtversicherung, denn nüchtern kalkulierende
Mathematiker halten sie nicht für versicherbar.
Zudem haben 50 Jahre kommerzielle Kernkraftnutzung nicht zu einem dauerhaften Endlager geführt. Das entscheidende Argument
­gegen die Atomenergie ist jedoch ein ökonomisches, sie rechnet sich nicht. Neue Atomkraftwerke sind schlicht die teuerste Klimaschutzoption. Etliche in Bau befindliche Kernkraftwerke
haben Verzögerungen von mehreren Jahren
und eine Vervielfachung der Kosten.
Anders sieht es hingegen bei den erneuer­
baren Energien aus. Regenerativer Strom wird
Jahr für Jahr kostengünstiger. Solar- und Wind­
151
Ottmar Edenhofer
KLIMAPOLITIK IM ZEITALTER DER
FOSSILEN ENERGIETRÄGER
Das grüne Paradoxon
Ottmar Edenhofer ist Stellvertretender Direktor und Chefökonom
am Potsdam-Institut für Klima­
folgenforschung, Direktor des
Mercator Research Institute on
Global Commons and Climate
Change und Professor für die Ökonomie des Klimawandels an der
TU Berlin und Kovorsitzender der
AG III des Weltklimarats.
152
Shell sucht nach Öl in der Arktis und hat seine
Investitionen in die Exploration massiv erhöht;
nicht nur China und Indien setzen nach wie
vor auf die Nutzung von Kohle, auch Afrika
­erlebt eine Renaissance dieses fossilen Energieträgers. Die Shale-Gas-Revolution in den Vereinigten Staaten wird zwar heimische Emis­
sionen vermindern, aber binnen einer Dekade
werden die USA zum größten Kohleexporteur
der Welt avancieren.
Ein Blick auf die Zahlen, die der Weltklimarat vorlegt, zeigt deutlich die Dramatik, die sich
aus dem steigenden Angebot fossiler Energieträger ergibt. Zwar hat sich die Staatengemeinschaft auf das 2 °C-Ziel geeinigt, was bedeutet,
dass sie nur noch maximal 1000 Gigatonnen
CO2 in der Atmosphäre ablagern darf. Diesem
begrenzten Deponieraum steht jedoch ein Angebot fossiler Energieträger gegenüber, deren
Verbrennung ca. 16 000 Gigatonnen CO2 freisetzen würde. Die Besitzer von Kohle, Öl und
Gas werden die vorhandenen Ressourcen und
Reserven voraussichtlich nicht vollständig aus
dem Boden holen, da die Extraktionskosten
mit der bereits geförderten Menge stetig steigen. Doch die Diskrepanz ist offensichtlich.
Die Knappheit fossiler Brennstoffe ist auf lange
Sicht kein begrenzender Faktor.
Wenn das 2 °C-Ziel erreicht werden soll,
müssten 70 % der Kohle, ungefähr 35 % des
­Gases und 32 % des Öls im Boden belassen
werden. Die Nutzung in diesem Umfang wird
jedoch nur möglich sein, wenn die Menschheit
nicht nur die Atmosphäre, sondern auch unterirdische Lagerstätten als Deponieraum für CO2
nutzen kann. Grundsätzlich kann bei der Verbrennung von Kohle, Öl, Gas und Biomasse
freigesetztes CO2 eingefangen und dann unterirdisch eingelagert werden. Steht diese Option
nicht zur Verfügung, können entsprechend weniger fossile Energieträger genutzt werden.
Aber sind die erneuerbaren Energien nicht
längst so billig, dass sich die Extraktion von
Kohle bald nicht mehr lohnen wird ? Unter op-
das Argument, die erneuerbaren Energien so
billig werden, dass die Extraktion fossiler Energieträger unwirtschaftlich wird, dann könne
man sich die internationalen Verhandlungen
ersparen. Nicht Diplomaten lösten dann das
Problem, sondern Ingenieure. Durch die direkte Subventionierung von Technologien sollen
die Kosten sauberer Energie gesenkt werden.
Unter bestimmten Bedingungen kann die Subventionierung von Technologien sinnvoll sein.
Das Problem ist nur : Eine erfolgreiche Tech­
nologiepolitik und sinkende Kosten der erneuerbaren Energien lassen die Nachfrage nach
fossilen Energieträgern und damit ihren Preis
sinken. Daraus erwächst der Anreiz für den
Stromsektor, verstärkt Kohle zu nutzen. Technologiepolitik ist dazu verdammt, gegen das
gewaltige Angebot der fossilen Energieträger
»anzusubventionieren«, bis die CO2-freien
Technologien billiger sind als Kohle & Co.
­Sollte dies in der Zukunft überhaupt realisier­
bar sein, verteuerte es die Verminderung von
Emissionen drastisch. Sich auf die großen technischen Durchbrüche zu verlassen, birgt das
­Risiko weiter steigender Emissionen. Technologiepolitik kann die CO2-Bepreisung nicht ersetzen, allenfalls ergänzen.
In der Tat zeigt das »grüne Paradoxon«, dass
Klimaschutz internationaler Kooperation bedarf. Hans-Werner Sinn hat immer betont,
dass er im Klimaproblem eine der großen Herausforderungen der Menschheit sieht, das
dringend einer Lösung bedarf. In Anbetracht
der jüngsten Berichte des Weltklimarates über
das ungleiche Verhältnis zwischen dem Angebot fossiler Energieträger und dem begrenzten
Deponieraum der Atmosphäre steht die internationale Klimapolitik vor dramatischen Herausforderungen. Es bleibt dabei : Das »grüne
Paradoxon« ist ein Leitfaden für effektive Klimapolitik im Zeitalter der fossilen Energie­
träger.
Das grüne Paradoxon: Hans-Werner Sinn und die Klima- und Energiepolitik
timalen Bedingungen sind die Stromgestehungskosten von Wind schon fast so niedrig
wie die von Kohle. Rechnet man jedoch die
Kosten der Fluktuation des Windes mit ein, ist
der Windstrom immer noch teurer als der
Kohlestrom, zumindest bei größeren Anteilen
Windstrom im Netz. Für Solarenergie gilt Ähnliches. In China, Indien, den USA, aber auch in
Europa wird die Kohle wieder verstärkt im
Stromsektor genutzt. Dieser Trend kann nur
gebrochen werden, wenn die Emissionen einen
Preis bekommen oder die Besitzer von Kohle,
Öl und Gas dafür entschädigt werden, dass sie
die enormen Vorräte im Boden belassen. Diese
Option wäre ökonomisch zwar effizient, aber
die meisten Steuerzahler würden finanzielle
Kompensationsleistungen für Saudi-Arabien,
Russland, China oder gar die USA als unfair
empfinden.
Bleibt also nur die Option, dass CO2-Emis­
sionen einen Preis bekommen, der die Knappheit des Deponieraumes der Atmosphäre zum
Ausdruck bringt. Hans-Werner Sinn, der mit
seinem »grünen Paradoxon« die Angebotsseite
in das politische und wissenschaftliche Bewusstsein gerückt hat, misstraut einer CO2Steuer. Denn um keinen Anreiz zur beschleunigten Extraktion zu geben, müsste die Steuer
langsamer wachsen als der Zinssatz. Er traut
der Politik nicht zu, dass sie sich langfristig auf
einen solchen Steuersatz festlegen kann. Aus
diesem Grund sieht er in einem weltweiten
Emissionshandel die überlegene Option. Dar­
über kann und muss man streiten. Aber die
meisten Ökonomen werden wohl darin übereinstimmen, dass es ohne einen CO2-Preis keine sinnvolle Klimapolitik geben kann.
Die Mehrheit der Beobachter bezweifelt,
dass in Paris im Dezember 2015 eine Einigung
über eine globale CO2-Bepreisung möglich
sein wird. Es werden alternative Optionen diskutiert, wie die Technologiepolitik. Wenn, so
153
Sigmar Gabriel
HANS-WERNER SINN: EIN ÖKONOM UND
TREIBER DES POLITISCHEN DISKURSES
Das grüne Paradoxon
Sigmar Gabriel ist seit Dezember
2013 Vizekanzler der Bundesrepublik Deutschland sowie Bundes­
minister für Wirtschaft und Energie.
Von 2005 bis 2009 war er Bundesumweltminister. Seit 2009 führt er
den Parteivorsitz der SPD.
154
Aufgabe der Politik ist es, in demokratischen
Verfahren ermittelte Antworten auf die großen
Fragen unserer Zeit zu geben. Ganz oben auf
der Liste existenzieller Fragen steht der Klimawandel. Längst ist klar, dass der globale Tem­
peraturanstieg gebremst werden muss. Seine
negativen Auswirkungen erkennen wir aller­
orten; sie müssen dringend begrenzt werden.
Ein Schlüssel dafür ist eine erfolgreiche Energiewende. Wenn Energie sauber und nachhaltig bereitgestellt werden kann, wenn sie verlässlich verfügbar ist und bezahlbar bleibt, wird
sie gelingen. Wirtschafts-, Energie- und Umweltpolitik müssen dabei zusammenwirken,
um das energiepolitische Dreieck aus Versorgungssicherheit, Wirtschaftlichkeit und Umweltverträglichkeit auszubalancieren.
Um in diesem Spannungsfeld analytisch
fundierte, gesellschaftlich akzeptierte und politisch konsensfähige Wege zu finden, bedarf es
kluger Köpfe mit guten Ideen, Analysen und
Anregungen. Einer von ihnen ist Hans-Werner
Sinn : Er war und ist immer bereit, einen solchen Input zu leisten. Er hat regelmäßig das
Wort ergriffen und sich in die großen wirtschaftspolitisch relevanten Debatten unserer
Zeit eingebracht und diese mitgeprägt. Auch in
der Klima- und Energiepolitik hat er wichtige
Denkanstöße gegeben und diese meinungsstark vorgetragen. Dabei hat ihm vor allem sein
breites und fundiertes Wissen geholfen, aus
dem großen und gut gefüllten Werkzeugkasten
der Ökonomie jeweils passende Instrumente
auszuwählen, an einen veränderten Kontext
anzupassen und teilweise auch ganz neu und
unkonventionell anzuwenden.
Hans-Werner Sinn hat sich intensiv mit der
Funktionsweise und der Effizienz von Märkten
auseinandergesetzt und diese Erkenntnisse auf
marktbasierte Instrumente wie den EU-Emissionshandel übertragen. Er hat auf Fehlentwicklungen hingewiesen, die dem Ausgleich
von Angebot und Nachfrage entgegenstehen
oder auf andere Weise den Wettbewerb behin-
schätzung und Anerkennung gefunden, auch
in der Politik.
Die Realität hält sich jedoch nicht immer an
die Annahmen und Grenzen der theoretischen
Wissenschaft. Komplexe Fragestellungen, sozusagen das tägliche Brot der Politik, können
deshalb gerade nicht durch ein einfaches ökonomisches Modell sauber abgebildet werden.
Zu vielen drängenden Fragen unserer Zeit gibt
es keine wissenschaftlich eindeutigen Antworten. Viel mehr noch als die Wissenschaft muss
die Politik deshalb nach Kompromissen suchen, die aus der Perspektive der Wissenschaft
womöglich nur als zweit- oder drittbeste Lösung erscheinen.
Hans-Werner Sinn ist es auch als Berater der
Politik gelungen, eine eigene Sichtweise auf
drängende Herausforderungen zu entwickeln.
Immer wieder hat er durch unkonventionelle
Lösungsvorschläge eine laufende Debatte neu
belebt. Auch wenn wir nicht immer einer Meinung waren, bin ich Hans-Werner Sinn dafür
sehr dankbar. Denn eine Demokratie lebt vom
offenen Diskurs, von der Kraft der Argumente,
vom Ringen um die richtige Lösungsstrategie
und vom Ausbalancieren des Pro und Kontra.
Dieser Diskurs ist wichtig, damit politische
Entscheidungen regelmäßig hinterfragt und
überprüft werden. Nicht alles, was uns gestern
gut und richtig erschien, muss auch heute noch
seine Berechtigung haben.
In diesem Sinne wünsche ich mir, dass uns
Hans-Werner Sinn als aufmerksamer Beob­
achter und als kritischer Geist mit spitzer Feder
lange erhalten bleibt und uns auch in Zukunft
noch viele wertvolle Denkanstöße geben wird.
Das grüne Paradoxon: Hans-Werner Sinn und die Klima- und Energiepolitik
dern und die im Ergebnis zu einem schlech­
teren Marktergebnis führen. Ebenso hat er die
Chancen der Energiewende und von grünem
Wachstum analysiert.
Hans-Werner Sinn hat Vorschläge gemacht,
wie sich das Verhalten von Unternehmen und
Konsumenten beeinflussen lässt. Er hat auf
Fehlanreize, die Innovationen und Wachstum
verhindern, ebenso hingewiesen wie auf die
Rolle die Politik dabei. Klar zeigt er, wo die
Grenzen nationalen Handelns liegen. Viele
Vorschläge für die Klimaschutzpolitik zielen
auf die Minderung der Nachfrage nach fossilen
Ressourcen ab. Hans-Werner Sinn hat darauf
verwiesen, dass für den Erfolg von Klimaschutzpolitik ebenso das Kalkül der Anbieter
solcher Ressourcen in Betracht gezogen werden sollte. Denn auch wenn der Marktpreis infolge einer verringerten Nachfrage sinkt, kann
es für einen Anbieter sinnvoll sein, sein Angebot heute noch auszuweiten, weil morgen vielleicht gar keine Nachfrage mehr vorhanden
sein wird.
Für die wirtschaftspolitische Debatte sind
ökonomische Modelle unverzichtbar. Sie helfen uns, grundlegende Prinzipien zu erkennen
und komplizierte Sachverhalte auf einen wesentlichen Kern zu komprimieren. Das macht
sie methodisch gut handhabbar und führt zu
analytisch sauberen Ergebnissen. Hans-Werner Sinn hat es als einer der vielseitigsten und
profiliertesten Ökonomen in Deutschland immer wieder geschafft, mitunter komplexe Thesen in einer für die Allgemeinheit verständ­
lichen Weise zu erklären und sie durchaus
pointiert wiederzugeben. Dafür hat er über die
Grenzen der Wissenschaft hinweg viel Wert-
155
Jürgen Trittin
DER GRÜNE SINN – EIN PARADOX? ZUM
ABSCHIED EINES AUFRECHTEN NEOLIBERALEN
Das grüne Paradoxon
Jürgen Trittin ist Bundestags­
abgeordneter für Bündnis 90/
Die Grünen und Mitglied im Auswärtigen Ausschuss. Er war von
1998 bis 2005 Bundesumwelt­
minister. In seine Amtszeit fallen
u. a. das Erneuerbare-EnergienGesetz und der Atomkonsens, der
den deutschen Ausstieg aus der
Atomkraft auf den Weg brachte.
156
Wo Reibung ist, entsteht Wärme. Folgt man
dem zweiten Hauptsatz der Thermodynamik,
wird die wirtschaftspolitische Debatte in
Deutschland in den nächsten Jahren abkühlen.
Zumindest wenn Hans-Werner Sinn sich die
Freiheit nimmt, seinen Ruhestand zu genießen.
Aber ob er Ruhe gibt ?
Als Vordenker einer neoliberalen Wirtschaftsschule ist Sinn immer so etwas wie der
natürliche Gegner einer keynesianisch geprägten Denkschule gewesen – mit den Ökokey­
nesianern von den Grünen konnte er noch
­weniger anfangen. Dabei hat er eine bemerkenswerte Standhaftigkeit, manche behaupten Starrsinnigkeit bewiesen. Doch die Parole vom »Privat vor Staat« fand eine grausame Wider­legung,
als zur Rettung der Realwirtschaft ­Milliarden
Bankschulden in Staatsschulden verwandelt
wurden. Es war das Ergebnis einer Politik, die
mit der von Ronald Reagan und Margaret Thatcher vorangetriebenen Radikalisierung des Kapitalismus begann und die Ungleichheit in den
Gesellschaften wachsen ließ – und Anfang des
Jahrtausends auch Regierungen der linken Mitte
von New Labour bis Rot-Grün erfasst hatte.
Trotzdem gibt es einige Berührungspunkte zwischen Sinn und grüner Politik. »Es sträuben sich
die Nackenhaare des Öko­nomen, wenn in der
Öffentlichkeit ein Widerspruch zwischen Ökologie und Ökonomie beschworen wird. Wie
kann man unser Fach nur so grundlegend missverstehen !«, so Sinn. Wie wahr.
Und doch bleibt seine Analyse oft auf einem
Auge blind : Die globale Umweltkrise ist das Ergebnis eines fundamentalen Marktversagens –
und einer neoliberalen Verirrung.
Den Klimawandel kann man in der Sprache
der Ökonomie knapp erklären : Die Preise auf
den Märkten für Energie, Verkehr und Wärme
kalkulieren ohne die Kosten, die der Handel auf
diesen Märkten verursacht : drastische Umweltschäden.
Bei der Energiewende tobt dabei ein ideo­
logischer Kampf. Sinn gehört zu denen, die ve-
neuerbare liefern heute mehr als die Atomkraftwerke zu Beginn der Energiewende. Wir sparen
so in Deutschland fast 150 Mio. Tonnen Treib­
hausgase ein, beschäftigen gut 371 000 Menschen
und ­haben für einen beispiellosen Technologieschub gesorgt. Die deutsche Volks­wirtschaft
spart aktuell 15 Mrd. Euro für nicht benötigte
Energieimporte aus Russland, Saudi-Arabien
oder Katar. 2050 werden es 50 Mrd. sein.
An der Erklärung des letzten G-7-Gipfels war
wenig spektakulär, doch ein Satz inter­essant :
das Ziel einer Dekarbonisierung der Weltwirtschaft in diesem Jahrhundert. Dahinter steckt
die Erkenntnis, dass fossile Brennstoffe zwar
endlich, aber im Überfluss vor­handen sind. Wir
könnten zwar weiter fossile Energien verbrennen, aber wir können es uns nicht leisten !
Rechnet man das 2°-Ziel in die Menge an CO2
um, die wir überhaupt noch ausstoßen dürfen,
erhält man ein »Budget« von rund 800 Gigatonnen. Das heißt, wir dürfen nicht mal mehr die
Hälfte der heute förderbaren Reserven an Öl,
Gas und Kohle verfeuern.
Die noch in der Erde befindlichen Energieträger werden somit zu »totem« Kapital. Eine
Carbon Bubble, die zu platzen droht. Sinn
spricht von einer drohenden Kapitalvernichtung. Ich würde von einer Fehlallokation sprechen, die dringend behoben werden muss. Wir
können nicht auf den globalen Emissions­handel
warten. Das Motto muss Deinvestieren heißen.
Raus aus den fossilen Energien.
Das wissen auch die Ölförderer. Getreu dem
Sinn’ schen Paradox hat Saudi-Arabien in Kenntnis, dass bei ihnen so oder so 2035 Schluss ist,
begonnen, seine Ölförderung bei niedrigen
Preisen nicht mehr zu drosseln.
Ein Ende der fossilen Ökonomie wird nicht
automatisch über die Knappheit und den Preis
herbeigeführt. Wir brauchen dafür andere po­
litische Rahmenbedingungen. Mehr Staat wäre
hier nötig – und mehr globale Governance.
Das grüne Paradoxon: Hans-Werner Sinn und die Klima- und Energiepolitik
hement gegen eine Vorreiterrolle Deutschlands
bei der Energiewende gestritten haben. Sein Argument ist mathematisch : Deutschlands Beitrag
zu den notwendigen CO2-Einsparungen sei zu
gering, die Kosten zu hoch und Atomkraft das
Mittel der Wahl.
Dem muss man mit einem ökonomischen
Argument antworten : Atomenergie ist in Eu­ro­
pa und den USA aus ökonomischen Gründen in
der Krise. Preise pro Kilowattstunde von mehr
als 15 Cent haben verbunden mit extrem langen
Kapitalbindungszeiten keine Chance, wenn in
Deutschland für 9 Cent mit Photovoltaik und
für 6 Cent mit Wind Strom generiert wird. Deshalb gingen 2014 global mehr erneuerbare Kapazitäten ans Netz als fossile.
Wenn es einem der erfolgreichsten Indus­trie­
länder gelingt, in relativ kurzer Zeit seine Stromversorgung von Kohle und Atom auf erneuerbare Energien umzustellen, dann hat das nicht nur
Vorbildwirkung weltweit, es eröffnet auch neue
Märkte, auf denen es gilt, den first mover advantage clever zu nutzen.
Stärker noch ist der Effekt, der sich aus der
ausgelösten Kostendegression ergab. Windstrom kostet heute ein Fünftel, Solarstrom nur
ein Zehntel als vor zehn Jahren. Die deutsche
Energiewende hat diese Technologien global
wettbewerbsfähig gemacht und damit einen
Grundstein gelegt, dass die Welt überhaupt die
Chance hat, das 2°-Ziel einzuhalten.
Diese beispiellose Erfolgsgeschichte begann
zehn Jahre vor Fukushima mit dem Ausstieg aus
der Atomenergie und dem Erneuerbare-Ener­
gien-Gesetz.
Der Ausbau der Erneuerbaren ging erheblich
schneller, als wir alle glaubten. Ich hatte im Jahr
2000 ins EEG aufnehmen lassen, dass im Jahr
2020 20 % unseres Stroms erneuerbar erzeugt
werden sollen. 1999 waren es 5,2 %. Deshalb galt
das als ein utopisches Ziel.
Das Ziel wurde spielend übertroffen, und Er-
157
Peter-Alexander Wacker
PARADOX: DER ZICKZACK-KURS
INS NACHFOSSILE ZEITALTER
Das grüne Paradoxon
Peter-Alexander Wacker begann
seine berufliche Karriere 1978
bei der BMW AG. 1996 trat er in
die Geschäftsführung der Wacker
Chemie ein, wurde 2001 zu deren
Sprecher berufen und übernahm
2005 den Vorsitz des Vorstands.
Seit 2008 ist er Vorsitzender
des Aufsichtsrats der Wacker
­Chemie AG.
158
Ein Paradoxon ist bekanntlich ein Widerspruch, der sich ergibt, wenn gewohnte Denkweisen nicht gründlich genug hinterfragt
­werden. Hans-Werner Sinn liebt es seit jeher,
solche Widersprüche aufzudecken, aufklärerisch zu wirken und mit Lust an der Pointe, zugespitzt – mitunter auch überspitzt – zu for­
mulieren. Es ist deshalb nur konsequent, dass
er seinem Buch zur Energie- und Klimapolitik
den Titel Das grüne Paradoxon gegeben hat.
Wir als energieintensives Unternehmen sind
mit diesem Paradoxon tagtäglich konfrontiert.
Energie ist für den Chemiekonzern Wacker
heute genauso ein Schlüsselfaktor für die Wettbewerbsfähigkeit wie schon bei der Gründung
des Unternehmens vor 101 Jahren. Bei der Suche nach einem Standort für das erste WackerWerk war die wichtigste Frage : Wo lässt sich zu
möglichst geringen Stromkosten Carbid produzieren ? Die Wahl fiel auf Burghausen. Das
Wasser der Alz konnte dort mit Hilfe eines
Kraftwerks für die energieintensive Produktion
genutzt werden. Rentabilitätsberechnungen, bei
denen die Stromkosten im Mittelpunkt standen, gaben den Ausschlag für diese Entscheidung.
Einem streng wirtschaftlich denkenden Öko­
nomen wie Hans-Werner Sinn widerstrebt es,
dass die Politik stark regulatorisch und systemwidrig in den Energiemarkt eingreift und so
der zentrale Grundsatz der Marktwirtschaft
von Angebot und Nachfrage ausgehebelt wird.
Die Ökosteuer und das Erneuerbare-EnergienGesetz sind für ihn nur zwei Beispiele dafür.
Sie sollen dazu dienen, den Klimawandel zu
verlangsamen und den CO2-Ausstoß zu verringern. Sie sind für ihn der Beleg, dass Deutschland in der Klimafalle steckt. Aus Sicht der
­Industrie kann ich seiner Argumentation nur
zustimmen.
Die hohen Energiekosten gefährden den
Wirtschaftsstandort Deutschland. Mit Abgaben wie der EEG-Umlage schultern wir zusätzliche Lasten. Seit 2007 hat allein Wacker rund
ches Handeln aufbaut : Verlässlichkeit und Vertrauen. Die Energiewende ist der beste Beweis
dafür. Populistische Entscheidungen gefährden
Investitionen, Wachstum und Beschäftigung.
An einem Punkt muss ich Hans-Werner
Sinn allerdings widersprechen. Ich meine, es
war richtig, Anreize für die Nutzung erneuerbarer Energiequellen zu schaffen. Es lässt sich
darüber streiten, ob die Solarsubventionen besser in die Technologieentwicklung geflossen
wären als in garantierte Einspeisevergütungen.
Wir vergessen dabei schnell : Auch Atomkraftwerke und Kohlebergbau haben wir jahrzehntelang kräftig subventioniert. Aber innerhalb
von wenigen Jahren ist es gelungen, eine in den
Kinderschuhen steckende Technik so zu ent­
wickeln, dass sie wettbewerbsfähig geworden
ist und einen weltweiten Siegeszug angetreten
hat. Das Paradoxon ist nur : Jetzt, wo die Preise
stark gesunken sind und die Stromgestehungskosten bei 5 Eurocent pro Kilowattstunde liegen – was Solarstrom auch ohne Förderung
wettbewerbsfähig macht –, ist der Markt für
Photovoltaikanlagen in Deutschland um 75 %
eingebrochen.
In einem anderen Punkt hat Hans-Werner
Sinn bis heute Recht behalten : mit seiner Skepsis, dass sich das Klima retten lässt, indem wir
durch den Einsatz der erneuerbaren Energien
und eine höhere Energieeffizienz den CO2-Ausstoß verringern. Der Rückgang der Nachfrage
nach Öl, Gas und Kohle in Europa hat nicht zu
einer Verknappung des Angebots fossiler Energieträger geführt. Ganz im Gegenteil. Die Preise für fossile Energieträger sind gefallen und so
attraktiv, dass sogar mehr CO2 in anderen Re­
gionen der Welt ausgestoßen wird. Auch das ist
ein Paradoxon der Energie- und Klimapolitik,
das sich am Ende vielleicht nur mit seinem
Vorschlag eines globalen Emissionshandels­
systems lösen lässt.
Das grüne Paradoxon: Hans-Werner Sinn und die Klima- und Energiepolitik
215 Millionen Euro dafür gezahlt. Für Indus­
trieunternehmen sind die Preise für Strom
seit 2002 um 125 % gestiegen. Die Kilowattstunde Industriestrom kostet in Deutschland
11,57 Cent, in den USA 5,21 Cent. Wacker verbraucht hierzulande im Jahr rund 3,9 Tera­
wattstunden Strom. Das ist mehr als 0,5 % des
deutschen Stromverbrauchs. Hohe Energiepreise treffen uns besonders. Steigt der Strompreis um nur einen Cent pro Kilowattstunde,
bedeutet das für uns eine zusätzliche Belastung
von 25 Mil­lionen Euro bei den Herstellungskosten.
Unsere unternehmerische Antwort auf die
deutsche Energie- und Klimapolitik lautet : den
Produktionsfaktor Energie ständig zu opti­
mieren. Eigene Kraftwerke zu betreiben ist ein
Weg. Wir tun das bereits mit Wasser- und Gaskraftwerken. Ein zweiter Weg ist die Energie­
effizienz. Die Chemieindustrie ist darin heute
schon Weltmeister. Mit chemischen Produkten
lässt sich die doppelte Menge an Energie einsparen, die für die Produktion aufgewendet
wird. Der dritte Weg ist die Suche nach Standorten mit niedrigen und langfristig stabilen
Energiepreisen. Deshalb haben wir unseren
neuen Produktionsstandort für Polysilicium
im US-Bundesstaat Tennessee aufgebaut, der
Ende 2015 in Betrieb gehen wird. Wir haben
dort die Garantie bekommen, dass der Strompreis bis 2028 unverändert bleibt.
In Deutschland fällt es der Politik immer
schwerer, für die Interessen der Wirtschaft einzutreten, weil »zu viel grüne Ideologie« die
Oberhand gewonnen hat, wie es Hans-Werner
Sinn formuliert hat. Unternehmen, die stra­
tegisch langfristig denken und handeln, brauchen Verlässlichkeit und Planbarkeit. Wenn
verbindliche Zusagen oder Genehmigungen
plötzlich zur Disposition gestellt werden, zerstören wir die Werte, auf denen wirtschaftli-
159
HWS mit dem Stellvertretenden
Direktor des Potsdam-Instituts für
Klimafolgenforschung, Ottmar
Edenhofer (rechts), und Stephen
­Fidler (links) vom Wallstreet
J­ ournal beim Munich Economic
Summit 2009.
( von links nach rechts ) HWS,
Lord ­Nicholas Stern (London
School of Economics), Angus
­ eaton (Princeton, Nobelpreis­
D
träger 2015), Klaus Schmidt
(LMU München) bei den
­Munich Lectures in ­Eco­nomics
in der ­Großen Aula der
U
­ niversität ­München, 2002.
HWS mit dem Vorsitzenden des
Sachverständigenrats für Umweltfragen Martin Faulstich beim ifo/
SRU-Symposium »Energiewende:
Konsequenzen für den Industrie­
standort Deutschland?« im Mai
2015 in Berlin.
160
Rick van der Ploeg und HWS
beim Abendessen nach den
­Munich Lectures in Economics,
November 2014.
HWS diskutiert mit Bundeswirt-
schaftsminister Sigmar Gabriel
und Marc Beise (Süddeutsche
­Zeitung) über die Rolle der Beratung in der Wirtschaftspolitik bei
der ifo Jahresversammlung 2015.
HWS, Gewinner des
»Dinosaurier des Jahres« 2009.
161
07.07. 2012
7
KASINO-KAPITALISMUS:
Hans-Werner Sinn und die
Finanzarchitektur
Oliver Falck
EINLEITUNG
Kasino-Kapitalismus: Hans-Werner Sinn
und die Finanzarchitektur
Kasino-Kapitalismus
Oliver Falck ist seit neun Jahren
am ifo Institut. Als Postdoc angefangen, leitet er inzwischen das
ifo Zentrum für Industrieökonomik und neue Technologien und
ist Professor für Volkswirtschaftslehre an der Ludwig-MaximiliansUniversität München. Er ist zudem
einer der CESifo-Programm­
direktoren.
164
Eines der ältesten und zentralen Betätigungsfelder von Wissenschaftlern ist das Forschungsseminar. Wie in einer Arena werden hier neue
Ideen und Ansätze einem kritischen Fach­
publikum präsentiert und erhalten durch dessen Fragen, Kritik und Vorschläge zusätzlichen
Schliff. In meiner Zeit als Wissenschaftler am
ifo seit 2007 habe ich HWS als ausgesprochen
lebhaften Teilnehmer in vielen Seminaren erlebt. Diese Seminare decken eine enorme Breite von wirtschaftlichen Themen am aktuellen
Rand der Forschung ab. Umso mehr beeindruckte mich die Fähigkeit von HWS, den Vortragenden prägnante (und durchaus im Voraus
bereits gefürchtete) Fragen zur theoretischen
Fundierung und zur wirtschaftspolitischen Relevanz des Themas zu stellen. Noch nachdrücklicher beeindruckend aber ist die Tatsache, dass
er bei einer Vielzahl dieser Vorträge auf eigene
theoretische Vorarbeiten verweisen konnte.
Und was sich im engen Rahmen der wissenschaftlichen Seminare beobachten ließ, gilt
gleichermaßen für die große Arena des gesellschaftlichen wirtschaftspolitischen Diskurses;
ein Beispiel aus der näheren Vergangenheit sind
seine Analysen zur (vorerst) letzten Finanzmarktkrise.
Die theoretischen Grundlagen zu seinem
2009 erschienenen Buch Kasino-Kapitalismus
legte HWS bereits in seiner 1977 fertiggestellten
Dissertation. Im Rahmen eines theoretischen
Modells zeigt er, dass die Haftungsbeschränkung von Entscheidungsträgern dazu führt,
dass Verluste, die sich aus fehlgeschlagenen
­Investitionsentscheidungen ergeben, über die
Beteiligung der Gläubiger geteilt werden, während die Gewinne allein den Entscheidungsträgern zukommen. Somit erhöht sich der Risiko­
appetit der Entscheidungsträger. Vergleichbar
mit einem Spieler, der im Kasino nicht mit eigenem Geld spielt und daher den Einsatz immer
weiter erhöht, wählen Entscheidungsträger zu
riskante Investitionsstrategien. Aus dem Umstand, dass man jemandem im Falle eines Ver-
genkapitalquoten resultiert und damit ein erhebliches Politikversagen begründet.
Aufbauend auf diesen frühen theoretischen
Vorarbeiten – gepaart mit dem »Recherche­
apparat« der CESifo-Gruppe –, legte HWS im
April 2009 als einer der ersten Ökonomen mit
Kasino-Kapitalismus eine minutiöse Analyse
der internationalen Finanzmarktkrise ab 2007
vor. Seine Diagnose lautete, dass eine fehler­
hafte und insbesondere unzureichende Regulierung von Finanzinstitutionen einer der
wichtigsten Gründe für den Ausbruch und die
Ausweitung der Finanzkrise war. Die Haftungsbeschränkung der Banken manifestierte sich
insbesondere durch die Festlegung von zu geringen Eigenkapitalquoten der Banken durch
die Regulierungsbehörden. Aus diesen Erkenntnissen schlussfolgerte er, dass ein stabiles
Bankensystem nur durch die Verstärkung des
Haftungsprinzips erreicht werden könne, dessen Grundvoraussetzung eine wesentlich straffere Eigenkapitalregulierung sei. Dabei bedürfen die langfristigen Regulierungsregeln des
Bankensystems einer internationalen Harmonisierung, um dem schleichenden Laschheitswettbewerb einen Riegel vorzuschieben.
Modelle versetzen Ökonomen in die Lage,
komplexe Zusammenhänge auf die entscheidenden Fragen und Probleme herunterzubrechen. Sie sind das notwendige Fundament für
jeden fundierten Beitrag zum wirtschaftspolitischen Diskurs. Wie kaum ein anderer Ökonom
in Deutschland kann HWS hierfür auf ein eigenes breit gefächertes theoretisches Œuvre zurückgreifen. Und vor dem Hintergrund aktueller wirtschaftspolitischer Probleme erscheinen
seine frühen theoretischen Beiträge als (fast
schon erschreckend) vorausblickend.
Kasino-Kapitalismus: Hans-Werner Sinn und die Finanzarchitektur
lustes nicht mehr nehmen kann, als er aufgrund der Haftungsbeschränkung verpflichtet
ist zu geben, prägte HWS den Begriff »BLOOSRegel«, der aus dem englischen Sprichwort »It’s
like getting blood out of a stone« abgeleitet ist.
Die herausragende Bedeutung der von HWS
entwickelten BLOOS-Regel wurde von Martin
Hellwig, Koautor des vielbeachteten Buchs Des
Bankers neue Kleider, hervorgehoben (meine
Übersetzung) : »Diese Erkenntnis ist für die
moderne Theorie der Kreditrationierung und
Bankenregulierung fundamental. Sie wird von
Ökonomen typischerweise mit dem berühmten Artikel von Stiglitz und Weiss aus dem Jahr
1981 im American Economic Review in Verbindung gebracht. Tatsächlich kam ihm HWS’
Dissertation, die 1977 an der Universität Mannheim angenommen wurde, zuvor.« Ähnliche
Mechanismen wurden also später in der Lite­
ratur, unter zum Teil anderen Bezeichnungen,
übernommen und sind heute zentraler Bestandteil moderner banktheoretischer Modelle.
Die Arbeiten zum Zusammenhang zwischen
Haftungsbeschränkung und asymmetrischen
Informationen zwischen den Entscheidungsträgern einer Bank und ihren Gläubigern griff
HWS zehn Jahre später in seinen Beiträgen
zum Systemwettbewerb zwischen nationalen
Regulierungsbehörden erneut auf. Diese können durch strengere Eigenkapitalanforderungen an Banken deren tatsächliche Haftung
­erhöhen. Gleichzeitig wollen Staaten aber als
Standort für Banken attraktiv sein, was eine
Tendenz zum Lockern der Auflagen begründet. Dieses Konkurrieren zwischen Staaten um
die Attraktivität des eigenen Bankenstandorts
führt zu einem Laschheitswettbewerb, der
schließlich in zu geringen regulatorischen Ei-
165
Clemens Fuest
KASINO-KAPITALISMUS UND RISIKO
ALS PRODUKTIONSFAKTOR – EIN ABEND
IN EINEM RESTAURANT IN PARIS
Kasino-Kapitalismus
Clemens Fuest, Präsident des
ZEW, Mannheim, wechselt zum
1. April 2016 als Präsident zum
ifo Institut und als Professor für
Volkswirtschaftslehre an die
­Ludwig-Maximilians-Universität.
Seine Forschungsgebiete sind
die ­Finanzwissenschaft und wirtschaftspolitische Aspekte der
­Europäischen Integration.
166
Es war der Abend des 24. Oktober 2008 im
Hinterzimmer eines Restaurants in Paris. Dort
fand anlässlich eines Economic Policy Panel
Meetings ein Abendessen statt, auf Einladung
der Banque de France. Rund 50 Ökonomen
­saßen eng gedrängt beisammen. Während des
Tages hatten wir akademische Aufsätze dis­
kutiert. Hauptthema der Unterhaltung in den
Pausen war aber die dramatische aktuelle Ent: der Zusammenwicklung im Finanzsektor bruch der Lehman-Bank einen Monat zuvor
und die Rettung des Kreditversicherers AIG
mit Milliarden von Steuergeldern nur wenige
Tage später. Obwohl spätestens seit dem Kollaps der britischen Bank Northern Rock im Februar 2008 unübersehbar war, dass im Finanzsektor eine Krise drohte, war die Dimension
der Katastrophe, die im Herbst 2008 offenbar
wurde, eine böse Überraschung.
Für den Abend hatten die Veranstalter spontan eine kleine Podiumsdiskussion arrangiert,
die sich mit dem Ausbruch der Finanzkrise be-
schäftigen sollte. Auf dem Podium waren drei
Ökonomen, darunter Hans-Werner Sinn. Seine beiden Diskussionspartner konzentrierten
sich auf die Beschreibung mehr oder weniger
komplizierter Finanzprodukte, die mit Abkürzungen wie CDS, CDOs und so weiter bezeichnet werden. Die Botschaft lautete, die Krise sei
durch die exzessive Verwendung von kom­
plexen Finanzprodukten entstanden, die kaum
kalkulierbare Risiken heraufbeschwören. Die
Bankenaufsicht habe diese Produkte oft nicht
verstanden, aber im Wettbewerb der Finanzplätze habe man Nachteile befürchtet, wenn
man einzelne Instrumente verbietet. Man habe
auch übersehen, dass komplexe Finanzpro­
dukte vielfältige Verbindungen unter Banken
entstehen lassen, mit der Folge, dass Probleme
einer einzelnen Bank leicht einen Flächen­
brand auslösen können.
Diese Erklärung lässt die Krise als eine Art
Unfall erscheinen, der durch Dummheit,
Leichtsinn oder Irrationalität entstanden ist.
mit zu erklären, die Menschen seien irrational
oder könnten Komplexität nicht bewältigen.
Ebenso charakteristisch ist, dass Hans-­
Werner Sinn trotz aller Kritik an riskanten In­
ves­titionen und beschränkter Haftung davor
­gewarnt hat, das Kind mit dem Bade auszuschütten. Dass Investoren Risiken eingehen, ist
nicht zu beanstanden, solange diese Investoren
die Kosten in vollem Umfang tragen. Ganz im
Gegenteil : In seiner Antrittsvorlesung an der
Universität München mit dem Titel »Risiko
als Produktionsfaktor« hat er erklärt, dass das
­Eingehen von Risiken geradezu Grundlage unserer modernen Zivilisation ist – ohne Risiko­
bereitschaft würden viele Errungenschaften
der modernen Industriegesellschaft nicht existieren. Das Eingehen von Risiken wird erst
dann zum Problem, wenn Verluste auf Dritte
wie etwa Steuerzahler abgewälzt werden.
Kaum weniger wichtig für die wirtschaftliche Entwicklung ist die Möglichkeit, Unternehmen zu errichten, in denen die Haftung der
Kapitalgeber auf das eingebrachte Kapital beschränkt ist. Beschränkte Haftung erlaubt es
modernen Unternehmen, große Mengen an
Kapital von vielen Investoren zu mobilisieren.
In seinem Buch Kasino-Kapitalismus beschreibt
Hans-Werner Sinn die Geschichte der Insti­
tution beschränkter Haftung und zitiert eine
Rede des Präsidenten der amerikanischen Columbia-Universität, Nicholas Murray Butler,
aus dem Jahr 1911, der das Unternehmen mit
beschränkter Haftung für die wichtigste Ent­
deckung der Moderne hält, wichtiger als die
Dampfmaschine oder die Nutzung der Elek­
trizität.
Das eingangs erwähnte Restaurant in Paris
habe ich damals mit dem Eindruck verlassen,
dass uns schwierige Zeiten erwarten, aber auch
mit dem guten Gefühl, besser zu verstehen, was
sich im Finanzsektor abspielt.
Kasino-Kapitalismus: Hans-Werner Sinn und die Finanzarchitektur
Seit der Finanzkrise werden die internationalen Finanzmärkte in der Tat oft als ein chaotisches System beschrieben, in dem irrationale
und von Gier geblendete Akteure astrono­
mische Summen rund um den Globus jagen,
ohne Rücksicht auf die Folgen. Warren Buffett
hat bestimmte Finanzderivate (CDOs) gar als
»Massenvernichtungswaffen« bezeichnet.
Hans-Werner Sinn hat anders argumentiert.
Er hat die Krise als eine Folge der Kombination
aus beschränkter Haftung und hoher Fremd­
kapitalfinanzierung erklärt. Wenn ein Investor
beschränkter Haftung unterliegt und Verluste
auf andere abwälzen kann, beispielsweise Kreditgeber, wird er exzessive Risiken eingehen.
Das geht eine Zeitlang gut, und der Investor
streicht hohe Renditen ein. Aber es liegt in der
Natur riskanter Investitionen, dass es irgendwann zu Verlusten kommt. Ein Investor, der
kaum eigenes Kapital einsetzt, wird von diesen
Verlusten jedoch nicht getroffen – andere zahlen die Rechnung, beispielsweise Fremdkapitalgeber oder, wenn der Staat Banken rettet, die
Steuerzahler. Fremdkapitalgeber sollten diese
Gefahr kennen und entsprechende Risikoprämien verlangen. Steuerzahler können sich aber
kaum wehren. Dieses Phänomen, in der Literatur als »gambling for resurrection« bezeichnet,
spiele eine zentrale Rolle. In seinem Buch Kasino-Kapitalismus hat Hans-Werner Sinn diesen
Punkt später ausführlich erläutert.
Heute, nach Jahren der Debatte über die
­Krise, ist diese Analyse weithin als grundlegend für die Fehlentwicklungen anerkannt.
Dass Hans-Werner Sinn sie aber schon im
­Oktober 2008 vortrug, ist auf zweifache Weise
charakteristisch für ihn. Erstens zeigt dieser
Umstand die Schnelligkeit, mit der er komplexe wirtschaftliche Ereignisse durchdenkt und
auf ihren Kern reduziert. Zweitens hält er es für
unbefriedigend, wirtschaftliche Probleme da-
167
Horst Köhler
WISSEN, UM ZU WIRKEN
Kasino-Kapitalismus
Horst Köhler war von 2004 bis
2010 Bundespräsident. Zuvor war
er Staatssekretär im Bundesfinanzministerium, Präsident des Sparkassen- und Giroverbands und
der EBRD sowie Geschäftsfüh­
render Direktor des IWF. Heute
beschäftigt er sich weiterhin intensiv mit Fragen internationaler
Zusammenarbeit.
168
»Wer kein Eigenkapital hat, haftet nicht, und
wer nicht haftet, zockt.« So einfach ist das. So
einfach ist das wirklich. Aber ehe Hans-Werner
Sinn die Wahrheit in einem Satz bündelt,
nimmt er seine Leser auf den Denkweg mit,
der zu diesem Satz führt. Präzis und verständlich analysiert er die Fehlanreize im internationalen Finanzsystem, die die Welt in die Krise
stürzten, weil die Staaten keine Finanzarchitektur geschaffen hatten, die das hätte verhindern
können. Er zeigt Schritt für Schritt, wie wichtig
es ist, allen Märkten – sei es der für Immobi­
lien­darlehen, sei es der für Aktienverkäufe –
­einen starken Ordnungsrahmen zu geben, und
wie wenig damit getan ist, stattdessen vor allem
auf die Moral der Marktteilnehmer zu setzen
und dann auf das Versagen ungeordneter Märkte mit moralischer Entrüstung über Einzelne
zu reagieren. Er verhilft dem Leser zu dem
Aha-Erlebnis, dass keineswegs nur einige WallStreet-Manager gezockt haben, sondern auch
Millionen Anwohner der Main Street. Und er
stiftet die Erkenntnis, dass sich gegen Crashs
und Krisen starke ordnungspolitische Vorkehrungen treffen lassen und dass, wo sie noch
fehlen, wenigstens die Krise für solche Vorkehrungen genutzt werden muss, weil sonst nach
der unmittelbaren Gefahrenabwehr alle schnell
wieder zum Business as usual zurückkehren,
finanzstarke und einflussreiche Lobbys den
­
­Kasino-Kapitalismus verteidigen – und alles
wieder von vorne beginnt.
Wer schnell gibt, gibt doppelt : Hans-Werner
Sinn will nicht nur wissen, sondern auch wirken, darum hat er sehr bald nach dem Ausbruch der Weltfinanzkrise deren Ursachen für
die Politik und für die breite Öffentlichkeit zutreffend diagnostiziert und überzeugende Therapievorschläge gemacht. Um wenigstens einige der wichtigsten davon zu nennen : kräftige
Erhöhung der vorgeschriebenen Eigenkapitalund Kernkapitalquoten; faire Bewertung der
risikogewichteten Aktiva statt der bisherigen
opaken Risikomodelle; glaubhafte staatliche
sen, das herauszufinden und zu berücksichtigen bleibt auf absehbare Zeit eine der wichtigsten Aufgaben für alle führenden Nationen und
für die Global Governance.
Darum sind nicht Entwarnung und Entspannung angesagt (geschweige denn die be­
häbige Selbstzufriedenheit, verbunden oft mit
aggressiver Lobbyarbeit, die so manche Banker
schon wieder zur Schau stellen), sondern konzentrierte Aufmerksamkeit und weitere Re­
form­arbeit. Das setzt öffentlichen Erwartungsdruck und politische Entschlusskraft voraus,
die leider erfahrungsgemäß beide abnehmen,
je weiter eine Krise zurückliegt. Auch da sind
Wissenschaftler mit Breitenwirkung wie HansWerner Sinn eminent wichtig : Sie unterrichten
und beraten ihre Mitbürger in Gesellschaft und
Politik zu Fragen, die für den Wohlstand der
Nationen grundsätzliche Bedeutung haben; sie
stoßen selber zu solchen Themen gesellschaft­
liche Debatten an; und sie halten das Interesse
an wirtschafts- und finanzpolitischen Problemen und Lösungsansätzen dadurch nachhaltig
wach, dass sie ihren Mitbürgern die ordnungspolitischen Maßstäbe und Prüfsteine an die
Hand geben, um den Stand der Dinge selber zu
prüfen und immer wieder nachzufragen : zum
Beispiel, ob denn nun das Haftungsprinzip
wirklich auf allen Finanz- und Versicherungsmärkten verlässlich verankert ist – oder ob
dort auch künftig bloßes Zocken ein Geschäfts­
modell sein kann.
Hans-Werner Sinn leistet seit Jahrzehnten
einen unschätzbar wertvollen Beitrag zur economic literacy in Deutschland und Europa. Dafür sind Bestimmungen über das Ruhestands­
alter ohne Belang. Wünschen wir darum ihm
und uns, dass bei Hans-Werner Sinn der Zusatz »i. R.« einfach nur bedeutet : in Reichweite.
Kasino-Kapitalismus: Hans-Werner Sinn und die Finanzarchitektur
Botschaft an die Aktionäre, dass ihre Institute
künftig vielleicht immer noch too big to fail,
aber niemals mehr too big to bleed sein werden;
internationale Harmonisierung des Regelwerks
auf anspruchsvollem Niveau; eine effiziente
europäische Bankenaufsicht; Bändigung von
­
Zweckgesellschaften und Hedgefonds; Neuord­
nung des Geschäfts der Ratingagenturen nebst
Aufbau von europäischer Konkurrenz auf diesem bisher allein von den USA beherrschten
Markt.
Seitdem ist einzelstaatlich, in Europa und international sowohl regulatorisch als auch institutionell viel geschehen. Wie viel ist dabei erreicht worden ?
Das wird die nächste Krise lehren. Denn
auch wenn niemand die beschlossenen Reformen der Finanzarchitektur kleinreden sollte –
sie haben institutionell und sowohl mikro- als
auch makroprudenziell viel erreicht –, so sind
doch die Komplexität und die Dynamik der
Wechselwirkungen zwischen Finanzsystem,
Realwirtschaft, Welthandel und Politik so groß
geworden, dass wir eher am Ende des Beginns
der ordnungspolitischen Arbeit stehen denn
am Beginn ihres Endes. Die weltweit 30 größten systemrelevanten Finanzinstitute haben jeweils ein Bilanzvolumen von der Größe des
Bruttosozialprodukts eines G-7-Staates und
sind entsprechend verflochten in ungezählte
Transaktionen und Standorte; die Verbindungen zwischen Finanzsektor und Realwirtschaft
sind noch wenig erforscht; und die Interaktionen zwischen Finanzsystem und Welthandel
haben eine Dichte erreicht wie vielleicht noch
niemals zuvor in der Geschichte. Welche Ri­
siken all das birgt, welchen Stress es mit sich
bringen mag und mit welchen Instrumenten
sich die Gefahren messen und beherrschen las-
169
Claudia M. Buch
HAUSORDNUNG FÜR DAS KASINO
Kasino-Kapitalismus
Claudia M. Buch verantwortet als
Vizepräsidentin der Deutschen
Bundesbank die Ressorts Finanzstabilität, Statistik und Revision.
Zuvor leitete sie das Institut für
Wirtschaftsforschung Halle (IWH)
und war im Sachverständigenrat
zur Begutachtung der gesamtwirtschaftlichen Entwicklung tätig.
170
Hans-Werner Sinn spürt Paradoxien in der
Welt der Ökonomie auf und ist selbst in gewisser Weise ein Paradoxon. Denn seine Überlegungen passen oft nicht zu dem Bild eines
­neoklassischen Ökonomen, als der er in der
öffentlichen Debatte dargestellt wird, eines
­
Ökonomen, der den ungebremsten Marktkräften das Wort redet und der die ­Nachfrageseite
ignoriert. Schon der Titel seines Buchs zur
­Finanzkrise Kasino-Kapitalismus wurde von
Keynes geprägt. HWS sieht die globale Finanzsagen des
krise nicht als ein generelles Ver­
Marktes, sondern als die Konsequenz eines unzureichenden weltweiten Ordnungsrahmens.
Das Wort »Casino« steht im Italienischen für
ein Gesellschaftshaus, einen Clubraum. Wie
­jedes Haus braucht das Kasino eine Hausordnung. Diese Regeln für Finanzmärkte sind es,
für deren Reform sich HWS in seinem Buch
einsetzt.
Mit seinen Überlegungen ist HWS oft seiner
Zeit voraus. Oft heißt es, die Ökonomen hätten
Die Autorin dankt Markus Fischer
für wertvolle Unterstützung bei
der Erstellung dieses Beitrags.
die ­Krise zu spät kommen sehen und arbeiteten
mit falschen Annahmen über das Verhalten
von Marktakteuren. HWS hat sich aber bereits
in den 1990er Jahren mit Fehlanreizen auf
­Finanzmärkten, dem Eingehen zu hoher Risiken und mit »moralischem Fehlverhalten«
(Moral Hazard) auseinandergesetzt, so in seinem 2003 erschienenen Buch The New Systems
Competition.
Und nicht zuletzt gehört die Behauptung,
Ökonomen argumentierten aus dem akademischen Elfenbeinturm heraus und hätten keinen
Einfluss auf die Wirtschaftspolitik, zum Standardrepertoire der öffentlichen Diskussion.
Aber HWS hat bereits während der Krise die
Einführung einer zentralisierten Bankenaufsicht in Europa gefordert, nachzulesen auf der
Seite 300 seines Buches Kasino-Kapitalismus –
Wie es zur Finanzkrise kam, und was jetzt zu
tun ist aus dem Jahr 2009. Seine – oft kontroversen – Botschaften scheinen ihre Adressaten zu erreichen. Die gemeinsame europäische
zen führen. Heute greifen neue Regeln für die
Aufsicht von Banken (»Basel III«) diese Forderungen auf. Banken müssen mehr Eigenkapital
halten, und Auswirkungen auf die ­Stabilität des
Finanzsystems werden bei der ­Berechnung der
Eigenkapitalanforderungen berücksichtigt. Für
die Restrukturierung bzw. Abwicklung von
Banken stehen mit der europäischen Richtlinie
zur Sanierung und Abwicklung von Finanz­
instituten (Bank Recovery and Resolution Direc­
tive) neue rechtliche Grundlagen bereit, deren
Kernstück die Beteiligung des privaten Sektors
an Verlusten ist.
Auch bei der Forderung von HWS, Hedgefonds und Verbriefungen strenger zu regulieren, wurden Fortschritte erzielt. Die in Deutschland geltende europäische AIFM-Richtlinie
(Alternative Investment Fund Managers Direc­
tive) enthält umfassende Offenlegungspflichten
für Hedgefonds. Bei Verbriefungen wurden die
Eigenkapitalanforderungen für institutionelle
Investoren und die Vorschriften für Banken in
ihrer Rolle als Originator, z. B. bei der Bilan­
zierung, verschärft.
Die genannten Aspekte bilden nur einige
Bruchstücke des großen Puzzles der Neuregulierung des Finanzsystems. Das Gesamtmotiv
lässt sich schon erkennen, doch Teilstücke
­werden in den kommenden Jahren noch an
passender Stelle eingefügt werden müssen.
Beispielsweise werden Staatsanleihen in der
­
Regulierung nach wie vor privilegiert, und die
neuen Regeln für die Verlustbeteiligung pri­
vater Gläubiger (»Bail In«) wurden in der Praxis kaum getestet. Mit seiner Forderung nach
weitergehenden Regeln für das Bankensystem
wird HWS ein kritischer Begleiter dieser Prozesse bleiben.
Kasino-Kapitalismus: Hans-Werner Sinn und die Finanzarchitektur
Bankenaufsicht trat 2014 in Kraft und stellt
heute einen wesentlichen Teil der europäischen
Antwort auf die Finanzkrise dar.
Finanzkrisen entstehen, wenn Investoren
übermäßige Risiken eingehen und keine ausreichenden Polster an Eigenkapital vorhalten,
um Verluste, die sich realisieren, aufzufangen.
Als Folge wurden in der Krise Gewinne privatisiert und Verlustrisiken aufgrund unzureichender privater Haftung von der Allgemeinheit getragen.
Krisen haben nicht einen einzelnen Auslöser, sondern es spielt eine Reihe von Faktoren
zusammen, und diese verstärken sich gegen­
seitig. Bereits kurz nach Ausbruch der globalen
Finanzkrise hat HWS eine umfassende Analyse
der Ursachen und der daraus folgenden notwendigen Lehren vorgelegt. Sein Buch KasinoKapitalismus schaffte es in Deutschland binnen
Wochen in die TOP 10 der Sachbuch-Best­
sellerliste und wurde zudem auch in englischer
Übersetzung publiziert.
Als kurzfristige Krisenmaßnahme forderte
HWS, dass der Staat als neuer Anteilseigner
Banken in Schieflage stützen solle. Auf den ersten Blick mag diese Forderung paradox klingen. Doch auch hier bleiben marktwirtschaft­
liche Grundüberlegungen für HWS elementar,
denn ein zeitnaher Austritt des Staats nach
­Beendigung der Krise und die Übernahme von
Anteilseignerschaften zum Marktkurs sind
Eck­punkte seines Vorschlags.
Langfristig ist für ihn eine dauerhafte Er­
höhung der Eigenkapitalquoten die Schlüssel­
strategie zur Beseitigung von Fehlanreizen. Das
Handeln des Staates bei Regelverletzungen von
Instituten müsse im Krisenfall klar geregelt
sein und dürfe nicht schon vorab zu Fehlanrei-
171
Axel A. Weber
NACHHALTIGKEIT STATT KASINO
Kasino-Kapitalismus
Axel A. Weber ist seit 2012 Präsident des Verwaltungsrates von
UBS Group AG . Von 2004 bis 2011
war er Präsident der Deutschen
Bundesbank. Seine akademische
Karriere umfasst Professuren an
den Universitäten von Köln, Frankfurt am Main, Bonn und Chicago.
172
Kaltstart, Target-Falle, Basarökonomie – HansWerner Sinn ist in seiner ebenso langen wie erfolgreichen Karriere als Akademiker und Vermittler zwischen Wissenschaft und Gesellschaft
nie um einen pointierten Buchtitel verlegen.
Doch wer hinter den reißerischen Überschriften ebenso hemdsärmelige Analysen vermutet,
wird immer wieder enttäuscht. Hans-Werner
Sinn hat es über viele Jahre wie kaum ein anderer Ökonom in Deutschland verstanden, einem
breiten Publikum fachlich fundierte Argumente ebenso verständlich wie pointiert zu vermitteln. Für diese Bereicherung der wirtschaftspolitischen Debatte und für die wissenschaftlichen
Ratschläge zuhanden von Entscheidungsträgern gebührt ihm ein großer Dank.
Das oben Gesagte trifft auch auf sein 2009
erschienenes Buch Kasino-Kapitalismus zu, wo
sich Professor Sinn inmitten der Finanzkrise
mit deren Ursachen und der nötigen Neuordnung des Finanzsystems befasst. Der plakative
Titel soll dabei das versinnbildlichen, was Sinn
als den Hauptauslöser der Krise sieht, nämlich eine von Amerika ausgehende Verbreitung
von sogenannten »Kasino-Methoden«, welche
sich in den Jahren zuvor über weite Teile der
Welt verbreitet hätten. Gemeint ist damit, dass
immer mehr Finanzmarktteilnehmer immer
risikoreichere und spekulativere Geschäfte getätigt hätten. Ermöglicht worden sei diese
­Entwicklung durch immer kleiner werdende
Eigenkapitalquoten, welche dazu geführt hätten, dass die Eigentümer nur noch für ein Minimum der eingegangenen Risiken hafteten.
In den guten Jahren hätten Aktionäre so hohe
­Eigenkapitalrenditen erwirtschaftet, doch seit
Ausbruch der Krise würden dafür Gläubiger
und Staaten zur Kasse gebeten, sobald die
­dünnen Eigenkapitaldecken wegzuschmelzen
drohten. Zugelassen und zum Teil gefördert
worden seien diese Entwicklungen durch Regulatoren und Politiker, welche die Risiken
nicht verstanden, sich gegenseitig mit zu laschen Regeln unterboten und insgesamt zu
Geschäfte in weniger regulierte Bereiche sehe.
­ezüglich Ersterem droht ein überzogener
B
Glaube an die Selbstregulierung der Märkte
durch einen ebenso fehlgeleiteten Glauben an
die Macht zentraler Detailsteuerung ersetzt zu
werden, wobei zudem die negativen volkswirtschaftlichen Konsequenzen kaum Erwähnung
finden. So besteht die Gefahr, dass im Zuge
der immer noch rollenden Regulierungswelle
neben den besagten Kasinos auch volks­
wirtschaftlich ungleich sinnvollere Geschäftsbereiche geschlossen oder zumindest mar­
kant zurückgefahren und so Aufschwung und
Wachstum behindert werden. Hinsichtlich
Letzterem steht zu befürchten, dass gewisse
Aktivitäten aus dem relativ transparenten und
regulierten Bankenbereich in den sogenannten
Schattenbankensektor verlagert werden, wo
Regulierungs- und Aufsichtsbehörden weniger
Informationen und Zugriff haben. Die nächste
Krise kommt bestimmt, sie wird aber sicher
keine Wiederholung der letzten sein.
Zwei in Kasino-Kapitalismus thematisierte
Probleme bleiben jedoch ungelöst und hoch­
aktuell. Das erste betrifft die weiterhin bestehenden großen Unterschiede der Rechnungslegungssysteme IFRS und US GAAP, welche
Vergleiche von Risikoprofilen und Kapitalausstattung zwischen amerikanischen und europä­
ischen Banken massiv erschweren. Und zweitens blieb bei den diagnostizierten Mängeln
der Risikogewichtungen der wohl größte unangetastet, nämlich die proklamierte Risikolosigkeit von Staatsanleihen. Dies hängt auch damit
zusammen, dass die Hauptgefahren für das internationale Finanzsystem mittlerweile nicht
mehr von Geschäftsbanken ausgehen, sondern
von unkonventionellen geldpolitischen Maßnahmen und der immer noch weitgehend
ungelösten staatlichen Schuldenproblematik.
­
Nicht von ungefähr trägt Hans-Werner Sinns
neues Buch den Titel The Euro Trap.
Kasino-Kapitalismus: Hans-Werner Sinn und die Finanzarchitektur
stark der Selbstregulierung der Märkte vertraut
hätten. Professor Sinns Liste von weiteren Fehlentwicklungen beinhaltet eine von der Politik
angestiftete unverantwortliche Kreditvergabe
im amerikanischen Immobiliensektor, pro­
zyklisch wirkende Regulierungen, fehlgeleitete
­Risikogewichtungen, Ausnahmeregelungen für
Zweckgesellschaften und Hedgefonds sowie
schwere systematische Mängel im Ratingwesen. Insgesamt sei die schlimmste Finanzkrise
der Nachkriegszeit daher durch ein Zusammenspiel von Markt- und Politikversagen ausgelöst worden.
Ich bin der Meinung, dass Hans-Werner
Sinn viele der zentralen Fehlentwicklungen,
welche in der Finanzkrise mündeten, korrekt
beschreibt. Ebenso kann ich die meisten in
­Kasino-Kapitalismus vorgetragenen Reformforderungen unterschreiben, von denen ein
:
Großteil mittlerweile Realität geworden ist Die Eigenkapitalanforderungen wurden (und
werden weiter) massiv quantitativ wie quali­
tativ verschärft, wodurch in Kombination mit
spezifischen »Too-big-to-fail«- und »Recoveryand-resolution«-Regulierungen das Haftungsprinzip wieder ins Zentrum gestellt wurde. Die
geforderte internationale Koordination und
Harmonisierung der Regulierung sind zwar
nicht perfekt, aber heute in vielen Bereichen
Realität. In Europa wurde die Aufsicht sogar
unter dem Dach der Europäischen Zentralbank zentralisiert. Das Instrumentarium der
Notenbank wurde durch antizyklische Kapitalpuffer und weitere makroprudenzielle Instrumente erweitert. Außerbilanzielle Aktivitäten
wurden unterbunden, und der Eigenhandel
ist größtenteils aus den Geschäftsmodellen der
Banken verschwunden.
In der Bankenregulierung wurde viel erreicht seit dem Ausbruch der Krise, so dass ich
die größten Gefahren mittlerweile in exzessiver Regulierung und dem Verlagern riskanter
173
Theodor Weimer
HWS’ BLOOS-ANSATZ: WIE BEKOMMEN WIR
NÜTZLICHE FINANZINTERMEDIÄRE?
Kasino-Kapitalismus
Theodor Weimer ist seit 2009
Vorstandssprecher der HypoVereinsbank. Er promovierte 1987 bei
Horst Albach an der Universität
Bonn. Es folgten Tätigkeiten bei
McKinsey, Bain und als Partner bei
Goldman Sachs, bevor er 2007
Mitglied des Executive Management Committees der Unicredit
Gruppe wurde.
174
Institutionen, die keine Probleme darstellen,
finden im öffentlichen Diskurs nicht statt. Sofern sie funktionieren, sind sie kein Gegenstand
von Politik oder Medien. Denn in deren Sphäre
wird vor allem das verhandelt, was auffällig geworden ist. Natürlich waren Banken nie komplett unterhalb des öffentlichen Radars. Sie erfüllten, jedenfalls in den Industrieländern, aber
einigermaßen ordentlich ihren Zweck. Das galt
zumal für Deutschland. Damit waren sie weitgehend nur für Spezialisten von Interesse.
Das war an sich ein guter Zustand, für die
­Finanzindustrie, aber auch für deren Kunden.
Es gab jedenfalls keinen Anlass zu breiter, gar
systemweiter Kritik. Das Geschäftsmodell lief.
Die große Finanzkrise hat offenbart, dass die
Einschätzung fragwürdig war. Die Finanzindustrie ist unter Rechtfertigungsdruck. Ihr Ruf
könnte – milde ausgedrückt – besser sein.
Für den öffentlichen Intellektuellen HansWerner Sinn kam das alles nicht überraschend.
Er hatte seit langem auf Bruchstellen hinge­
wiesen. Tatsächlich hatte er bereits in seiner
Dissertation, vor fast 40 Jahren, die Schwierig­
keiten erörtert, die mit dem Instrument der beschränkten Haftung verbunden sind. Auf Banken hat er die Perspektive vor gut zehn ­Jahren
angewandt.
Dabei bohrt HWS an einem dicken Brett.
Denn die Haftungsbeschränkung gilt als die
»Basis des kapitalistischen Systems« (HWS).
Richtig angewandt, erlaubt sie den zweckgerechten Umgang mit Risiken. Sie eröffnet zugleich den Zugang zu mehr Chancen. Produktivitätssteigernde Innovationen werden möglich.
Mehr Wohlstand wird geschaffen. Das ist die zu
Recht hervorgehobene Lichtseite des Prinzips.
Ihre Strahlkraft ist in der Streuung von Risiken
begründet. Diese werden verringert. Oder sie
werden jenen überlassen, die sie besser zu tragen im Stande sind.
Wo ist nun der Schatten ? HWS weist überzeugend nach, dass die Haftungsbeschränkung
dazu anhält, tendenziell exzessive Risiken ein-
Aus all dem folgt für HWS : Die Anreizdefekte können nur mit mehr Eigenkapital gemildert
werden. Europa bedarf einer einheitlichen
Aufsichtsstruktur – allerdings ohne zwischenstaatliche Verlustverteilung. Hedgefonds, Private-Equity-Akteure, Money Market Funds
usw. – neudeutsch : Schattenbanken – sollten
gleichen Regeln wie Banken unterliegen. HWS
verlangte dies schon 2008. Er ist damit übrigens im Mainstream der Ökonomen. Er ist
eben nicht immer der Außenseiter. Einige verlangten einiges schon eine Weile vorher.
Mittlerweile ist dies zu erheblichen Teilen
umgesetzt. Und mehr. Etwa die erhöhten Liquiditätsanforderungen, Basel III usw. Die jetzt
zu verhandelnden Fragen haben aber einen
feingliedrigeren Charakter. Wie viel mehr an
Eigenkapital ist erforderlich ? Wie viel – und
welche – Liquiditätsvorhaltung ist geboten ?
Wie interagiert das Bündel an neuen Anforderungen ? Wie ist mit Ausweichverhalten (Schattenbanken) umzugehen ?
Diese Fragen sind in dem Maße wichtig, in
dem die Vermittlungsaufgaben, die Banken
wahrnehmen, sozial nützlich sind. Es gibt einen
Trade-off. Deshalb ist Abwägen geboten. Es
muss mit feinem analytischem Besteck und
­Urteilskraft gearbeitet werden. Es geht darum,
wie die eigentlichen Kunden, Unternehmen
und private Haushalte, betroffen sind.
Hier muss Hans-Werner Sinn nachliefern.
Er kann sich nicht einfach in Rente verabschieden. Das fordere ich vor allem aus eigennüt­
zigen Gründen. Für mich als in der Wolle gefärbter Ökonom war es immer ein enormer
Gewinn, mit diesem kritischen Geist zu diskutieren. Er hat mich als Aufsichtsrat in und nach
der Finanzmarktkrise manches Mal gequält –
gelegentlich hatte er sogar zugehört. Das waren Momente großer Genugtuung. Ich freue
mich auf viele weitere Gelegenheiten zum Austausch.
Kasino-Kapitalismus: Hans-Werner Sinn und die Finanzarchitektur
zugehen. Denn dies erlaubt eine höhere Rentabilität. Diese wächst sogar, sofern alles gutgeht,
je weniger Eigenkapital eingesetzt wird. Vorsichtiges Geschäftsgebaren wird dagegen vom
Markt bestraft. Dabei werden die vermeintlich
seltenen, aber mit hohen Kosten verbundenen
Risiken ausgeblendet.
Hier kommt BLOOS ins Spiel : Je höher die
Verluste, desto unwahrscheinlicher ist es, dass
sie von Eigenkapitalgebern aufgefangen werden. Man kann niemandem mehr nehmen, als
er besitzt. Oder : You cannot squeeze blood out
of a stone. Damit ist eben auch das Fremdkapital dem Risiko ausgesetzt. Dieses wird, so der
deutsche Ökonom Wolfgang Stützel, vom Festzum Restbetragsbeteiligten. Geschieht dies in
großem Umfang, wird Vertrauen untergraben.
Es erwächst ein systemisches Risiko. Die Ansteckungsgefahren für im Prinzip gesunde Institute werden zu groß. Die Politik ist gezwungen,
privat eingegangene Risiken zu sozialisieren.
Die Anreize sind damit systematisch verzerrt. Die öffentlichen Hände gewähren eine
Versicherung, ohne dafür angemessene Prämien zu verlangen. Die Übernutzung des Sicherungssystems ist die unabweisbare Folge. Es
werden zu viele und zu hohe Risiken eingegangen. Für die muss, um weit Schlimmeres zu
verhüten, am Ende der Club der Steuerzahler
einstehen.
HWS benutzt übrigens nicht die in der modernen Finanzwissenschaft, seit Robert Merton, typische Argumentation. Der zufolge gehören Firmen letztlich den Gläubigern. Diese
haben den Anteilseignern das Recht verkauft,
über die Firmenaktiva zu verfügen, jedenfalls
sofern sie ihren Verpflichtungen nachkommen. Die Eigenkapitalgeber haben damit einen
put erworben : Sie geben ihre Rechte auf, gehen
in Insolvenz, sofern der Firmenwert nicht mindestens dem Wert der Verbindlichkeiten entspricht.
175
Kai A. Konrad
WIRTSCHAFTSPOLITIK IN DER FINANZKRISE
Kasino-Kapitalismus
Kai A. Konrad ist Direktor am
Max-Planck-Institut für Steuerrecht und Öffentliche Finanzen.
Er lehrte als Professor an der
FU Berlin. Er ist Mitglied verschiedener Akademien, darunter der
Nationalen Akademie der Wissenschaften Leopoldina, und Mitglied
des Wissenschaftlichen Beirats
beim BMF.
176
Die erste große Finanz- und Wirtschaftskrise
des 21. Jahrhunderts hat zu vielen Verwerfungen geführt. Zu diesen gehört auch ein Verlust an Vertrauen in das marktwirtschaftliche
System und marktwirtschaftliche Institutionen
und in die selbstregulierenden und selbst­
heilenden Kräfte des Marktes. Brauchen wir
­»weniger Markt« ? Sind die Mechanismen des
Marktes an der Systemkrise schuld ? Brauchen
wir die Entmachtung des Marktes durch mehr
staatlichen Dirigismus und politische Kommissare ?
Der Markt kann seine ordnende und wohlfahrtsmehrende Funktion dann und nur dann
ausüben, wenn die Politik die Rahmenbedingungen für diese Entfaltung richtig setzt. Das
hat sie nicht getan. In der Rückschau war die
Finanzkrise insofern vor allem das Ergebnis
von Politikversagen. In die Zukunft gerichtet
ergibt sich daraus die Frage, wie Rahmenbedingungen geschaffen werden, die dafür sorgen,
dass sich die positiven Wirkungen des Markes
entfalten können und Fehlstellungen vermieden werden.
In den vergangenen Jahren sind viele Wirtschaftswissenschaftler hart mit sich selbst und
mit der eigenen Disziplin ins Gericht gegangen.
Andere haben sehr zu Recht darauf verwiesen,
dass das mikroökonomische Instrumentarium
ganz ausgezeichnet ist. Das Verhalten der Akteure, das zur Krise geführt hat, lässt sich mit
diesem Instrumentarium gut erklären. Viele
mikroökonomischen Theorien, die den eigennutzorientierten und strategisch und rational
vorausdenkenden Menschen unterstellen, können das Verhalten der Akteure auf den Finanzmärkten nur zu gut erklären. Diese Theorien
deuten auch auf mögliche Fehlsteuerungen,
die man durch geschickte staatliche Rahmenbedingungen jedenfalls zum Teil korrigieren
könnte.
Denken wir nur an die Anreize von Akteuren, die mit dem Rücken zur Wand stehen, die
nichts mehr zu verlieren haben, oder von Fi­
Die Rezepte sind vorhanden. Viele Wirtschaftswissenschaftler haben wie Hans-Werner
Sinn ihr wissenschaftliches Wirken darauf ausgerichtet, der Politik direkt oder über den Umweg einer breiten Öffentlichkeit zu raten, so
wie ein Bauingenieur, der es gern sieht, wenn
sein Wissen zum Einsatz gebracht wird. Sie
wünschen sich natürlich, dass die Politik ihre
Expertise richtig interpretiert und bestmöglich
verwendet. Das, so weiß man ebenfalls aus der
Wirtschaftstheorie, ist leider nicht so einfach
und mitunter sogar ganz unmöglich. Theorien
erklären uns überzeugend, weshalb bereits
­geringfügige Unterschiede in den Zielen von
Experten und Politikern den Kommunika­
tionsprozess gewaltig erschweren können. Wir
verfügen auch über gute Theorien über den
Einfluss von Interessenverbänden auf die Politik und über die Funktionsweise des politischen Prozesses.
So mag man erklären können, warum es
trotz eines im Grunde guten Erkenntnisstands
der Wirtschaftswissenschaften zu wirtschaftspolitischen Fehlleistungen kommt und warum
trotz des ungeheuren Potenzials, das eine gut
funktionierende Marktwirtschaft für den allgemeinen Wohlstand hat, dieses Potenzial nicht
gehoben werden kann.
Vielleicht liegt die Lösung dieses wirtschaftspolitischen Dilemmas darin, dass sich die Experten stärker an eine breite Öffentlichkeit
wenden. Hans-Werner Sinn hat seit vielen Jahren einen großen Teil seiner Energie genau
­darauf verwendet. Seine am Gesamtwohl orientierten Botschaften haben oft erheblichen
Gegenwind erzeugt, vor allem bei einzelnen
­Interessengruppen. Sein Einsatz hat ihm aber
auch viel Zustimmung und große Popularität
eingetragen. Ich wünsche ihm für diese Akti­
vitäten in den kommenden Jahren die nötige
Kraft und Energie.
Kasino-Kapitalismus: Hans-Werner Sinn und die Finanzarchitektur
nanz­unternehmen, die aus anderen Gründen
größere Verluste aus ihrem aktuellen Handeln
nicht selbst tragen müssen, z. B. weil sie im Fall
eigener Schieflage die Verluste gar nicht selbst
übernehmen und zudem auf staatliche Rettung
vertrauen können. Diese Akteure sind leider
bereit, schlechte Risiken einzugehen : Risiken,
deren Gewinnchancen hinter den Verlustrisiken zurückbleiben. Hans-Werner Sinn gehört
zu denen, die dieses Handlungsmotiv bereits
vor Jahrzehnten erkannt und analysiert haben.
Zentrale Überlegungen hierzu finden sich bereits in seiner Dissertation. In seiner wirtschaftspolitischen Analyse der Finanzkrise
(Kasino-Kapitalismus) lebt diese Theorie auf,
und dieses Handlungsmotiv spielt darin zu
Recht eine zentrale Rolle.
Eine der Handlungskonsequenzen aus dieser Theorie ist die Forderung nach einer entsprechend hohen Ausstattung von Banken mit
Eigenkapital, das für die Abdeckung von Verlusten aus Geschäften der Bank gegebenenfalls
auch zur Verfügung steht. Diese Erkenntnis hat
sich heute immerhin verbreitet durchgesetzt,
auch wenn ihre wirtschaftspolitische Umsetzung nur langsam vorankommt.
Diese Überlegungen sind, so wenig wie Theorien zur Krisenanfälligkeit von Eigenkapital
von Banken und die daraus erwachsenden Anreize für Bilanzverkürzungen oder Theorien
zur Entstehung von Bank Runs, keine Erfindungen der Epoche nach der Insolvenz von
Lehman Brothers. Das mag nicht überraschen,
denn die Krise selbst ist auch nicht die erste
Finanzmarktkrise, in der Ökonomen solche
­
Probleme studieren und analysieren konnten.
Wie aber verhindert man das fortgesetzte
Politikversagen, das dazu führt, dass diese Lehren nicht umgesetzt werden, gerade im Bereich
der Ausgestaltung der Finanzmärkte ? Dies
scheint mir die eigentlich ungelöste Frage zu
sein.
177
Jan-Egbert Sturm
DIE FINANZKRISE 2008: FOLGE UND SPIEGEL­
BILD VON FEHLANREIZEN IM BANKENSEKTOR
Kasino-Kapitalismus
Jan-Egbert Sturm ist Direktor der
KOF Konjunkturforschungsstelle
und ordentlicher Professor für
­Angewandte Wirtschaftsforschung
an der ETH Zürich. Von 2001 bis
2003 leitete er den Bereich Konjunktur und Finanzmärkte des
ifo Instituts. Er ist ifo-Forschungs­
professor und Mitglied der EEAG.
178
Als langjähriges Mitglied der von Hans-Werner
Sinn ins Leben gerufenen European Economic
Advisory Group at CESifo (EEAG), die jährlich
die wirtschaftliche Entwicklung Europas begutachtet, habe ich das Vergnügen, einen sehr regelmäßigen wissenschaftlichen, aber auch persönlichen Austausch mit Hans-Werner Sinn pflegen
zu können. Im Rahmen un­serer EEAG-Sitzungen kommt eines seiner großen Themen immer
wieder zur Sprache : die Finanzkrise von 2008
und ihre Auswirkungen auf Europa. Unsere
­Diskussionsrunden in der EEAG Group sind
ein Trainingscamp für den debattierfreudigen
Hans-Werner Sinn. Denn die in der EEAG vertretenen Ökonomen haben teilweise unterschiedliche Vorstellungen über die Ursachen der
Krise, ihre Auswirkungen und die notwendigen
Strukturreformen der Finanzarchitektur. Dies
führt mitunter zu heftigen polit-ökonomischen
Diskussionen, immer auf höchstem Niveau, nie
unsachlich und immer vorgetragen mit einer
Leidenschaft für das bessere Argument.
Ich hatte dabei oft den Eindruck, dass es
die Diskussionen innerhalb der EEAG Hans-­
Werner Sinn erlauben, diese kleine, aber feine
Gruppe von Experten als Sparringspartner zu
nutzen, um erste Ideen anzubringen, Argumentationslinien zu schärfen oder eventuelle
Schwachpunkte in seiner Rhetorik aufzudecken und zu beseitigen.
In diesem Sinne waren diese Diskussionen
in der Gruppe ertragreich : Sie haben meines
Erachtens ein paar Unschärfen aus Hans-Werner Sinns Argumentationslinien verschwinden
lassen. Denn eines ist klar : Seine Botschaften,
die er in der Öffentlichkeit vertritt, blieben immer glasklar und verständlich, so dass sie stets
eine breite Öffentlichkeit ansprechen und Einfluss auf Entscheidungsträger nehmen.
Beeindruckend sind stets die Fakten- und
Zahlenkenntnisse, mit denen Hans-Werner
Sinn seine Thesen belegen kann. Nehmen wir
als Beispiel die Diskussion um die Fehlanreize
im Bankensektor, die teilweise durch die frühe-
lativ) überschaubar, potenzielle Gewinne al­
lerdings im Verhältnis zum Eigenkapital sehr
hoch.
Es war die Systemrelevanz, der viele Banken
im Zuge der Finanzkrise die Rettung durch den
Staat zu verdanken haben. Auch wenn diese
Rettungsmaßnahmen zumindest aus kurzfristiger Perspektive unerlässlich waren, lassen sie
für die Zukunft Fehlanreize entstehen und tragen somit zur Erklärung des Geschehenen bei.
Denn vielen Banken schien es längst klar gewesen zu sein, dass, wenn es hart auf hart kommt,
die öffentliche Hand die Kastanien aus dem
Feuer holen und die Rechnung letztendlich
durch den Steuerzahler beglichen wird. Diese
Fehlanreize hat Hans-Werner Sinn schon in
den Anfängen der Krise erkannt und darauf in
den für ihn zur Verfügung stehenden verschiedenen Kanälen unermüdlich hingewiesen.
Wichtig ist auch, wie Hans-Werner Sinn
­immer wieder betont hat, dass im Falle einer
Rettung die Gläubiger einer Bank an den Verlusten beteiligt werden sollten, bevor es zu einer Rettung durch den Staat kommt. Seit kurzem ist genau das in der EU-Richtlinie zur
Sanierung und Abwicklung von Kreditinstituten (Bank Recovery and Resolution Directive :
BRRD) geregelt. Mindestens 8 % bestimmter
Bankverbindlichkeiten müssen nun herunteroder abgeschrieben werden, bevor öffentliche
Mittel zur Sanierung oder Abwicklung eingesetzt werden können.
Nicht nur wenn es um die Finanzkrise und
die zukünftige Finanzarchitektur Europas geht,
auch in vielen anderen wissenschaftlichen, politischen und sozialen Bereichen habe ich viel
von Hans-Werner Sinn gelernt, und er hatte
­einen prägenden Einfluss auf meinen beruf­
lichen und persönlichen Werdegang. Ich bin
mir sicher, dass es anderen Ökonomen auch so
geht.
Kasino-Kapitalismus: Hans-Werner Sinn und die Finanzarchitektur
re Regulierung entstanden sind und von HansWerner Sinn thematisiert wurden : Dass z. B.
nach internationalen Standards die allgemeinen Anforderungen an das Eigenkapital der
Banken – die sogenannte Kernkapitalquote –
8 % der Risikoanrechnungsbeträge betragen,
hört sich auf den ersten Blick vielleicht vernünftig an. Aber in der Praxis bedeuten sie,
dass bestimmte Anlageprodukte, wie Staatsanleihen, nicht mit Eigenkapital unterlegt werden
müssen und die Gewichtung weiterer Anlagen
quasi über Selbstkontrolle mittels bankinterner
Risikomodelle ermittelt wird. Die damals als
sehr sicher eingestuften Verbriefungen ame­
rikanischer Immobilienkredite wurden damit
nur teilweise, nämlich risikogewichtet, in die
Kernkapitalquote aufgenommen. Berechnet
man aber die bilanzielle Eigenkapitalquote –
ein viel gröberes, aber deutlich einfacheres
Maß, das nichts anderes abbildet als das Verhältnis von (ungewichtetem) Eigenkapital und
Bilanzsumme –, dann liegt diese um einiges
niedriger. Sowohl bei der Deutschen Bank als
auch bei der Schweizer UBS lag die bilanzielle
Eigenkapitalquote im Jahr 2007, also im Jahr
vor der Finanzkrise, bei lediglich 1,9 %. Ich
glaube nicht, dass es viele Banken auf dieser
Welt gibt, die bereit wären, einem privaten
­Industrieunternehmen mit einer bilanziellen
Eigenkapitalquote von unter 2 % einen Kredit
zu gewähren. Denn die Risiken würden eindeutig als zu hoch eingestuft werden. Die Banken waren vor der Finanzkrise aber genau in
dieser Situation. Auch ohne Bail-out – d. h.
auch wenn man annehmen würde, dass Banken und deren Eigner im Falle einer Krise nicht
durch die öffentliche Hand vor einem Verlust
des Eigenkapitals geschützt würden – verstärken derart tiefe Eigenkapitalquoten die Risikobereitschaft der Banken. Im Falle einer Pleite
sind die Verluste für die Kapitaleigentümer (re-
179
Frank Westermann
WIE AUS FORSCHUNG POLITIKBERATUNG
WIRD: DIE VORGESCHICHTE ZUM KASINOKAPITALISMUS
Kasino-Kapitalismus
Frank Westermann ist Professor
für Volkswirtschaftslehre und
­Leiter des Instituts für Empirische
Wirtschaftsforschung an der Universität Osnabrück. Er ist Autor
von Boom-Bust Cycles and
­Finan­cial Liberalization, MIT Press,
­gemeinsam mit Aaron Tornell.
2004 habilitierte er bei Hans-­
Werner Sinn.
180
Das Buch Kasino-Kapitalismus war das erste,
das die Finanzkrise von 2007/08 systematisch
aufarbeitete und auf wissenschaftlicher Grundlage eine Analyse der notwendigen wirtschaftspolitischen Reformen vornahm. Zu diesem
Zeitpunkt war die globale Finanzkrise auf ihrem Höhepunkt. Die Subprime-Krise 2007 war
der Vorbote, und die Lehman-Brothers-Pleite,
Ende 2008, deckte die Schwächen der inter­
nationalen Finanzarchitektur endgültig auf. Sie
traf die Märkte und die Politiker gleichermaßen unvorbereitet.
Bereits in der ersten Hälfte des Jahres 2009
war der Kasino-Kapitalismus schon in den
Buchläden. Im Juni 2009 akzeptierte Hans-Werner Sinn u. a. eine Einladung nach Osnabrück
und präsentierte sein Buch in einer überfüllten
Aula des Schlosses. Wie war es möglich, schneller als alle anderen zu sein, bei einem so komplexen Thema wie dem der globalen Finanzmärkte ?
Beim Kasino-Kapitalismus – wie auch schon
bei seinen anderen Büchern – half es HansWerner Sinn, dass ein Thema an Bedeutung gewann, an dem er zuvor bereits geforscht hatte.
Drei Artikel und ein Buch waren in diesem Fall
dabei besonders relevant :
In seiner Dissertation (1980 erschienen) analysierte Sinn z. B. individuelles Risikoverhalten bei einer sog. geknickten Nutzenfunktion.
Die »Mehr, als er hat, kann man ihm nicht
­nehmen« – oder MAEHKMINN –, eine Regel,
die einen wesentlichen Teil der Wirklichkeit an
spekulativen Finanzmärkten widerspiegelt, integrierte er in ein mikroökonomisches Modell,
das zeigt, unter welchen Rahmenbedingungen
Marktteilnehmer übermäßige Risiken eingehen : insbesondere dann, wenn die Eigenverantwortung für extrem negative Realisationen
dieses Verhaltens entfällt.
Gemeinsam mit dem bekannten Mikroökonomen Murray Kemp (2000) zeigte er später
weitere Gründe auf, die Finanzmärkte zu regulieren. Dieser Artikel beschäftigte sich mit der
tes, der Banken und der Ratingagenturen. Für
keinen dieser Teilnehmer schienen die »Spielregeln« der internationalen Finanzmärkte richtig gesetzt zu sein. Keinen dieser Marktteilnehmer macht Hans-Werner Sinn jedoch einzeln
verantwortlich für die Misere. Alle zusammen
haben das System ihren Präferenzen und Restriktionen entsprechend ausgenutzt.
Die Handlungsempfehlungen für Reformen
an den Finanzmärkten sind in dem Buch klar
formuliert und folgen den zuvor gewonnenen
theoretischen Erkenntnissen. Sie beinhalten
insbesondere eine Erhöhung der Eigenkapitalquote, abgeleitet aus der MAEHKMINN-Regel.
Wenn die Eigenkapitalquoten höher sind,
wach­sen das eigenständig getragene Verlust­
risiko und die Vorsicht bei künftigen Anlage­
entscheidungen. Sinn spricht sich auch eindeutig gegen Leerverkäufe aus. Diese würden eine
Spekulation befeuern, die dem Einzelnen Profite bringen, der Volkswirtschaft als Ganzer
aber schaden.
Darüber hinaus sollte der Staat, wenn Rettungsaktionen zwingend werden, Anteilseigner
der Banken werden. Er sollte eine Kapitalerhöhung erzwingen, um sich zu einem späteren
Zeitpunkt schrittweise aus den Beteiligungen
durch den Verkauf von Aktien wieder zurückziehen zu können. Staatliche Garantien oder
»Bad Banks« lehnt Sinn hingegen ab. Diese
Empfehlung folgt aus der Analyse der Gewährs­
trägerhaftung bei den Landesbanken.
Die Publikation Kasino-Kapitalismus wurde
der Erfolg, den dieses Buch verdient hatte. Es
ist das Werk eines Wissenschaftlers, der auf
Basis von jahrelanger Grundlagenforschung
­
in der Lage ist, Politikberatung mit exzellenter
Qualität anzubieten.
Kasino-Kapitalismus: Hans-Werner Sinn und die Finanzarchitektur
Frage, ob Spekulation auf »Forward Markets«
nicht nur die Preise stabilisiert, sondern auch
die Wohlfahrt der Volkswirtschaft insgesamt
erhöht. In einem theoretischen Beitrag zeigten
Sinn und Kemp, unter welchen Konditionen
spekulative Geschäfte zwar aus privater Sicht
profitabel, aus Wohlfahrtsbetrachtung aber
nutzlos sein können.
Hans-Werner Sinn befasste sich Ende der
1990er Jahre bereits mit der Rolle des Staates im
Bankwesen. In einem Buch (1997) zeigte er, wie
umfangreich der Staat bereits in das deutsche
Bankensystem involviert war, insbesondere
über die Landesbanken. Er kritisierte die Gewährsträgerhaftung, mit deren Hilfe die Landesbanken auf den internationalen Kapitalmärkten einen Wettbewerbsvorteil hatten und
so zu Global Playern heranwuchsen, die letztlich viel Geld im Zuge der Finanzkrise verloren.
Schließlich modellierte er in einem theo­
retischen Beitrag (2003) den »Laschheitswett­
bewerb« unter den Regulierungsbehörden. Als
Teil seiner Untersuchungen zum Systemwettbewerb ging er der Frage nach, ob das Marktversagen, in diesem Fall das »Lemons-Problem« bei Wertpapieren, das die Regulierung in
geschlossenen Volkswirtschaften auf den Plan
ruft, erneut auftaucht, wenn diese Regulierungsbehörden in Konkurrenz zueinander stehen. In dem Artikel analysierte er die Zusammenhänge in einem formalen theoretischen
Modell und forderte eine globale Initiative zur
Erhöhung der Eigenkapitalquoten.
In dem Buch Kasino-Kapitalismus wandte
Sinn sich dann erstmals mit diesen Themen an
eine breite Öffentlichkeit und analysierte die
Finanzkrise aus unterschiedlichen Perspektiven. Aus der Sicht der Haushalte, der des Staa-
181
Martin Wolf
HANS-WERNER SINN ZUR GLOBALEN
FINANZKRISE
Kasino-Kapitalismus
Martin Wolf, Commander of the
British Empire, ist Chefreporter für
Wirtschaft der Financial Times und
Professor an der Universität von
Nottingham. Er ist Träger vieler
Auszeichnungen und mehrerer
Ehrendoktortitel sowie regel­
mäßig unter den 100 wichtigsten
Denkern der Zeitschrift Foreign
Policy.
182
Hans-Werner Sinn besitzt vier herausragende
Gaben : Mut, Klarheit, Klugheit und Streitlust.
Diese Kombination macht ihn zu einem exzellenten Ökonomen, einem wegweisenden Politikanalysten und einem mächtigen Polemiker.
Seine Position als Präsident des ifo Instituts
und Gründer des CESifo-Netzwerks vergrößerte seinen Einfluss noch. Er ist nicht nur ein
tatkräftiger Intellektueller, sondern ein echter
Organisator.
Deutschlands einflussreichster politikorientierter Ökonom hat Einfluss in ganz Europa.
Und es sind nicht nur seine Mitstreiter, die
die Relevanz seiner Beiträge anerkennen. Sein
wahrer Wert zeigt sich darin, dass die Klarheit
seiner Argumente alle anderen zwingt, sich
selbst ebenso klar zu äußern.
Diese Qualitäten zeigen sich auch in seiner
Arbeit zur globalen Finanzkrise, insbesondere
in Kasino-Kapitalismus. Darin begründet er
­einen einfachen, aber mächtigen Gedanken :
»Das Unglück brach über die Welt herein, weil
sich der Bazillus der Haftungsbeschränkung,
Regressfreiheit und Verantwortungslosigkeit
von Amerika aus über die Welt verbreitet
und die Finanzmärkte infiziert hat, ohne dass
die Regulierungsbehörden Einhalt geboten haben. Banken, Hedgefonds, Zweckgesellschaften,
­Investmentfonds und Immobilienfinanzierer
durften ihr Geschäft fast ohne Eigenkapital betreiben. Wer kein Eigenkapital hat, haftet nicht,
und wer nicht haftet, zockt. Er sucht das Risiko,
wo er es nur findet, weil er die Gewinne priva­
tisieren und die Verluste sozialisieren kann.
Durch das Wegschneiden eines Teils der Verlustverteilung ist es ihm möglich, aus dem
­bloßen Risiko private Erträge zu zaubern.« Damit eine Marktwirtschaft funktioniert, müssen
Entscheidungsträger die Kosten ihrer Fehlentscheidungen tragen, jedoch begrenzt durch die
Existenz von beschränkter Haftung und In­
solvenzverfahren. Vor der globalen Finanz­
krise bestand ein Ungleichgewicht : Es gab zu
wenig Eigenkapital in Kreditinstituten und zu
Banken mit einem diversifizierten Portfolio
können Krisen eher überstehen als kleine. Und
wenn eine große Bank gerettet werden muss,
dann gilt dies ebenso für eine große Anzahl
kleiner Banken.
Kasino-Kapitalismus spricht sich auch für
länderübergreifende regulatorische Mindeststandards aus, um einen erneuten Wettstreit
hin zu lascher Regulierung zu begrenzen. Bilanzierungsregeln müssen sorgfältig überprüft
werden, wie zum Beispiel die Risikogewichtung von Bilanzpositionen. Das Risikogewicht
anonymer Sicherheiten sollte größer sein als
das konventioneller Darlehen an Schuldner,
die einem Insolvenzrisiko ausgesetzt sind. In all
diesen Punkten hat Hans-Werner Sinn Recht.
Doch die Implementierung eines solchen
Regimes ist kompliziert. Kapitaleigner werden
entweder weiterhin darauf setzen, gerettet zu
werden, oder sie sind überzeugt, dass dies
nicht passiert. Im erstem Fall werden Banken
zu hohe Risiken eingehen. Im zweiten werden
sie Darlehen kürzen und Anteile verkaufen, sobald Unternehmen dem regulatorischen Mindestmaß an Eigenkapital nahe kommen. Auch
dadurch könnte eine Krise ausgelöst werden.
Hans-Werner Sinns Analyse der globalen Finanzkrise und die Lehren, die daraus gezogen
werden, demonstrieren seine wichtigsten Eigenschaften. Die Arbeit ist klar, leicht zugänglich, intelligent und triftig. Sie behandelt eine
riesige wirtschaftliche Herausforderung auf
nüchterne, aber überzeugende Art. Nicht zuletzt basiert sie auf den besten Eigenschaften
der deutschen Tradition, über die Grundlagen
von funktionierenden Märkten nachzudenken.
Von dieser herausragenden Analyse können
wir alle lernen.
Der ein oder andere fragt sich jetzt, warum
geht Hans-Werner überhaupt in Pension ? Nun,
der deutsche Arbeitsmarkt könnte noch etwas
Flexibilität vertragen.
Kasino-Kapitalismus: Hans-Werner Sinn und die Finanzarchitektur
wenig Regress gegenüber verantwortungslosen
Schuld­nern, während die Allgemeinheit zu viel
Risiko tragen musste.
Wie Hans-Werner Sinn betont, bestätigt diese Krise die grundlegende Annahme des deutschen Ordoliberalismus, »dass Märkte ihre segensreichen Wirkungen nur in einem starken
Ordnungsrahmen entfalten können, der vom
Staat definiert wird. Es gibt keine Selbstregu­
lierung der Märkte, nur eine Selbststeuerung
innerhalb des staatlich gesetzten Regulierungsrahmens.«
Die Auffassung, dass die institutionellen Rahmenbedingungen der Finanzmärkte mangelhaft
waren, ist korrekt. In dem Irrglauben, dass »dieses Mal alles anders sei«, waren sich nicht alle
Akteure der Risiken bewusst, die sie eingingen.
Das Bewusstsein, vor ernsthaften Konsequenzen geschützt zu sein, führt zu einer Art »rationalem Leichtsinn«. Infolgedessen werden nicht
etwa bewusst Risiken eingegangen, sondern es
besteht vielmehr eine Gleichgültigkeit bezüglich
langfristiger Konsequenzen.
Ausgehend von dieser Erkenntnis, formuliert Hans-Werner Sinn eine Reihe stichhaltiger
Empfehlungen. Die wichtigste ist, dass Finanz­
investoren und andere Akteure ein größeres
Verlustrisiko tragen sollten, vor allem durch
strengere Eigenkapitalvorschriften.
Hierbei ist wichtig, dass diesen Akteuren
kein zusätzliches Eigenkapital geschenkt werden darf, weder aus dem öffentlichen Haushalt
noch durch niedrige Zinsen. Richtig ist vielmehr eine direkte Eigenkapitalspritze durch
Regierungen, die zu einer Verringerung der
Anteile privater Eigner führt. Wenn Banken
selbst nicht genug Eigenkapital einwerben können, müssen sie diese Form der Staatshilfe akzeptieren.
Außerdem weist Hans-Werner Sinn darauf
hin, dass die Zerschlagung von Banken diese
nicht notwendigerweise sicherer macht. Große
183
Der damalige Bundespräsident
Horst Köhler spricht beim Munich
Economic Summit 2010.
Der Bundespräsident besucht das
ifo Institut: ( von links nach rechts )
Meinhard Knoche, Wilhelm
­Simson, Eva Luise Köhler,
Horst Köhler, Beate Merk,
­Gerlinde Sinn, HWS.
VfS-Jahrestagung 2007: »Bildung
und Innovation« in München:
( von links nach rechts ) Monika
Schnitzer, Kurt Faltl­hauser, Axel
Weber, Klaus F. ­Zimmermann,
­Gerlinde Sinn, HWS.
184
Der alte und der künftige ifo-Präsident (Clemens Fuest) bei einem
­Münchner Seminar der CESifoGruppe und der Süddeutschen
Zeitung im Frühjahr 2014.
HWS mit dem damaligen Präsidenten der Europäischen Zentralbank, Jean-Claude Trichet, am
Rande des Munich Economic
Summit 2010, vor trister Kulisse.
Brunch zu Sinns 60. Geburtstag:
( von links nach rechts ) HWS, Frank
Westermann, Kai Konrad und
­Ronnie Schöb (April 2008).
185
Die Zeit, 19.07.2012
8
TARGET-FALLE:
Hans-Werner Sinn und die Zukunft
Europas
Timo Wollmershäuser
EINLEITUNG
Target-Falle: Hans-Werner Sinn und die Zukunft Europas
Target-Falle
Timo Wollmershäuser ist kommissarischer Leiter des ifo Zentrums für Konjunkturforschung
und Befragungen und vertritt eine
Professur für Finanzwissenschaft
an der Ludwig-Maximilians-­
Universität München. Seit 2003
forscht er am ifo Institut über
die Geldpolitik der Europäischen
­Zentralbank.
188
Ende 2010 wandte sich Helmut Schlesinger mit
der Bitte an HWS, ob er ihm bei der Interpretation einiger auffälliger Zahlen in der sogenannten »Auslandsposition der Deutschen Bundesbank in der Europäischen Währungsunion«
behilflich sein könne. Dies war schon ein beachtlicher Vorgang, denn immerhin war Schlesinger, der seit 1952 als Volkswirt bei der Deutschen Bundesbank arbeitete und von 1991 bis
1993 ihr Präsident war, ein exzellenter Kenner
der Zentralbankstatistiken. Bei den Zahlen
handelte es sich um die »sonstigen Nettoforderungen der Deutschen Bundesbank innerhalb
des Eurosystems«, die bis Ende 2010 auf 300
Milliarden Euro angestiegen waren, nachdem
sie bis zum Jahr 2007 praktisch immer bei null
lagen.
Mit diesem Ersuchen Schlesingers war der
Grundstein für eine wirtschaftspolitische Debatte über die Zukunft Europas gelegt, die nach
eigenen Aussagen von HWS zu den wichtigsten
Beiträgen in seiner über 40-jährigen Karriere
als Volkswirt zählt. In den darauffolgenden
Monaten begann eine einzigartige Detektivarbeit. Auf eine Anfrage des ifo Instituts bei der
Deutschen Bundesbank hin, warum diese Forderungen seit Beginn der Finanzkrise so stark
gestiegen seien, kam als lapidare Antwort, dass
diese Forderungen im Zusammenhang mit
dem Zahlungsverkehrssystem »Target« stünden und dass ihr Anstieg Ausdruck einer
­krisenbedingten Verschiebung im Refinanzierungsverhalten der Banken im Euroraum wäre.
Viel weniger noch gab sich HWS mit der Aussage zufrieden, dass diese Forderungen kein
unmittelbares finanzielles Risiko für die Bundesbank darstellten, da sie sich nur an die EZB
richteten.
Anfang 2011 konfrontierte HWS mich mit
diesem Thema. Als Volkswirt, der sich am ifo
Institut seit vielen Jahren mit der Geldpolitik
der Europäischen Zentralbank beschäftigte,
hatte auch ich keine Antworten auf die vielen
Fragen. Unsere Recherchen begannen mit dem
te zeigt uns eindrücklich, dass Letztere am Ende
fast immer scheiterten, da das Interventionspotenzial der Notenbank des Schwachwährungslandes durch die Währungsreserven begrenzt war und die Notenbank mit der starken
Währung, wenn überhaupt, dann nur in ge­
ringem Umfang bereit war, die Währungs­
reserven des Schwachwährungslandes durch
kurzfristige Kredite aufzustocken. In der Europäischen Währungsunion ist ein solcher grenzüberschreitender Kreditmechanismus – und
damit das Interventionspotenzial – grundsätzlich unbeschränkt. Spitzt sich eine Krise zu,
­ermöglicht es das Eurosystem, fliehendes privates Kapital durch Notenbankkredite, die es
in unbegrenztem Ausmaß neu schaffen kann,
zu ersetzen. Das Ausmaß dieser Intervention
wird durch die Target-Salden gemessen. Ein
Scheitern der Währungsunion ist somit erst gar
nicht möglich, solange es zumindest eine politische Mehrheit für den Fortbestand der Währungsunion gibt.
HWS stellt dieses von vielen Ökonomen und
Politikern vertretene Postulat der Ewigkeit des
Währungsclubs nicht zufrieden, zumal er die
externe Abwertung als einzig gangbaren Weg
einiger Länder aus der Krise sieht. Er macht
deutlich, dass mit der Dauer der Rettungs­
politik die Target-Salden und damit die Kosten
des Austritts eines Krisenlandes aus der Währungsunion zunehmen. Die Länder mit TargetForderungen sind in einer Falle, da sie auf
­diesen Forderungen gegenüber der Notenbank
des ausscheidenden Landes sitzenbleiben. Seit
dem Regierungswechsel in Athen Anfang 2015
hat die Wahrscheinlichkeit, dass das Undenkbare doch Realität wird, deutlich zugenommen. Als Ökonom zeigt HWS, welche Kosten
mit dem Verbleib des Landes in der Währungsunion verbunden sind und welche Alternativen, beispielsweise in Form einer Parallelwährung, es zum derzeitigen System gibt.
Target-Falle: Hans-Werner Sinn und die Zukunft Europas
Erstellen einer Datenbank, in der Target-Forderungen und -Verbindlichkeiten aller am
Eurosystem beteiligten Notenbanken erfasst
­
wurden. Wir zeigten, dass hinter dem Aufbau
der Verbindlichkeiten eine Ausweitung der
Kreditvergabe der entsprechenden Notenbank
stand und dass die Notenbanken, die Forderungen aufbauten, einen Liquiditätsüberschuss
ihres Bankensystems kompensieren mussten.
Hinter alldem stand die endende Bereitschaft
ausländischer privater Kapitalgeber, den EuroKrisenländern weiterhin Kredit zu gewähren.
Bis heute hat HWS unzählige Beiträge zum
Thema Target-Salden veröffentlicht. Keiner der
Texte entstand durch einfaches Copy-Paste,
sondern wurde immer wieder neu formuliert.
Was ihn antrieb, war der fortdauernde Versuch, diese komplizierte Thematik jedes Mal
noch verständlicher darzustellen. Diese Beharrlichkeit hat sich ausgezahlt, denn bei vielen
der ehemals umstrittenen Aspekte herrscht
heute weitgehender Konsens. Einen Etappensieg erlangte HWS, als sich die Deutsche Bundesbank und die Europäische Zentralbank im
Jahr 2011 erstmals offiziell in ihren Monatsberichten zu diesem Thema äußerten und weitgehend die von uns identifizierten Mechanismen,
die hinter der Entstehung der Target-Salden
standen, bestätigten. Im Hinblick auf die von
HWS formulierten Risiken, die sich in den Target-Salden für die Steuerzahler der Mitgliedsländer des Eurosystems manifestierten, dis­
tanzierten sie sich freilich weiterhin, da ein
Auseinanderbrechen der Währungsunion zum
damaligen Zeitpunkt für einen Euro-Notenbanker ein undenkbarer Gedanke war.
Doch gerade dieser Gedanke ist es, der am
Ende zu einer zentralen Erkenntnis aus dieser
Debatte wurde. Im Kern verkörpert das TargetSystem jenen Baustein einer Währungsunion,
der sie von einem herkömmlichen Festkurs­
system unterscheidet. Die Währungsgeschich-
189
Helmut Schlesinger
VOM POSTEN IN DER BUNDESBANKBILANZ
ZUR TARGET-FALLE
Target-Falle
Helmut Schlesinger begann seine
Tätigkeit als Volkswirt 1949 am
­neugegründeten ifo Institut. 1952
wechselte er zur Bank deutscher
Länder, der späteren Deutschen
Bundesbank, deren Präsident er
von 1991 bis 1993 war. Er lehrte
­unter anderem in Princeton und
an der Humboldt-Universität zu
Berlin.
190
Kurz nach der Berufung von Hans-Werner
Sinn auf den Lehrstuhl für Volkswirtschaftslehre und Finanzwissenschaft erlebte ich ihn
anlässlich eines Vortrags in der LMU in München. Er war nicht nur temperamentvoll – wie
mein Lehrer, Professor Fritz Terhalle, damals
Inhaber des gleichen Lehrstuhls –, der junge
Ordinarius war auch inhaltlich gut, ja eigentlich brillant. Und so wird er auch sein, so wünsche ich es ihm, wenn er Abschied nimmt
von seinen Aufgaben an der Universität und
dem ifo Institut. Dass dieses Institut, in dessen
Grün­
derzeit ich meine Lehrjahre (1949 – 52)
verbrachte, heute groß, wissenschaftlich anerkannt und einflussreich wirken kann, ist seinem jetzigen Präsidenten in besonderer Weise
zu danken.
Im Laufe der Jahre hatte ich das Glück, mit
Herrn Sinn öfter zusammenzutreffen, besonders seit ich nach meinem Amt in der Bun­
desbank (1993) dem Wissenschaftlichen Beirat
beim Bundesministerium für Wirtschaft ange-
höre. Hier lernte ich seine Leidenschaft als politischer Ökonom, dessen Urteile sich vielfach
durch seine tiefe Fachkenntnis von manchen
nicht weniger leidenschaftlich argumentierenden Kollegen abhoben, kennen. Natürlich war
das ifo Institut eine wichtige Stütze für seine
Arbeit. Auch dort regte er an, die wissenschaftliche Gründlichkeit selbst bei den oft gering
­geachteten Details nicht zu vergessen.
So ein Detail war auch seine Frage an mich,
wie die Länder der Europäischen Währungsunion ihre Defizite in der Zahlungsbilanz,
die bei den südlichen Euroländern sehr groß
geworden sind, finanzieren. Ich sagte ihm, in
der deutschen Zahlungsbilanzstatistik gäbe es
­einen Posten kurzfristiger Kredite der Bundesbank an das Ausland zusätzlich zur Veränderung der Währungsreserven. Ich bemühte mich
herauszufinden, um was es sich wirklich handelt, nämlich um die inzwischen mit Hilfe von
Herrn Sinn bekannt gewordenen Target-2-Forderungen der Bundesbank, dem kumulierten
in der fachlichen Analyse; sie müssen den Vorschlag als solchen in Frage stellen. Ideologisch
bestimmte Sichtweisen, wegen sozialpolitischer Vorstellungen oder einer eingefleischten
Euro-Romantik, sind die stärksten Triebfedern
dieser Kritiken. Gewiss, das ausgeprägte Talent
von Hans-Werner Sinn, sein Anliegen auf kurze, einprägsame Formeln zu bringen, wie Kasino-Kapitalismus oder Gefangen im Euro, rufen
nicht nur das Interesse der Öffentlichkeit wach,
sondern bergen auch die Gefahr, dass Nicht­
leser dieser Werke sie für zu populistisch halten
könnten. Aber dem beugt der Verfasser auch
dadurch vor, dass er sich persönlich in die Öffentlichkeit begibt und gerade dort – im Fernsehdiskurs oder in der Presse – mit seiner Sachlichkeit überzeugt.
In der Tat ist das Interesse der Öffentlichkeit an den aktuellen wirtschaftspolitischen,
geld- und währungspolitischen Ereignissen in
Deutschland eher lebhafter als in anderen Industrieländern. An der Aufklärung sind über
die Jahrzehnte hinweg viele Einrichtungen beteiligt, die Bundesbank mit ihren Monatsberichten seit 1949, der Sachverständigenrat seit
1963, die großen wirtschaftswissenschaftlichen
Institute. Die Bevölkerung hat Grund genug,
sich für das wirtschaftspolitische Schicksal dieses Landes zu interessieren nach den schlimmen Erfahrungen mit dem Verlust des Geldvermögens (1923/1948) sowie der Finanz- und
Bankenkrise seit 2007. Die Geldpolitik muss
offen betrieben werden, sonst riskiert sie die
wichtigste Basis ihrer Wirksamkeit : das Vertrauen. Hier wird deutlich, wie wichtig es sein
wird, dass Hans-Werner Sinn nicht verstummt,
wenn er von den hauptamtlichen Pflichten befreit sein wird. Für diese Zeit wünsche ich ihm,
und ebenso seiner verehrten Gattin, Glück, Gesundheit und ein langes Leben.
Target-Falle: Hans-Werner Sinn und die Zukunft Europas
Saldo im Zahlungsverkehr mit den nationalen
Notenbanken des Euroraums.
Nach ein bisschen Getöse gaben die Notenbanken zu, dass es sich hier um unbefristete,
kaum verzinsliche Kredite der Notenbanken
untereinander (verrechnet über die EZB) von
letztlich unbegrenzter Größenordnung handelt. 2012 stieg allein die Target-2-Forderung
der Bundesbank auf fast netto 700 Mrd. Euro,
und auch heute (Mai 2015) beträgt sie rd.
550 Mrd. Euro. Es ist der weithin größte Posten
auf der Aktivseite der Bundesbankbilanz, rein
rechnerisch »deckt« er zwei Drittel der Verbindlichkeiten der Bundesbank. Hans-Werner
Sinn hat in der Target-Falle (2012) die ökonomisch wichtigen Probleme einsichtig zu machen versucht. Das Eurosystem ist bisher auf
seine Vorschläge zur Eindämmung dieser Praxis nicht eingegangen. Offensichtlich hält man
es nach den Erfahrungen seit 2007 für angebracht, die Zahlungsverkehrsdefizite unter den
Euroländern, sei es aus Importüberschüssen,
sei es aus Kapitalabzug und Kapitalflucht, reibungslos zu finanzieren.
Hans-Werner Sinn ist Realist genug, um zu
wissen, dass zwischen dem Ergebnis einer klaren Analyse und deren politischer Realisierbarkeit ein ziemlicher Abstand bestehen kann.
Er hat das des Öfteren selbst formuliert. Tatsächlich sind seine politischen Vorschläge so
realitätsnah wie möglich. Wenn es um Vorschläge zur Änderung der Besteuerung, gegen
die Ausweitung der Sozialbudgets, der Fehl­
entwicklung im Landesbanksystem usw. geht,
ist er auch mit den Nuancen des staatlichen
Gestrüpps an Regulierungen, Privilegien, Subventionierungen vertraut. Seine Präzision bei
der Verwendung statistischer Unterlagen ist
vorbildlich. Wann immer Kritiker sich seinen
wirtschaftspolitischen Vorschlägen zuwenden,
finden sie höchst selten einen Anhaltspunkt
191
Malte Fischer
SPEKTAKULÄRE AUFKLÄRUNGSARBEIT
Target-Falle
Malte Fischer ist Chefvolkswirt
der WirtschaftsWoche. Zuvor arbeitete der an der Ruhr-Universität
Bochum ausgebildete Ökonom als
Wissenschaftler in der Konjunkturforschung des Instituts für Weltwirtschaft in Kiel.
192
Hätte man Ökonomen vor einigen Jahren gefragt, was das Target-System ist, hätten die meisten ratlos die Achseln gezuckt. Manche hätten
wohl auf eine Flugabwehrrakete oder eine neue
Krimiserie getippt. Mittlerweile aber ist das
­militaristisch anmutende Akronym a­ llen Öko­
nomen ein Begriff. Dass das »Trans-European
Automated Real-time Gross Settlement Express
Transfer System« (Target) in das Scheinwerferlicht der Öffentlichkeit geraten ist, hat es dem
Wirken von Hans-Werner Sinn zu verdanken.
Mit aufklärerischer Verve hat der Chef des
Münchner ifo Instituts die Öffentlichkeit in­
formiert, was es mit diesem System, über das
die Euro-Notenbanken grenzüberschreitende
Zahlungen abwickeln, auf sich hat – und welche ökonomische Sprengkraft hinter den buchhalterisch-bieder anmutenden Bilanzierungspraktiken des Systems steckt. Sinn deckte die
heimliche Eurorettung hinter der offiziellen
Rettungspolitik auf und zeigte, welche Rolle
die Europäische Zentralbank (EZB) dabei spielt.
Begonnen hat alles mit dem Hinweis an die
WirtschaftsWoche, man möge doch bitte Kontakt mit Helmut Schlesinger, dem ehemaligen
Präsidenten der Deutschen Bundesbank, aufnehmen. Dem rüstigen Ruheständler war bei
der Lektüre des Monatsberichts der Deutschen
Bundesbank aufgefallen, dass der Bilanzposten
»Forderungen innerhalb des Euro-Systems
(netto)« binnen weniger Jahre von 18 Mil­
liarden auf 326 Milliarden Euro angeschwollen
war. Schlesinger konnte sich darauf keinen
Reim machen und schaltete ifo-Chef Sinn ein.
Denn Schlesinger wusste : Wenn es einen Ökonomen gibt, der unerbittlich nachhakt, bis ökonomisches Licht in das Dunkel von Daten und
Fakten fällt, dann ist es Hans-Werner Sinn.
Es folgte eine spektakuläre Aufklärungsarbeit und eine der kontroversesten wirtschaftspolitischen Debatten der vergangenen Jahre.
Den Aufschlag machte Sinn mit einem Beitrag
in der WirtschaftsWoche. Darin stellte er die
These auf, dass das für die Verrechnung von
Notenbankern kam das gar nicht gut an. Sie
konterten, Sinn verstehe nichts von Notenbankbilanzierung. Auch aus Teilen der Wissenschaft und der Medien hagelte es Kritik. Mit
seinen zugespitzten Thesen und popularisierten Darstellungen komplexer Sachverhalte bewege sich Sinn auf dem Niveau eines »Boulevard-Ökonomen«, lautete einer der Vorwürfe.
Doch wie immer, wenn er Gegenwind verspürt, lief Sinn nun zur Höchstform auf. Während sich andere, wie die fünf Wirtschafts­
weisen, in der Eurokrise wegduckten, ging
Sinn mit der Eurorettungspolitik schonungslos
ins Gericht. Er bezichtigte die EZB, monetäre
Staatsfinanzierung zu betreiben, warnte vor einer »schleichenden Enteignung der deutschen
Sparer« und vor »Unfrieden in Europa«. Sinn
kritisierte jedoch nicht nur, er lieferte auch Reformvorschläge. Er forderte, die Rettungsmit­
tel strikt zu begrenzen, die Target-Salden nach
dem Vorbild der USA einzugrenzen und re­
formunfähige Länder aus der Währungsunion
austreten zu lassen.
Sinn, der den Euro erhalten will, wurde zur
Galionsfigur der Euro-Kritiker und zum prominentesten Anwalt der deutschen Steuerzahler. Dem um sich greifenden Relativismus in
Politik und Ökonomie setzte er marktwirtschaftliche Prinzipientreue und ordnungspolitische Standfestigkeit entgegen. Was ihn dabei
antrieb, verriet er in seinem 2012 erschienenen
Buch Die Target-Falle. Ihm gehe es nicht um
»theoretische Glasperlenspiele«, sondern »um
die Zukunft Europas im Allgemeinen und um
das Wohlergehen der Deutschen und ihrer
Kinder im Besonderen«.
Der Altmeister der deutschen Ökonomenzunft, Herbert Giersch, hat einmal gesagt,
Ökonomen hätten eine Bringschuld gegenüber
der Gesellschaft. Hans-Werner Sinn hat diese
Bringschuld erfüllt wie kein Zweiter.
Target-Falle: Hans-Werner Sinn und die Zukunft Europas
Zahlungen zwischen den Euro-Zentralbanken
geschaffene Target-System in der Eurokrise zu
einem Finanzierungsvehikel für die Krisen­
länder geworden war, das es ihnen erlaubte,
weiterhin über ihre Verhältnisse zu leben. Im
Gegenzug bauten sich Forderungen aus dem
Target-System bei der Bundesbank auf, aus denen sich milliardenschwere Ausfallrisiken für
die deutschen Steuerzahler ergeben.
Die Bundesbank wiegelte zunächst ab. Der
Anstieg der Target-Salden sei eine »krisenbedingte Verschiebung in den Zahlungsströmen
und im Refinanzierungsverhalten der Banken
im Euroraum«, hieß es verschwurbelt aus der
Notenbankzentrale. Doch Sinn ließ nicht locker. Er analysierte Daten, durchforstete die Bilanzen von Notenbanken und verfeinerte seine
These. So wies er nach, dass nach dem Ausbruch der Eurokrise die Kapitalmärkte nicht
mehr bereit waren, den Problemländern Kre­
dite zur Finanzierung ihrer Importüberschüsse
zu gewähren. Deshalb sprang die EZB ein und
erlaubte den Banken der Krisenländer, sich gegen fragwürdige Sicherheiten unbegrenzt Geld
von der Notenbank zu leihen.
Mit dem Geld vergaben die Banken Kredite
an ihre Kunden, die damit Waren im Ausland,
unter anderem in Deutschland, kauften. Via
Bundesbank und Geschäftsbanken floss das
Geld auf die Konten der deutschen Exporteure.
Als sich die Eurokrise zuspitzte, nutzten die
Bürger der Krisenländer das Target-System
auch dazu, ihr Geld in Deutschland in Sicherheit zu bringen. Nun schwammen die Banken
hierzulande im Geld und mussten es sich nicht
mehr bei der Bundesbank leihen.
Sinn warnte, dass die Target-Forderungen
der Bundesbank bei einem Auseinanderbrechen des Euroraums verloren seien und die
Steuerzahler die Zeche dafür zu zahlen hätten.
Der EZB warf er vor, eine »riskante Kredit­
ersatzpolitik« zu betreiben. Bei den Euro-­
193
Otmar Issing
DIE TARGET-FALLE – VIEL LÄRM UM NICHTS?
Target-Falle
Otmar Issing ist Präsident des
Center for Financial Studies an der
Goethe-Universität Frankfurt. Von
1998 bis 2006 war er Mitglied im
EZB-Direktorium und von 1990 bis
1998 im Direktorium der Deutschen Bundesbank. Zuvor war er
Mitglied des Sachverständigen­
rates und Professor in ErlangenNürnberg und Würzburg.
194
Hans-Werner Sinn war an fast allen wichtigen
wirtschaftspolitischen Debatten der letzten
Jahrzehnte in Deutschland beteiligt. (Davon
zeugen die Beiträge zu diesem Buch.) Meist
hat er dabei eine führende Rolle gespielt. Viele
Themen hat er angestoßen und Öffentlichkeit
wie Wissenschaft auf gravierende Probleme
aufmerksam gemacht, gelegentlich geradezu
aufgeschreckt. Das gilt sicher für das hier behandelte Thema.
HWS hat zunächst eine Reihe von Artikeln
zu dieser Thematik geschrieben. Schließlich
sind zwei umfangreiche Bücher erschienen :
Die Target-Falle und The Euro Trap.
Target steht für »Trans-European Automated
Real-time Gross Settlement Express Transfer
System« und verbindet die nationalen Zahlungssysteme und den Zahlungsverkehrsmechanismus der EZB zu einem einheitlichen System, das grenzüberschreitende Überweisungen
zwischen verschiedenen Systemen in der EU er­
möglicht. Target, genauer die Fortentwicklung
Target 2, wird auch für die Abwicklung der
geldpolitischen Operationen des Eurosystems
und für den Handel mit Zentralbankguthaben
zwischen den Banken genutzt.
Als Zahlungsverkehrssystem ist Target sicher ein Erfolg. Diese technische Seite soll hier
nicht weiter interessieren. Die Problematik von
Target liegt in der zeitlich wie betragsmäßig
unlimitierten, impliziten Kreditgewährung in
Höhe der aufgelaufenen Salden. Diese entstehen, wenn sich die Zahlungen über das System
nicht ausgleichen. Wären die Salden im Umfang begrenzt (oder kurzfristiger Natur, wie
man bei der Einführung dieses Clearingsystems ursprünglich angenommen hatte), wäre
dies kein Problem.
Doch ist es nach Ausbruch der Krise ganz anders gekommen. Als die Banken in den Überschussländern, allen voran in Deutschland, ihre
Kreditgewährung an die Peripherieländer mehr
oder weniger abrupt aussetzten, führten die
Zahlungen über das Target-System zu wachsen-
den Erhalt des Eurosystems investiertem Geld
weiteres hinzuzufügen. Er spricht zu Recht von
»Pfadabhängigkeit« der Entwicklung.
Ihm geht es dabei um das große Ganze. In
seinem Buch Die Target-Falle bekennt sich HWS
zu seiner im Gegensatz zu anderen Prominenten anfänglich durchaus positiven Einstellung
zur Einheitswährung. Verständlicherweise muss
die Enttäuschung über die Entwicklung umso
größer ausfallen. Wie schnell man zum »AntiEuropäer« abgestempelt wird, wenn man auf
die Fülle von falschen Entscheidungen im Einzelnen und die Konzeptionslosigkeit im Ganzen hinweist, musste er immer wieder erfahren.
Mit ihm bin ich davon überzeugt, dass die
­Zukunft der Währungsunion und auch Europas nicht gesichert wird, wenn man falsch
­verstandene und zum Fehlverhalten geradezu
­einladende »Solidarität« einfordert. Ohne fiskalische Solidität, ohne harte »Budgetrestrik­
tionen« – man kann Probleme nicht einfach
durch Gelddrucken überwinden – kann die
­europäische Wirtschaft nicht die Stabilität bewahren und gewünschte Dynamik gewinnen.
Treibt die Währungsunion den nicht nur im
Target-System implizierten Zwang zu Transfers weiter voran, wird die gemeinsame Währung
letztlich am Mangel an demokratischer Legitimierung scheitern. Eine Fiskalunion europäischer Dimension kann es nur in einer vollentwickelten Politischen Union geben. Auf absehbare
Zeit ist dies jedoch keine realistische Option.
Dem Bekenntnis am Ende der Euro Trap
schließe ich mich uneingeschränkt an : »The
better Europeans are not the romantics, but
those who seek realistic solutions that accord
with the free will of the people, the law of economics, and the free decisions of parliaments,
without the latter being predetermined by technocratic bodies overstretching their mandate,
and solutions that can be applied without a
forced redistribution of wealth.«
Target-Falle: Hans-Werner Sinn und die Zukunft Europas
den negativen Salden der Notenbanken der Defizitländer und analog zu posi­tiven Salden bei
den Überschussländern. Über das Zahlungsverkehrssystem entstand so eine riesige automa­
tische Finanzierung zwischen den Notenbanken. 2010 stieg der Forderungssaldo Finnlands,
Deutschlands, Luxemburgs und der Nieder­
lande dramatisch an und erreichte im Jahr 2012
den Höhepunkt von über 1 Billion Euro. Die
Forderungen Deutschlands beliefen sich im
­August 2012 auf bis zu 751 Milliarden Euro. Seitdem gingen die Beträge zurück. HWS zeigt eindrücklich, wie die Salden im Target-System von
der Niedrigzinspolitik der EZB und den drastisch reduzierten Anforderungen an die Qualität der geforderten Sicherheiten für Kredite der
Notenbank an den Bankensektor abhängen.
Die Bundesregierung spielte zunächst die
Relevanz der Target-Salden deutlich herunter.
Das zeigt einmal mehr, welch wichtige Rolle
HWS gerade in dieser Debatte spielt. Schließlich handelt es sich hier um einen alles andere
als unerheblichen Teil des deutschen Auslandsvermögens. HWS weist auf die hohen Risiken
hin, die mit den Forderungen aus diesem
»Zwangskreditsystem« verbunden sind. Scheidet ein Defizitland aus dem Euro aus, dürften
sich diese Forderungen als weitgehend uneinbringlich erweisen. Der Verlust ist dann von
den verbleibenden Notenbanken des Eurosystems entsprechend den Kapitalanteilen zu tragen. Bräche das ganze System zusammen, wäre
der Verlust maximal.
Nachdem dies kein Land wollen kann, tragen auch die hohen Target-Salden dazu bei, die
»Bereitschaft« zu finanziellen Hilfsoperationen
zu fördern, sei es durch Kredite über den ESM,
direkte Finanzhilfen oder Ankäufe von Staatsanleihen durch die EZB. Deutschland als – in
absoluten Beträgen – größter Gläubiger ist dadurch erpressbar, wie HWS betont, und steht
immer wieder vor der Abwägung, bereits in
195
Kai Carstensen
WORTE STATT AKRONYME – HANS-WERNER
SINN UND DIE EURORETTUNG
Target-Falle
Kai Carstensen ist Professor für
Ökonometrie an der Universität
Kiel. Von 2007 bis 2014 war er Leiter
des Bereichs Konjunktur und Befragungen am ifo Institut. Gemeinsam mit Hans-Werner Sinn hat er
einen Insolvenzmechanismus für
den Euroraum vorgeschlagen und
die Kosten von Eurobonds analysiert.
196
Als die griechische Regierung im Herbst 2009
eingestand, dass ihre Statistiken gefälscht und
ihre Finanzen zerrütten waren, lief eine Schockwelle durch den Euroraum. Sie markierte den
Beginn einer Krise, die weit über das Ökonomische hinausreicht. Denn schnell wurde klar,
dass die vorhandenen Institutionen und Verfahren in Europa überfordert waren. Daher
war – und ist – die Eurokrise auch eine Krise
der EU : Staaten gerieten ins Straucheln, Rettungspakete wurden geschnürt, und Verträge
wurden gebrochen. Und am Ende war es immer wieder an der Europäischen Zentralbank,
die Löcher in den Bilanzen von Staaten und
Banken mit Hilfe der Notenpresse zu stopfen.
Früher hieß das monetäre Staatsfinanzierung,
heute heißt es Target, ELA und EAPP. Doch
kann die Einführung technisch klingender Akronyme und kompliziert wirkender Mechanismen nicht verdecken, dass die Eurokrise und
alle Versuche zu ihrer Überwindung die fundamentale Frage aufwerfen, an welchen Prinzi­
pien wir unser gemeinsames Haus, die EU, ausrichten wollen. Es geht um nicht weniger als
die Zukunft Europas.
Es gehört zur Bringschuld der akademischen
Wissenschaft, mit Fakten und Analysen zu
­dieser Diskussion beizutragen. Wohl niemand
in Deutschland hat sich darum so verdient
­gemacht wie Hans-Werner Sinn. Wieder und
wieder hat er in Zeitungsbeiträgen, Interviews,
Aufsätzen und Büchern darauf hingewiesen,
dass Wunsch und Wirklichkeit bisweilen weit
auseinanderklaffen. Dabei hat er mit seiner
Meinung nicht hinter dem Berg gehalten, aber
er hat diese – im Unterschied zu vielen anderen, die wenig mehr als eine Meinung zu bieten
haben – auf tiefschürfenden wirtschaftswissenschaftlichen und politökonomischen Analysen
aufgebaut. Nicht ohne Grund sind Bücher wie
Die Target-Falle und The Euro Trap sowohl
Bestseller beim breiten Publikum als auch Referenzwerke für die angewandte Wissenschaft
geworden.
einmal einheitliche europäische Statistiken exis­
tierten. Zudem waren Medien und Politik anfangs eher zögerlich. Konnte es tatsächlich
sein, dass allein Hans-Werner Sinn die Tragweite der Target-Salden erkannte ? Oder war
das nur ein Glasperlenspiel im Elfenbeinturm ?
Mittlerweile sind die Fakten, wie Hans-Werner Sinn sie beschrieben hat, allgemein akzeptiert : Um in einem anderen Euroland private
Schulden zu begleichen, Güter zu kaufen oder
sein Kapital in Sicherheit zu bringen, kann sich
z. B. der griechische Privatsektor von seinen
Banken Zentralbankgeld beschaffen lassen und
über das Target-System ins Ausland transfe­
rieren. Private Schulden werden dabei in Verbindlichkeiten zwischen den Zentralbanken
umgewandelt. Diesen stehen zwar Pfänder gegenüber, die bei der heimischen Notenbank
hinterlegt werden mussten. Die Anforderungen an die Werthaltigkeit der Pfänder wurden
jedoch während der Eurokrise schrittweise gelockert. So akzeptiert die griechische Zentralbank im Rahmen von Notfallkrediten (ELA)
Bankschuldverschreibungen, deren wohl einziger Wert in einer Garantie durch den faktisch
insolventen griechischen Staat besteht.
Aus den Target-Forderungen der Bundesbank und all den anderen Rettungspaketen errechnet sich eine Haftungssumme Deutschlands von 337 Mrd. Euro (Stand : Mai 2015). Es
ist das Verdienst von Hans-Werner Sinn, frühzeitig darauf hingewiesen zu haben. Dafür ist
er zuweilen als »anti-europäisch« diffamiert
worden. Ich kann jedoch nichts Schlechtes
­darin erkennen, die Öffentlichkeit über die Risiken der Eurorettung aufzuklären. Denn nur
eine informierte Öffentlichkeit kann eine fundierte Diskussion führen. Zudem ist HansWerner Sinn nie bei der Kritik stehengeblieben, sondern hat immer wieder Alternativen
herausgearbeitet und der Politik unterbreitet.
Auch dafür sind wir ihm zu Dank verpflichtet.
Target-Falle: Hans-Werner Sinn und die Zukunft Europas
Hervorstechend ist sein Talent, komplizierte
Zusammenhänge so darstellen zu können, dass
sie der Öffentlichkeit und der Politik verständlich werden. Das hat zum einen damit zu tun,
dass es ihm mit wissenschaftlicher Brillanz,
­gesundem Menschenverstand und viel Hart­
näckigkeit gelingt, den Kern einer Sache aus
der Vielzahl der Begleiterscheinungen und Nebenschauplätze herauszuschälen. Zum anderen kann er diesen Kern in eine Sprache kleiden, die auch Nicht-Ökonomen verwenden :
Anstatt Akronymen verwendet er das deutliche Wort.
So war es auch mit den Target-Salden im Euroraum. Als sie in etwa seit dem Beginn der
weltweiten Finanz- und Wirtschaftskrise auseinanderzulaufen begannen, bemerkten es wohl
nur Eingeweihte. Selbst als sich die Entwicklung mit dem Beginn der Eurokrise dramatisch
beschleunigte, schenkte dem kaum jemand Beachtung. Welche Relevanz sollte auch die Tatsache haben, dass es im »Trans-European Auto­
mated Real-time Gross Settlement Express
Transfer System«, also dem Echtzeit-Bruttozahlungssystem zwischen den Banken des Euroraums, zu einem Aufbau von Salden kam, so
dass Länder wie Griechenland, Irland, Spanien
und Italien Verbindlichkeiten auftürmten, während Länder wie Deutschland, Luxemburg und
die Niederlande Forderungen ansammelten ?
Immerhin sei die Summe aller Salden – so wurde tatsächlich argumentiert – exakt gleich null.
Hans-Werner Sinn gab sich mit derart einfachen Beschwichtigungsversuchen nicht zufrieden. Denn mit diesem Argument seien ja alle
Schulden unproblematisch, und kein Gläubiger müsse jemals beunruhigt sein.
Daher begann er, der Sache auf den Grund
zu gehen. Das gestaltete sich nicht immer einfach, denn die Zentralbanken waren wenig begeistert, als er unbequeme Fragen zu stellen
­begann und sich herausstellte, dass noch nicht
197
Marcel Fratzscher
TARGET-FALLE ODER FLUCHTHILFE?
Target-Falle
Marcel Fratzscher ist Präsident
des DIW Berlin und Professor für
Makroökonomie und Finanzen
an der Humboldt-Universität zu
Berlin. Zuvor war er für die Europäische Zentralbank, das Peterson
Institute for International Economics, die Regierung Indonesiens
und die Weltbank tätig.
198
Hans-Werner Sinn hat die wirtschaftliche Bedeutung Europas für Deutschland immer wieder facettenreich und innovativ analysiert. Von
einem der größten Unterstützer des europäischen Integrationsprozesses und des Euro hat
sich Hans-Werner Sinn im vergangenen Jahrzehnt jedoch zu einem der schärfsten Kritiker
des Euro gewandelt. In vielen Aspekten seiner Kritik an Europa liegt er richtig : Der Euro
­wurde als politisches Projekt mit einigen wirtschaftspolitischen Geburtsfehlern geschaffen.
Der Euro hat nicht, wie ursprünglich erhofft,
zu einer Konvergenz und einer stärkeren institutionellen Integration und engeren Koordinierung der Wirtschaftspolitik in der Eurozone
geführt. Im Gegenteil : Der Euro hat nicht verhindern können, dass sich wirtschaftspolitische Divergenzen verstärkt haben und die Politik heute wieder mehr auf nationale Interessen
ausgerichtet ist.
Es ist eines der wichtigen Verdienste von
Hans-Werner Sinn, auf diese institutionellen
Konstruktionsfehler des Euro hingewiesen und
Korrekturen angemahnt zu haben. Es gibt weltweit kaum einen Wissenschaftler wie ihn, der
die Fähigkeit hat, komplexe wissenschaftliche
Zusammenhänge für eine breite Öffentlichkeit
verständlich zu machen. Weil er Themen frühzeitig erkennen und rigoros argumentieren
kann, hat er wie kein Zweiter wirtschaftspolitische Diskussionen in Deutschland über Jahrzehnte gestaltet und beeinflusst.
Ein solches Thema, das Hans-Werner Sinn
praktisch im Alleingang in die öffentliche Diskussion eingebracht hat, sind die Target-Salden
innerhalb der Eurozone. Bei grenzüberschreitenden Zahlungen über das elektronische Zahlungsverkehrssystem Target 2 (T2) entstehen
bei den nationalen Zentralbanken entweder
Forderungen oder Verbindlichkeiten. Im Zuge
der Krise im Euroraum sind beispielsweise bei
der Bundesbank beträchtliche Target-Forderungen gegenüber anderen Mitgliedsländern
aufgelaufen, auf dem Höhepunkt der Krise im
des Euroraums wollen ihre nationalen Notenbanken behalten, da diese nach wie vor eine
wichtige Rolle bei der Vergabe von Zentralbankgeld spielen. Um in diesem Umfeld eine
reibungslose Abwicklung des Zahlungsverkehrs gewährleisten zu können, braucht es aber
ein Zahlungssystem wie Target 2. Ohne kann es
keine Währungsunion geben.
Die Sorge, die im Target-Zahlungssystem
abgebildeten Ungleichgewichte innerhalb der
Eurozone könnten finanzielle Kosten und Risiken für uns verursachen, ist bisher unbegründet – das Target-System hat sich wohl eher als
Fluchthilfe für deutsche Investoren erwiesen.
Dennoch bleibt es ein Verdienst Hans-Werner
Sinns, die Entwicklungen rund um die TargetSalden aufgedeckt zu haben. Auch die Debatte
über einen möglichen Austritt Griechenlands
aus dem Euro unterstreicht, dass viele wichtige
Fragen hinsichtlich der Konstruktion der Währungsunion bis heute unbeantwortet sind.
Deutschlands wirtschaftliche Zukunft ist
unweigerlich mit der Europas verbunden. Mit
wenig mehr als 1 % der Weltbevölkerung ist
Deutschland ein winziges Land. Ob Deutschland seine Wettbewerbsfähigkeit und Attrak­
tivität des Wirtschaftsstandorts behaupten und
damit auch langfristig seinen Wohlstand sichern kann, hängt von der Frage ab, ob der europäische Integrationsprozess gelingt und Europa als Einheit und mit einer Stimme global
agieren kann. Es ist schade, dass Hans-­Werner
Sinn sich zu einem Kritiker des Euro gewandelt
hat. Der Diskurs um Europas Zukunft würde
enorm von einer konstruktiven, zukunftsorientierten Perspektive Hans-Werner Sinns und
seiner großen Überzeugungskraft profitieren.
Target-Falle: Hans-Werner Sinn und die Zukunft Europas
Juli 2012 rund 750 Milliarden Euro – vor allem
deshalb, weil deutsche Banken seit dem Jahr
2008 mehr als 400 Milliarden Euro aus den
Krisenländern abgezogen haben. Dies konnten
sie allerdings nur dank des Target-Systems und
der Verfügbarkeit zusätzlicher Zentralbankkredite tun. Andernfalls hätten sie wahrscheinlich größere Verluste erlitten. Das Target-System hat also in erster Linie dazu gedient, das
Geld deutscher Anleger in Sicherheit zu bringen.
T2-Positionen sind nicht zwangsläufig mit
einem zusätzlichen Risiko behaftet. Nur im Fall
des Euroaustritts eines Mitgliedslandes, dessen
nationale Zentralbank per saldo T2-Verbindlichkeiten aufweist, besteht die Möglichkeit eines Verlusts. Mitte 2015 bereitet vor allem ein
möglicher Austritt Griechenlands, der mit solchen Verlusten verbunden sein könnte, große
Sorge. Zwar hinterlegt eine Bank Sicherheiten
bei der Europäischen Zentralbank (EZB), die
im Konkursfall der Bank veräußert werden
können und damit mögliche Verluste für die
EZB gering halten. Allerdings werden diese
­Sicherheiten bei den nationalen Notenbanken
hinterlegt, wo sie die EZB im Falle eines Euroaustritts einfordern müsste.
Bei der Analyse des Problems liegt HansWerner Sinn zwar richtig, doch seine Lösungsvorschläge werden kontrovers diskutiert. Er
schlägt eine regelmäßige Glattstellung oder zusätzliche Absicherung der Target-Verbindlichkeiten vor. Dies könnte jedoch zu Verwer­
fungen in den Krisenländern führen, denn die
Banken könnten deshalb weniger Kredite vergeben, was sich gerade in der gegenwärtigen
Krise als fatal erweisen würde. Zudem stellt
sich die Frage der Praktikabilität : Die Länder
199
Mark Schieritz
ZWISCHEN ALLEN SCHUBLADEN
Target-Falle
Mark Schieritz ist wirtschafts­
politischer Korrespondent der
ZEIT in Berlin. Er studierte Volkswirtschaftslehre und Politik­
wissenschaft an der Universität
Freiburg und an der London
School of Economics. Seine journalistische Karriere begann er bei
der Financial Times Deutschland.
200
Für das Verhältnis zwischen Journalisten und
Experten gilt in der Regel dies : Die Journalisten recherchieren, und die Experten bewerten das Ergebnis der Recherchen. Das klingt
nach einer fairen Arbeitsteilung, bedeutet in
der Praxis allerdings zumeist, dass die Journalisten denjenigen Experten anrufen, dessen Bewertung eines Sachverhalts sich mit der Bewertung dieses Sachverhalts durch den jeweiligen
Journalisten deckt. Das ist so, weil Journalisten
eben oftmals nicht auf der Suche nach eine unabhängigen Stimme sind, sondern nach einem
passenden Kronzeugen für die eigene Haltung.
Es gilt die alte Reporterweisheit : Zu viel Recherche hat noch keiner Geschichte gutgetan.
Die meisten Experten wiederum wissen das
nicht, und das ist vielleicht auch ganz gut so,
denn sonst würden sie nicht mehr mit den
Journalisten sprechen.
Auf Hans-Werner Sinn trifft all dies nicht zu.
Wer bei ihm anrief, der musste sich auf Überraschung gefasst machen. Er ist für mehr Regu-
lierung der Banken, lehnt aber Konjunktur­
programme ab. Er hat die Rettungspakete für
die europäischen Krisenstaaten verurteilt, aber
auch die deutschen Exportüberschüsse kritisiert. Hans-Werner Sinn hat seine Überzeugungen, aber er hat sich nie in Schubladen stecken lassen. Das war manchmal eine echte
redaktionelle Herausforderung.
Aber noch in einer zweiten Hinsicht unterscheidet sich Hans-Werner Sinn von vielen seiner Kollegen : Er ging immer wieder selbst unter die Journalisten. Das beste Beispiel dafür
sind seine Analysen zu den Zahlungsströmen
zwischen Notenbanken der Währungsunion,
den so genannten Target-2-Salden. Nachdem
ihn der frühere Bundesbankpräsident Helmut
Schlesinger auf Merkwürdigkeiten in der Bilanz der Bundesbank aufmerksam gemacht
hatte, ließ das Thema Hans-Werner Sinn nicht
mehr los. Er tauchte tief in die Materie ein, und
als er nach einiger Zeit wieder auftauchte, war
das Konzept der Target-Falle geboren.
rechtigt, andere sind es nicht. Der entscheidende Punkt ist : Hans-Werner Sinn hat mit seinen
Arbeiten in erheblichem Umfang das Verständnis dieser Krise befördert. Er hat den
Blick darauf gelenkt, dass sie in ihrem Kern
keine Staatsschuldenkrise ist, sondern eine
Leistungsbilanzkrise. Die Gründung der Währungsunion hat wesentlich zu den Problemen
der Währungsunion beigetragen, weil durch
den Wegfall des Wechselkursrisikos zu viel Kapital vom Norden in den Süden geleitet wurde.
Und das Elend begann, als sich diese Kapitalflüsse schlagartig umkehrten. Keine Analyse
der Krise kommt heute ohne die Analyse der
Target-Bilanzen aus, und in der Europäischen
Zentralbank wird die Entwicklung der Verrechnungssalden sehr genau beobachtet.
Hans-Werner Sinn hat – mit der ihm eigenen Leidenschaft – seine wirtschaftspolitischen
Schlussfolgerungen aus seiner Erkenntnis gezogen : Er hat sich dafür eingesetzt, den Zugang
der Banken zum Geld der Notenbank zu begrenzen, er hat sich gegen die Bankenunion
und den Rettungsfonds ESM ausgesprochen,
und er hat schon früh für einen – zumindest
vorübergehenden – Austritt Griechenlands aus
der Währungsunion plädiert.
Man muss diese Schlussfolgerungen nicht
teilen, um der ökonomischen Stringenz der
­ihnen zugrunde liegenden Analyse Respekt zu
zollen – und ihre Bedeutung für die europa­
politische Debatte zu würdigen. Der Philosoph
Karl Popper hat in seiner Schrift über die of­
fene Gesellschaft und ihre Feinde beschrieben,
wie geschlossene Systeme zugrunde gehen, weil
sie sich gegen Kritik immunisieren und unabhängiges Denken unterdrücken. Hans-Werner
Sinn hat in diesem Sinne dazu beigetragen, den
Diskurs über Europa offen zu halten. Er hat seine Rolle als Wissenschaftler ernst genommen.
Er kann eben nicht anders.
Target-Falle: Hans-Werner Sinn und die Zukunft Europas
Diese Falle besteht sehr vereinfach gesagt
darin, dass sich die Banken in den Krisenstaaten bei der Europäischen Zentralbank (EZB)
refinanzieren konnten, als sie mit Ausbruch
der Krise plötzlich keinen Zugang mehr zu
­privatem Kapital hatten. Das hat den betroffenen Ländern das Leben erleichtert. Weil aber
Verluste der EZB in einer Währungsunion von
­allen Mitgliedstaaten – beziehungsweise ihren
Notenbanken – getragen werden müssen, werden dadurch Haftungsrisiken ohne parlamentarische Zustimmung vergemeinschaftet. In
bester journalistischer Tradition hat Sinn also
den Rat befolgt, den der Watergate-Enthüller
Bob Woodward von seiner Quelle erhält : Follow the money ! Und ebenfalls in bester jour­
nalistischer Tradition hat er nicht etwa einen
Fachaufsatz geschrieben, sondern einen Gastbeitrag veröffentlicht, der der wirtschaftspoli­
tischen Debatte in Europa eine neue Richtung
gab.
Sinns Analysen blieben nicht unwidersprochen. Man hat ihm – und das gilt auch für den
Autor dieser Zeilen – vorgeworfen, Panik zu
schüren. Man hat argumentiert, dass die Politik
der EZB die Risiken für die Steuerzahler unter
dem Strich nicht erhöht, sondern gesenkt habe,
weil ein Zusammenbruch des Finanzsystems
sehr viel teurer geworden wäre als die Stützung
der Banken. Man hat sich daran gestört, dass
Sinn bei der Verbreitung seiner Thesen die in
wissenschaftlichen Zirkeln übliche Zurückhaltung aufgegeben und den direkten Kontakt zur
Öffentlichkeit gesucht hat. Das hat dazu geführt, dass er auch von Kräften vereinnahmt
wurde, deren Ziele er nicht teilt – und man hätte sich manchmal vielleicht gewünscht, dass er
sich gegen diese Art der Vereinnahmung entschlossener zur Wehr gesetzt hätte.
Dennoch ist hier nicht der Platz, diese Einwände im Detail zu bewerten. Einige sind be-
201
Philip Plickert
EIN SPÄTBERUFENER KRITIKER
DER EURORETTUNG
Target-Falle
Philip Plickert ist seit 2007 Mitglied der Wirtschaftsredaktion der
Frankfurter Allgemeinen Zeitung.
Zudem ist er Lehrbeauftragter
für Wirtschaftsgeschichte an der
­Goethe-Universität Frankfurt und
der Universität Siegen sowie
­Stellvertretender Vorsitzender
des Hayek-Clubs Frankfurt.
202
So scharfe Selbstkritik des bekanntesten deutschen Ökonomen hatte man noch nie gehört :
»Ich war ein Dummkopf«, sagte Hans-Werner
Sinn und fügte hinzu : »als junger Mann«. In
den frühen 1990er Jahren hatte Sinn, damals
frisch berufener Professor in München, die Euroeinführung vehement unterstützt. Jetzt bereut er das. »Es war ein Riesenfehler, den Euro
einzuführen.« Ökonomisch, aber auch politisch sei es schiefgegangen. »Was ist denn aus
dem angeblichen Friedensprojekt geworden ?
In Wahrheit habe ich noch nie so viel Hass in
Europa erlebt wie jetzt.«
Das Publikum, das Sinn so reden hörte, hielt
den Atem an. Doch trotz seiner Fundamentalkritik wollte Sinn die Gemeinschaftswährung
nicht im großen Chaos scheitern lassen. Mit
dem Euro sei es wie mit einer zerrütteten Ehe,
die Scheidungskosten seien zu hoch. Eine echte
Lösung habe er nicht, gab Sinn zu. Wahrscheinlich sei ein Durchwursteln mit hohen
Kosten und immer neuen Rettungspaketen.
Sinn warnte : »Wir stolpern in einen neuen Sozialismus in Europa« – weil die Schulden sozialisiert würden.
Die geschilderte Szene, die sich im Juni 2013
bei einer von Karl-Heinz Paqué in Magdeburg
organisierten Podiumsdiskussion zutrug, zeigt
Sinns Zerrissenheit. Hans-Werner Sinn ist ein
überzeugter Europäer, aber er sieht Europa in
Gefahr wegen einer aus seiner Sicht grund­
falschen Politik. Wie ein Löwe kämpfte er gegen die immer größeren Rettungspakete, die
die Politik schnürte. Den dauerhaften Krisenfonds ESM, der 2012 eingerichtet wurde, nannte er »eine gewaltige Bad Bank«. Damit begebe
sich Deutschland auf die schiefe Bahn der So­­
zialisierung der Schulden der südlichen Krisenländer. Die Kredite für einige Krisenländer
seien wohl verloren.
Im ifo Institut ließ Sinn regelmäßig den
»Haftungspegel« berechnen : dreistellige Mil­
liardenbeträge, die Deutschland im schlimmsten Fall durch Abschreibungen auf Hilfskredite
wenigsten Ökonomen und kaum ein Politiker
hatten zuvor überhaupt vom Target-System gehört. Mit Gründlichkeit und Sturheit hat sich
Sinn in die komplexe Materie vertieft und sie
in Zeitungskommentaren einem breiten Publikum erklärt. 2012 folgte ein dickes Buch voller
Grafiken und Interpretationen. Nur ein Sinn
vermag es, ein so sperriges ökonomisches Thema unter dem Titel Die Target-Falle zu einem
Bestseller zu machen.
Im Target-System baute sich tatsächlich finanzieller Sprengstoff auf. Als mit Beginn der
Eurokrise 2009 die privaten Kredite zur Finanzierung der Leistungsbilanzdefizite der Peripherie versiegten, schossen plötzlich die Tar­
get-Salden in die Höhe. Target ist, wie es Sinn
formuliert, für Krisenländer eine »goldene Kreditkarte« mit unbegrenztem Überziehungskredit. Die Schuldnerländer zapfen Target an und
erwerben Waren, Dienstleistungen, Immobilien
oder Bankguthaben, zumeist in Deutschland.
Diesen Vermögenstransfer »bezahlt« die Bundesbank. Größter Posten ihrer Bilanz sind nun
Target-Forderungen in dreistelliger Milliardenhöhe, deren Rückzahlung in den Sternen steht.
Völlig zu Recht warnte Sinn, dass Deutschland durch dieses Target-System in eine Falle
gerate und erpressbar werde. Jene, die immer
neue Rettungsmilliarden verlangen, können
auch auf die Target-Milliarden verweisen, die
im Fall eines Auseinanderbrechens der Eurozone auf dem Spiel stehen. Wegen dieser finanziellen Risiken – und wegen politischer und
geopolitischer Risiken – wurde in der Euro­
krise ein Rettungspaket auf das nächste getürmt. Es ist wie mit einer zerrütteten Ehe, man
bleibt zusammen aus Angst vor den Kosten
­eines Bruchs. Als einen so zerrütteten Zusammenschluss hatte man sich das geeinte »Haus
Europa« aber nicht vorgestellt. Es bleibt Sinns
Verdienst, diese Widersprüche klar herausgearbeitet zu haben.
Target-Falle: Hans-Werner Sinn und die Zukunft Europas
und Target-Forderungen als Verluste erleiden
würde. Im Bundesfinanzministerium wurde
der westfälische Sturkopf deshalb als fürchterlicher Quälgeist empfunden, der die Bevöl­
kerung in punkto Eurorettung verunsichere.
Tatsächlich haben sich über die Zeit die Warnungen vor horrenden Haftungssummen abgenutzt. Wahr ist aber auch, dass die »verantwortlichen« Rettungspolitiker die Probleme
weit unterschätzt haben. Wolfgang Schäuble
etwa sagte im Juli 2010 in der Frankfurter All­
gemeiner Zeitung : »Die Rettungsschirme laufen aus – das haben wir klar vereinbart.« Grie­
chenland dürfe nur drei Jahre Kreditlinien in
Anspruch nehmen. »Danach ist Schluss«, so
Schäuble damals. So kann man sich irren.
Heftigen Streit gab es darüber, ob Sinn die
Fortschritte der Krisenländer bei der Wie­
dererlangung der Wettbewerbsfähigkeit unterschätze. Anders als viele Ökonomen zog er
nicht die Lohnstückkosten, sondern den BIPDeflator als Indikator heran. Die statistisch
­ermittelten Lohnstückkosten seien durch die
Entlassung von Hunderttausenden Gering­
produktiven künstlich reduziert worden (»Entlassungsproduktivität«), argumentierte er. Weil
Sinn es für unmöglich hielt, dass Krisenländer
wie Griechenland durch extrem starke Preisund Lohnsenkungen innerhalb des Euro ihre
Wettbewerbsfähigkeit wiedererlangen konnten, riet er Athen dazu, den Euro aufzugeben.
Eine Exportbelebung nach einer Abwertung sei
der weniger schmerzvolle Krisenausweg als die
jahrelange, quälende interne Abwertung.
Hans-Werner Sinn war und ist der originellste ökonomische Querdenker, den Deutsch­
land hat. Er hatte stets die Augen offen und
­erkannte neue Probleme früher als andere. So
entdeckte Sinn im Jahr 2011, nach einem Hinweis des Ex-Bundesbankpräsidenten Schlesinger, das Problem der explosionsartig ansteigenden Target-Forderungen der Bundesbank. Die
203
Jürgen Stark
ÜBER TARGET UND ANDERE FALLEN
Target-Falle
Jürgen Stark ist Stellvertretender
Vorsitzender im Verwaltungsrat
und im Kuratorium des ifo Instituts und Honorarprofessor an der
Universität Tübingen. Er war von
2006 bis 2011 Mitglied des EZBDirektoriums. Zuvor war er Staatssekretär im Bundesministerium
der Finanzen und Vizepräsident
der Deutschen Bundesbank.
204
Target – ein Akronym, das nur wenige vor 2011
kannten und das nur im Jargon von Zahlungsverkehrsexperten von Banken und Zentral­
banken verwendet wurde. Target steht für
»Trans-European Automated Real-Time Gross
Settlement Express Transfer System«. Es war
von Experten der Bundesbank entwickelt worden und wurde im Eurogebiet zur Zahlungsverkehrsplattform. Target ist eigentlich ein
harmloses Instrument – in normalen Zeiten.
In Krisenzeiten, wie seit 2010, kann daraus ein
höchst problematisches Vehikel werden, das zu
erheblichen volkswirtschaftlichen Haftungs­
risiken führt.
Hans-Werner Sinn machte diese Risiken, die
sich mit der Eskalation der Krise im Euroraum
dramatisch erhöht hatten, gegenüber der Öffentlichkeit transparent. Aufgegriffen hatte es
zunächst Helmut Schlesinger, der ehemalige
Präsident der Deutschen Bundesbank. Er hatte
in der Bundesbankbilanz einen regelrecht explodierenden Aktivposten unter »Sonstiges«
entdeckt, hinter dem sich die Target-Forde­
rungen der Bundesbank verbargen – allerdings
keineswegs absichtlich ! Die politische Brisanz,
die hinter diesen Zahlen steckte, wurde zunächst weder von der Bundesbank noch von
der EZB erkannt. Man interpretierte die TargetSalden als eine Folge der einheitlichen Geld­
politik in Krisenzeiten. Ergo waren die Risiken
aus den geldpolitischen Operationen auch gemeinschaftlich zu tragen, d. h., man haftete im
Umfang der Forderungen.
In der ihm eigenen Beharrlichkeit, Leidenschaft und Konsequenz kniete sich HWS in die
Target-Problematik hinein. Pointiert und z.T.
aggressiv argumentierend, mobilisierte er die
Öffentlichkeit. Plötzlich wurde klar, dass die
Haftungsrisiken aus Target für die europäischen, insbesondere die deutschen Steuerzahler, dem Umfang der Rettungsschirme hinzugerechnet werden müssen.
In der öffentlichen Diskussion brachte dies
manchen Zentralbanker in Erklärungsnot oder
zeigt jedoch, dass die neuen Regeln genauso
wenig greifen wie die alten. Denn es geht immer wieder um politische Rücksichtnahmen
und fehlenden politischen Willen der Durchund Umsetzung. Das, was von dem neuen institutionellen Rahmen für den Euro bleibt, ist
der ESM – der Europäische Stabilitäts-Mechanismus – und die Bankenunion.
Aus der »Target-Falle« wurde – um in HWS’
Formeln zu bleiben – die »Euro-Falle«. Dies ist
die Konsequenz aus den Rettungsaktionen und
institutionellen Änderungen seit 2010. Die damals getroffenen »alternativlosen« Grundentscheidungen belasten die Gegenwart und die
Zukunft. Es war die falsche Weichenstellung.
Die Folge ist, dass die EZB zum entscheidenden
Krisenmanager des Euroraums geworden ist.
Die EZB hat zusätzliche Aufgaben übernommen und ist zum »Kreditgeber der letzten Instanz« für Staaten geworden – ein klarer Verstoß
gegen das Verbot der monetären Finanzierung
von Staatshaushalten. Mit dem Kauf von Staats­
anleihen im Rahmen der mengenmäßigen
­Lockerung der Geldpolitik setzt die EZB ihre
ultra­lockere Geldpolitik fort, ohne deren erkennbare mittel- bis längerfristigen negativen
Folgen zu berücksichtigen. Sie ist Gefangene
ihrer eigenen Politik geworden, denn ein Ausstieg ist nicht ohne weiteres möglich. Zu sehr
sind Regierungen und Finanzmärkte von den
EZB-Operationen abhängig.
Der Weg nach vorn ? Von der Politik ist gegenwärtig kein europäischer Quantensprung
zu erwarten. Zu sehr ist man mit der aktuellen
Krise befasst. Man sollte sich ernsthaft mit den
von HWS präsentierten Optionen für einen zukunftsfähigen Umbau Europas beschäftigen. Er
plädiert wohlbegründet u. a. für eine Schuldenkonferenz für Krisenstaaten, die Möglichkeit,
den Euro (vorübergehend) zu verlassen, eine
Insolvenzordnung für Eurostaaten und für eine
Konföderation nach Schweizer Vorbild.
Target-Falle: Hans-Werner Sinn und die Zukunft Europas
auch in einen Konflikt. In meinem Fall dadurch,
dass ich einerseits Mitglied des EZB-Direkto­
riums war, andererseits Stellvertretender Vorsitzender des ifo-Verwaltungsrats und des -Kuratoriums. Es ist ein Zeichen der in der EZB aufeinandertreffenden unterschiedlichen politischen
Kulturen, dass von mir in der Target-Debatte
eine förmliche Intervention gegenüber HWS erwartet wurde, mit der Begründung : ifo sei ein
staatlich finanziertes Institut und könne nicht gegen die politischen Interessen der Zuwendungsgeber agieren. HWS’ Aktivitäten gingen über Politikberatung hinaus, seien reine Polemik.
Für mich war klar : ifo und sein Präsident
sind in ihrer wissenschaftlichen Arbeit unabhängig und dem Gemeinwohl verpflichtet. Die
Qualität der Arbeit muss sich im wissenschaftlichen Diskurs beweisen – es bedarf keiner (politischen) Intervention ! Dennoch telefonierten
wir miteinander, und am Ende stellte HWS fest :
»Das, was ich sage, entspricht doch auch Ihrer
Meinung !«
Die Diskussion führte zu einer ernsteren
Auseinandersetzung mit der Problematik innerhalb des Eurosystems. Die Target-Salden
sind inzwischen zurückgegangen. Das Grundproblem aber besteht unverändert fort.
Zu Recht steht für HWS die »Target-Falle«
synonym für den Rettungswahn, der die Politik
des Eurogebiets 2010/2011 befallen hatte. Man
handelte in Panik. Risiken wurden mit der
Übernahme von noch größeren Risiken nach
dem Motto bekämpft : Was immer erforderlich,
was immer es kostet.
Die nationale Eigenverantwortung für die
öffentlichen Haushalte ging in gegenseitiger
Haftung auf. Aus der Nicht-Beistandsklausel
wurde über eine temporäre Fazilität ein dauerhafter Rettungsmechanismus für Staaten geschaffen. Parallel dazu wurden im Rahmen des
Stabilitäts- und des Fiskalpakts die europäischen Regeln verschärft. Die bisherige Praxis
205
Jens Weidmann
DIE WÄHRUNGSUNION BRAUCHT
EIN STABILES FUNDAMENT
Target-Falle
Jens Weidmann ist seit Mai 2011
Präsident der Deutschen Bundesbank und Mitglied des EZB-Rates.
Zuvor war er Generalsekretär des
Sachverständigenrates, Leiter der
Abteilung Geldpolitik der Deutschen Bundesbank und Leiter
der Abteilung Wirtschafts- und
­Finanzpolitik im Bundeskanzleramt.
206
Zu den überraschenden Erkenntnissen der Finanz- und Schuldenkrise zählt, dass ein Buch
über das Zahlungssystem der Zentralbanken
des Eurosystems, das sogenannte Target-System, zum Bestseller werden konnte. Weniger
überraschend ist hingegen die Tatsache, dass es
Hans-Werner Sinn war, dem das Kunststück
gelang, das sperrige Thema Target-Salden einer
breiteren Öffentlichkeit zugänglich zu machen.
So wie Fieber keine Krankheit, sondern
Symptom einer Krankheit ist, sind diese Salden
vor allem ein Symptom der Krise. Es ist unstrittig, dass gerade Hans-Werner Sinn dazu bei­
getragen hat, das Bewusstsein der Öffentlichkeit für die Risiken und Nebenwirkungen der
Krisenpolitik des Eurosystems zu schärfen. Zu
Recht hat er darauf hingewiesen, dass die bilanziellen Risiken des Eurosystems durch die Krisenmaßnahmen erheblich gestiegen sind.
Die Krisenmaßnahmen des Eurosystems
­haben zwar eine Eskalation der Krise im Euro­
raum verhindert und ihre Folgen für die natio-
nalen Volkswirtschaften eingedämmt. Allerdings haben sie ein zentrales Gestaltungsprinzip
der Währungsunion nachhaltig geschwächt,
nämlich das Prinzip der Eigenverantwortung.
Gemäß diesem Prinzip dürfen die Mitgliedstaaten nicht für die Schulden der anderen
­Eurostaaten haften. Aus gutem Grund ist es
den Notenbanken daher auch untersagt, monetäre Staatsfinanzierung zu betreiben.
Fakt ist aber, dass zusammen mit den fiska­
lischen Rettungsmaßnahmen der Euroländer
die geldpolitischen Krisenmaßnahmen zu einer
Umverteilung von Risiken geführt und Elemente von Gemeinschaftshaftung etabliert haben. Das Verhältnis von Kontrolle und Haftung
ist dadurch im Ordnungsrahmen der Währungsunion aus der Balance geraten. Die Möglichkeiten, die Verschuldungstätigkeit der Mitgliedstaaten zu kontrollieren, sind nämlich
nicht entsprechend mitgewachsen.
Zwar wurden im Zuge der Krisenaufarbeitung Änderungen an den gemeinsamen Fis­
einer Stabilitätsunion dauerhaft verlässlich eingelöst werden. Um Otmar Issing zu zitieren :
»Zu einer Währungsunion, in der die Länder
zwar ihre Geldpolitik auf eine supranationale
Institution übertragen (…) haben, aber im
­Übrigen darauf bestehen, souveräne Staaten zu
sein, passt nur das No-Bail-out-Prinzip. Wer
auf Selbständigkeit besteht, muss selbst für die
Folgen des eigenen Handelns haften.« In letzter
Konsequenz verlangt das die Möglichkeit einer
staatlichen Insolvenz, ohne dass das Finanz­
system kollabiert. Nur das Bestehen eines Verlustrisikos gewährleistet im Übrigen, dass die
Anleger ihre disziplinierende Rolle für die Fiskalpolitik ausüben, indem sie für höhere Risiken höhere Zinsen verlangen.
Die Schaffung eines stabilen Fundaments der
Währungsunion ist aus geldpolitischer Sicht
zentral, damit die Geldpolitik nicht ins Schlepptau der Fiskalpolitik gerät. Anders formuliert :
Die Fähigkeit der Geldpolitik, ihrem Mandat
gerecht zu werden und Preisstabilität im gemeinsamen Währungsraum zu gewährleisten,
hängt auch davon ab, dass kein Druck entsteht,
im Fall einer Überschuldung von Staaten oder
Banken in die Verantwortung genommen zu
werden, und dass die Notenbank, falls dieser
Druck doch entsteht, stark genug ist, diesem zu
widerstehen.
Die Stabilität unserer Währung hängt aber
nicht nur vom Vertrauen der Bevölkerung in
die Stabilitätsorientierung des Eurosystems ab,
sondern auch von Bedingungen, die das Eurosystem selbst nicht schaffen kann. Zu diesen
Bedingungen gehören solide Staatsfinanzen,
eine wettbewerbsfähige Wirtschaft in den Mitgliedstaaten und ein funktionstüchtiger Ordnungsrahmen. Hier sind die Regierungen gefordert, die Weichen richtig zu stellen, damit
die Währungsunion als Stabilitätsunion erhalten bleibt.
Target-Falle: Hans-Werner Sinn und die Zukunft Europas
kalregeln vorgenommen, die durchaus in die
­richtige Richtung weisen. Die bisherigen Erfahrungen mit den reformierten Regeln geben
jedoch Anlass zu Zweifeln an ihrer Bindungswirkung. Ob die Regeln in Zukunft besser eingehalten werden als in der Vergangenheit, ist
daher fraglich.
Die Kernfrage für die Zukunft der Währungsunion ist, wie Kontrolle und Haftung
wieder besser miteinander in Einklang gebracht werden können, oder anders formuliert,
wie der Rahmen der Währungsunion aussehen
muss, damit die gemeinsame Währung ein stabiles Fundament bekommt.
Hans-Werner Sinn sagt : »Damit eine Währungsunion stabil ist und es nicht zu Schulden­
exzessen kommt, sind zwei Modelle denkbar,
ein Sozialisierungsmodell und ein Haftungsmodell.« Nach dem Sozialisierungsmodell vertieft man die politische Integration Europas,
indem man insbesondere eine Fiskalunion
schafft, bei der nicht nur die Haftung auf die
europäische Ebene gehoben wird, sondern
auch weitgehende fiskalische Durchgriffsrechte. Das würde aber eine Änderung der Euro­
päischen Verträge voraussetzen. Das Haftungsmodell ist dagegen mit dem Maastrichter
Vertrag bereits angelegt. Für eine stabile Währungsunion müsste der bisherige Rahmen aber
weiterentwickelt und die Eigenverantwortung
der einzelnen Länder als konstitutives Merkmal der Währungsunion gestärkt werden. Das
Haftungsmodell belässt also Kontrolle und
Haftung auf der nationalen Ebene und bekräftigt den gegenseitigen Haftungsausschluss.
Für eine spürbare Abgabe nationaler Sou­ve­
ränität scheinen derzeit ohnehin die politischen
Mehrheiten zu fehlen. Solange dies so bleibt,
führt daher kein Weg daran vorbei, den bestehenden Ordnungsrahmen der Währungsunion
zu härten. Nur mit einer Stärkung des Prinzips
der Eigenverantwortung kann das Versprechen
207
Martin Feldstein
HANS-WERNER SINN UND
DIE HAUSHALTSDEFIZITE
Target-Falle
Martin Feldstein ist Professor für
Volkswirtschaftslehre an der Harvard University. Zwischen 1977 und
2008 war er Präsident des National
Bureau of Economic Research, mit
Ausnahme der Jahre 1982 bis 1984,
in denen er Vorsitzender des
Council of Economic Advisers und
Berater von Präsident Reagan war.
208
Hans-Werner Sinn und ich teilen viele wirtschaftspolitische Interessen, und bei den meisten Themen kommen wir auch zu den gleichen Schlussfolgerungen. Dies betrifft auch die
Haushaltsdefizite, obgleich Hans-Werner sich
eher über jene im Euroraum sorgt, während ich
mich mit denen der amerikanischen Volkwirtschaft beschäftige.
Die Verschuldung des amerikanischen Zentralstaats ist im vergangenen Jahrzehnt stark
­angestiegen, von weniger als 5 Billionen USDollar vor Beginn der Wirtschaftskrise im Jahr
2007 auf über 13 Billionen US-Dollar heute. Im
Verhältnis zum Bruttoinlandsprodukt verdoppelte sich die Verschuldung von weniger als
35 % auf zuletzt 74 %. Das Congressional Budget Office geht davon aus, dass die Staatsschuldenquote in den kommenden beiden Jahrzehnten auf 100 % ansteigen wird, falls sich das
Zinsniveau wieder normalisiert und die Renten- sowie Gesundheitsausgaben in Anbetracht
einer alternden Bevölkerung weiter steigen.
Zinszahlungen auf eine derart gestiegene
Verschuldung zu leisten bedeutet letztendlich,
höhere Steuern zu erheben, was die wirtschaftliche Leistungsfähigkeit mindert. Zudem werden mehr als die Hälfte der amerikanischen
Staatsanleihen von ausländischen Investoren
gehalten, so dass die Zinszahlungen auch zu
einer Verschlechterung der Terms of Trade
­
führen, was wiederum die Realeinkommen in
den Vereinigten Staaten reduziert. Darüber hinaus vermindert der hohe Schuldenberg auch
die Fähigkeit, auf militärische Notlagen zu reagieren.
Hans-Werner Sinn ist darüber besorgt, dass
die mangelnde Haushaltsdisziplin in Staaten
wie Frankreich und Italien die Eurozone un­
tergräbt und die Verantwortung für nationale
Schulden auf die Europäische Zentralbank
(EZB) verschoben wird – letztlich zu einem
großen Teil auf Deutschland. Der von allen
­Regierungen der Mitgliedsländer im Jahr 2012
verabschiedete sogenannte »Fiskalpakt« sollte
als Ankündigung, die EZB zum lender of last
resort zu machen, mit der Folge, dass die Zinsunterschiede drastisch zurückgingen.
Während Deutschland seit 2012 in jedem
Jahr Haushaltsüberschüsse vorweisen konnte,
erwirtschafteten Frankreich und Italien Defi­
zite, die ihre Nettoverschuldung Jahr für Jahr
ansteigen ließen. In Frankreich legte die Nettoverschuldung im Verhältnis zum Bruttoinlands­
produkt von 81 % im Jahr 2012 auf 89 % im Jahr
2015 zu. In Italien stieg sie von 103 % auf 112 %.
Es wurde keine Geldstrafe verhängt.
Die fundamentale Ursache dafür, dass Ita­
lien und Frankreich nicht in der Lage sind, ihre
Schuldenquoten zu senken, sind ihre hohen
Staatsausgaben. Während der Anteil der
Staatsausgaben am Bruttoinlandsprodukt in
­
Deutschland bei 44 % liegt, sind es 51 % in Ita­
lien und 57 % in Frankreich. Eine Anhebung
von Steuern in dem Maße, dass die hohen
Staatsausgaben bezahlt werden könnten, ist
nicht nur politisch schwierig, sondern hat auch
eine negative Anreizwirkung und schwächt das
Wirtschaftswachstum.
Es gibt zahlreiche Strukturreformen, die
Frankreich und Italien durchführen könnten,
um die Leistungsfähigkeit ihrer Volkswirtschaften zu verbessern. Der daraus resultierende
Anstieg der Wachstumsrate des Bruttoinlandsprodukts würde automatisch die Staatsschuldenquoten reduzieren. Zudem würde das erhöhte Niveau des Bruttoinlandsprodukts auch
ein vermehrtes Steueraufkommen nach sich
ziehen, die Haushaltsdefizite reduzieren sowie
den Anstieg der Staatsschuldenquoten bremsen. Nichtsdestotrotz sollte die Begrenzung der
Expansionsrate der Staatsausgaben ganz oben
auf der politischen Agenda stehen, um den Anstieg der Verschuldung zu stoppen.
Target-Falle: Hans-Werner Sinn und die Zukunft Europas
die Schulden und Defizite begrenzen. Jedes
Land wurde verpflichtet, seine Verschuldung
Jahr für Jahr auf ein Maximum von 60 % im
Verhältnis zum Bruttoinlandsprodukt zurückzuführen. Mitgliedsländer, die dem nicht nachkommen, sollten mit einer Geldstrafe belegt
werden. Hans-Werner Sinn war einer der Ersten, die kritisierten, dass Frankreich und Ita­
lien ihre Verschuldung nicht in dem erforder­
lichen Maße zurückführten und dass dies keine
finanziellen Sanktionen nach sich zog.
Ich kam in einem Artikel, den ich im Feb­
ruar 2012 unter dem Titel »Europe’s Empty Fiscal Compact« für das Project Syndicate schrieb,
zu einer ähnlichen Schlussfolgerung. Darin
schrieb ich : »Der Fiskalpakt wird wohl ein weiteres Beispiel dafür werden, dass europäische
Politiker gern ökonomische Realitäten ihrem
Wunsch unterordnen, mit neuen Regelungen
zu prahlen, die Fortschritte auf dem Weg zu einer stärkeren Integration der Währungsunion
machen.«
Meine Schlussfolgerung, dass der Fiskalpakt
nicht effektiv sein würde, hat sich als richtig
­erwiesen. Ich lag im Jahr 2012 jedoch falsch,
als ich schrieb, dass »die Finanzmärkte jetzt
­erzwingen werden, was der politische Prozess
nicht vermag.« Ich erwartete, dass die stei­
genden Schuldenquoten zu einem Anstieg der
langfristigen Zinsen führen würden, weil die
Investoren verstärkt auf die mit dem Schul­
denanstieg einhergehenden Risiken fokussieren würden. Ich hatte nicht mit Mario Draghi
und seinem Versprechen gerechnet, »alles zu
tun«, um die Eurozone zu retten, und auch
nicht mit der Schaffung des Outright Monetary
Transaction Programms, im Rahmen dessen
die EZB sich verpflichtete, Staatsanleihen der
Mitgliedsländer auf dem Sekundärmarkt zu erwerben. Die Finanzmärkte interpretierten dies
209
Gilles Saint-Paul
DIE GEFAHR DES KONSENSES
Target-Falle
Gilles Saint-Paul ist Professor der
Volkswirtschaftslehre an der Paris
School of Economics und an der
New York University Abu Dhabi.
Er ist ehemaliges Mitglied des
französischen Conseil d’Analyse
Economique. 2007 wurde ihm der
Yrjö-Jahnsson-Preis der European
Economic Association verliehen.
210
Ist Konsens ein Beleg für Wahrheit ? Während
dies in den Naturwissenschaften der Fall sein
kann, ist der Konsens in den Sozialwissenschaften oft hausgemacht. Ohne schlüssige Beweise
erscheint es opportun, sich der Mehrheitsmeinung anzuschließen. Der Konsens bestimmt,
wie öffentlich geförderte Forschungsprojekte
ausgestaltet sind. Das größte Risiko besteht
­darin, genauso falsch zu liegen wie alle anderen. In einer Welt, in der Wissenschaftler relativ
zu ihren Mitstreitern evaluiert werden, erzeugt
dies nur geringe Kosten. Das System der PeerReview-Begutachtung bedingt Konsens. Gutachter, die die gängige Meinung vertreten, haben kein Interesse, neue Forschungsarbeiten zu
akzeptieren, die diese hinterfragen, da ansonsten ihre eigenen Beiträge obsolet werden. In einer Forschungsgemeinschaft, die von Konsens
geplagt ist, ist es unmöglich, dass sich Wissen
dialektisch entwickelt, indem Paradigmen abgelehnt und durch sinnvollere ersetzt werden.
Wissen verbreitet sich lediglich horizontal, da
immer nur Variationen bekannter Themen
produziert werden.
Es verlangt von einem bekannten Professor
viel Mut, den Konsens außer Acht zu lassen.
Eine solche Person leistet einen unschätzbaren
Beitrag zur Forschungsgemeinschaft und trägt
dabei das Risiko, dass es ihn persönlich teuer
zu stehen kommt, indem er z. B. ausgegrenzt
oder ignoriert wird. Einen solchen Beitrag hat
Hans-Werner Sinn während seiner erfolgreichen Karriere geleistet.
Im Vorfeld der Währungsunion waren viele
Volkswirte skeptisch bezüglich einer einheit­
lichen Währung. Ihre Untersuchungen zeigten,
dass der Euroraum kein optimaler Währungsraum sein würde. Die Länder unterschieden
sich in ihren Fundamentaldaten und Wirtschaftspolitiken. Nichtsdestotrotz stellte sich
nach Einführung des Euro der Konsens ein,
dass die Währungsunion irreversibel sein
­würde. Die Diskussionen unter europäischen
Makro­ökonomen drehten sich vor allem dar-
land aus, der zu beständigen Inflationsunterschieden und einem Verlust an Wettbewerbs­
fähigkeit führte. Da die nationale Geldpolitik
abgeschafft worden war, konnte dem nicht entgegnet werden. Dieser Zustand würde so lange
anhalten, wie die Finanzmärkte die Möglichkeit eines Staatsbankrotts ignorieren und bereit
seien, jedem Land zu den gleichen niedrigen
Zinsen Kredit zu gewähren.
Das goldene Zeitalter endete abrupt, als die
Finanzkrise einsetzte. Begünstigt durch die Erwartung, dass einige Länder den Euro aufgeben
würden, spreizten sich die Renditen auf Staatsanleihen. Zudem setzte sich die Erkenntnis
durch, dass eine Anpassung teuer würde, falls
diese Länder in der Währungsunion bleiben.
Die Europäische Zentralbank machte der Krise
ein Ende, als sie sich bereit erklärte, die Staatsanleihen der Krisenländer zu einem Mindestpreis zu kaufen. Diese Politik ist praktikabel,
solange der Eurokurs nicht auf ein Niveau fällt,
das eine Inflationsspirale in Gang setzt, und
reichere Länder wie Deutschland und Finnland
in Versuchung geraten, die Währungsunion zu
verlassen; und solange die fiskalischen Transfers, die die Steuerzahler dieser Länder zu leisten haben, undurchsichtig sind und als vor­
übergehend empfunden werden. Hans-Werner
Sinn hat große Zweifel und schreibt :
»Die Mitgliedschaft in der Eurozone beinhaltet nicht das Recht auf Transferleistungen
durch andere Länder, sollte ein Land seine
Wettbewerbsfähigkeit verlieren. […] In Not
geratene Länder mit Hilfe permanenter lebenserhaltender Maßnahmen im Euro zu halten,
hilft diesen nicht wirklich.«
Die Zukunft wird zeigen, ob dies eine Prophezeiung oder überzogener Pessimismus war.
Jedoch deuten die jüngsten politischen Entwicklungen in Griechenland und Spanien darauf hin, dass Hans-Werner Sinn wohl Recht
b
­ ehalten wird.
Target-Falle: Hans-Werner Sinn und die Zukunft Europas
um, wie die Funktionsfähigkeit der Währungsunion durch fiskalpolitische Koordination,
Strukturreformen oder Transfers verbessert
werden könne. Den Ansatz in Gänze in Frage
zu stellen war ein sicherer Weg, als Außenseiter
abgestempelt zu werden. Es war allgemein anerkannt, dass die Kosten eines Austritts für ein
Land riesig wären, obgleich ein solches Er­
eignis noch nicht stattgefunden hatte und die
Kosten des Verbleibs für einige südeuropäische
Länder immens erschienen.
In der Konsequenz führte dieser Konsens bei
den Volkswirten zu einer großen Unterstützung einer Politik, die versprach, »alles zu tun«,
um die Einheitswährung zu bewahren, wie z. B.
das OMT-Programm oder andere unkonven­
tio­nelle Maßnahmen. Bedenken bezüglich der
Verfassungsmäßigkeit von Anleihekäufen oder
der Einführung impliziter fiskalischer Transfers
zwischen Mitgliedsländern von einer nicht gewählten Instanz wurden weitgehend beiseitegeschoben. Zudem wurde auch den verzerrenden Effekten dieser Politik auf Vermögenspreise
und dem Risiko eines erneuten Boom-BustZyklus wenig Beachtung geschenkt. Das Ein­
zige, was zählte, war, dass die Anleihekäufe die
Staatsverschuldung der in Schieflage geratenen
Länder im Zaum hielten und dem Euroraum
damit Zeit erkauft wurde.
In diesem Kontext schrieb Hans-Werner
Sinn The Euro Trap. Das Buch ist eine Anklage
des gesamten Europrojekts durch einen ehemaligen Enthusiasten, der nicht davor zurückschreckt, Öl ins Feuer zu gießen und sich um
der intellektuellen Wahrhaftigkeit willen Feinde in Brüssel zu machen.
In dem Buch schreibt Sinn, dass die Währungsunion einer Katastrophe den Weg be­­
reitete, als das Kapital in großem Stil von den
reicheren Ländern des Euroraums in die är­­
meren floss. Dieser Kapitalzufluss löste einen
Boom in Ländern wie Spanien und Griechen-
211
Dietrich Murswiek
DIE EZB VOR DEM BUNDESVERFASSUNGS­
GERICHT – STAATSANLEIHENKÄUFE,
TARGET-KREDITE UND HANS-WERNER SINN
Target-Falle
Dietrich Murswiek lehrt Öffent­
liches Recht an der Universität
Freiburg. Er war und ist Prozessvertreter von Peter Gauweiler in
den Verfassungsprozessen gegen
den Vertrag von Lissabon und
gegen die »Eurorettung«.
212
Das politische Schauspiel der »Eurorettung«
hat von Anfang an sein juristisches Nach- oder
Nebenspiel auf der Bühne des Bundesverfassungsgerichts gefunden. Die Rettungsmaßnahmen, die Hans-Werner Sinn mit öffentlichen
Stellungnahmen und wissenschaftlichen Abhandlungen als ökonomisch unvernünftig bekämpfte, versuchte ich als Prozessvertreter Peter Gauweilers juristisch zu Fall zu bringen.
Das Bundesverfassungsgericht urteilt freilich nicht am Maßstab ökonomischer Rationalität. Es geht im Verfassungsprozess nicht darum, ob Rettungsmaßnahmen, für die Hunderte
von Milliarden an Steuergeldern aufs Spiel gesetzt werden, ökonomisch sinnvoll sind und
politisch verantwortet werden können. Es geht
allein um ihre Vereinbarkeit mit dem Grundgesetz. Das Grundgesetz macht aber kaum
Vorgaben dafür, wofür die Steuergelder aus­
gegeben werden dürfen. Selbst wenn viele Milliarden in ein Fass ohne Boden geschüttet werden, ist das nicht per se verfassungswidrig.
In den Prozessen gegen den vorläufigen
»Rettungsschirm« und dann gegen den ESM
ging es darum, ob Bundesregierung und
Bundestag Entscheidungen getroffen haben,
­
die die zum Kern des Demokratieprinzips ge­
hörende Haushaltsautonomie des Bundestages
verletzen.
Wir konnten durchsetzen, dass Entscheidungen über Rettungskredite oder andere Rettungsmaßnahmen (z. B. Staatsanleihenkäufe)
der EFSF- oder ESM-Organe nicht ohne vor­
herige konstitutive Zustimmung des Bundes­
tages beschlossen werden dürfen und dass
­sogar für wichtige Entscheidungen im Rahmen bereits beschlossener Rettungsprogramme (z. B. Auszahlung einer neuen Tranche) die
Zustimmung des Bundestages erforderlich ist.
Das Bundesverfassungsgericht hat so dem
Wähler die Chance offengehalten, mit seiner
Stimme auch eine Änderung der Rettungspolitik zu bewirken.
Die Haushaltsautonomie könnte allerdings
zeigt und der – wie Sinn gezeigt hat – die europäische Währungspolitik in der »Target-Falle«
einsperrt, wurde vom Bundesverfassungsgericht völlig ignoriert. Hier liegt eine Crux der
Rechtsprechung : Demokratie und Souveränität
werden vom Bundesverfassungsgericht dagegen geschützt, dass sie durch verfassungswid­
rige rechtliche Regeln verletzt werden, nicht
jedoch dagegen, dass die Politiker ökonomische Zwänge schaffen, die die vom Grundgesetz vorausgesetzte politische Entscheidungsfreiheit weitgehend zunichtemachen. Wie sehr
die Freiheit des Bundestages eingeschränkt ist,
beispielsweise über neue Hilfen für Griechenland zu entscheiden, wenn bei Versagung der
Hilfen milliardenschwere Target-Forderungen
abgeschrieben werden müssen, interessiert das
Bundesverfassungsgericht nicht.
Im OMT-Verfahren erzielten wir einen wichtigen Zwischenerfolg, zu dem Sinn mit seiner
Stellungnahme als Sachverständiger beigetragen hat. In seinem Beschluss vom 14. Januar
2014 hat das Bundesverfassungsgericht die
von uns vertretene Rechtsauffassung, dass die
Staatsanleihenkäufe Wirtschafts- und nicht
Geldpolitik seien und daher in die Kompetenz
der Mitgliedstaaten gehörten, vorläufig bestätigt. Der Europäische Gerichtshof hingegen begnügt sich in seinem Urteil vom 16. Juni 2015
damit, dass die EZB für ihr OMT-Programm
ein angeblich geldpolitisches Ziel (Beseitigung
einer Störung des Transmissionsmechanismus)
genannt hat, und verschließt die Augen davor,
dass es der EZB um massive Einwirkung auf
die Risikoprämien und damit auf die Finan­
zierungsbedingungen der Krisenstaaten geht –
dass sie also Rettungspolitik betreibt, die par­
lamentarisch verantwortet werden muss. Jetzt
hat das Bundesverfassungsgericht das letzte
Wort und wird sich hoffentlich an die Argumente Sinns erinnern.
Target-Falle: Hans-Werner Sinn und die Zukunft Europas
auch dann verloren gehen, wenn sich der Bund
in einer solchen Höhe zu Hilfsleistungen im
Rahmen der Rettungspolitik verpflichtet, dass
er für andere finanzwirksame Entscheidungen
keinen Spielraum mehr hat. Hans-Werner Sinn
hat als Sachverständiger vor dem Bundesverfassungsgericht deutlich gemacht, dass der finanzielle Spielraum des Bundestages nicht nur
durch die für die EFSF und für den ESM eingegangenen Verpflichtungen eingeschränkt wird,
sondern auch durch die Rettungsmaßnahmen,
die ohne Beteiligung der Politik von der EZB
ergriffen worden sind, nämlich einerseits durch
die Ankäufe von Staatsanleihen der Krisen­
staaten, andererseits durch die Target-Kredite,
und er hat vorgerechnet, wie hoch die Gesamtbelastung ist, die sich daraus ergeben kann.
Das Bundesverfassungsgericht hat jedoch gesagt, dass aus dem Demokratieprinzip eine
Obergrenze nur für solche Risiken folge, die
die Haushaltsautonomie praktisch vollständig
leerlaufen ließen. Mit dem ESM sei die Grenze
dessen, was der Bundestag verantworten könne, auch dann noch nicht überschritten, wenn
man die Risiken aus den Staatsanleihenkäufen
der EZB und aus den Target-Salden mitberücksichtige.
Das Bundesverfassungsgericht hat sich auch
nicht davon überzeugen lassen, dass es sich beim
Target-System um einen mit dem Demokratieprinzip nicht zu vereinbarenden Haftungsautomatismus handelt. Dass die Target-Salden
Kredite sind und dass diese bei Uneinbringlichkeit die Bilanz der Bundesbank und letztlich dann den Bundeshaushalt belasten, hatte
Hans-Werner Sinn auch vor dem Bundesverfassungsgericht dargelegt. Den Richtern war
das wohl zu kompliziert. Sie lehnten es ab, sich
inhaltlich mit der Target-Problematik zu befassen. Der strukturelle Konstruktionsmangel des
Eurosystems, der sich in den Target-Salden
213
Markus Söder
HANS-WERNER SINN UND DIE ZUKUNFT
DER WIRTSCHAFTS- UND WÄHRUNGSUNION
Target-Falle
Markus Söder ist seit 1994 Mitglied des Bayerischen Landtags
und war von 2003 bis 2007 CSUGeneralsekretär. Seit 2007 gehört
er der Bayerischen Staatsregierung an, seit November 2011 als
bayerischer Finanzminister. Im
Oktober 2013 wurden ihm zudem
die Themen Landesentwicklung
und Heimat übertragen.
214
Die Staatsschuldenkrise und die Zukunft der
Wirtschafts- und Währungsunion sind die
zentralen europapolitischen Themen unserer
Zeit. Auch für Hans-Werner Sinn : Er hat die
geld- und finanzpolitischen Entwicklungen
stets intensiv und scharfsinnig kommentiert,
Alternativen aufgezeigt und die Diskussion in
Deutschland damit sehr bereichert.
Die Frage nach der Zukunft der Gemeinschaftswährung Euro ist auch für den Freistaat
Bayern von herausragender Bedeutung. Wie in
kaum einem anderen Land sind Unternehmen
hier exportorientiert und weltweit aktiv. Der
Euro schafft wirtschaftliche Stärke und Arbeitsplätze, verschafft zusätzliche Möglichkeiten für Unternehmen und Märkte, verbessert
die Integration der Finanzmärkte, hat seit Einführung stabile Preise gesichert und die europäische Identität gesteigert. Deshalb hat sich
Bayern immer sehr deutlich für einen stabilen
Euro eingesetzt.
Um der Wirtschafts- und Währungsunion
langfristig eine gute Zukunft zu sichern und
das Vertrauen in den Euro zu erhalten, sind
aus Sicht des Freistaats mehrere Grundsätze
wichtig :
Verantwortung und Haftung gehören
untrennbar zusammen
Der Euro ist eine einheitliche Währung verschiedener Staaten, die unterschiedliche fiskalund wirtschaftspolitische Strategien verfolgen.
Diese Konstruktion ist nur dann dauerhaft und
nachhaltig tragfähig, wenn die Folgen politischer Entscheidungen vom jeweiligen Staat zu
tragen sind. Daraus folgt unter anderem auch,
dass die Europäische Union nicht zu einer
Transferunion werden darf, bei der sich Schuldnerländer von ihren reichen Nachbarn alimentieren lassen. Solidarität ist keine Einbahn­
straße. Finanzhilfen der Eurogemeinschaft für
einzelne Länder darf es nur im Gegenzug für
Haushaltskonsolidierung und Strukturreformen geben.
Wachstum durch Strukturreformen
statt durch Schulden
Für eine moderne Wachstumspolitik ist es entscheidend, dass die wirtschaftlichen Rahmenbedingungen stimmen. Ein wettbewerbsfähiges Steuersystem, flexible Arbeitsmärkte und
eine zukunftsfähige Sozialpolitik, die konsequent auf Hilfe zur Selbsthilfe setzt, sind die
wichtigsten Bausteine für Wachstum und Beschäftigung. Staaten wie Irland, Portugal und
Spanien haben gezeigt, dass nachhaltige Strukturreformen positive Auswirkungen auf die
Wirtschaft eines Landes haben.
Lockere Geldpolitik ist kein Allheilmittel
Die Wirtschafts- und Währungsunion kann
nicht dauerhaft durch eine expansiv ausgerichtete Geldpolitik künstlich am Leben erhalten
werden. Mit ihrer Politik kann die Europäische
Zentralbank den Mitgliedstaaten lediglich Zeit
für Reformen kaufen. Die EZB darf den Moment des Umkehrens zu einer normalen Geld-
politik keinesfalls verpassen, sonst wird der
Boden für neue Übertreibungen an den Finanz­
märkten und die nächste Krise bereitet.
Hans-Werner Sinn werden die meisten Forderungen und Positionen bekannt vorkommen, hat er sie doch selbst in der einen oder
anderen Form vertreten. Seine wertvollen Beiträge beschränken sich jedoch bei weitem nicht
auf die europäische Schuldenkrise. Professor
Sinn hat sich in der Vergangenheit zu nahezu allen großen Wirtschaftsthemen der poli­
tischen Agenda zu Wort gemeldet. Von den
volkswirtschaftlichen Schwierigkeiten der
deutschen Wiedervereinigung über Mindestlohn und Arbeitslosenversicherung bis hin zu
umweltökonomischen Themen und den Übertreibungen an den Finanzmärkten : Seine Analysen sind von Weitblick, dem Sinn für das
­große Ganze und einem tiefen Verständnis für
politische Zusammenhänge gekennzeichnet.
Die von ihm vertretene Sichtweise ist oft kreativ, bisweilen ungewöhnlich, aber wissenschaftlich immer fundiert. Dabei transportiert
er komplexe ökonomische Zusammenhänge
auch für den Laien verständlich.
Hans-Werner Sinn hat seit seiner Amtsübernahme das ifo Institut zu einem wissenschaft­
lichen Aushängeschild Bayerns gemacht. Er hat
einen weltweit vernetzten Think Tank geschaffen, der sich auf höchstem wissenschaftlichem
Niveau mit praxis- und politikrelevanten Fragen auseinandersetzt. Wie kein Zweiter hat er
es verstanden, Öffentlichkeit und Politik über
ökonomische Zusammenhänge zu informieren. Seine Leistungen und seine Verdienste um
Deutschland und Bayern können nicht hoch
genug eingeschätzt werden.
Target-Falle: Hans-Werner Sinn und die Zukunft Europas
Einhaltung des Stabilitäts- und
Wachstumspakts
Der europäische Stabilitäts- und Wachstums­
pakt muss konsequent eingehalten werden. Ein
nachlässiger Umgang mit dem Pakt verführt zu
mehr Schulden und wird damit zu einer schweren Hypothek gerade für künftige Generationen von Steuerzahlern. Solide Haushaltspolitik
ist der Schlüssel für nachhaltiges Wachstum,
Beschäftigung und Investitionen. Der Freistaat
Bayern zeigt wie kaum eine andere Region Europas, dass sich Wachstum und solide Haushaltspolitik keineswegs ausschließen, sondern
vielmehr gegenseitig bedingen.
215
Wolfgang Schäuble
ÖKONOM, KOMMUNIKATOR, EUROPÄER –
EINE BITTE AN HANS-WERNER SINN
Target-Falle
Wolfgang Schäuble ist seit 1972
Mitglied des Bundestages. Er ist
einer der Architekten der Wiedervereinigung Deutschlands und
Europas, geehrt mit dem Inter­
nationalen Karlspreis zu Aachen.
Er war Chef des Bundeskanzler­
amtes, zwei Mal Bundesinnen­
minister, seit 2009 ist er Bundes­
minister der Finanzen.
216
Hans-Werner Sinn ist ein außergewöhnlicher
Ökonom. Er ist auf vielen Feldern der Wirtschaftswissenschaften zu Hause, thesenfreudig,
kreativ, stellt sich gleichwohl den Mühen von
Forschung und Empirie und hat dann noch ein
ausgeprägtes Talent zur Kommunikation in die
breitere Öffentlichkeit. Ihre Debatten befeuert
er immer wieder aufs Neue. Die ökonomischen
Laien verstehen ihn, wie sonst nur seine Kollegen in den Vereinigten Staaten oder in Großbritannien verstanden werden. Für Politiker
mögen zwar manchmal seine Scharfzüngigkeit
und gedankliche Schärfe nicht immer angenehm sein, aber das muss man aushalten können.
Über die jeweils aktuellen europäischen Debatten, über akute Krisen und schwankende
Nachrichten zu Sorgenkindern in der euro­
päischen Familie hinweg verliert Hans-Werner
Sinn nie die grundsätzliche Frage nach der institutionellen Zukunft der Europäischen Union
aus dem Blick. Ihm schweben die »Vereinigten
Staaten von Europa« vor, ein »Bundesstaat«,
eine echte Staatsgründung – mir eher eine konsequente »Mehr-Ebenen-Demokratie« : kein
quasi-nationalstaatliches Gemeinwesen mit
dem Schwergewicht im Zentrum, sondern eine
spezifisch europäische Mischform von nationaler und gemeinschaftlicher Souveränität, ein
sich ergänzendes, ineinandergreifendes Sys­
tem von Demokratien verschiedener Reich­
weite und Zuständigkeiten, eine national-eu­
ropäische Doppeldemokratie.
Wie auch immer diese institutionelle Zukunft Europas genau aussehen wird – HansWerner Sinn legt mit seinem Plädoyer für die
weitere Integration den Finger in die eigent­li­
che Wunde des Euroraums : das bisherige Fehlen einer gemeinsamen Finanz- und Wirtschafts­
politik, vom Fehlen einer noch weiter gehenden
politischen Union ganz zu schweigen. Das Problem ist bekanntlich nicht neu. Von Beginn der
europäischen Einigung an war dies die Lage :
Mehr Integration wäre immer besser gewesen,
Der »große Sprung« in ein bundesstaatliches
Europa, noch dazu angeführt von Deutschland, scheint mir dagegen eine unrealistische
und unpolitische Vorstellung in der Gemengelage, in der wir uns auf absehbare Zeit befinden; undenkbar auch in diesem Europa, wie es
nun einmal historisch gewachsen ist : 28 gleichberechtigte Nationen in der Europäischen Union. In die Zukunft einer tieferen Integration
Europas führt kein einmaliger »großer Sprung«,
sondern nur das geduldige Vorangehen auf
den Wegen, die sich immer wieder öffnen, mal
schneller durch Krisen, mal langsamer ohne
sie.
Die Richtung jedenfalls muss man kennen.
Und eine Prise vorwärtsdrängenden Idealismus kann auch der europäische Realismus gut
vertragen : Wir werden es uns in der ungeheuer
dynamischen und vernetzten Welt des 21. Jahrhunderts nicht mehr lange leisten können, uns
in Europa vornehmlich mit uns selbst zu beschäftigen. Wir brauchen unsere gesammelte
Kraft, um unseren Beitrag zu leisten zur Lösung der drängenden globalen Ordnungsfragen – ob auf den Finanzmärkten, allgemein im
Wirtschaftsbereich oder in Fragen von Sicherheit und Umwelt. Auch wenn Hans-Werner
Sinn die Dinge gelegentlich anders sieht und
andere Antworten gibt als die Bundesregierung : Dass Europa sich zu dieser Relevanz einer die Welt mitordnenden Macht weiterentwickelt, ist immer auch das Ziel des überzeugten
Europäers Hans-Werner Sinn. Und : Er darf
nun zwar aus dem Amt scheiden, leider – aber
aufhören, sich als Ökonom an der politischen
und wirtschaftlichen Debatte zu beteiligen, das
darf er bitte nicht !
Target-Falle: Hans-Werner Sinn und die Zukunft Europas
aber die Bevölkerungen der Mitgliedstaaten
standen meist einer noch stärkeren ­Integration
nicht sehr freundlich gegenüber. In den 1990er
Jahren gab es dann erneut eine g­ roße Debatte,
ob man erst eine politische Union oder erst die
Währungsunion schaffen sollte. Bibliotheken
von Büchern zur Währungsunion sagen uns
seither, eine Währungsunion ohne eine Fiskalund Wirtschaftsunion funktioniere nicht. Wir
bemühen uns im Euro­raum – notgedrungen –,
diese Gewissheit zu erschüttern. Aber wenn
wir es damals, in den 1990er Jahren, andersherum versucht hätten, würden wir bis heute keine
gemeinsame Währung haben. Wir würden immer noch über die Gestaltung einer politischen
Union diskutieren. Deswegen haben wir beim
Euro denselben Weg eingeschlagen, wie er bereits nach dem Scheitern der Europäischen
Verteidigungsgemeinschaft 1954 im französi: erst
schen Parlament eingeschlagen wurde einmal zu beginnen mit dem, was möglich ist,
und dann Schritt für Schritt weiterzugehen.
Bei der Vertiefung der Integration Europas,
die ich so sehr wie Hans-Werner Sinn will, sollten wir die bewährte europäische Methode
fortführen, Kerne der Zusammenarbeit in der
Europäischen Union zu bilden und kleinere,
besonders kooperationsbereite Gruppen von
Mitgliedstaaten vorangehen zu lassen. Das war
der Vorschlag von Karl Lamers und mir 1994
in unserem Kerneuropa-Papier. »Verschiedene
Geschwindigkeiten« oder eine »variable Geometrie«, mit offenen Türen für die übrigen Mitgliedstaaten, haben wir längst in vielen Be­
reichen – ob im Schengen-Raum oder bei der
Arbeit an der Finanztransaktionssteuer. Vor
allem der Euroraum bildet eine Art Kern­
europa und zieht immer wieder weitere EUMitglieder an – zuletzt Litauen.
217
Prominente Gäste und volles Haus
bei der Festveranstaltung zum
50-jährigen Jubiläum des ifo Instituts im Juni 1999.
( von links nach rechts ) Der Chef
der BMW Stiftung ­Herbert Quandt,
Michael Schaefer, der französische
Ministerpräsident Manuel Valls
und HWS beim Munich Economic
Summit 2015.
Jean-Claude Trichet und der
­ehemalige Bundesfinanzminister
Theo Waigel, offenbar zufrieden
mit den Ausführungen des
ifo-­Präsidenten in der Jahres­
versammlung 2006.
218
Bundesbankpräsident Jens Weidmann, der Doyen der deutschen
Geldpolitik Helmut Schlesinger
und HWS bei der Festver­
anstaltung des Münchner Volkswirte Alumni-Clubs im Juni 2013.
Jens Weidmann und HWS teilen
sich das Pult auf der Festveranstaltung des Münchner Volkswirte
Alumni-Clubs im Juni 2013.
( von links nach rechts ) HWS,
­Dietrich Murswiek, O
­ tmar Issing,
Brun-Hagen Hennerkes und
Marc Beise diskutieren in der
ifo Jahresversammlung 2013.
219
Euro, April 2010
9
DIE MIGRATIONSWELLE:
Hans-Werner Sinn und die
Zuwanderungsdebatte
Panu Poutvaara
EINLEITUNG
Die Migrationswelle: Hans-Werner Sinn
und die Zuwanderungsdebatte
Die Migrationswelle
Panu Poutvaara leitet das ifo
Zentrum für Internationalen Institutionenvergleich und Migrationsforschung und ist Professor für
Volkswirtschaftslehre an der
­Ludwig-Maximilians-Universität
München. Seine Forschungsschwerpunkte sind internationale
Migration, Politische Ökonomie
und Finanzwissenshaft.
222
Um Hans-Werner Sinns Beiträge zur Einwanderungsdebatte zu verstehen, muss man zuerst
seine Sichtweise des Sozialstaats verstehen. Private Versicherungen können Individuen nicht
gegen Risiken versichern, die sich aus dem
Fehlen angeborener Fähigkeiten oder schulischen Erfolgs ergeben. Denn Versicherungen
können nur mit Erwachsenen Verträge abschließen. Bei Erwachsenen aber besteht ein
großer Teil der Unsicherheit bezüglich ihres
Verdienstpotenzials nicht mehr, und sie kennen in der Regel ihre Begabungen. Eine private
Versicherung wäre somit allein für die Per­
sonen attraktiv, die ein ungünstiges Ergebnis
­erwarten, während die, die mit einem hohen
Einkommen rechnen, keine Versicherung abschließen werden, die eine Umverteilung zugunsten derjenigen mit niedrigeren Einkommen bedeuten würde. Bei einer Umverteilung
durch Besteuerung besteht dieses Problem dagegen nicht. Daher sind Regierungen in der
Lage, den fehlenden privaten Versicherungs-
markt durch eine verpflichtende Besteuerung
zu ersetzen.
HWS wies darauf hin, dass die Möglichkeit
der Migration auch das Problem der adversen
Selektion mit sich bringt. Wenn die Personen
mit hohen Einkommen und die mit niedrigen
Einkommen frei wählen können, in welchem
Land sie Steuern zahlen oder Sozialleistungen
in Anspruch nehmen, stehen die einzelnen
Staaten vor einem ähnlichen Problem, wie dies
bei Versicherungen der Fall wäre, wenn die
Versicherungsnehmer ihre Entscheidung zum
Abschluss einer Versicherung noch dann treffen könnten, wenn sie wissen, ob ein Risiko
­besteht. Ein solcher Versicherungsmarkt würde zusammenbrechen. Obwohl Migration zwischen Ländern viel komplizierter ist als der
Wechsel von einem Versicherer zum anderen,
sind beim Wettbewerb zwischen Ländern ähnliche Kräfte am Werk.
Der Wunsch, den Sozialstaat vor schädlichem
Systemwettbewerb zwischen den Ländern zu be-
überzeugenden Intuition. Wenn ein Argument
logisch nicht korrekt war oder einen entscheidenden Aspekt der realen Welt außer Acht ließ,
wies er umgehend darauf hin. Es ist nicht überraschend, dass viele seiner Postdoktoranden
und Doktoranden später Professoren an Universitäten im In- und Ausland wurden.
Auch meine späteren Aufenthalte am CES,
zunächst als Postdoktorand und später als Professor an der Universität Helsinki, waren be­
reichernde Erfahrungen. Nachdem ich dem
CESifo-Forschernetzwerk, das HWS gegründet
hat, um den internationalen Austausch unter
Ökonomen zu fördern, beigetreten war, stellten
die jährlichen CESifo Area Conferences für
mich eine hervorragende Plattform für bereichernde Diskussionen dar. Seit 2010 leite ich
die Migrationsforschung am ifo Institut. Sowohl für mich als auch für meine Bereichs­
leiterkollegen waren die hohen Standards, die
HWS am ifo Institut eingeführt hat, ein entscheidendes Motiv, an das ifo zu kommen und
dort zu arbeiten.
HWS hat sich wiederholt zum Thema Migra­
tion geäußert, insbesondere hinsichtlich der
­Osterweiterung der Europäischen Union. Es ist
eine große Herausforderung für die europäischen Sozialstaaten, sich auf den wachsenden
Migrationsstrom sowohl innerhalb Europas als
auch aus armen Ländern einzustellen. Als mögliche Politikmaßnahme wird von HWS und anderen Ökonomen vorgeschlagen, Einwanderern
allmählich den Zugang zum Umverteilungssystem ihres Ziellandes zu ermög­lichen. Dies wird
mit dem Begriff »verzögerte Integration« bezeichnet. Solch ein System wäre ein Mittelweg
zwischen der Vermeidung von Systemwettbewerb und der sofortigen vollständigen Integra­
tion von Einwanderern. Es bleibt zu hoffen, dass
HWS sich auch in seinem Ruhestand sowohl zu
dieser als auch zu den vielen anderen Debatten,
zu denen er beigetragen hat, äußern wird.
Die Migrationswelle: Hans-Werner Sinn und die Zuwanderungsdebatte
wahren, veranlasste HWS zu der Forderung, dass
für Migranten weiterhin das Sozialsystem ihres
Heimatlandes gelten sollte. Dieser Vorschlag ist
umstritten; es gibt dagegen heftigen Widerstand
mit dem Argument, dass bei diesem Ansatz
­Migranten im Vergleich zur einheimischen Be­
völkerung dauerhaft unterschiedlich be­handelt
werden würden. Aber man muss in Erinnerung
rufen, wodurch der Vorschlag begründet ist :
durch den Wunsch, es dem Sozialstaat zu ermöglichen, auch in Zeiten freier Migration den Benachteiligten Versicherungsschutz zu bieten.
Migration stellt den Sozialstaat vor große
Herausforderungen. Das bedeutet indessen
nicht, dass die freie Mobilität der Arbeit nicht
wünschenswert wäre. Im Gegenteil : Die vier
Freiheiten – Freiheit des Verkehrs von Gütern,
Dienstleistungen, Kapital und Arbeit – bringen
große Handelsgewinne mit sich und ermög­
lichen eine effizientere Allokation von Kapital
und Arbeit. Während Migration, die auf Produktivitätsunterschiede zurückzuführen ist,
wohlfahrtssteigernd ist, führt Migration, die
durch Unterschiede in der Besteuerung und in
Transferleistungen veranlasst ist, zu einer in­
effizienten Allokation von Arbeit. HWS’ Vorschläge haben das Ziel, diese Ineffizienzen zu
verringern und freie Migration und europäische Sozialstaaten miteinander zu vereinbaren.
Gegen Ende meines Promotionsstudiums
war ich von Dezember 2000 bis Ende März
2001 als Gast am CES. Mir gefiel die den intellektuellen Austausch fördernde Atmosphäre
dort sehr gut, und ich erhielt von HWS wertvolle Ratschläge zu meiner Arbeit über die
Auswirkungen der Einkommensumverteilung
auf risikobehaftete Investitionen in Bildung
und wie dies durch die Möglichkeit der Migration beeinflusst wird. In den wöchentlichen
Lunchtime-Seminaren verband HWS’ Herangehensweise an verschiedene ökonomische
Fragestellungen die vertiefte Analyse mit einer
223
Klaus F. Zimmermann
MIGRATION: EMPIRISCHE EVIDENZ UND
ÖKONOMISCHE RATIONALITÄT
Die Migrationswelle
Klaus F. Zimmermann ist Direktor
des unabhängigen Forschungs­
instituts zur Zukunft der Arbeit
(IZA) in Bonn, Professor für Wirtschaftliche Staatswissenschaften
an der Universität Bonn sowie
Honorarprofessor an der Freien
Universität Berlin und der Renmin
University of China in Beijing.
224
Der Professor mit dem Seemannsbart zieht einen persönlich in den Bann, er kümmert sich
um jeden, der mit ihm diskutiert. Er ist ein
­besessener Ökonom mit festem Vertrauen in
wirtschaftstheoretische Zusammenhänge, unerschütterlich davon überzeugt, dass die Welt
besser wird, wenn sich ökonomische Erkenntnisse durchsetzen. Als Provokateur und Medienstar mit Instinkt für die großen Themen
der Zeit hat er zahllose wirtschaftspolitische
Debatten in Deutschland geprägt.
Auch wenn er immer Recht behalten will
und es nicht immer bekommen kann, erzwingt
er in aller Regel die notwendige Debatte über
die richtigen Fragen. Sinn denkt radikal, er geht
also an die Wurzeln der Probleme, ist dabei aber
weder parteipolitisch verortbar noch extrem.
Er ist zutiefst menschlich, jemand, der sich
wirklich sorgt und an seine Einsichten glaubt.
So war Hans-Werner Sinn immer gewesen,
er ist unverfälscht und verlässlich er selbst geblieben. Auf ihn traf ich zuerst im Sommer­
semester 1976 an der Universität Mannheim,
also vor ziemlich genau 40 Jahren. Anlass war
meine Seminararbeit über die Grundzüge des
Keynesianismus beim Finanzwissenschaftler
Hans Nachtkamp, zu dessen Assistenten Sinn
gehörte. Später waren wir langjährige Assis­
tentenkollegen in der Fakultät mit gegenüber­
liegenden Büros der Universität. Danach über
ein Jahrzehnt auch Professorenkollegen in der
Universität München sowie Kollegen bei der
Leitung zweier großer Wirtschaftsforschungsinstitute, er beim ifo Institut, ich beim Deutschen Institut für Wirtschaftsforschung (DIW).
Demographie generell hat mich seit meiner
Promotionsarbeit beschäftigt, Migration erst
seit meiner Zeit an der Universität München.
Zu Migrationsfragen kam Hans-Werner Sinn
allerdings erst danach, in meiner Zeit als DIWPräsident, er in seiner Rolle als Präsident des
ifo Instituts. Migration hat ihn insbesondere
im europäischen Kontext interessiert, und mit
dem Instinkt für das Populäre hat er für sich
wieder. Dies ist problematisch, denn die europäische Idee der gemeinsamen prosperierenden wirtschaftlichen Entwicklung basiert auch
auf der Hoffnung einer umfassenden Integra­
tion der Arbeitsmärkte und größerer Mobilität.
Es ist also nicht das »Zu viel« an Migration,
das Sorge bereiten sollte, sondern eher das
»Zu wenig«. Tatsächlich wandern immer noch
viel weniger Menschen in Europa, als einfache
Wirtschaftsmodelle dies erwarten lassen würden. Auch global ist dazu die Bewertung nicht
verschieden : 97 % aller Menschen weltweit leben heute in dem Land, in dem sie geboren
wurden. Das war vor hundert Jahren auch nicht
anders. Wir sind also, trotz aller Spekulationen
auf ein kommendes Zeitalter der Migration,
das künftig unsere demographischen und wirtschaftlichen Ungleichgewichte hinwegfegt, in
diesem letzten historischen Zeitraum nicht offener geworden.
Von vereinzelten Problemen in großen Städten, also in sozialen Brennpunkten, abgesehen,
lassen sich in Europa keine Anzeichen einer
­relevanten Wohlfahrtsmigration wissenschaftlich belegen. So arbeiten beispielsweise heute
viele Menschen aus den neuen Beitrittsstaaten
Rumänien und Bulgarien bei uns, viele davon
mit guten Qualifikationen, ohne dass gleich­
zeitig die Nutzung unseres Sozialstaates durch
Migranten aus diesen Ländern bedenkenswert
gestiegen wäre. Nichts hindert die Politik
­allerdings daran, mögliche Gesetzeslücken zu
schließen, wenn sie eine Ausnutzung begüns­
tigen würden. Sozialstaatstourismus ist aber
schon heute nicht möglich.
Ich teile die Ansicht von Hans-Werner Sinn,
dass künftig unser Arbeitsmarkt noch mehr
durch Zuwanderung profitieren könnte und
sich Deutschland dadurch leichter an die Sicherung der Renten herantasten würde. Dafür
brauchen wir problemorientierte Debatten,
und seine Stimme ist weiter gefragt.
Die Migrationswelle: Hans-Werner Sinn und die Zuwanderungsdebatte
das ökonomisch Rationale der Thematik gewählt, nicht das empirisch Gesicherte. Aspekte
waren über die Jahre die Osterweiterung der
Europäischen Union, die mögliche Wohlfahrts­
migration aus europäischen Mitgliedsländern
und zuletzt die Nettobeiträge von Zuwanderern zum deutschen Wirtschafts- und Sozialsystem.
Ohne empirische und institutionelle Details
lassen sich die ökonomischen Ursachen und
Konsequenzen von Migrationsentscheidungen
scheinbar einfach abgreifen : Menschen wandern, wenn die Lohndifferenziale zwischen
Sende- und Ursprungsland hoch sind. Sie
kommen und bleiben, wenn so erhebliche Verbesserungen ihrer Lebensbedingungen zu erzielen sind. Die Öffnung der Grenzen zu Polen
und anderen osteuropäischen Staaten war deshalb bei vielen mit der Erwartung eines Massenzuflusses verbunden. Auch Zuwanderung
ohne Arbeit in die Sozialsysteme von Bürgern aus europäischen Staaten erscheint wegen
des hohen wirtschaftlichen Nutzens angesichts
großer Leistungsdifferenzen und Freizügigkeit
ökonomisch plausibel, der Gedanke an »Wohlfahrtsmigration« nur konsequent. Selbst wenn
die Nettoeinzahlungen in die sozialen Sicherungssysteme durch Migranten positiv sind,
könnte die Nutzung öffentlicher Güter und
staatlicher Leistungen diese Vorteile kompensieren. Hans-Werner Sinn hat sich zu diesen
Themen frühzeitig als Warner und Mahner geäußert.
Glücklicherweise zeigen empirische Studien,
dass diese wirtschaftlichen Besorgnisse letztlich praktisch unbegründet sind. Die europäische Binnenmobilität am Arbeitsmarkt ist eher
gering, auch wenn sich seit der Osterweiterung
und der großen Wirtschaftsrezession eine Stärkung der Wanderungsbewegung ergeben hat.
Es ist aber nicht zu Masseneinwanderungen
gekommen, Arbeitskräfte verlassen uns auch
225
Giuseppe Bertola
HANS-WERNER SINNS HERKUNFTSPRINZIP
FÜR MIGRATION UND SOZIALSTAAT
Die Migrationswelle
Giuseppe Bertola hat VWL an der
Princeton University, dem European University Institute, der Università di Torino und der EDHEC
Business School gelehrt. Er ist
CEPR und CESifo Research Fellow,
hat zu vielen Themen publiziert
und verschiedene nationale und
internationale Institutionen be­
raten.
226
Öffentliche Sozialsysteme können Einkommens- und Gesundheitsrisiken dort absichern,
wo private Versicherungsmärkte fehlen. Die
Teilnahme an solchen Systemen muss verpflichtend sein. Dies ist aber bei lokaler Finanzierung in integrierten Volkswirtschaften nicht
möglich, da erfolgreiche Individuen hohen
Steuern ausweichen werden, während diejenigen, die weniger Glück haben, dorthin ziehen,
wo Sozialleistungen höher sind. Migrationsentscheidungen sind effizient, wenn sie auf
Produktivitätsunterschieden basieren. Sind sie
allerdings Folge unterschiedlicher Steuern und
Transferleistungen, lösen sie einen Kürzungswettlauf von Steuern und Transfers aus und
führen bei im Wettbewerb stehenden Sozialsystemen zu einer ebenso ineffizienten fehlenden Absicherung wie unter Laissez-faire-Bedingungen.
Wenn Auswahlmöglichkeit ein Problem ist,
sollte sie beseitigt werden. Man könnte jedem
Individuum unveränderbare Rechte und Pflich­
ten, ähnlich wie bei Familienzugehörigkeiten,
zuschreiben. Ein »Herkunftsprinzip« könnte
vorsehen, dass bedürftige Personen nicht durch
die Gemeinschaft unterstützt werden, in der
sie leben, sondern durch die, aus der sie stammen. Das war bis zur industriellen Revolution
der Fall (und bis 2012 zumindest formal in der
Schweiz, wo immer noch die »Ursprungskommune« jedes Bürgers aus dem 18. Jahrhundert
festgehalten wird), als wirtschaftliche Integra­
tion durch Zölle und Abgaben an Brücken und
Stadttoren stark eingeschränkt war. Das Herkunftsprinzip selbst könnte Arbeitsmobilität
nur dadurch verringern, dass bedürftige Migranten auf die Unterstützung ihrer weit entfernten Verwandten und Mitbürger angewiesen
wären und die risikoreiche Migration damit
weniger attraktiv würde. Aus diesem Grund
wurde die Industrialisierung moderner Volkswirtschaften durch den Aufbau nationaler Sozialstaaten stark gefördert. Die Entwicklung
von Sozialsystemen, die die Urbanisierung von
Sozial­system einige Jahre verbunden blieben,
bevor sie Zugang zu dem des Ziellandes be­
kämen.
Dies ist eine kluge und strittige Lösung eines
schwierigen Problems. Sie kann durch einfache
finanzwissenschaftliche Argumente gerechtfertigt werden. Ebenso wie Investitionsentscheidungen unter investorspezifischen Steuersätzen sind auch Migrationsentscheidungen
unverzerrt, solange Steuern und Sozialleistungen für eine Person über nationale Grenzen
­hinaus konstant bleiben. In der Praxis brächte
die strikte Umsetzung des Herkunftsprinzips
allerdings hohe Kosten und große administrative Probleme mit sich. Bedürftige Migranten
müssten entweder zurück in ihr Herkunftsland
reisen oder wären auf die Bereitschaft des Ziellandes angewiesen, Leistungen vorab auszuzahlen, die dann zudem vom Heimatland mangels nachprüfbarer und durchsetzbarer Regeln
möglicherweise nicht zurückerstattet würden.
HWS’ Herkunftsprinzip zielt darauf ab, einen Ausgleich zwischen Kosten und Nutzen
von Migration unter den unvollständigen po­
litischen Rahmenbedingungen der EU herzustellen. Es kann sinnvoll verhindern, dass tatsächliche oder befürchtete Sozialmigration den
Sozialstaat oder die Popularität wirtschaftlicher
Integration erodiert. Kritiker können anmerken, dass Personen, die eine Beschäftigung statt
Sozialleistungen suchen, bei verzögerter Integration ein nützliches Sicherheitsnetz für ihre
riskanten Entscheidungen verlieren. Tatsächlich sind die meisten Migranten mehr als bereit, zur Wirtschaft und zum Sozialsystem des
Ziellandes beizutragen. Ein übermäßiger Fokus auf Motive der Sozialmigration könnte die
Öffentlichkeit und Politik von den Vorteilen
ökonomischer Integration und von der Entwicklung einer angemessenen integrierten und
vereinheitlichten Sozialpolitik ablenken.
Die Migrationswelle: Hans-Werner Sinn und die Zuwanderungsdebatte
Arbeitern ermöglicht und eine in Agrargesellschaften übliche Abhängigkeit von einer Ab­
sicherung durch Familien und Dorfgemeinschaften auflöst, dauert in China und anderen
Schwellenländern noch an. In allen europäischen Ländern ist dieser Prozess allerdings lange abgeschlossen.
Hans-Werner Sinn analysierte früh die Probleme, die sich aus dem Versuch der Europäischen Union ergeben, Märkte über die Grenzen
nationaler Sozialstaaten hinaus zu integrieren.
Wenn Sozialbeiträge und -leistungen nicht in
geeigneter Weise angeglichen werden, z. B.
durch die Entwicklung einer politischen Union
und eines integrierten Sozialstaats oder zu­
mindest durch bindende supranationale Regeln, löst Migration, weg von Steuern hin zu
Sozialleistungen, einen Kürzungswettlauf aus
und führt zum »Tod des Sozialstaats«. Diese
Aussicht ist nicht nur für Finanzwissenschaftler im Hinblick auf die Vorteile der sozialen
Marktwirtschaft, sondern auch für alle europäischen Bürger, die wirtschaftliche Integration
nicht akzeptieren, wenn sie zum Untergang
­ihrer Wohlfahrtsstaaten führt, unerträglich.
Um diesem Problem zu begegnen, hat
HWS herkunftsbezogene Sozialtransfers vor­
geschlagen. Natürlich werden Männer und
Frauen über geographische und politische
Grenzen hin­weg Partner und Nachkommen
haben, so dass, anders als bei der vorindustri­
ellen Geburtsrechtsregelung, Individuen nicht
aufgrund ihrer Nationalität bestimmte Steuerpflichten und Leistungsansprüche haben sollten. Ursprünglich verwies HWS darauf, dass es
theoretisch sinnvoll wäre, einen jungen Menschen vor die Wahl eines bestimmten Sozialsystems für sein ganzes Leben zu stellen. Später
argumentierte er praktischer und mit Nachdruck für Regeln zur »verzögerten Integra­
tion«, wobei Migranten ihrem nationalen
227
Joachim Herrmann
ASYLMISSBRAUCH STOPPEN –
ZUWANDERUNG STEUERN !
Die Migrationswelle
Joachim Herrmann gehört seit
1994 dem Bayerischen Landtag an.
Seit Oktober 2007 ist er bayerischer Innen- und Bau-, seit Herbst
2013 auch Verkehrsminister. Von
Oktober 1998 bis September 1999
war er Staatssekretär im Sozial­
ministerium und von 2003 bis 2007
Vorsitzender der CSU-Landtagsfraktion.
228
Als den »ökonomischen Seismograph der Republik« hat 2012 Mark Schieritz, Finanzkorrespondent der ZEIT , Hans-Werner Sinn bezeichnet, der mit seinen Publikationen »den Sound
zu den wirtschaftspolitischen Megatrends der
vergangenen 30 Jahre lieferte«. Ein solcher Megatrend ist aktuell die explosionsartig zunehmende Migration. Professor Sinn hat sich der
Thematik vor allem über die ökonomische
­Fragestellung genähert, welcher wirtschaftliche
Nutzen sich für Deutschland mit den unterschiedlichen Migrationsformen verbindet.
Ein viel beachteter Debattenbeitrag kam im
Kern zu dem Ergebnis, dass Deutschland schon
zur Auffüllung seines demographischen Defizits massiv Zuwanderung benötige, allerdings
die fiskalische Bilanz der Ausländerzuwanderung jedenfalls dann ins Negative drehe, wenn
man auch die allgemeinen Staatsausgaben
für Verteidigung, Infrastruktur, Polizei u. a. m.
­berücksichtige. In letzter Konsequenz bedürfe
es eines Punktesystems, um die Zuwanderung
von Drittstaatsangehörigen sinnvoll zu steuern.
Auch wenn Professor Sinn damit erneut
die gesellschaftspolitisch grundlegende Debatte um Zuwanderung bereichert hat, müssen
aus der Sicht des Innenministers, der auch Verfassungsminister ist, zu der ökonomischen Betrachtung weitere Dimensionen von Chancen
und Risiken der Zuwanderung hinzutreten.
Mit der Zuwanderung sind vielfach menschliche Tragödien verbunden, die sich schon aus
ethisch-moralischen Gründen einer Bewertung
in »Euro und Cent« entziehen. Dem »Staat«
stellen sich zwingend auch rechtliche sowie
rechtspolitische Fragestellungen, die einer ökonomischen Betrachtung nur in begrenztem
Maße zugänglich sind. Besonders augenfällig
ist dies bei Asylbewerbern. Von Verfassung wegen ist für ihre Anerkennung allein das Vorliegen einer politischen Verfolgung maßgeblich.
Ihre berufliche oder schulische Qualifikation
ist nicht von Belang.
Es ist Unternehmen und Arbeitsinteres­
senten durchaus zuzumuten, zunächst Angebot und Nachfrage zusammenzubringen, ehe
der Staat einem Drittstaatler einen gesicherten
Aufenthaltsstatus verschafft. Sehr wohl diskutieren kann man aber, ob etwa die Bundes­
agentur für Arbeit sowie die Außenhandelskammern ihren Service verbessern können,
etwa durch die Einrichtung von Jobbörsen in
für die deutsche Wirtschaft besonders interessante Drittstaaten.
Mit Blick auf die Zuwanderung von Fachkräften aus Drittstaaten hat der deutsche Gesetzgeber schon 2012 die Europäische Hochqualifiziertenrichtlinie umgesetzt. Die damit
verbundene Blaue Karte EU erlaubt die Zuwanderung von Hochschulabsolventen mit einem
Bruttoarbeitslohn von mindestens 47 600 Euro
bzw. in Mangelberufen von ca. 37 128 Euro
ohne Vorrangprüfung für den deutschen Arbeitsmarkt. Anders als von der Wirtschaft
­immer wieder gefordert, sollten die Mindest­
entgeltgrenzen nicht abgesenkt werden, sonst
könnten die Einstiegsgehälter der in Deutschland bestens ausgebildeten Jungakademiker
oder Fachkräfte unter Druck geraten.
Insgesamt gesehen stimme ich mit Professor
Sinn – trotz aller Unterschiede unserer Positionen im Detail – uneingeschränkt überein, dass
eine wirksame Steuerung der Zuwanderung
aus Erwerbsgründen notwendig ist.
Auch wenn Herr Professor Sinn nun aus
dem aktiven Erwerbsleben ausscheidet, würde
es mich sehr wundern, wenn er sich nicht auch
in Zukunft mit seiner Erfahrung, die er über
die Jahrzehnte als »ökonomischer Seismograph
der Republik« gesammelt hat, zu Wort melden
würde. Und das wäre gut so. Denn unsere politische Debattenkultur und das gesellschaftspolitische Meinungsbild wären ohne die Beiträge
von Professor Sinn eindeutig ärmer.
Die Migrationswelle: Hans-Werner Sinn und die Zuwanderungsdebatte
Spielraum für ökonomische Überlegungen
ergibt sich allerdings bei flankierenden Gesichtspunkten des Asylverfahrens. Grundsätzlich kön­
n
­ en Asylbewerber, die sich mindestens drei Monate im Land befinden oder deren Antrag bereits
anerkannt ist, dem Arbeitsmarkt zur Verfügung stehen und einen Beitrag zu ihrem eigenen
­Lebensunterhalt und zur wirtschaftlichen Wertschöpfung des Aufnahmelandes leisten. Um
aber nicht durch großzügige Beschäftigungsmöglichkeiten weitere Anreize für asylfremde
illegale Migration nach Deutschland zu setzen,
hat die Staatsregierung angeordnet, dass Asyl­
bewerbern aus sicheren Herkunftsstaaten oder
wenn ihr Asylantrag als offensichtlich unbegründet abgelehnt worden ist, grundsätzlich keine Beschäftigungserlaubnis erteilt werden darf.
Ein abgelehnter Asylbewerber hat Deutschland umgehend zu verlassen. Das ergibt sich
nicht nur aus ordnungspolitischen Erfordernissen, sondern auch aus der Notwendigkeit,
staatliche Ressourcen für die Unterbringung
und Betreuung der tatsächlich politisch Verfolgten zu nutzen. Davon zu trennen ist die arbeitsmarktbezogene Zuwanderung. Hier muss
Deutschland zuallererst um EU-Bürger werben. Sie genießen Arbeitnehmerfreizügigkeit
und haben damit das Recht, eine Erwerbstätigkeit aufzunehmen. Da diese Menschen aus dem
europäischen Kulturkreis kommen, fällt zudem ihre Integration leichter.
Ich stimme Professor Sinn zu, dass die Zuwanderung von Drittstaatsangehörigen aus Erwerbsgründen sinnvoll gesteuert werden muss.
Skeptisch sehe ich aber die Idee eines Punktesystems. Denn es konterkariert das Prinzip,
dass ein Zuzug nur mit einem konkreten Job­
angebot in Betracht kommt. Da nicht jeder den
Anforderungen unseres dynamischen Arbeitsmarktes entsprechen wird, ist die Gefahr groß,
dass er über kurz oder lang auf staatliche So­
zialleistungen angewiesen ist.
229
Otto Schily
»WIR SIND AM BEGINN EINER NEUEN
MIGRATIONSWELLE.« – HANS-WERNER SINN
IM DEZEMBER 2013
Die Migrationswelle
Otto Schily war von 1998 bis 2005
deutscher Bundesminister des
Innern. Er war Mitbegründer der
Partei Die Grünen und wechselte
1989 zur SPD. 2001 wurde er mit
dem Bayerischen Verdienstorden
und 2004 mit dem Großen Bundesverdienstkreuz ausgezeichnet.
Heute leitet Schily eine Anwaltskanzlei in Berlin.
230
Die Voraussage von Hans-Werner Sinn hat sich
bewahrheitet. Nach jüngsten Prognosen steigt
im Jahr 2015 die Zahl der Asylbewerber auf
über 800 000. Auch die Warnung von HansWerner Sinn, dass die Ausgestaltung unserer
Sozialsysteme einen starken Anreiz für Armutsflüchtlinge bildet, nach Deutschland zu
kommen, hat sich als berechtigt erwiesen.
Die Ausgabenbelastungen für Kommunen und
Länder durch Zuzug von Asylbewerbern werden inzwischen auf 10 Mrd. Euro geschätzt.
»Angesichts dieser Verhältnisse sollte nun endlich eine ideologiefreie und nicht vom Streben
nach politischer Korrektheit getriebene De­
batte über die Migrationspolitik beginnen«,
fordert Hans-Werner Sinn. Diese Forderung
ist aktueller denn je. Hans-Werner Sinn versteht sich als Ökonom, der Sachverhalte wissenschaftlich analysiert, aber nicht für die eine
oder andere politische Position agitiert. Für die
Politik sind seine Einschätzungen aber hilfreich, weil sie die Beurteilung der Probleme er-
leichtern und damit zugleich den Rahmen der
Handlungsmöglichkeiten erkennen lassen.
Die Ursachen für Wanderungsbewegungen
sind bekanntlich sehr heterogen. In vielen Ländern in mehr oder weniger unmittelbarer
Nachbarschaft Europas herrschen katastrophale Zustände, in dem von einem blutigen Bürgerkrieg verwüsteten Syrien, in Afghanistan, in
Libyen, im Irak, in Eritrea und anderen Gebieten Afrikas. Viele Menschen suchen verständ­
licherweise, diesen Zuständen zu entfliehen,
und riskieren sogar ihr Leben, um über das
Mittelmeer nach Europa zu gelangen.
Nur eine sehr geringe Zahl der Migranten
hat nach Art. 16 a GG Anspruch auf Asyl, das
nur zum Schutz vor politischer Verfolgung im
Heimatland gewährt wird. Jedoch erhalten immerhin nahezu ein Drittel der Asylbewerber
einen Schutzstatus unter Befolgung der Genfer
Flüchtlingskonvention nach den Vorschriften
des unter der rot-grünen Bundesregierung modernisierten Aufenthaltsrechts.
Das Migrationsthema hat inzwischen Dimensionen angenommen, die es außerdem
dringend geboten erscheinen lassen, die Zuständigkeiten neu zu ordnen. Die Schaffung
­eines eigenständigen Ministeriums auf Bundesebene, die Kostenentlastung der Kommunen und die Erweiterung der Möglichkeiten
privater Initiativen könnten dazu beitragen,
dass situationsangepasster agiert werden kann
und die Lage sich etwas entspannt.
Mit einer ideologisch aufgeladenen Debatte
ist jedenfalls niemandem geholfen. Ob Mig­
ration Bereicherung oder Belastung ist, entscheidet sich im Einzelfall. Nicht selten ist
­Migration beides, Bereicherung und Belastung
zugleich. Historisch war Deutschland stets
Einwanderungsland in unterschiedlichen Größenordnungen und wird es auch in Zukunft
sein. Wir können froh sein, dass die deutsche
Gesellschaft nach Umfragen die Aufnahme
von Flüchtlingen positiv bewertet. Damit das
so bleibt, sollten wir aber da Grenzen für Einwanderung setzen, wo es geboten erscheint,
beispielsweise bei der Einwanderung aus den
Balkanstaaten. Viel wird schließlich davon abhängen, ob wir uns in der Europäischen Union
auf eine vernünftige und solidarische Zusammenarbeit in Flüchtlings- und Einwanderungsfragen einigen können. Auch insoweit wird es
darauf ankommen, eine agierende und nicht
nur reagierende Politik entwickeln. Es ist richtig, Flüchtlinge aus Seenot zu retten. Richtiger
wäre es, EU-Einrichtungen in Nordafrika zu
schaffen, die es den Flüchtlingen gestatten, die
Einreise in ein europäisches Land zu beantragen, ohne dass sie sich zuvor auf einem Schleuserboot in Lebensgefahr bringen. Sicherlich
würden solche Einrichtungen die Probleme
nicht vollständig lösen, aber vermutlich wenigstens mildern.
Die Migrationswelle: Hans-Werner Sinn und die Zuwanderungsdebatte
Inzwischen hat sich aber das Asylverfahren
de facto zu einem Einwanderungsverfahren
entwickelt. Das Asylverfahren in seiner aktuellen Praxis ist daher ein zusätzlicher Anreiz für
Armutswanderung, in erhöhtem Maße aus den
Balkanländern. Dieser Anreiz wird noch verstärkt, wenn neuerdings gefordert wird, Asylbewerber in die deutsche Gesellschaft zu in­
tegrieren. Die Integration eines Asylbewerbers
kann jedoch erst mit einer positiven Asylentscheidung beginnen, sonst wird die Asylprüfung eigentlich überflüssig, weil sich allein im
Lauf des langen Asylverfahrens der Aufenthaltsstatus des Asylbewerbers so verfestigt, dass
eine spätere Beendigung seines Aufenthaltes
nicht mehr möglich und in vielen Fällen auch
nicht vertretbar ist.
Diese Misere ist freilich nicht zuletzt auch darauf zurückzuführen, dass das deutsche Aufenthaltsrecht noch zu starr und unflexibel ist. Die
Hürden, sich in Deutschland um ein Aufenthaltsrecht und einen Arbeits- oder Ausbildungsplatz zu bemühen, sind viel zu hoch, und die
Möglichkeiten, die den Behörden erlauben, zu
situationsgerechten flexiblen Entscheidungen zu
gelangen, sind zu begrenzt. Es sollte beispiels­
wei­­se zulässig sein, dass die Behörden Bürgerkriegsflüchtlingen, die nicht selten über beacht­
liche fachliche Qualifikationen verfügen, ohne
langwierige Prüfungen einen gesicherten Aufenthaltsstatus als »Einwanderer« gewähren. Das
ist in unserem ökonomischen Interesse, aber
­entspricht auch humanitären Grundsätzen. Wir
müssen sowieso von einer passiven zu einer ak­
tiven Migrations- und Flüchtlingspolitik gelangen. Die Einführung eines Punktesystems nach
kanadischem Vorbild, das die Einwanderung
qualifizierter Menschen erleichtert, sollte wieder
auf die politische Tagesordnung gesetzt werden.
Wir brauchen ohnehin ein »Zwei-Türen-System«, das es erlaubt, von einem Asylantrag zu
einem »Einwanderungs«-Antrag überzugehen.
231
Silke Übelmesser
DIE RICHTIGEN? !
Die Migrationswelle
Silke Übelmesser hat den Lehrstuhl für Finanzwissenschaft an der
Universität Jena inne und ist Forschungsprofessorin am ifo Institut.
Sie studierte Volkswirtschaftslehre
in München, wo sie auch promovierte und habilitierte. Sie beschäftigt sich vor allem mit Bildungs-,
Migrations- und Sozialpolitik.
232
Deutschland ist Weltmeister – im Fußball und
anderswo. Insbesondere ist Deutschland das
Land mit der weltweit niedrigsten Geburten­
rate. In den letzten fünf Jahren erblickten
so wenige Kinder in Deutschland die Welt
wie nirgendwo sonst. Deutschland ist aber
auch Weltmeister bei den Zuwanderern. Über
1,2 Mio. Menschen kamen 2014 nach Deutschland und somit etwa 0,5 Mio. mehr, als im gleichen Jahr Deutschland den Rücken kehrten.
Für ein Land mit einer alternden Bevölkerung, in dem die Sterberate die Geburtenrate
seit Jahren übersteigt, sind das gute Nachrichten. Im Jahr 2035, wenn die Babyboomer im
Rentenalter sind, werden selbst bei einer jähr­
lichen Nettozuwanderung von 200 000 Menschen deutlich weniger Erwerbstätige deutlich
mehr Rentnern gegenüberstehen, als dies heute
der Fall ist. Für die wirtschaftliche Dynamik
sind das keine guten Aussichten, denn es sind
immer noch die Jüngeren, bei aller wertvollen
Erfahrung der Älteren, die durch ihre Innova-
tionen und ihre unternehmerischen Aktivi­
täten für Wachstumsimpulse sorgen. Und dieses Wachstum ist notwendig, um die steigenden Lasten der sozialen Sicherungssysteme zu
schultern.
Die Politik ist hier gefragt, auch wenn zum
Gegensteuern nicht mehr viel Zeit bleibt. Mehr
(lebenslange) Bildung, eine höhere Erwerbs­
tätigkeit von Frauen und damit verbunden eine
effektive Familienpolitik, die insbesondere die
Vereinbarkeit von Familie und Beruf fördert,
können helfen. Aber das wird nicht ausreichen.
Zuwanderung der »Richtigen« kann hier einen
wichtigen zusätzlichen Beitrag leisten. Zurzeit
hat Deutschland hier Glück : Es ziehen momen­
tan nicht nur viele Menschen nach Deutschland. Diese verfügen außerdem im Schnitt über
hohe Bildungsabschlüsse und berufliche Qualifikationen – auch im Vergleich mit der einheimischen Bevölkerung.
Von Glück muss man hier sprechen, da ca.
60 % der Zuwanderer aus anderen EU-Ländern
auch daran, wohin andere Menschen aus ihrem
Heimatland gezogen sind. Eine größere Gemeinschaft von Landsleuten erleichtert die
Orientierung.
Deutschland hat hier die Chance, die Zuwanderung der »Richtigen« zu verstetigen und
auch längerfristig als attraktives Zielland wahrgenommen zu werden. Dazu ist aber neben
­allgemeineren politischen Aktivitäten auch ein
Umdenken in der Migrationspolitik nötig :
Nicht so sehr auf dem Papier, denn da hat sich
Deutschland in den letzten Jahren laut OECD
zu einem der Länder mit dem liberalsten Zuwanderungssystem entwickelt. Wichtig ist vielmehr, dass dies auch so gelebt und empfunden
wird, und zwar sowohl bei denen, die da sind,
als auch bei denen, die darüber nachdenken
zu kommen. Attraktiv und beliebt zu sein, ist
letztendlich auch eine Voraussetzung für ein
Land, um innerhalb des rechtlichen Rahmens
die »Richtigen« auswählen zu können.
Ein wichtiger Grund für Hans-Werner Sinns
fundierte Analysen der Zuwanderung mit all
ihren Chancen und Herausforderungen für
Deutschland ist sicherlich – neben seiner wissenschaftlichen Expertise und seinem Gespür
für wichtige wirtschaftspolitische Fragestellungen –, dass er selbst ein Zuwanderer ist. Von
Geburt Westfale, lebt er seit 1984 in Bayern. Er
ist sozusagen ein »Zuagroaster«, der erst durch
Heirat mit einer Bayerin zum Bayer wurde
­(siehe Artikel 6 der Verfassung des Freistaates
Bayern). Nicht nur – aber auch – wegen seiner
ernsthaft betriebenen Integrationsanstrengungen, die sich unter anderem in seiner Vorliebe
für bayerische Volksmusik und bayerische
Tracht äußern, kann man über Hans-Werner
Sinn mit voller Überzeugung sagen : Für Bayern und München war seine Zuwanderung ein
Glück. Er ist ein Musterzuwanderer und ohne
Frage der Richtige !
Die Migrationswelle: Hans-Werner Sinn und die Zuwanderungsdebatte
nach Deutschland kommen. Die EU-Prinzipien der Freizügigkeit und der Nicht-Diskriminierung erschweren es Deutschland bei diesen
Zuwanderern, regulierend einzugreifen. Wer
kommen möchte, darf auch kommen, wenn es
sich um Arbeitnehmer und Selbständige handelt. Für alle anderen Zuwanderer aus der EU
gilt dies mit ein paar Einschränkungen. Aber
wer möchte denn kommen ? Hans-Werner
Sinn hat sich schon vor 15 Jahren mit diesem
Thema beschäftigt, als es um die Osterweiterung der EU ging. Er hat insbesondere auf die
großen wirtschaftlichen Unterschiede der Beitrittsländer im Vergleich zu den EU-Ländern
hingewiesen und die großen Wanderanreize,
die sich daraus ergeben, betont.
Aus ökonomischer Sicht ist Wanderung etwas sehr Positives, wenn die Migranten dorthin gehen, wo ihr Bruttoeinkommen und entsprechend ihre Produktivität am höchsten sind.
Denn dort erwirtschaften die Zuwanderer am
meisten verglichen mit anderen Ländern. Der
Kuchen wird insgesamt am größten und somit
auch die Grundlage für Besteuerung und Umverteilung innerhalb eines Landes und über
Landesgrenzen hinweg.
Aber die Zuwanderer orientieren sich nicht
am Bruttoeinkommen. Menschen wandern
dorthin, wo sie ein besseres Leben führen können. Dazu trägt ein höheres verfügbares Nettoeinkommen bei. Die Steuern, die zu zahlen
sind, sind also von Bedeutung, aber auch die
wohlfahrtsstaatlichen Leistungen, auf die Anspruch besteht. Andere Aspekte wie das kulturelle Umfeld, die Bildungs- und Sozialpolitik
und vieles andere, was man heute auch gerne
mit »Willkommenskultur« beschreibt, spielen
ebenfalls eine Rolle. All dies beeinflusst die Anreize der Zuwanderer und ist nur schwer und
wenn, dann nur indirekt, wirtschaftspolitisch
zu steuern. Zuwanderer orientieren sich aber
233
Martin Werding
SPIEL OHNE GRENZEN:
DIE FREIZÜGIGKEITSDEBATTE
Die Migrationswelle
Martin Werding ist seit 2008
­Professor für Sozialpolitik und
öffentliche Finanzen an der RuhrUniversität Bochum. Zuvor leitete
er ab 2000 den ifo-Forschungs­
bereich »Sozialpolitik und Arbeitsmärkte«. Seine akademische
Ausbildung absolvierte er in
­München und Passau.
234
Migration ist wohl die älteste Strategie der
Menschheit zur Anpassung an sich ändernde
Rahmenbedingungen und Risiken. Zugleich
führt sie immer wieder zu Konflikten, die in
der Gegenwart allerdings zivilisierter ausgetragen werden als früher und andere Gegenstände
haben, die einer rationalen Analyse besser zugänglich sind. Trotzdem ist Migration in ihren
vielen Formen bis heute politisch und gesellschaftlich ein schwieriges Thema. Wer sich öffentlich dazu äußert, erfährt rasch unerwartete
Kritik und erhält auch unerbetenen Beifall.
Eines der ersten Forschungsprojekte, dessen sich Hans-Werner Sinn als ifo-Präsident
­persönlich annahm, war dem Thema EU-Ost­
erweiterung und Arbeitnehmerfreizügigkeit
gewidmet. Auftraggeber war die Bundesregierung, man schrieb das Jahr 2000. Während auf
EU-Ebene die Verhandlungen mit bis zu zwölf
Beitrittsstaaten anliefen, sollte abgeschätzt
werden, wie groß das Migrationspotenzial in
diesen Ländern war – mangels passender Prä-
zedenzfälle eine kaum lösbare Aufgabe. Außerdem sollte diskutiert werden, welche Auswirkungen auf Arbeitsmärkte und öffentliche
Haushalte sich ergeben würden und ob aus
deutscher Sicht eine Übergangszeit bis zur
Freizügigkeit nach dem Muster der Süderweiterung hilfreich oder sogar nötig sein könnte.
Politik und Öffentlichkeit waren seinerzeit
skeptisch gegenüber einer Zuwanderung von
Arbeitskräften. Zuvor war die Arbeitslosigkeit
30 Jahre lang tendenziell immer weiter gestiegen – ein Trend, der sich erst ab 2005 wieder
umkehrte. Die deutschen Arbeitsmärkte galten
als hoch reguliert, wenig flexibel und daher
kaum geeignet, eine größere Migrationswelle
aufzunehmen, ohne weitere, bereits ansässige
Arbeitskräfte aus ihren Jobs zu verdrängen.
Dass die Arbeitsmarktakteure gerade dabei
waren, eine kaum vorausgeahnte »interne«
­
­Flexibilität zu entwickeln, trat erst in der Krise
2008/2009 hervor. Auch ein Umdenken in
­Migrationsfragen bahnte sich erst langsam an :
sender Druck durch Migration auf die Sozialkassen zwar bisher nicht, nicht zuletzt weil
dem bereits einige rechtliche Regelungen entgegenstehen. Wer wie Sinn den Sozialstaat vor
Erosionskräften der Globalisierung schützen
will, sollte diese Frage aber im Auge behalten.
Rückblickend kann man sagen, dass
Deutschland die Übergangsfristen bis zur vollen Freizügigkeit vielleicht wirklich brauchte
und seine Arbeitsmärkte durch gezielte Reformen dann deutlich flexibilisiert hat. Es hätte
die Freizügigkeit aber schon 2007 einführen
können, als der »Polish plumber« in London
bereits zum Inbegriff eines gut ausgebildeten,
fleißigen Handwerkers geworden war, und
nicht erst 2011. Vorteile aus der Migration wurden damit verspielt, während im Gegenzug
auf Großbritannien nach seiner sofortigen Arbeitsmarktöffnung möglicherweise mehr Zuwanderung entfiel, als das Land verkraften
konnte – nicht ökonomisch, aber politisch.
Vor­ab wurde dort nur mit um die 10 000 zusätzlichen Zuwanderern pro Jahr gerechnet, in
der Realität wurden daraus phasenweise bis zu
500 000.
Recht behalten hat das ifo Institut im Rückblick nämlich auch mit seinen Migrationsschätzungen. Über sie wurde in der deutschen
Ökonomie damals eine Art Methodenstreit
­geführt. Beim mit enormen Unsicherheiten behafteten Versuch, aus der EU-Süderweiterung
Rückschlüsse auf die Ost-West-Migration zu
ziehen, wichen die ifo-Forscher vom Lehrbuchstandard ab. Rechnet man ihre Zahlen
für Deutschland aus damaliger Sicht auf die
ganze EU 15 um und berücksichtigt dann, welche Grenzen anschließend rasch geöffnet wurden und welche nicht, passen Gesamtzahlen
und umgelenkte Ströme in einzelne Länder
aber gut zu den ifo-Schätzwerten.
Die Migrationswelle: Hans-Werner Sinn und die Zuwanderungsdebatte
Die »Süssmuth-Kommission«, die in ihrem
Abschlussbericht feststellte, dass Deutschland
längst ein Zuwanderungsland war und daher
sein Einwanderungsrecht modernisieren sollte, um zu einem attraktiven Zielland zu werden, beendete ihre Arbeit erst 2001.
In seiner Abschätzung des Migrationspotenzials gelangte das ifo Institut zu Zahlen, die im
Vergleich zu anderen Schätzungen im Auftrag
der EU als hoch erschienen. Trotzdem zeigte
Sinn, dass freie Wanderungen grundsätzlich
Teil einer optimalen Transformationsstrategie
sowohl für Ost- als auch für Westeuropa sein
könnten. Er plädierte dafür, Übergangsfristen –
wenn überhaupt – so kurz wie möglich zu setzen und sie zu nutzen, um die deutschen Arbeitsmärkte anpassungsfähiger zu machen. Die
Politik hörte alle diese Botschaften nicht gern.
Sie blieb auf ihrem vorgezeichneten Kurs, handelte möglichst lange Übergangsfristen aus und
schöpfte sie bis zum letzten Tag aus.
Mögliche Probleme sah das ifo Institut bei
den Wirkungen freier Wanderung auf die öffentlichen Haushalte, wegen der Gefahr, dass
umverteilende Sozialleistungen eines Landes
wie Deutschland auf einen unbestimmten Personenkreis ausgedehnt werden, so dass das
System überfordert wird oder abgebaut werden
muss. Hans-Werner Sinn plädierte daher öffentlich dafür, die soziale Sicherung für eine
Übergangszeit nach dem »Heimatlandprinzip«
zu gestalten – als weitaus milderes Mittel im
Vergleich dazu, Migration komplett zu unterbinden. Ein solcher Umbau des Europarechts
erschien damals nicht als verhandelbar. Sinn
wiederholte diese Empfehlung später mit Nachdruck, als sich die EU daran machte, auch die
Freizügigkeitsrechte für Nichterwerbstätige zu
erweitern, bei denen dieses Risiko noch viel
größer ist. Empirisch bestätigt sich ein wach-
235
Holger Bonin
»SO WIE DIE ZUWANDERUNG LÄUFT,
LÄUFT SIE FALSCH.«
Die Migrationswelle
Holger Bonin leitet die Arbeitsmarktabteilung am Zentrum für
Europäische Wirtschaftsforschung
(ZEW) in Mannheim und lehrt
Arbeitsmarkt- und Sozialpolitik an
der Universität Kassel. Zu seinen
Hauptarbeitsgebieten zählen
die Fachkräftesicherung und der
demographische Wandel.
236
Deutschland im Spätherbst 2014 – die Asyl­
suchendenzahlen steigen, die Kommunen ächzen unter den Lasten der Aufnahme von immer mehr Flüchtlingen, und in Dresden gehen
fremdenfeindliche Pegida-Anhänger auf die
Straße. In diesem Klima fällt eine Nachricht auf
fruchtbaren Boden. In einer vom Verfasser im
Auftrag der Bertelsmann-Stiftung erstellten
Studie steht, dass die bei uns lebenden Menschen mit ausländischer Staatsbürgerschaft im
Jahr 2012 im Durchschnitt pro Kopf 3300 Euro
mehr an Steuern und Sozialbeiträgen zahlten,
als sie persönlich an Sozialtransfers in Anspruch nahmen. Die positive Zahl verbreitet
sich wie ein Lauffeuer durch die Medien, und
bald dient sie in öffentlichen Debatten um Migration als Beleg dafür, dass Zuwanderung die
deutschen Staatsfinanzen entlastet.
Die zum Teil fehlgehende öffentliche Rezeption der Studie ruft Hans-Werner Sinn auf den
Plan. Er hat am ifo schon vor gut zehn Jahren
eigene Rechnungen zu den fiskalischen Beiträ-
gen von Zuwanderern angestellt und erkannt :
Die scheinbare Entlastung des Staatsbudgets
kommt zustande, weil die nun überall zitierte
Steuer-Transfer-Bilanz die Kosten für die allgemeinen Staatsausgaben nicht enthält. In einem
Gastbeitrag für die Frankfurter Allgemeine Zeitung stellt er klar, dass sich bei Berücksichtigung sämtlicher staatlicher Aktivitäten für die
Ausländer eine Negativbilanz ergeben muss.
Dieses Minus für den Staat ist eine mit den
deutlichen Defiziten bei der ökonomischen
­Integration verbundene Tatsache, auf die auch
die Bertelsmann-Studie deutlich hinweist. Damit lässt sich der Artikel auch als Kritik an
­Medien lesen, die wissenschaftliche Befunde
durch mangelnde Differenzierung entstellen
und so dem Misstrauen der Bürger gegenüber
journalistischer Arbeit Nahrung geben.
Außerdem bedient Sinn diejenigen, die sich
angesichts der breiter werdenden Migrationsströme Sorgen machen, mit einem seiner prägnanten Merksätze : »So wie die Zuwanderung
Die ökonomisch fundierten Argumente heben Sinns Beiträge aus der oft durch Emotionen und Ressentiments geprägten Migrationsdebatte heraus. Obwohl Sinn in der Diskussion
um die fiskalischen Effekte der Zuwanderung
auch als Person ungewöhnlich scharf angegriffen wird, vermeidet er durch äußerst fairen
Umgang mit der Bertelsmann-Studie und ihrem Verfasser auch diesmal jede Unsachlichkeit. Vielmehr bleibt er – und das ist typisch für
Hans-Werner Sinn – strikt bei der Theorie und
versucht, sein auf der Clubgüter-Theorie basierendes Argument, dass jedem hinzukommenden Ausländer der durchschnittliche Aufwand
für die öffentliche Infrastruktur zuzurechnen
ist, selbst wenn der Staat kurzfristig gar nicht
mehr dafür ausgibt, auch für Laien verständlich zu machen.
Allerdings kommt auch Sinn dabei nicht um
Vereinfachungen herum. So sagt er nichts da­
zu, ob die deutsche Infrastruktur überhaupt die
optimale Betriebsgröße hat, was der Fall sein
muss, damit das von ihm ins Feld geführte
­Theorem gilt. Vor allem aber vermeidet er Hin­
weise auf Daten, die dafür sprechen könnten,
dass die Zuwanderung nach Deutschland zuletzt doch gar nicht so falsch gelaufen ist. Die
zuletzt stark verbesserte Qualifikation von
Neu­
zuwanderern und die hohen Beschäftigungsraten osteuropäischer Zuwanderer etwa
passen nicht gut zu seiner migrationspolitischen Botschaft. Vielleicht ist Hans-Werner
Sinn, wie viele exzellente Theoretiker, Skeptiker
und misstraut guten Anzeichen. Mit Sicherheit
aber weiß er, dass man die Öffentlichkeit am
besten durch eindeutige Aussagen gewinnt.
Die Migrationswelle: Hans-Werner Sinn und die Zuwanderungsdebatte
derzeit läuft, läuft sie falsch.« Damit heizt er
die hitzig geführte Diskussion um die richtige
Regulierung der Zuwanderung und um ein Zuwanderungsgesetz noch einmal an – und wird
dafür von Teilen der Medien und der Öffentlichkeit in diffamierender Weise weit an den
rechten Rand des politischen Meinungsspektrums gerückt. Dabei spielt Sinn auch jetzt nur
seine lange gefundene Rolle des migrationspolitischen Mahners, der die ökonomischen Vorteile grenzüberschreitender Mobilität selbstverständlich kennt, aber auch die möglichen
unerwünschten Begleiterscheinungen sieht
und darum vor ungesteuerter Zuwanderung
warnt.
Sinns migrationspolitische Überzeugungen
gründen sich auf eigene Untersuchungen zu
den Folgen der Erweiterung des gemeinsamen
Arbeitsmarkts nach dem EU-Beitritt der durch
niedrige Löhne und soziale Sicherungsniveaus
geprägten osteuropäischen Staaten. Seine Studien zeigen, wie durch Arbeitnehmerfreizügigkeit bei starren Arbeitsmärkten Beschäftigung
und soziale Absicherung von Geringqualifizierten unter Druck geraten können und dass
Länder wie Deutschland, die über das Staatsbudget eher stark umverteilen, Gefahr laufen,
mehr und geringer qualifizierte Migranten anzuziehen, als es ökonomisch optimal wäre. Die
von Sinn oft wiederholte Forderung, Migranten erst einmal nicht den vollen Zugang zu
staatlichen Transfers zu geben, um Zuwanderung in Arbeitslosigkeit oder den Sozialstaat zu
vermeiden, hat damit einen formal relativ einfachen, aber dennoch mächtigen theoretischen
Kern.
237
Reiner Klingholz
DEUTSCHLAND IST NICHT KANADA
Die Migrationswelle
Reiner Klingholz ist Chemiker
und Molekularbiologe, forschte
an der Uni Hamburg, war Wissenschaftsredakteur bei der ZEIT und
Geschäftsführer des Magazins
GEO. Seit 2003 ist er Direktor des
Berlin-Instituts für Bevölkerung
und Entwicklung, einer Denkfabrik
für Fragen des demographischen
Wandels.
238
Auf einer bilateralen Konferenz in Japan mit
dem bezeichnenden Namen »Imploding Po­
pulations« ist mir einmal eine interessante
­Grafik begegnet. Ein japanischer Demograph
zeigte eine Langfrist-Bevölkerungsprognose
­
für sein Land : Nach einem steilen Aufstieg bis
zur Jahrtausendwende sank die Kurve ab und
endete im Jahr 3200 bei einem einzigen Japaner. Das Erstaunliche an der Präsentation war
weniger die absurde Vorstellung von der kompletten Entleerung des Inselreiches, sondern
dass kein einziger der (überwiegend japanischen) Zuhörer in schallendes Gelächter ausbrach. In diesem Moment habe ich begriffen,
dass eine ganze Nation so überzeugt von der
Nichtvermischung mit anderen Kulturen sein
kann, dass sie lieber ihren eigenen Untergang
plant, als eine Zuwanderung zu organisieren.
Ein solches Szenario ist in Deutschland undenkbar. Auch Hans-Werner Sinn schreibt,
dass angesichts der hiesigen demographischen
Entwicklung Zuwanderung dringend notwen-
dig sei : weil wir unsere Umlagesysteme finanzieren müssen, weil unsere Unternehmen Arbeitskräfte brauchen und weil wir uns lieber
vermischen, als in einem Altersheim völkischer
Identität auszusterben.
Zuwanderung ist längst akzeptiert in Deutschland, vor allem weil die Unternehmen den
volkswirtschaftlichen Bedarf klargemacht haben. Es gibt aber auch Zwischenrufe, wonach
die Zuwanderung je nach Betrachtungsweise
ein Kostenfaktor sei, dass ohnehin immer die
Falschen kämen, dass Migranten ein Mittel für
Lohndumping seien und dass wir die Zuwan­
derung gar nicht nach den Bedürfnissen des
Landes ausrichteten. Hans-Werner Sinn hat
deshalb vorgeschlagen (und wir vom Berlin-Institut ebenso), sich am Punktesystem der Kanadier zu orientieren und Zuwanderer nach deren
Fähigkeiten und unserem Bedarf auszuwählen.
Das ist eine gute Idee – zumindest für die beste aller Welten. Doch gibt es diese Welt leider nur
in ökonomischen Theoriegebäuden. Kanada hat
weils Regionen, aus denen viele Menschen aus
verschiedensten Gründen nach Deutschland
wollen. Und dafür auch Wege finden. Deutschland ist nicht Kanada.
Deutschland hatte in der Vergangenheit
selbst Probleme damit, seine Zuwanderung zu
steuern, als es glaubte, dies tun zu können. So
kamen die Gastarbeiter als nützliche Arbeitskräfte – bis der Strukturwandel ihnen die Jobs
raubte. Was zuvor ein Auswahlkriterium war,
eine geringe Qualifikation für die Arbeit unter
Tage oder am Band von Opel, wurde nun zum
Problem. Der Anwerbestopp in den Rezessions­
jahren nach 1973 verhinderte zwar, dass weitere
Geringqualifizierte nach Deutschland kamen.
Doch der aus sozialen Gründen erlaubte Familiennachzug senkte das mittlere Qualifikationsniveau der Neuankömmlinge weiter ab.
Auch die letzte große Zuwanderungswelle
nach dem Untergang des Kommunismus entzog sich einer Auswahl nach Qualifikation : In
der Folge der Jugoslawienkriege kamen rund
350 000 Flüchtlinge aus dem kollabierten Vielvölkerstaat. Zusätzlich machten sich fast 2 Millionen Spätaussiedler aus dem einstigen Ostblock auf nach Deutschland. Für sie war die
Abstammung, nicht die Ausbildung das Willkommenskriterium.
Eine Steuerung der Zuwanderung ist also
gar nicht so leicht. Und sie dürfte auch in Zukunft nicht einfacher werden, zumal die Zahl
der Krisen im Nahen Osten und in Afrika derzeit genauso wächst wie die dortige Bevölkerung. Deutschland kann nur versuchen, Mittel
und Wege zu finden, zwischen jenen zu unterscheiden, die ein Anrecht auf Schutz und Asyl
haben, und jenen, die aus wirtschaftlichen
Gründen kommen. Deutschland kann weiter
von einer gesteuerten Zuwanderung träumen –
doch vorerst muss es sich damit beschäftigen,
die Potenziale jener optimal zu nutzen, die
o
­ hnehin kommen.
Die Migrationswelle: Hans-Werner Sinn und die Zuwanderungsdebatte
mit seinem Punktesystem jahrelang ein klares Sig­
n
­ al an Zuwanderungswillige ausgesandt. Doch
nachdem zunächst nur bestimmte Berufsgruppen angeworben wurden, war irgendwann klar,
dass sich damit nicht auf wechselhafte Nachfragen reagieren lässt. Software-Ingenieure waren
nach der Dotcom-Blase Kandidaten für die Arbeitslosigkeit. Danach warb Kanada unspezifisch
Hochqualifizierte an, in der Hoffnung, dass diese Menschen schon einen Job finden würden.
Aber auch diesen Ansatz hat die kanadische
­Regierung wieder verworfen, weil zu viele Aka­
demiker als Taxifahrer endeten. Heute kennt das
Punktesystem so viele Sonderregelungen, dass
es kaum noch zu verstehen ist. Doch bei allen
Problemen – das System ist flexibel, sorgt für
ausreichend Nachschub auf dem Arbeitsmarkt
und liefert gute Integrationsergebnisse.
Dennoch lässt es sich nicht 1 : 1 auf Deutschland übertragen, denn eine Auswahl der Zuwanderer ist hierzulande kaum möglich : Das
Gros der Migranten stammt aus Ländern der
EU, die im Rahmen der Freizügigkeitsregelung
kommen. Der nächste große Teil sind Flüchtlinge und Asylsuchende. Hier regeln Gesetze,
wer aus humanitären Gründen kommen darf
und wer nicht. Eine Auswahl nach Qualifika­
tion ist nicht vorgesehen. Der Teil der Zuwanderer, die über besondere Anwerbekriterien
wie die Blaue Karte EU nach Deutschland kommen, ist verschwindend gering. Ein Punkte­
system könnte auch künftig nur in diesem Bereich zur Wirkung kommen.
Kanada hat ganz andere Voraussetzungen :
Erstens ist das Land von zwei Ozeanen umgeben, zweitens ist es nicht Teil einer Wirtschaftsunion mit frei wählbarem Arbeitsort, und
­drittens hat es nur eine einzige Landesgrenze.
Deutschland ist Mitglied der EU mit ihren offenen Grenzen, die EU grenzt ihrerseits an Drittstaaten sowie, gepuffert durch einen kurzen
Seeweg, an Afrika und den Nahen Osten – je-
239
Herbert Brücker
IST MIGRATION EIN VERLUSTGESCHÄFT FÜR
DEN STAAT? EINE KRITISCHE WÜRDIGUNG
Die Migrationswelle
Herbert Brücker ist Professor für
Volkswirtschaftslehre an der Universität Bamberg und Forschungsbereichsleiter am Institut für
Arbeitsmarkt- und Berufsforschung
(IAB). Im Mittelpunkt seiner Forschung stehen die Ursachen und
Arbeitsmarktwirkungen internationaler Migration.
240
Hans-Werner Sinn besitzt die seltene Gabe,
wichtige politische Themen frühzeitig zu erkennen, sie theoretisch einzuordnen und seine
Ergebnisse verständlich und provokativ zu
kommunizieren. Das gilt auch für seine Beiträge zur Migration. Eines vorweg : Ich habe mich
an einigen Kontroversen mit ihm beteiligt und
bin oft zu anderen Schlussfolgerungen gelangt.
Zugleich habe ich seine Beiträge immer als intellektuelle Herausforderung empfunden und
von ihnen profitiert.
Dabei herrscht in einem wesentlichen Punkt
Einigkeit : Sinn hat immer wieder die positiven Effekte der Arbeitsmigration hervorgehoben. Er verweist darauf, dass auf gut funktionierenden Arbeitsmärkten die Einwanderung
von Niedrigqualifizierten bei Hochqualifizierten und Kapitaleigentümern Vorteile entstehen
lässt, die die Nachteile der einheimischen Niedrigqualifizierten übersteigen. Dies gilt es in Erinnerung zu rufen, wenn etwa die rechte Seite
des politischen Spektrums ihn als Kronzeugen
gegen Zuwanderung vereinnahmt oder ihm,
aus den gleichen Gründen, von anderer Seite
Ausländerfeindlichkeit unterstellt wird.
Sinns erster kontroverser Beitrag zur Migrationsforschung behandelt die Schätzung des
Migrationspotenzials im Zuge der EU-Ost­
erweiterung. Nimmt man seine Prognose wörtlich, dann müssten heute, rund zehn Jahre nach
dem EU-Beitritt, knapp 2,7 Mio. Menschen aus
den fünf größten Beitrittsländern in Deutschland leben. Tatsächlich waren es Ende 2014
1,3 Mio. Personen. Es ist allerdings nicht ganz
fair, der Studie die tatsächliche Entwicklung
gegenüberzustellen. Denn die Osterweiterung
der EU war mit langen Übergangsfristen für die
Arbeitnehmerfreizügigkeit verbunden, die von
den einzelnen Mitgliedstaaten unterschiedlich
angewendet wurden. Die so erzeugte Migra­
tionsumlenkung konnte genauso wenig anti­
zipiert werden wie die erneute Umlenkung
nach Deutschland durch den asymmetrischen
Schock der Eurokrise. Eine Prognose für die
halb weder widerlegt noch bestätigt werden.
Im Mittelpunkt der Sinn’schen Migrationsforschung stehen die fiskalischen Folgen. In
­einer Studie für das Wirtschaftsministerium
berechnete er 2001 einen negativen Beitrag der
Migrationsbevölkerung zu den öffentlichen
Haushalten und Sozialversicherungen von
1420 DM pro Kopf und Jahr. In einer Ausein­
andersetzung um die Interpretation einer Studie von Holger Bonin ermittelte er 2014 einen
negativen Beitrag von 1800 Euro pro Ausländer
und Jahr.
Ich halte diese Berechnung für zweifelhaft.
Zwar weist Sinn zu Recht darauf hin, dass eine
umfassende Betrachtung des fiskalischen Beitrags der In- und Ausländer auch die nicht
­persönlich zurechenbaren Staatsausgaben berücksichtigten muss. Man kann im Detail darüber streiten, in welchem Umfang diese Aus­
gaben durch Zuwanderung steigen und wie sie
In- und Ausländern zugerechnet werden müssen. Ich finde es aber schwer vertretbar, dass
Sinn in seinen Berechnungen die Einnahmen
einer wichtigen Residualkategorie, der sonstigen Staats­einnahmen, einseitig den Inländern
zurechnet. Er argumentiert, es handele sich um
Vermögenserlöse, die den Inländern gehörten.
Das ist aus zwei Gründen unzutreffend : Erstens umfasst diese Kategorie auch andere Positionen, etwa Rückflüsse aus Transfers und Subventionen. Zweitens tragen Ausländer ebenso
wie Inländer durch ihre Steuern und Abgaben
zum staatlichen Vermögen bei. Das kann auch
nicht durch den Verweis, dass Neuzuwanderer
dazu noch gar nicht beigetragen haben könnten, entkräftet werden : Bonin hat den durchschnittlichen Beitrag der aus­ländischen Bevölkerung, nicht der Neuzuwanderer, berechnet.
Und die lebt im Schnitt bereits 18 Jahre hier.
Bei einer symmetrischen Zurechnung der
sonstigen Staatseinnahmen schrumpft der ne-
gative Beitrag der Ausländer von 1800 Euro auf
590 Euro pro Jahr und Kopf.
Wenn wir über die fiskalischen Effekte der
Zuwanderung sprechen, verschiebt sich das Bild
ohnehin. Die fiskalische Bilanz der Neuzuwanderer ist sehr viel besser als die des durchschnittlichen Bestands der ausländischen Bevölkerung : Sie haben zu 40 % einen Hochschulabschluss und sind besser in den Arbeitsmarkt
integriert. Außerdem steigen angesichts eines
schrumpfenden Erwerbspersonenpotenzials die
Nettoerträge der Migration. Auch erhöht sich
durch Zuwanderung die Zahl der Steuerzahler,
so dass die öffentliche Pro-Kopf-Verschuldung
sinkt. Nach Bonins Studie würde unter der
­Annahme, dass die Qualifikationsstruktur der
künftigen Zuwanderer genauso schlecht wie die
des gegenwärtigen Bestands der ausländischen
Bevölkerung ist, die Nachhaltigkeitslücke der
öffentlichen Haushalte bei einer Nettozuwan­
derung von 200 000 Personen um 0,4 Prozentpunkte steigen. Wenn wir dagegen die durchschnittliche Qualifikation der Neuzuwanderer
zugrunde legen, würde sie deutlich sinken.
Zudem berücksichtigen weder Bonin noch
Sinn, dass die Einkommen der Einheimischen
durch Zuwanderung steigen. Wer wie Sinn die
positiven gesamtwirtschaftlichen Effekte betont, kann diesen Zusammenhang nicht ignorieren.
Die Schlussfolgerung, dass Migration ein
Verlustgeschäft für den Staat ist, halte ich gerade angesichts des demographischen Wandels
für gewagt. Aber ich teile Sinns Auffassung,
dass die positiven Wohlfahrtseffekte der Migration keine Selbstläufer sind, sondern von den
richtigen Anreizen und Steuerungsmechanismen abhängen. Wie diese einzuschätzen und
welche Schlüsse zu ziehen sind, wird kon­
trovers bleiben. Hans-Werner Sinn wird sich
­sicher weiter an dieser Debatte beteiligen. Ich
freue mich darauf.
Die Migrationswelle: Hans-Werner Sinn und die Zuwanderungsdebatte
EU insgesamt hat Sinn nie erstellt. Sie kann des-
241
Eckhard Cordes
MIT KARTE UND KOMPASS GEGEN DEN
DEMOGRAPHISCHEN WANDEL
Die Migrationswelle
Eckhard Cordes ist einer der profiliertesten deutschen Manager.
Er gehörte u. a. dem Vorstand der
Daimler Benz AG an und war
­Vorstandsvorsitzender der Franz
Haniel GmbH und der Metro AG.
Er ist Vorsitzender des Aufsichtsrats der Bilfinger SE und leitet den
Ost-Ausschuss der Deutschen
Wirtschaft.
242
Der demographische Wandel stellt Deutschland vor eine Vielzahl von Herausforderungen.
Zwar sind viele westliche Industriestaaten mit
dem Problem der Überalterung ihrer Bevölkerung konfrontiert, aber in Deutschland ist die
Lage besonders alarmierend : In einem Mitte
2015 von BDO und Hamburgischem WeltWirtschaftsInstitut (HWWI) veröffentlichten Rank­
ing ist Deutschland mit 8,28 Geburten je 1000
Einwohner das absolute Schlusslicht in einem
weltweiten Vergleich von 209 Ländern. Das
Verhältnis der über 65-jährigen deutschen Bevölkerung zu den 15- bis 64-Jährigen wird sich
bis 2030 im Vergleich zum Jahr 2000 verdoppelt haben. Abgesehen von den daraus resultierenden immensen Schwierigkeiten bei der Finanzierung unseres Rentensystems, stellt diese
Entwicklung auch die deutschen Arbeitgeber
vor große Herausforderungen. Schließlich
schrumpft ja die Bevölkerung im erwerbsfähigen Alter zusehends, und die Nachwuchsströme werden immer dünner.
Wie so oft war es Hans-Werner Sinn, der die
prekäre demographische Situation in Deutschland erkannte und sich nicht scheute, in diesem Kontext auch das Thema Migration – in
Deutschland insbesondere in Zeiten der »Pegida« ein heißes Eisen – öffentlich aufzugreifen.
Er forderte eine Zuwanderungspolitik, die insbesondere hochqualifizierte Migranten nach
Deutschland führt, um sowohl den demographischen Problemen als auch dem zunehmenden Fachkräftemangel in Deutschland aktiv
entgegenzuwirken. Die Verfügbarkeit qualifizierter Arbeitskräfte ist nun einmal einer der
wichtigsten Einflussfaktoren für die Standortentscheidungen multinationaler Unternehmen.
Deshalb ist die Zuwanderung hochqualifizierter Arbeitskräfte von zentraler gesellschaftlicher Bedeutung und Hans-Werner Sinns Vorschlag insofern zu begrüßen.
Doch wie ließe sich ein derartiges Vorhaben
realisieren ? Derzeit ist in Deutschland der
­Anteil an Migranten mit Hochschulabschluss
zierter Einwanderer besser auszuschöpfen. Die
Einführung des gesetzlichen Mindestlohns in
Deutschland zum 1. Januar 2015 verhindert jedoch leider eine solche Lohnflexibilität nach
unten, die nötig wäre, um geringer qualifizierte
Einwanderer gemäß ihrer (u. a. aufgrund von
Sprachbarrieren und häufig fehlendem Aus­
bildungsstandard) geringeren Produktivität zu
entlohnen. Hierzu muss erwähnt werden, dass
Arbeitnehmer aus anderen Ländern auch bei
einer geringeren Entlohnung grundsätzlich einen Anreiz hätten, nach Deutschland einzuwandern, sofern nur ihr in Deutschland zu erwartendes verfügbares Realeinkommen noch
immer höher wäre als in ihrem Heimatland.
So wichtig der Zuzug Hochqualifizierter ist :
Auch unabhängig vom Qualifikationsniveau
birgt die Zuwanderung von Arbeitskräften fundamentale Vorteile für die deutsche Wirtschaft.
Insofern sind die EU-Freizügigkeitsrichtlinie
und die Öffnung des deutschen Arbeitsmarkts
für Arbeitnehmer aus den östlichen EU-Staaten erste große Schritte in die richtige Richtung. Um die gesamtgesellschaftliche Herausforderung der Finanzierung des Rentensystems
in Zeiten einer überalternden Bevölkerung zu
gewährleisten und zudem die Produktion sowie die Forschung und Entwicklung in der
­Industrie an deutschen Standorten langfristig
zu sichern, ist jedoch dringend eine umfassendere, aktive Gestaltung der Zuwanderung nach
Deutschland erforderlich.
Ich hoffe, dass Hans-Werner Sinn auch nach
seinem wohlverdienten Eintritt in den Ruhestand nicht müde wird, den Entscheidungs­
trägern unseres Landes mit Karte und Kompass zur Seite zu stehen, wenn sich diese in den
kommenden Jahren, getrieben durch den bevorstehenden Austritt der Babyboomer aus
dem Erwerbsleben, unweigerlich intensiver mit
dem Thema Zuwanderung befassen müssen.
Die Migrationswelle: Hans-Werner Sinn und die Zuwanderungsdebatte
im internationalen Vergleich gering. Während
dieser nach Angaben der OECD beispielsweise
in Kanada und Großbritannien bei etwa 50 %
und in den USA bei rund einem Drittel liegt,
verfügt in Deutschland nur circa ein Fünftel
aller Einwanderer über einen Hochschulab­
schluss. Hier gibt es also deutlich Luft nach
! Aber Hans-Werner Sinn wäre nicht
oben Hans-Werner Sinn, hätte er nicht auch einen
konkreten Lösungsvorschlag für diese Her­
ausforderung parat : Insbesondere für Ein­
wanderer, die aus Nicht-EU-Staaten nach
Deutschland kommen möchten, schlägt er die
Einführung eines Punktesystems vor, dem
­Kriterien wie die berufliche Qualifikation, das
­Alter sowie die Sprachkompetenz von Einwanderern zugrunde liegen. Dabei müsste Deutschland keineswegs das Rad neu erfinden, kennen
wir solche Punktesysteme doch bereits aus
­vielen anderen Ländern, allen voran den USA,
Kanada und Großbritannien. Dort steuert man
bereits seit vielen Jahren erfolgreich den Migrationsstrom mit Hilfe des Qualifikationsniveaus
der Einwanderer. Gerade in Deutschland, wo
ein vergleichsweise ausgeprägter Sozialstaat
tendenziell eher gering- als hochqualifizierte
Einwanderer anlockt, erscheint die Adaption
eines solchen Punktesystems als ein logischer,
ja geradezu offensichtlicher Schritt.
Zudem wäre natürlich noch eine Reihe
­weiterer arbeitsmarktpolitischer Maßnahmen
wünschenswert, um die vorgeschlagene Migrationspolitik bestmöglich zu flankieren. Dazu
gehört aus Unternehmenssicht in erster Line
die zügigere Anerkennung ausländischer Bildungsabschlüsse in Deutschland. Ferner könnte durch eine Senkung der Lohnnebenkosten
die Anwerbung hochqualifizierter Arbeitnehmer zusätzlich erleichtert werden. Weiterhin
könnten flexiblere Löhne dabei helfen, auch
das Potenzial insbesondere niedriger qualifi-
243
Beim Munich Economic Summit
2008: ( von links nach rechts )
­Jürgen Chrobog, seinerzeit
­Vorstandsvorsitzender der
BMW Stiftung Herbert Quandt,
HWS und Olaf Scholz, damals
­Bundesminister für Arbeit und
Soziales.
HWS und eine ganze Riege von
Trägern des CES Distinguished
Fellow Awards: ( von links nach
rechts ) Ernst Fehr, Richard Blundell,
Robin Boadway, Olivier Blanchard,
Philippe ­Aghion, Bruno Frey,
­Andrei Shleifer, James Poterba
und Avinash Dixit.
Brunch im Sinn’schen Garten
zum 60. Geburtstag von HWS mit
­Wegbegleitern, Schülern und
Freunden.
244
( von links nach rechts ) Der
­damalige Bayerische Staats­
minister der Finanzen, Kurt
­Faltlhauser, der damalige DIWPräsident Klaus Zimmermann,
HWS und seine Frau ­Gerlinde
beim abendlichen Empfang der
VfS-Jahrestagung 2007 »Bildung
und Innovation« in München.
HWS begrüßt Ursula von der
Leyen, damals Bundesministerin
für Arbeit und Soziales, auf dem
Munich Economic Summit 2011.
Stefan Quandt und HWS beim
Munich Economic Summit 2006.
245
Die Welt am Sonntag, 25.07. 2010
10
IM DIENSTE DER PROFESSION:
Hans-Werner Sinn als Motor des Wandels
Meinhard Knoche
EINLEITUNG
Im Dienste der Profession: Hans-Werner Sinn
als Motor des Wandels
Im Dienste der Profession
Meinhard Knoche ist neben
Hans-Werner Sinn das zweite
­Mitglied des ifo-Vorstands und
verantwortet insbesondere die
kaufmännische Leitung des ifo
Instituts und der CESifo GmbH.
Als Honorarprofessor unterrichtet
er an der Hochschule Weihen­
stephan-Triesdorf mit Schwerpunkt Personalmanagement.
248
Seit 25 Jahren ist Hans-Werner Sinn der Öffentlichkeit als Antreiber für politischen Wandel in Deutschland und Europa bekannt. Die
Beiträge in den vorangegangenen Kapiteln belegen, wie er sich beharrlich gegen Fehlentwicklungen in der Politik stemmt, verbreitete
Denkmuster aufbricht, Meinungsführerschaft
übernimmt, Veränderungen anstößt und so
dauerhafte Spuren in der Gesellschaft hinterlassen hat. Mit unzähligen Aktionen – Büchern,
Aufsätzen, Presseartikeln, Interviews und Auftritten in Fernseh- und Radiosendungen – ist
er Millionen Menschen ein Begriff geworden,
hat Wissen vermittelt und Einstellungen geprägt – kurzum : unsere Gesellschaft verändert
wie kein anderer deutscher Ökonom vor ihm.
Weitgehend dem Blick der Öffentlichkeit
verborgen, aber ähnlich wirkungsvoll sind die
Spuren, die er im institutionellen Gefüge der
Wissenschaft nicht nur in Deutschland hin­
terlassen hat. Bei seinen wirtschaftspolitischen
Vorstößen kann man nur erahnen, wie intensiv
sie Meinungen verändert und politische und
gesellschaftliche Entscheidungen beeinflusst
haben; die institutionellen Veränderungen dagegen sind sicht- und messbare Realität ge­
worden. In welch vorausschauender Weise er
wissenschaftliche Institutionen aufgebaut oder
verändert und sich selbst als »Marke« in den
Medien etabliert hat, schildern die Autoren der
Beiträge dieses Kapitels. Als Ordinarius an der
Ludwig-Maximilians-Universität München hat
er das Center for Economic Studies (CES) gegründet und zu einem internationalen Treffpunkt für Ökonomen aus aller Welt gemacht,
unter seiner Präsidentschaft entwickelten sich
das ifo Institut von einem wissenschaftlichen
Nobody zum europaweit forschungsstärksten
Wirtschaftsforschungsinstitut und das CESifoForschernetzwerk zu einem der weltweit größten Ökonomennetzwerke seiner Art; sowohl
beim Verein für Socialpolitik als auch beim
­International Institute for Public Finance stieß
er als Präsident tiefgreifende institutionelle Re-
tituten klappt nicht nur in München hervorragend.
Diese Vorbildwirkung gilt nicht nur für den
von Hans-Werner Sinn betriebenen institutionellen Wandel, sondern auch für sein persön­
liches Engagement in der Öffentlichkeit. Seine
beherrschende Präsenz in den Medien ist nach
wie vor Vorbild und Ansporn für andere Ökonomen, sich in die öffentliche wirtschaftspolitische Debatte einzumischen. Dass es heute eine
neue Generation ausgezeichneter Ökonomen
gibt, die in den Medien zu Wort kommen, ist
ohne das Vorbild HWS kaum denkbar.
Hans-Werner Sinns Bedeutung als einer der
forschungsstärksten deutschen Ökonomen,
einflussreichster Politikberater und akademischer Unternehmer ist kein Zufall. Er ist Volkswirt mit Leib und Seele, der sich und seiner
Profession die öffentliche Geltung und den
Einfluss verschaffen will, die sie in anderen
Ländern längst haben. Diesem Leitmotiv folgt
er konsequent und vereint dabei entscheidende
zehn »P« in einer Person : Als Professor und
wissenschaftlicher Perfektionist begeistert er
nach wie vor die Studenten für die Ökonomie,
und als Politikberater und Publizist macht er
die ökonomische Theorie für die politische
Praxis nutzbar. Er ist Protagonist und Prophet,
indem er neue Themen aufgreift und auf
­Chancen und Gefahren hinweist. Dabei agiert
er als PR-Profi, Provokateur und Polarisierer,
mit dem Anliegen, wachzurütteln und Sensibilität zu wecken. Als Präsident des ifo Instituts
ist er ein leuchtendes Beispiel für andere Institutspräsidenten, sich nicht in den Niederungen
des Wissenschaftsmanagements zu verzetteln,
sondern sich um das Große und Ganze zu
kümmern und die präsidiale Bühne zu nutzen,
um Einfluss auf politische und gesellschaftliche
Entwicklungen auszuüben. P10 – ein Phänomen !
Im Dienste der Profession: Hans-Werner Sinn als Motor des Wandels
formen an. Dadurch wurden auf der einen Seite die Rahmenbedingungen für die dort tätigen
Wissenschaftler verbessert und deren Output
vervielfacht; auf der anderen Seite wurden die
Möglichkeiten für den weltweiten Ideenaustausch unter Ökonomen wesentlich ausgebaut.
Die Veränderungsprozesse haben nicht nur die
Schlagkraft dieser Institutionen auf ein neues
Niveau gehoben, sondern auch wesentlich da­
zu beigetragen, dass sich das System der wirtschaftswissenschaftlichen Forschung, Lehre
und Nachwuchsförderung in Deutschland insgesamt grundlegend gewandelt hat. So war der
Turnaround des ifo Instituts, der auch die
­ambitionierten wissenschaftspolitischen Zielsetzungen des Wissenschaftsrats aufgriff, die
Blaupause für andere Institutionen, ebenfalls
konsequent auf wissenschaftliche Exzellenz,
gesellschaftliche Relevanz und Internationalität zu setzen. Es hat ein regelrechter Umbruch
der deutschen Wirtschaftsforschung stattgefunden : Waren noch Mitte der 1990er Jahre die
Wirtschaftsforschungsinstitute in den Augen
der Universitätsprofessoren die verlängerte,
von ökonomischer Theorie weitgehend unbeleckte Werkbank der Ministerien, waren die
Ökonomen an den Universitäten für die Wirtschaftsforschungsinstitute die theoretischen
Bleistiftspitzer, die von Wirtschaftspolitik keine Ahnung hatten. Dieser Graben ist zugeschüttet : Alle deutschen Wirtschaftsforschungsinstitute werden heute von ausgezeichneten,
forschungsstarken und international sichtbaren Ökonomen geleitet und sind attraktive Arbeitgeber auch für den Ökonomennachwuchs.
Beim wissenschaftlichen Output auf dem Gebiet der VWL hat insbesondere das ifo Institut
die Universitäten im deutschsprachigen Raum
eingeholt, und die Zusammenarbeit zwischen
den volkswirtschaftlichen Fakultäten und den
außeruniversitären Wirtschaftsforschungsins-
249
Robert Solow
EIN MUSTERBEISPIEL INSTITUTIONELLEN
UNTERNEHMERTUMS
Im Dienste der Profession
Robert Solow lehrte von 1950 bis
1995 am MIT und ist nun Robert K.
Merton Scholar der Russell Sage
Stiftung. Er erhielt den Wirtschafts­
nobelpreis 1987, die National Medal
of Science 1994 und die Freiheitsmedaille des Präsidenten der USA
2015. Er ist Mitglied im Orden Pour
le Mérite.
250
Institution Building, der Aufbau und die Weiter­
entwicklung von Institutionen, ist ein schwieriger und anstrengender Prozess. Das weiß jeder,
der es je selbst einmal versucht hat oder es aus
nächster Nähe beobachten durfte. Meine Frau
besaß einst ein T-Shirt, bedruckt mit einem
tiefgründigen Ausspruch, den man Jean-Paul
Sartre zuschreibt : »Bei einem Fußballspiel verkompliziert sich alles durch die Anwesenheit
der gegnerischen Mannschaft.« Ich habe keine
Ahnung, ob diese Zuschreibung authentisch
ist, aber ich füge hinzu, dass das Institution
Building komplizierter als Fußball sein muss,
da bereits die bloße Anwesenheit der eigenen
Mannschaft oftmals beabsichtigte oder unbeabsichtigte Schwierigkeiten für denjenigen erzeugt, der versucht, eine Institution aufzubauen oder neu auszurichten. Das ist der Grund,
weshalb ich mich dazu entschlossen habe,
Hans-Werner Sinns Vorstellungskraft, Fähigkeit und Entschlossenheit bei der Errichtung
der uns heute bekannten CESifo-Gruppe Aner-
kennung zu zollen und dabei alle daran zu erinnern, welche Bedeutung diese Leistung nicht
nur für die Wirtschaftswissenschaft in München, sondern für die deutsche Wirtschaftswissenschaft insgesamt besitzt. Natürlich kann ich
dabei lediglich die Sicht eines interessierten
und sympathisierenden Außenseiters beschreiben, was allerdings keineswegs ein unwichtiger
oder gar irrelevanter Standpunkt ist.
Ich denke 20 Jahre zurück an die Mitte der
1990er Jahre. Hans-Werner Sinn ist schon Professor an der Ludwig-Maximilians-Universität
und bereits ambitioniert, in der Wirtschaftswissenschaft etwas aufzubauen. Es gibt einige
herausragende deutsche Ökonomen, aber kein
wirkliches Zentrum aktiver ökonomischer
Forschung, das auf der internationalen Bühne
einen deutlichen Fußabdruck hinterlässt. Das
Institut für Weltwirtschaft in Kiel hat zwar
eine lange Tradition, ist aber weithin nicht als
­Quelle oder Treffpunkt neuer Ideen bekannt.
Das ifo Institut war fast ausschließlich wegen
Sprache veröffentlicht. Das CESifo-Netzwerk
entstand und machte München zu einer legitimen Konkurrenz zum Centre for Economic
Policy Research (CEPR) in London und zum
National Bureau of Economic Research (NBER)
in Cambridge. München gesellte sich damit
zu Paris, Barcelona und Toulouse als ein maß­
gebliches, googelnswertes Zentrum ökonomischen Gedankenguts auf dem europäischen
Kontinent.
Es ist wirklich nicht möglich, sich den Verlauf dieser Transformation ohne die Willenskraft, die Energie und die intellektuelle Stärke
Hans-Werner Sinns vorzustellen. Dies war kein
zufälliger oder sich aus sich selbst heraus entwickelnder Prozess. Ich denke, dass Hans-Werner Sinn von Anfang an eine zumindest un­
gefähre Vision eines künftigen Zielzustands
vor Augen hatte. Eine Vision, die vielleicht
nicht alle Details umfasste, aber sicherlich die
Grundidee von dem enthielt, was dem heu­
tigen CESifo-Komplex sehr ähnlich gewesen
sein muss : ein auch aus internationaler Sicht
effektives, verflochtenes und vertikal integriertes Set an Aktivitäten, die von grundlegender
akademischer Lehre und Forschung bis hin zur
öffentlichen Diskussion der aktuellen finanzwissenschaftlichen Themen in Bezug auf die
öffentlichen Ordnung und Staatstätigkeit reichen sollten.
Und all dies wurde erreicht, während HansWerner Sinn auch weiterhin über die Wirtschaftswissenschaft im Allgemeinen und insbesondere über die deutsche Ökonomie
nachdachte und starke Positionen zu diskus­
sionswürdigen politischen Problemen einnahm. Dies ist ein außergewöhnliches Zeugnis
von Anstrengung und Leistung.
Im Dienste der Profession: Hans-Werner Sinn als Motor des Wandels
seines »Konjunkturbarometers« geläufig, steuerte aber nur wenig bis gar nichts zur makroökonomischen Forschung oder zur Konjunkturtheorie bei.
Wenn ich mich recht entsinne, hatte HansWerner Sinn schon damals eine Seminarreihe
unter dem Dach des neu gegründeten Center
for Economic Studies ins Leben gerufen und
bereits damit begonnen, Redner, Berater und
Teilnehmer anderer deutscher und europäischer Universitäten und, soweit möglich, sogar
von weiter her einzuladen. Im Jahr 1994 hatte
er etwas begonnen, woraus später die Vortragsreihe »Munich Lectures in Economics« wurde,
und er startete sie mit dem brillant ausgewählten Avinash Dixit als erstem Vortragenden.
Dies war ganz und gar kein Routineakt akademischer Arbeitsbeschaffung. Tatsächlich handelte es sich um ein Stück akademischen Unternehmertums. Geschickt eingefädelt, brachte
es München auf die Weltkarte der Wirtschaftswissenschaft. Schon die Tatsache, dass so viele
derer, die die Munich Lectures hielten, eine
führende Stellung auf den Gebieten der Politökonomik und der Finanzwissenschaft innehatten, lässt leicht erkennen, welchen persön­
lichen Einfluss Hans-Werner Sinn ausübte.
Dann, im Jahr 1999, wurde er Präsident des
ifo Instituts, und es ergab sich die Gelegenheit,
eine neue kombinierte Institution größeren
Ausmaßes zu schaffen. Was folgte, war eine
wahrlich innovative Episode, ein Musterbeispiel institutionellen Unternehmertums, falls
es ein solches überhaupt je zuvor gegeben hatte. Das Programm des ifo Instituts wurde reformiert, so dass es fortan Konjunkturforschung
der modernen Art umfasste. Die wissenschaftliche Fachzeitschrift CESifo Economic Studies
wurde ins Leben gerufen und in englischer
251
Hans Zehetmair
EIN GLÜCKSGRIFF NICHT NUR FÜR BAYERN
Im Dienste der Profession
Hans Zehetmair war von 1986 bis
2003 Staatsminister in der Bayerischen Staatsregierung und von
1993 bis 1998 Stellvertretender
Bayerischer Ministerpräsident. Von
2004 bis 2014 war er Vorsitzender
der Hanns-Seidel-Stiftung. Er ist
Vorsitzender des Rates für deutsche Rechtschreibung.
252
Dass es 1984 gelungen ist, Hans-Werner Sinn
an die Ludwig-Maximilians-Universität München zu holen, erwies sich als ausgesprochener
Glücksfall. Die Berufung, ausgesprochen noch
durch meinen Vorgänger Hans Maier, hat maßgeblich dazu beigetragen, dass München in den
ökonomischen Wissenschaften, um mit Thomas Mann zu sprechen, »leuchtete« und seither
ungebrochen leuchtet.
Die Mitarbeiter im Ministerium mussten
seinerzeit all ihr Verhandlungsgeschick auf­
bieten, um Hans-Werner Sinn den Gang von
Mannheim nach München schmackhaft zu
machen, aber am Ende stand ein Angebot, dem
man nicht widerstehen konnte. Und wir wissen
heute : Der Einsatz hat sich gelohnt. Hans-Werner Sinn hat nicht nur an seinem Lehrstuhl für
Nationalökonomie und Finanzwissenschaft,
sondern vor allem auch durch die Übernahme
der Leitung des Münchner ifo Instituts im Jahr
1999 Herausragendes geleistet. Besonders verdienstvoll war sein Einsatz schon während der
1990er Jahre für die Gründung des Center for
Economic Studies (CES), das die internatio­
nale Sichtbarkeit der Münchner Nationalökonomie weiter gesteigert hat und vor allem auf
dem Gebiet der Nachwuchspflege erfolgreich
aktiv ist.
Die Situation des ifo Instituts war seinerzeit
nicht leicht. Der Wissenschaftsrat hatte 1998
das Institut ausgesprochen negativ evaluiert
und es vom Wirtschaftsforschungsinstitut zur
Serviceeinrichtung »abgestuft«. Hans-Werner
Sinn hat unmittelbar nach seinem Amtsantritt
mit großem Erfolg gegengesteuert, das Institut
mit seiner fachlichen Kompetenz geschickt
weiterentwickelt und es zu einer weithin sichtbaren, auch über Fachkreise hinaus bekannten
Einrichtung gemacht, ich möchte ohne Übertreibung sagen : zum führenden Wirtschaftsforschungsinstitut Deutschlands. 2002 wurde
das Institut »an-Institut« an der LMU, die
­Evaluationsberichte der Leibniz-Gemeinschaft
2006 und 2009 gerieten zum Triumph und be-
den Weg des für richtig Erkannten geht. Hut ab
vor diesem Mut zur öffentlichen, auch streit­
baren Auseinandersetzung !
Sie erwarten an dieser Stelle jetzt von einem
Altphilologen nicht, dass er einzelne Thesen,
Standpunkte und Äußerungen Hans-Werner
Sinns fachlich kommentiert; davon bin ich als
ökonomischer Laie weit entfernt. Was ich aber
glaube beurteilen zu können, ist die Leistung,
die er für die Sichtbarkeit Münchens, Bayerns
und Deutschlands in der wirtschaftswissenschaftlichen Forschung erreicht hat, und diese
Leistung ist nicht hoch genug zu schätzen. Wir
brauchen mehr von seinem Schlag !
Wenn Hans-Werner Sinn nunmehr in den
Ruhestand geht, bedeutet das mehr als nur einen routinemäßigen Wechsel auf einer Posi­
tion. Für die von ihm geleiteten Forschungsinstitutionen ist das ein gravierender Einschnitt,
das Ende einer Ära. Aber ich bin mir sicher,
dass wir auf seinen Rat und seine Expertise
auch künftig nicht verzichten müssen und er
seine Stimme weiterhin immer dann einbringen wird, wenn es um die wirtschaftliche Zukunft unseres Landes geht.
In diesem Sinne wünsche ich Ihnen, lieber
Herr Professor Sinn, einen guten Eintritt in die
neue Lebensphase, Gesundheit, vielleicht etwas
mehr Zeit für die Familie, aber auch weiterhin
viel Energie für Ihre Beiträge zur öffentlichen
Debatte !
Im Dienste der Profession: Hans-Werner Sinn als Motor des Wandels
stätigten die Impulse, die Hans-Werner Sinn
dem Institut gegeben hat.
Überflüssig zu betonen, dass Hans-Werner
Sinn einen Bekanntheitsgrad erreicht hat, der
weit über den Wirkungsbereich eines Hochschullehrers hinausgeht, der in der Fachwelt zu
den meistzitierten Vertretern seines Fachs gehört. Unzählige Auftritte in den Medien, Kommentare zu aktuellen wirtschaftspolitischen
Ereignissen, Gutachten und Beratung der politischen Spitzen des Landes, das alles vereint
Hans-Werner Sinn mit fachlicher Seriosität
und internationaler Anerkennung seiner Forschungsarbeit. Zu nennen sind auch seine an
die breite Öffentlichkeit gerichteten Bücher
zu jeweils aktuellen volkswirtschaftlichen Themen. Er ist damit das, was ich einen Wissenschaftskommunikator im besten Sinne nennen
möchte : Ein Wissenschaftler, der sich nicht in
seiner Denkerstube verkriecht, sondern es versteht, die Öffentlichkeit für seine Arbeit zu begeistern, Interesse für Fragen der Forschung
gerade bei jungen Leuten zu wecken. Und der
dabei nicht der Versuchung erliegt, das Niveau
und den Tiefgang der Gedanken auf dem Altar
der Popularität zu opfern.
Sinns Thesen sind nicht immer bequem, er
eckt gern an, provoziert. Aber nicht um des Effekts und der Schlagzeile willen : Dahinter stecken eine Mission, eine Geradlinigkeit und
­Authentizität, die sich nicht einem mutmaßlichen Mainstream anpasst, sondern konsequent
253
Bernd Huber
HANS-WERNER SINN: HEITERES UND ERNSTES
Im Dienste der Profession
Bernd Huber ist Professor für
Finanzwissenschaft und seit 2002
Präsident der Ludwig-MaximiliansUniversität München. Seit 1999 ist
er Mitglied des Wissenschaftlichen
Beirats des Bundesministeriums
der Finanzen.
254
Das erste Mal habe ich Hans-Werner Sinn Mitte der 1980er Jahre erlebt, als ich Student in
Gießen war und er dort den Lehrstuhl für Finanzwissenschaft vertrat. Was war das für eine
neue, faszinierende Art der Finanzwissenschaft,
die er uns beibrachte ! Theoretisch fundiert,
sehr stringent, aber immer mit dem Anspruch,
aus der Analyse auch konkrete wirtschaftsund finanzpolitische Schlussfolgerungen zu
­gewinnen. Und was für ein Dozent ! Enthusiastisch, schwungvoll und mit großer Überzeugungskraft ! Und wenn man etwas nicht begriff,
erklärte er es noch einmal, und am Ende leuchtete einem von der Tafel ein orangefarben
schraffierter Wohlfahrtsgewinn entgegen !
Wie nur wenige hat Hans-Werner Sinn die
Finanzwissenschaft in Deutschland – aber auch
international – mit vielen richtungsweisenden
Beiträgen geprägt. Er ist einer der Großen des
Faches. Dabei ist es interessant, wie er in vielen
seiner Beiträge Neuerung und Tradition verbindet. In seinem bahnbrechenden Werk zur
Kapitaleinkommensbesteuerung bewegt er sich
an der Spitze der internationalen wissenschaftlichen Diskussion, wählt aber die Form der
klassischen Monographie.
Der Finanzwissenschaft hat Hans-Werner
Sinn – wie einer alten Liebe – immer die Treue
gehalten, trotz seiner vielfältigen sonstigen Aktivitäten. So hatte er noch vor wenigen Jahren
den Vorsitz der internationalen Fachorganisation, des International Institute of Public Finance, übernommen. Und seine Arbeiten, sein
Enthusiasmus und die Faszination, die er ausübt, haben viel dazu beigetragen, dass viele
von uns Jüngeren Ende der 1980er, Anfang der
1990er Jahre in die Finanzwissenschaft eingestiegen sind.
Das ist lange her, aber schon damals war
Hans-Werner Sinn eine Legende; viele Geschichten rankten sich um ihn, seine Ideen,
­seinen Arbeitseifer und seine Brillanz. Besonders beliebt war eine – vermutlich erfundene –
Anekdote über seine gemeinsame Assistenten-
Dabei scheute er sich auch früher schon
nicht, sich mit bedeutenden Persönlichkeiten
anzulegen. Ich kann mich gut an eine Runde
erinnern, in der Hans-Werner Sinn ein Papier,
das er verteilt hatte, vorstellte. Nach etwa
15 ­Minuten wandte er sich an einen der Zu­
hörer, einen hochrangigen Politiker : »Herr
­Minister, wir sind auf Seite 14, bitte schlagen
Sie die Seite auf, damit Sie der Diskussion folgen können.« »Ja, natürlich.« Antwortete der
­Minister und blätterte folgsam auf Seite 14.
Mit der Präsidentschaft des ifo Instituts übernahm Hans-Werner Sinn im Jahr 1999 eine
neue, große Aufgabe. Bei all seiner Präsenz in
den Medien wird dabei leicht über­sehen, dass er
in den vergangenen 15 Jahren das ifo zu einem
herausragenden Wirtschaftsforschungsinstitut
gemacht hat, mit großer nationaler wie internationaler Strahlkraft. Aber natürlich stehen beim
ifo Institut vor allem seine engagierten, mitunter provokanten Beiträge zur wirtschaftspolitischen Diskussion im Zentrum der öffentlichen
Aufmerksamkeit. Ich habe in diesen Jahren oft
seinen Mut und die Konsequenz, mit der er für
seine Positionen streitet, bewundert.
Hans-Werner Sinn – das ist ein großer Mann
und Wissenschaftler mit einer außergewöhn­
lichen Karriere und einer herausragenden
­Lebensleistung. Auch wenn er sich nun vorgenommen hat, zukünftig mehr im Garten seines
schönen Hauses in Italien zu arbeiten, wird er
sicher weiter wissenschaftlich und publizistisch
aktiv bleiben. Denn einen Garten, der groß genug wäre, einen Hans-Werner Sinn auszulasten, den gibt es nicht.
Im Dienste der Profession: Hans-Werner Sinn als Motor des Wandels
zeit mit Klaus F. Zimmermann in Mannheim.
Beide waren (und sind) äußerst fleißige Wissenschaftler. Als Klaus Zimmermann eines
Abends gegen acht Uhr seine Tasche zu packen
begann, fragte ihn Hans-Werner Sinn deswegen ganz überrascht : »Klaus, du gehst schon ?«
Antwort Zimmermann : »Aber Hans-Werner,
weißt du denn nicht, ich habe diese Woche
doch Urlaub.«
Aber das Œuvre und das Wirken von HansWerner Sinn gehen weit über die Finanzwissenschaft hinaus : In München hat er Anfang der
1990er Jahre das Center for Economic Studies
(CES) gegründet, den Generationswechsel der
volkswirtschaftlichen Fakultät mitgestaltet und
viele Reformen angestoßen. Aber : bei allem
Erneuerungswillen immer der Respekt vor
­
der Tradition und der Geschichte des Faches.
Das Hans-Möller-Seminar der volkswirtschaftlichen Fakultät ist hierfür ein schönes Beispiel.
Mit seiner Energie und seiner Überzeugungskraft hat er auch in der Fachgesellschaft
der Ökonomen in Deutschland, dem ehrwürdigen Verein für Socialpolitik, sofort, nachdem
er 1997 den Vorsitz übernommen hatte, einen
grundlegenden Reformprozess eingeleitet. Um
solche Veränderungen durchzusetzen, hilft
ihm neben seiner intellektuellen Brillanz und
seinem Charme vor allem seine schier unerschöpfliche Energie. Wenn man selber nach einer langen Diskussion eigentlich nur noch das
Ende herbeisehnt, blüht Hans-Werner Sinn auf
und setzt seine gesamte Beredsamkeit ein, um
auch die letzten verbliebenen Zweifel an seiner
Argumentation auszuräumen.
255
Agnar Sandmo
FÜHRUNG DURCH VORBILD
Im Dienste der Profession
Agnar Sandmo ist emeritierter
Professor der Volkswirtschafts­
lehre an der Norwegian School of
Economics in Bergen. Er forschte
zu ökonomischer Unsicherheit,
Finanzwissenschaft, Umweltökonomik und ökonomischer Ideengeschichte. Sein jüngstes Buch ist
Economics Evolving, Princeton 2011.
256
Die Wege von Hans-Werner Sinn und mir begannen sich in den späten 1970er Jahren zu
kreuzen, als er noch an der Universität Mannheim war. Die Begegnungen wurden regelmäßiger, als er nach München ging und 1991 das
Center for Economic Studies (CES) gründete.
Ich wurde damals Mitglied des Wissenschaft­
lichen Beirats des CES und blieb es bis 2009,
die letzten acht Jahre als Vorsitzender. In dieser
Zeit erlebte ich den Aufbau und die Entwicklung des CES mit, die eng mit dem akademischen Profil und der Initiative seines Leiters
verknüpft waren. Später erlaubte mir meine
Position am Ring einen Blick auf das ganze
C
­ ESifo, aber ich hoffe auf Verständnis, dass ich
meine Schilderung auf das CES konzentriere.
Die beachtliche Entwicklung, die das CES
vor und nach der engen Verzahnung mit dem
ifo Institut nahm, wird in anderen Beiträgen
dieses Buches beschrieben. Ich möchte dazu
nur anmerken, dass die stärkste Eigenschaft
des CES als Forschungsinstitut sein Anspruch
war, Grundlagenforschung mit Politikanalyse
zu verbinden. Eine weitere Besonderheit war
die Entwicklung des CES zu einem Drehkreuz
der europäischen Wirtschaftsforschung. Beides wäre ohne Hans-Werner Sinns starke Leitung unmöglich gewesen. Diese Leitung war
doppelter Natur. Ein guter Leiter kann durch
weises, mit einer starken Zukunftsvision gepaartes Management, aber auch als Vorbild
führen. Hans-Werner Sinn hat beides getan. Im
Folgenden beleuchte ich besonders die zweite
Dimension seiner Leitung.
Während ich Hans-Werner bei seiner Arbeit
als Erbauer eines Imperiums – ich nutze dieses
Wort in einem rein positiven Sinn ! – zusah,
war ich von Bewunderung, aber auch, zu­
mindest in den frühen Jahren, von Verwunderung erfüllt. Denn der junge Ökonom, den ich
vor fast 40 Jahren kennen lernte, schien mir
nicht für eine solche Karriere bestimmt. Man
denke an seine frühen Forschungsinteressen :
Er schrieb seine Diplomarbeit zum Marx’schen
Wirtschaftstheorie besitzt und davon überzeugt
ist, dass sie denjenigen, die nach einer besseren
Wirtschaft und Gesellschaft streben, viel zu
bieten hat, zwangsweise inspirierend auf junge
Ökonomen.
Hans-Werner hat viel zur Förderung junger
Ökonomen getan. Gleichzeitig ist es ein wich­
tiges Merkmal seiner Aktivitäten, dass er auch
ein scharfes Auge für die Beiträge älterer Ökonomen hat. Dies zeigt sich in der Aufmerksamkeit, die er in seinen Schriften den Arbeiten
früherer Generationen entgegenbringt, und er
hat das CES nicht nur zu einem wichtigen Treffpunkt junger Forscher, sondern auch zu einem
Ort der Interaktion zwischen den jungen und
den nicht mehr so jungen Forschern gemacht.
Ein schönes Beispiel dafür ist eine Konferenz
im Jahr 1998, auf der es eine Diskussion zwischen zwei großen alten Herren der Finanz­
wissenschaft gab : James Buchanan und Richard
Musgrave. Sie präsentierten ihre alternativen
Sichtweisen zur Natur der Finanzwissenschaft
und die richtige Einstellung von Ökonomen
zum Staat – ergänzt durch aufschlussreiche
Kommentare des Auditoriums und von HansWerner. Das Buch, das aus diesen Vorträgen
hervorging (Public Finance and Public Choice,
1999), sollte von jedem Finanzwissenschaftler
gelesen werden, der nicht nur schlau, sondern
auch weise werden will. Es belegt, dass das CES
nicht nur neue Ergebnisse, sondern auch die
tiefe Reflexion des Fachs vorantreibt.
Eine interessante Seite des Altwerdens ist,
dass man jungen bekannten Menschen dabei
zusieht, wie sie sich dem Ruhestand nähern. Im
Falle Hans-Werners werde ich den »Ruhestand« jedoch definitiv nicht ganz für bare
Münze nehmen. Man wird seinen formalen
Rückzug aus einigen Positionen zur Kenntnis
nehmen müssen. Aber dass er sich aus der ökonomischen Forschung und Debatte zurückzieht, ist undenkbar.
Im Dienste der Profession: Hans-Werner Sinn als Motor des Wandels
Gesetz vom tendenziellen Fall der Profitrate
und befasste sich in seiner Doktorarbeit mit
der puren Entscheidungstheorie unter Unsicherheit. Die Wahl des ersten Themas reflektierte das in den 1960er und 1970er Jahren starke Interesse an marxistischen Ideen. Das zweite
galt damals als heißes Forschungsthema, das
viele Herausforderungen für begabte Theoretiker bot. Aber keines der beiden Themen schien
relevant zur Anbahnung einer Karriere als einflussreicher Akteur auf dem Parkett der politökonomischen Debatte. Es waren Themen, die
zwar für Aufregung in akademischen Seminaren sorgten, aber kaum bei einem größeren Publikum.
Meine Sicht auf Hans-Werners akademisches Profil änderte sich, als ich seine Habili­
tationsschrift Kapitaleinkommensbesteuerung.
Eine Analyse der intertemporalen, internationalen und intersektoralen Allokationswirkungen
las. Es war noch immer ein Theoriebuch, jedoch auf eine angewandtere und politikrelevantere Art, und sie begründete seinen Ruf als
jemand, der Resultate von höchster wirtschafts­
politischer Relevanz produzierte. Diese Kombination aus Theorie und Anwendungsbezug
brachte Hans-Werner mit ans CES. Er legte
diese Verbindung nicht nur bei der Wahl ins­
titutioneller Forschungsthemen und der Auswahl seiner Mitarbeiter und Besucher zugrunde, sondern setzte auch seine eigene Arbeit
entlang dieser Linien fort, indem er seine Fähigkeiten als Theoretiker und als Politikana­
lytiker nutzte, um eine Reihe hochrelevanter
Themen aufzugreifen. Beispiele sind seine Bücher über die Wiedervereinigung (gemeinsam
mit seiner Frau Gerlinde), Globalisierung, die
Eurokrise und die globale Umwelt. Nicht jeder
Ökonom kann von sich erwarten, so viele Bücher und Artikel zu einem so breiten Spektrum
verfassen zu können. Dennoch wirkt das Beispiel von jemandem, der eine Leidenschaft für
257
Alfons Weichenrieder
DAS CES ALS BAUSTEIN DER
INTERNATIONALISIERUNG UND
NACHWUCHSFÖRDERUNG
Im Dienste der Profession
Alfons Weichenrieder lehrt an der
Goethe-Universität Frankfurt, ist
Gastprofessor an der Wirtschaftsuniversität Wien, Forschungs­
professor am ifo, Mitglied des
Wissenschaftlichen Beirats beim
BMF und Managing Editor des
­FinanzArchiv. Er promovierte 1995
unter der Betreuung von HansWerner Sinn.
258
Anfang der 1990er Jahre war die deutsche
Volkswirtschaftslehre vielfach noch so organisiert, als ginge es darum, sich von der Außenwelt und dem Nachwuchs bestmöglich abzuschotten. Als ich zu dieser Zeit als Doktorand
in den Verein für Socialpolitik, den Verband
der Volkswirte im deutschsprachigen Raum,
aufgenommen werden wollte, um auf der Jahrestagung vorzutragen, bedurfte es dreier Empfehlungsschreiben von bereits etablierten Mitgliedern. Zwei davon durften nicht der eigenen
Universität angehören. Für einen jungen Forscher war es damals um ein Vielfaches einfacher, in die American Economic Association
aufgenommen zu werden als in das deutsche
Äquivalent.
Dass ich überhaupt externe Professoren
kannte, die ich um Empfehlungsschreiben ansprechen konnte, lag an dem im Jahr 1991 errichteten Center for Economic Studies (CES),
dessen Gründungsdirektor Hans-Werner Sinn
war. Das CES brachte seit seiner Gründung
nicht nur etwa 30 internationale Forscherinnen und Forscher jährlich in Kontakt mit dem
Münchener Fachbereich und den dortigen
Doktoranden wie mich, sondern auch einige
deutsche Forscher als mögliche Ansprechpartner.
Seit nunmehr 25 Jahren geben die Gäste
über Vorträge und Minikurse den Doktoranden eine Vorstellung von der aktuellen Forschungsfront auf verschiedensten Gebieten.
Über die Jahre ist mit den Besuchen der Gastwissenschaftler ein Netzwerk von über 1000
Mitgliedern aus den verschiedensten Ländern
entstanden. Die Area Conferences sorgen dafür,
dass das CES und das ifo Institut eine gewisse
Heimatbasis für all diese Forscher darstellen.
Das CES als internationales Institut für Gastforscher wurde als Idee geboren, um HansWerner Sinn trotz eines Rufs nach Bern in
München zu halten. Als Gründungsdirektor
mit starken Kontakten nach Nordamerika, die
u. a. in zwei Auslandsjahren in Kanada gewach-
der wichtigste Rohstoff einer Dissertation sind,
waren daher Gold wert, und die Erkenntnis,
dass Ideen selten im stillen Kämmerlein oder
beim Abarbeiten einer starren Gliederung,
aber sehr häufig in der ungezwungenen Diskussion und bei Begegnungen mit anderen
Forschern entstehen, ebenso.
Aus den internationalen Kontakten des CES
erwuchsen auch wichtige Chancen für die
Habilitanden. Und Hans-Werner Sinn legte
­
höchsten Wert darauf, dass sie ergriffen wurden. Es gibt wohl kaum einen der vielen Habi­
litanden, die von Sinn gefördert wurden, der
nicht ein Auslandsjahr an einer renommierten
Universität verbracht hätte.
Das CES war sicher nicht das Ende einer
notwendigen Entwicklung zu mehr Interna­
tionalisierung. Aber es brachte entscheidende
Fortschritte am Standort München und setzte
ein Beispiel für andere Orte. Inzwischen wird
an vielen deutschen Fachbereichen der Nachwuchs in Graduiertenschulen gefördert, und
auch die Aufnahme junger Forscher in den
Verein für Socialpolitik wird heutzutage nicht
mehr behindert, sondern aktiv gefördert. Auch
an dieser Öffnung hatte Hans-Werner Sinn
maßgeblichen Anteil. Als dessen Vorstand
(1997 – 2000) führte er ein, dass der Verein für
Socialpolitik Vorträge seiner jungen Mitglieder
auf ausländischen Konferenzen mit einer pauschalen Reisekostenprämie fördert. Dies machte den Verein für junge Forscher deutlich attraktiver und verband in besonders effektiver
Weise die Internationalisierung und die Nachwuchsförderung miteinander. Internationalisierung und Nachwuchsförderung : Beide Ziele
waren über lange Jahre hinweg wichtige Grundanliegen von Hans-Werner Sinn.
Im Dienste der Profession: Hans-Werner Sinn als Motor des Wandels
sen waren, war er eine Idealbesetzung. Für viele Münchener Doktorandengenerationen war
Sinn ein Vorbild, wie man internationale Kontakte pflegt und Diskussionen führt. Er er­
leichterte es zu erkennen, welche Konferenzen
und Plattformen relevant sind. Mit den CES
Munich Lectures entstand eine Reihe von Vorträgen und Büchern, die seinesgleichen sucht
und Forscher wie Avinash Dixit, Anthony Atkinson, Paul Krugman, Rüdiger Dornbusch,
Jean Tirole, Peter A. Diamond, Torsten Persson
oder Nicholas Stern nach München brachte.
Insbesondere durch die Initiative des CES
brach in München die Zeitenwende im Hinblick auf verstärkte Internationalisierung und
Nachwuchsförderung einige Jahre früher an
als an vielen anderen deutschen Universitäten.
Insbesondere die zahlreichen Doktoranden
am CES hatten dadurch maßgebliche Vorteile.
Noch heute denke ich mitunter an die Aufregung, die mir daraus erwuchs, dass bereits in
meinem ersten Doktorandenvortrag über ein
Kapitel meiner Dissertation auch zwei renommierte ausländische Gastprofessoren zuhörten.
Sie saßen indes nicht nur mit am Tisch, sondern gaben tatsächlich auch wertvolle Hin­
weise, die in die letztendliche Publikation einflossen.
Vor 25 Jahren wurden in Deutschland noch
sehr viele volkswirtschaftliche Dissertationen
geschrieben, indem der Doktorand nach einigen Monaten Einarbeitung dem Doktorvater
(bzw. sehr viel seltener der Doktormutter) eine
mehrseitige Gliederung vorlegen musste, die
dann eben abzuarbeiten war. Besonders hilfreich im Hinblick auf neue Forschungsergebnisse war das meist nicht. Vorbilder, wie HansWerner Sinn, die klarmachten, dass – neben
Fleiß und solider Methodik – originelle Ideen
259
Otto Wiesheu
VOM ELFENBEINTURM IN DIE
POLITIKBERATUNG
Im Dienste der Profession
Otto Wiesheu war von Mitte 1993
bis Ende 2005 Bayerischer Staatsminister für Wirtschaft, Infrastruktur, Verkehr und Technologie. Er
warb Hans-Werner Sinn 1999 als
ifo-Präsidenten an und unterstützte dessen Reorganisation des Instituts. Seit 2009 ist er Präsident des
Wirtschaftsbeirates Bayern.
260
Mein Erstkontakt mit Hans-Werner Sinn entstand aus einer großen Verlegenheit : Das ifo Institut wurde im Jahr 1998 nach eingehender Evaluierung vom Wissenschaftsrat abgestuft von
einer Forschungseinrichtung der Blauen Liste zu
einer forschungsbasierten Serviceeinrichtung.
Diese Abstufung ließ sich trotz ernsthafter Verhandlungen im Wissenschaftsrat nicht verhindern. Sie war aber für das Ansehen und die Zukunft des ifo Instituts nicht akzep­tabel.
Das Bestreben aller am ifo Institut Interessierten war es, das zu korrigieren. Das Ziel war
unumstritten, der Weg dahin offen. Von mir als
damaligem Bayerischem Wirtschaftsminister
wurde – unabhängig von der Verantwortung
weiterer Gremien – erwartet, eine Lösung zu
finden. Und die Lösung war für mich : Pro­fessor
Dr. Hans-Werner Sinn muss Präsident ­werden.
Ich habe ihn also bei einem Vier-Augen-­
Gespräch mit diesem Anliegen konfrontiert. Er
hat erst einmal abgelehnt. Neben seinem Lehrstuhl an der Ludwig-Maximilians-Universität
München (LMU) wollte sich Sinn voll und ganz
dem Center for Economic Studies (CES) und
dem Verein für Socialpolitik, der seit 1873 besteht und einen großen Namen hat, widmen
und mit beiden Institutionen die Internatio­
nalisierung der wirtschaftswissenschaftlichen
Diskussion in Deutschland vorantreiben. Dabei erschien ihm die Kärrner-Arbeit, die beim
ifo Institut anstand, nicht förderlich.
Nachdem andere Persönlichkeiten, die mir
Professor Sinn nannte, nicht in Betracht kamen, habe ich ihn bei einem weiteren Gespräch
in die Pflicht genommen.
Sinn knüpfte die Übernahme des Präsidentenamts an eine Reihe von Bedingungen :
ƒƒ Er bleibt weiterhin Professor an der LMU.
ƒƒ Das ifo Institut wird eng mit dem CES verzahnt.
ƒƒ Ein Teil des Personals beim ifo Institut soll
zügig ausgetauscht werden.
ƒƒ Eine regelmäßige Personalauffrischung mit
Nachwuchskräften aus der Universität wird
ermöglicht.
Das war nach seiner Meinung notwendig, um
qualifizierten Nachwuchs und Talente für die
wirtschaftswissenschaftliche Diskussion und
die empirische Forschung zu rekrutieren.
Und die Finanzierung für die folgenden Jahre
musste Aktivitäten erlauben, die eine Rückkehr
des ifo Instituts in den Status der Forschungseinrichtung der Blauen Liste fördern sollten.
Diese Konditionen waren durchaus in meinem Sinne. Auch nach meiner Überzeugung
war der Weg zur Wiedergewinnung des Status
»Forschungseinrichtung« nur durch eine enge
Verflechtung mit dem universitären Potenzial
und durch die Implementierung eines hohen
wissenschaftlichen Anspruchs in die Arbeit des
ifo Instituts möglich.
Laut Wissenschaftsrat musste das ifo Institut
daran arbeiten,
ƒƒ die nötige Resonanz in der wirtschaftswissenschaftlichen Diskussion zu finden,
ƒƒ in international renommierten wissenschaftlichen Zeitschriften präsent zu sein,
ƒƒ in der wirtschaftswissenschaftlichen und wirt­
schaftspolitischen Diskussion öffentlich überzeugend mitzuwirken.
Professor Sinn erhielt von mir die uneingeschränkte Unterstützung in all diesen Punkten
und übernahm bei ifo den Chefposten – eine
Entscheidung, die ich nie bereuen musste, sondern die alle meine Erwartungen mehr als erfüllte.
Es ist nicht meine Sache, die außerordentlich
erfolgreiche Reorganisation und Aufbauarbeit
beim ifo unter seiner Leitung seit 1999 im Einzelnen zu schildern. Für mich waren schlagende Ergebnisse :
ƒƒ die Evaluierung durch die Leibniz-Gemeinschaft im Jahr 2006, die der Arbeit des ifo
Instituts große Fortschritte bescheinigte und
dem ifo in Aussicht stellte, wieder in die Riege der Forschungseinrichtungen aufgenommen zu werden;
ƒƒ dann, nach erneuter Evaluierung, der Beschluss der Gemeinsamen Wissenschaftskommission von Bund und Ländern 2009, das ifo
Institut von Januar 2010 an wieder als überwiegend forschende Einrichtung zu fördern;
ƒƒ schließlich die Regelevaluierung 2012/2013
durch den Senat der Leibniz-Gemeinschaft,
in der die Leistungen des Institutes mit besten Noten auf allen Arbeitsgebieten bewertet
wurden.
Eng verbunden mit dieser enormen Aufbauleistung ist die Tatsache, dass Professor Sinn heu­
te der in der Öffentlichkeit meistzitierte Wirtschaftswissenschaftler in Deutschland ist, sein
Renommee weit über Deutschland hinausreicht
und er im Rahmen der wirtschaftswissenschaftlichen Diskussion auf europäischer und internationaler Ebene zu den anerkann­testen Ökonomen gehört. Auch durch die Reorganisation und
Stärkung des ifo Instituts hat er sein Ziel erreicht,
die wirtschaftswissenschaftliche Diskussion aus
Deutschland heraus auch international zur
­Geltung zu bringen und große Resonanz in der
wirtschaftspolitischen Diskussion zu erzielen.
Ein Beispiel unter vielen ist der jährliche Mu­
­nich Economic Summit, den CESifo gemeinsam mit der BMW Stiftung Herbert Quandt
seit 14 Jahren mit renommierter internationaler Besetzung aus Wissenschaft, Politik und
Wirtschaft durchführt und der den großen europäischen Fragen gewidmet ist. Für mich ist es
ein Glücksfall, dass Hans-Werner Sinn 1999
das Präsidentenamt bei ifo angetreten hat.
Herzlichen Dank und alle guten Wünsche
für die Zukunft !
Im Dienste der Profession: Hans-Werner Sinn als Motor des Wandels
ƒƒ In Kooperation mit der LMU werden Promotionen beim ifo Institut gefördert.
ƒƒ Abteilungsleiterpositionen im ifo Institut
sollten auch durch Wissenschaftler besetzt
werden können, die ihre Lehrstühle behalten.
261
Robert Haveman
INSTITUTIONELLER WANDEL UND
DIE UNWIDERSTEHLICHE KRAFT
Im Dienste der Profession
Robert Haveman ist John Bascom
Emeritus Professor of Economics
and Public Affairs, University of
Wisconsin-Madison (USA) und Forschungsprofessor am ifo Institut.
Er war Präsident des Interna­tional
Institute of Public Finance und
Vorsitzender des Wissenschaft­
lichen Beirats des ifo Instituts.
262
Nur selten ist man in der Lage, aus unmittel­barer
Nähe den radikalen Wandel einer wichtigen Institution beobachten zu können. Ich hatte dieses Privileg. Es begann im akademischen Jahr
1998 – 1999, als ich zusammen mit meiner Frau
und Kollegin Barbara Wolfe eingeladen wurde,
ein paar Monate als Gast am Center for Economic Studies (CES) zu verbringen. Das CES ist ein
von Hans-Werner Sinn gegründetes und gelei­
tetes Institut der Universität München (LMU),
das dazu dient, Wissenschaftler aus ­aller Welt
miteinander ins Gespräch zu bringen.
Während dieses Besuchs wurde bekannt,
dass Hans-Werner zum Präsidenten des ifo Instituts ernannt worden war. Dass er dieses Amt
angenommen hatte, war eine Überraschung.
Denn das ifo war damals beileibe nicht dafür
bekannt, eine universitätsnahe, wissenschaftlich ausgerichtete Forschungseinrichtung zu
sein. Es war ein großes und altbacken arbeitendes Institut, das seinen Auftrag darin sah, Regierungen und die Wirtschaft mit Gutachten
und Daten zu versorgen. Sein Status war seinerzeit von einem Forschungsinstitut in eine
forschungsbasierte Serviceeinrichtung herabgestuft und die staatliche Förderung stark gekürzt worden.
Für das damalige ifo-System war die Ernennung von Hans-Werner zum Präsidenten ein
Schock, ein klassisches Beispiel dafür, wie ein
festgefahrenes Objekt durch eine unwiderstehliche Kraft in Schwung gebracht wird.
Eine der ersten Amtshandlungen HansWerners war die Etablierung einer Reihe von
Lunchtime-Seminaren, um dort Forschungs­
ergebnisse vortragen und diskutieren zu lassen.
Barbara Wolfe und ich wurden eingeladen, den
Eröffnungsvortrag im »neuen ifo« zu halten.
Wir haben damals über unsere Forschung über
die Auswirkungen von Clintons Sozialgesetzgebungsreform (1996) auf Arbeit und Wohl­
ergehen vorgetragen. Der große Raum war gefüllt mit den damaligen ifo-Beschäftigten;
nicht gerade jung und mit einem gewissen bü-
Der Auftrag des ifo Instituts, Unternehmensdaten zu erheben und die Ergebnisse der Öffentlichkeit mitzuteilen, wird mit Hilfe ­moderner
Methoden durchgeführt, und die Produkte dieser Anstrengungen werden heute weltweit bekannt gemacht. Der prominente ifo-Geschäftsklimaindex ist ein Konjunkturfrühindikator,
der State-of-the-art-Methoden widerspiegelt.
Die Database for Institutional Comparisons in
Europe (DICE) bietet länder­übergreifende Vergleiche mit systematischen Informationen über
Institutionen und Regu­lierungen.
So bekannt das ifo Institut für seine wissenschaftlichen Arbeiten ist : Die meisten dieser
Studien haben ihren Ursprung im laufenden
politischen Diskurs in Deutschland und Europa. Sie sind bemerkenswerte Beispiele, wie die
neuesten theoretischen Erkenntnisse und empirischen Methoden der Volkswirtschaftslehre
Politik beleuchten und anleiten können. Gleichzeitig beteiligen sich die ifo-Mitarbeiter regelmäßig an der öffentlichen Debatte. Insoweit
bildet das ifo Institut eine hervorragende Brücke zwischen akademischer Forschung und öffentlicher Politikdebatte.
Schließlich hat ifo einen wichtigen Ausbildungsauftrag : Sein Graduiertenprogramm um­
fasst mehr als 40 Doktoranden und bietet
­ihnen ein Umfeld, das ihnen das Schreiben herausragender Dissertationen und die Präsentation von Forschungsergebnissen auf der internationalen Bühne ermöglicht.
Heute leistet ifo in Forschung, Politikberatung und Doktorandenausbildung Herausragendes. Während des radikalen institutionellen
Wandels war die Zusammenarbeit zwischen
dem Wissenschaftlichen Beirat sowohl mit
dem ifo-Vorstand als auch den Leitern der Forschungsbereiche höchst produktiv. Der Beitrag, den Hans-Werner zur Transformation des
ifo geleistet hat, gehört ganz oben auf die Liste
seiner Lebensleistungen.
Im Dienste der Profession: Hans-Werner Sinn als Motor des Wandels
rokratischen Habitus. Anders als in Univer­
sitätsseminaren wurden kaum Fragen gestellt,
und es kam zu keiner inhaltlichen Debatte –
abgesehen von den Fragen, die Hans-Werner
selbst in den Raum stellte. Mein Hauptgedanke
war : »Weiß dieser Mann, was er sich damit antut ?« Aber das war eindeutig die falsche Frage;
sie hätte lauten sollen : »Wissen die Leute, was
mit ihnen geschieht ?« Nun, das war vor 16 Jahren. Seitdem wurde das ifo Institut zu einem
einzigartigen und hochwertigen Wirtschaftsforschungsinstitut transformiert.
Seit dem Jahr 2000 habe ich als Gastforscher
und Forschungsprofessor und auch als Mitglied und Vorsitzender des Wissenschaftlichen
Beirats des ifo Instituts aus erster Hand erlebt,
wie das Institut zunächst umstrukturiert und
teilweise abgewickelt wurde, um später wieder
zu wachsen. Seitdem entwickelte ifo eine strikte
Forschungsorientierung und enge Verbindungen zu zahlreichen in- und ausländischen Forschungsinstitutionen, und es kehrte Schritt für
Schritt zurück in den angestrebten Status einer
Leibniz-Forschungseinrichtung. Es wuchs in
die Position als eine der renommiertesten Forschungseinrichtungen in Deutschland und eines der führenden ökonomischen Think Tanks
in Europa hinein.
Unter Hans-Werners Führung wurden acht
Forschungsbereiche etabliert, die jeweils von
einem anerkannten und aufstrebenden Bereichsleiter geführt werden, der einen Lehrstuhl an der LMU hat und das Prestige eines
Universitätsprofessors genießt. Jeder ifo-Forschungsbereich ist ausgerichtet auf angewandte, politikorientierte Wirtschaftsforschung. Die
ifo-Wissenschaftler veröffentlichen ihre Arbeiten regelmäßig in führenden internationalen
Fachzeitschriften. Die ifo-Forscher produzieren mehr wissenschaftliche Publikationen als
irgendeine andere wirtschaftswissenschaftliche
Forschungseinrichtung in Deutschland.
263
Wilhelm Simson
EIN TURNAROUND OHNEGLEICHEN
Im Dienste der Profession
Wilhelm Simson ist ehemaliger
Vorstandvorsitzender der EON SE
und Altpräsident des Verbands
der Chemischen Industrie. Als
Vorsitzender des Verwaltungsrats
und des Kuratoriums des ifo Instituts in den Jahren 2001 bis 2010
begleitete er ifo in der Phase des
Umbruchs.
264
Als ich mich auf Bitte der ifo-Organe bereit erklärte, im Verwaltungsrat des ifo Instituts mitzuwirken und dessen Vorsitz im Jahr 2001 zu
übernehmen, ahnte ich nicht, dass ich Gelegenheit haben würde, einen der spannendsten
und erfolgreichsten Turnarounds der deutschen Forschungsgeschichte mitzugestalten.
Zuvor war das Institut in einer Evaluierung
durch den Wissenschaftsrat (1996 – 1998) außer­
ordentlich kritisch bewertet worden, weil es
sich unter dem früheren Vorstand trotz früher
Warnungen des Wissenschaftsrats (1982) zu
weit von der Wissenschaft entfernt hatte. Eine
Schließung des Instituts konnte nur zum Preis
der Umwandlung in eine Serviceeinrichtung –
verbunden mit einer drastischen Kürzung der
institutionellen Förderung – abgewendet werden. In dieser Situation übernahm der neue
Vorstand unter Leitung von Hans-Werner Sinn
das Ruder mit der Marschorder, es an die Spitze
der deutschen Wirtschaftsforschungsinstitute
zu führen.
Als Hans-Werner Sinn und ich uns im Jahr
2001 zum ersten Mal trafen, erklärte ich ihm :
Als Chemiker hätte ich nur begrenzte Kenntnisse von Betriebswirtschaft. Macht nichts,
sagte Sinn, denn im ifo gehe es allein um die
Volkswirtschaft. Dieser kurze Satz war Programm und sein persönliches Credo – und die
erste wichtige Information für mich als Vor­
sitzenden des Verwaltungsrats.
Es folgte in den nächsten zehn Jahren eine
schier unglaubliche Erfolgsgeschichte. Existentiell wichtig war, dass die durch die Wirren der
Evaluierung bis an die Grenzen der Insolvenz
strapazierten Finanzen schon Ende 2002 saniert waren. Und dann gewann auch die Neuausrichtung des Instituts an Fahrt. Dazu war
es nötig, eingefahrene Gleise zu verlassen. Auf
der Grundlage einer ambitionierten Vision
wurden die Aufgaben und Ziele neu definiert.
Die Struktur des Instituts wurde reformiert
und die Abläufe umgekrempelt, um das Institut
effizient zu managen und möglichst viele Mittel
lichkeit. Die Bereitstellung der Wirtschafts­
daten – hier besonders der renommierte ifo
Geschäftsklimaindex – sowie Seminare und
Vorträge mit eigenen und externen Wirtschaftswissenschaftlern machten das Institut
zu einer festen Größe im öffentlichen Bewusstsein. Dazu kamen Statements von Hans-Werner Sinn in Nachrichtensendungen und Talkshows, in denen er seine unglaubliche Fähigkeit,
komplexe wirtschaftliche Zusammenhänge in
prägnanter Form dazustellen, voll zur Geltung
bringen konnte. Seine Bucherfolge über brennende Themen machten ihn zu einem Erfolgsautor. Es ist ihm immer wieder gelungen,
­wichtige öffentliche Debatten zu verschiedenen Themen anzustoßen.
Waren die ersten fünf Jahre meiner Tätigkeit
im Verwaltungsrat von diesen Themen dominiert, so rückte in den nächsten sieben Jahren
mehr und mehr die Rückumwandlung zum
Forschungsinstitut in den Vordergrund. Ein
erstes Etappenziel war erreicht, als der Senat
der Leibniz-Gemeinschaft die gesamten ifoLeistungen sehr positiv bewertete und gleichzeitig ankündigte, im Jahr 2009 über die Rückstufung des ifo zur Forschungseinrichtung zu
entscheiden, was dann auch geschah : Die Gemeinsame Wissenschaftskonferenz beschloss,
das ifo ab 2010 wieder als Forschungseinrichtung zu fördern. Das ifo Institut hat nun – so
der Leibniz-Senat – den Status eines führenden
ökonomischen Think Tanks in Europa, wozu
man der kompletten Belegschaft gratulieren
muss. Bei dieser Entwicklung hatte Hans-Werner Sinn in Meinhard Knoche einen großartigen Mitstreiter, der ihm Managementaufgaben
der Institutsleitung abnahm. Beide zusammen
waren für mich das »Dream Team« des ifo Instituts.
Dir, lieber Hans-Werner, wünsche ich einen
bestimmt unruhigen, aber mit mehr Zeit für
Familie und Hobbys erfüllenden Ruhestand.
Im Dienste der Profession: Hans-Werner Sinn als Motor des Wandels
in die Forschung stecken zu können. Die unterschiedlichsten Herausforderungen – Abbruch,
Umbau, Forschungsoutput, Akquisition attraktiver Drittmittelprojekte, Beiträge zur Politikberatung, Heranbildung des wissenschaftlichen
Nachwuchses, Service . . . – mussten in einem
Konzept vernetzt werden. Es gab Diskussionen
im Verwaltungsrat, wie das alles zu schaffen
sei. Das betraf auch den Abbau von weit mehr
als 100 Beschäftigten von 260 (1996) auf unter
150 Beschäftigte (2002), der dringend geboten
und ein entscheidender Baustein war, die finanzielle Sanierung in Rekordzeit meistern
und schon bald danach wieder junge, ehrgei­
zige Nachwuchskräfte einstellen zu können.
Die Verhandlungen mit dem Betriebsrat waren
schwierig, führten aber im Ergebnis zum Erfolg.
Die Vision eines »internationalen Zentrums
moderner politikorientierter, wirtschaftswissenschaftlicher Forschung und wissenschaftlich basierter Politikberatung« wurde Schritt
für Schritt umgesetzt. Ein zentrales Hilfsmittel,
die abgeschmolzenen Forschungskapazitäten
wieder aufzustocken, war eine umfangreiche
Drittmittelforschung, die half, die finanzielle
Basis absichern und den jungen Wissenschaftlern Freiräume für Forschung einräumen zu
können. Ein weiterer Baustein war die Inter­
nationalisierung, zu der die Tochtergesellschaft
CESifo GmbH mit dem Aufbau des interna­
tionalen Forschernetzwerks entscheidend beitrug. Die mit Hilfe der neuen Organisation und
Personalpolitik aufgebauten attraktiven Rahmenbedingungen für die Forschung und nicht
zuletzt der Erfolg wirkten wie ein Magnet auf
junge hervorragende Wissenschaftler. Das verhalf dem Institut nicht nur zu einem hervor­
ragenden Forschungsoutput, sondern machte
es auch zu einem Sprungbrett zur Berufung
von ifo-Forschern an angesehene Universtäten.
Die nächste Stoßrichtung betraf die Öffent-
265
Günter Verheugen
DIE EICHE IM WALD DER ÖKONOMIE
Im Dienste der Profession
Günter Verheugen, von 1999 bis
2010 EU-Kommissionsmitglied
und von 2007 bis 2010 Europäischer
Covorsitzender des Transatlantischen Wirtschaftsrates, lehrt an
der Europa-Universität Viadrina
zu Fragen der europäischen Integration und leitet das Carl Friedrich
Goerdeler-Kolleg für Good Govern­
ance.
266
Heinrich Heine beschreibt im Wintermärchen
in einer für ihn erstaunlich liebenswürdigen
Weise die Westfalen als sentimentale Eichen.
Nun, Heine kannte Hans-Werner Sinn nicht.
Westfale ist er, eine trutzige Eiche im deutschen
Ökonomen-Wald ist er auch, aber sentimental – nein, das kann man von Hans-Werner
Sinn wirklich nicht sagen. Was er für richtig erkannt hat, das sagt er ohne Schnörkel und ohne
jede Rücksicht auf Freund und Feind. Der Elfenbeinturm der reinen Wissenschaft ist jedenfalls sein Zuhause nicht.
Ich bin nicht berufen, die wissenschaftliche
Leistung von Hans-Werner Sinn zu würdigen.
Was ich vielleicht beurteilen kann, ist die Wirkung, die er auf die deutsche und internatio­
nale Öffentlichkeit hat. Mir ist in Europa kein
zweiter Nationalökonom gegenwärtig, der auch
nur annähernd so viele politische Anstöße geliefert hat wie Hans-Werner Sinn. Das Wort
»Anstöße« ist bewusst gewählt, und die Asso­
ziation mit »anstößig« durchaus gewollt. Nicht
alle Politiker (und wohl auch Wissenschaftler)
empfanden Sinns Befunde immer als hilfreich.
Ihm ergeht es da ähnlich wie dem Papst. Wenn
er etwas sagt, was einem in den Kram passt,
dann beruft man sich gerne auf ihn. Wenn er
aber etwas sagt, was einem ganz und gar gegen
den Strich geht, dann heißt es, er solle sich gefälligst heraushalten.
Ich weiß nicht mehr ganz genau, wann mir
Hans-Werner Sinn zum ersten Mal aufgefallen
ist, aber ich hatte schon, bevor wir uns kennen
gelernt haben, das Gefühl, auf eine neue Spe­
zies gestoßen zu sein. Ein Wirtschaftswissenschaftler, der eine verständliche Sprache spricht,
der sich nicht hinter einem Wall von Konjunktiven versteckt, sondern, um es in der Politikersprache zu sagen, »klare Kante« zeigt – das
empfand ich als neu.
Es ist inzwischen eine ganze Kohorte von
Ökonomen in die Fußstapfen von Hans-Werner Sinn getreten, und es tut der Zunft nicht
gut, dass man jetzt für jede gewünschte Posi­
Was die Eurokrise angeht, über die ich in
vielen Fernsehsendungen und öffentlichen
Veranstaltungen mit Hans-Werner Sinn diskutiert habe, so teile ich seine Analyse weitgehend. Die Währungsunion hatte von Anfang
an einen schweren Konstruktionsfehler. Der
Glaube an den Stabilitäts- und Wirtschaftspakt
war bestenfalls blauäugig. Man mag sagen, dass
das große politische Ziel wichtiger und dass
­etwas Besseres nicht zu haben war. Dass alle
europäischen Finanzminister und die Fach­
leute der EU-Kommission den abschüssigen
Pfad, auf den wir uns begeben hatten, schlicht
ignoriert haben – das ist ein großes Versagen.
Und auch wenn es schmerzhaft ist : Die Diagnose von Hans-Werner Sinn ist nicht nachträgliche Rechthaberei, sondern ein Signal für die
Zukunft.
Hans-Werner Sinn ist uneingeschränkt für
das europäische Projekt. Die EU-Gegner können ihn nicht zu den Ihren zählen. Man ist aber
nicht europafeindlich, wenn man Fehler und
Versäumnisse in der Realisierung des euro­
päischen Integrationsmodells klar benennt.
Für das, was die Europäische Union jetzt zu tun
hat, wird die Stimme von Hans-Werner Sinn
wichtig bleiben.
Wir leben in einer Zeit, in der es uns allen
zunehmend schwerfällt, eine klare Orientierung zu behalten. Da ist es gut, wenn es Leuchttürme gibt, deren Signale unmissverständlich
sind. Hans-Werner Sinn hat seine Disziplin zu
einem solchen Leuchtturm gemacht. Müssen
jetzt nur noch die Steuerleute dem Signal folgen ?
Ja, wenn man das wüsste . . .
Im Dienste der Profession: Hans-Werner Sinn als Motor des Wandels
tion »seinen« Ökonomen finden kann, der das
bestätigt, was man gerne hören möchte. Aber
ich denke, dass keiner an das Original heranreicht. In der wirtschafts- und gesellschaftspolitischen Debatte in Deutschland und Europa
ist die Stimme von Hans-Werner Sinn unverwechselbar. Wirtschaftspolitik ist schon lange
keine arkane Disziplin mehr. Wer in der Politik die ökonomischen Zusammenhänge nicht
­begreift, ist schon verloren. Mir scheint, dass
Hans-Werner Sinn über seinen Fachbereich
­hinaus einen herausragenden Beitrag für die
Weiterentwicklung des politischen Diskurses
geleistet hat. Dazu gehört auch, dass er zwar
bestimmt und konsequent auftritt, aber nicht
besserwisserisch, herablassend oder intolerant.
Man kann gut mit ihm diskutieren. Er hört zu,
nimmt die Argumente seines Gegenübers ernst
und ist durchaus bereit, anderen Auffassungen
ihre Berechtigung zu lassen.
In den letzten Jahren, in Zeiten der Krise, die
Europa zu verschlingen droht, ist Hans-Werner Sinn zu erstaunlicher Popularität und Bekanntheit gelangt. Er hat die Debatte über die
Eurokrise in ungewöhnlicher Weise bestimmt.
Ich bin da nicht in allem seiner Meinung, vor
allem wenn es um die sozialen Auswirkungen
strikt ordnungspolitischer Positionen geht.
Aber ich muss der Fairness halber hinzufügen,
dass Hans-Werner Sinn für sich niemals in
­Anspruch genommen hat, der bessere Politiker
zu sein. Auch wenn viele es versucht haben, er
lässt sich nicht vereinnahmen. Das ist vermutlich einer der Gründe dafür, weshalb er heute
unangefochten als der einflussreichste deutsche Ökonom gilt.
267
Monika Schnitzer
HANS-WERNER SINN UND SEIN BEITRAG
ZUR INTERNATIONALISIERUNG DES
FORSCHUNGSSTANDORTS DEUTSCHLAND
Im Dienste der Profession
Monika Schnitzer hat den Lehrstuhl für Komparative Wirtschaftsforschung an der LMU inne. Sie ist
Mitglied der Bayerischen Aka­
demie der Wissenschaften, des
­Wissenschaftlichen Beirats beim
BMWi und der Expertenkommis­
sion Forschung und Innovation.
Seit 2015 ist sie Vorsitzende des
Vereins für Socialpolitik.
268
Vier Jahre lang hat Hans-Werner Sinn als Vorsitzender den traditionsreichen Verein für Socialpolitik geführt und geprägt, von 1997 bis
2000. Wie alle seine Aufgaben ging Hans-Werner Sinn auch dieses Amt mit dem Ziel an,
­etwas zu bewegen und zum Besseren zu ver­
ändern. Ich kann mich an viele Diskussionen
im Kollegenkreis darüber erinnern, wie denn
der fast 125 Jahre alte Verein erfolgreich ins
21. Jahrhundert zu führen wäre. Und wie so oft
überzeugte Hans-Werner Sinn mit seiner Analyse und seinen Ideen. Als besonders wichtig
sah er die Aufgabe an, die Internationalisierung
des Forschungsstandorts Deutschland voranzutreiben. Um das zu verstehen, muss man
sich zurückversetzen und vergegenwärtigen,
wie sich die Situation für die deutsche Nationalökonomie damals darstellte.
Bis in die 1990er Jahre hinein war Deutschland als Forschungsstandort für Ökonomie international wenig sichtbar. In internationalen
Zeitschriften zu veröffentlichen, das war für die
Mehrzahl der deutschen Forscher eher die
Ausnahme denn die Regel. Fragte man Kollegen in den USA, welche deutschen Ökonomen
und welche deutschen Fakultäten sie kennen
würden, dann waren es nur wenige Namen und
Standorte, die genannt wurden.
Heute stellt sich die Situation ganz anders
dar : Inzwischen ist es unverzichtbar, in internationalen referierten Zeitschriften zu veröffentlichen, und immer mehr deutschen Forschern
gelingt es, mit ihren Arbeiten auch in den Top5-Zeitschriften zu landen. Junge Deutsche promovieren im Ausland, immer mehr deutsche
Nachwuchsforscher gehen auf den internationalen Jobmarkt und werden erfolgreiche Professoren an renommierten US-Departments.
Auf internationalen Konferenzen sind Forscher
aus Deutschland in großer Zahl vertreten.
Dass Deutschland als Forschungsstandort
für Ökonomen inzwischen kein weißer Fleck
auf der Landkarte mehr ist, dazu hat HansWerner Sinn in vielfältiger Weise beigetragen :
Hans-Werner Sinns Amtszeit als Vereinsvor­
sitzender fiel. Seit 1997 wird mit diesem Preis
jährlich ein(e) junge(r) Ökonom(in) unter 45
Jahren aus dem deutschsprachigen Raum ausgezeichnet, dessen/deren Forschung interna­
tionale Anerkennung erfahren hat. Es sollte
also in besonderer Weise honoriert und sichtbar gemacht werden, wenn junge Nachwuchswissenschaftler mit ihrer Forschung interna­
tional erfolgreich sind.
Und auch die dritte große Neuerung in
Hans-Werner Sinns Amtszeit zielte auf eine
stärkere Internationalisierung der deutschsprachigen Forschungslandschaft ab. Die Vereinszeitschrift war bis dato weitgehend in deutscher Sprache gehalten, erst vereinzelt wurden
auch Beiträge in Englisch veröffentlicht. Dass
deutsche Forscher aber im Ausland nicht gehört werden, wenn sie nur auf Deutsch ver­
öffentlichen, das stand für Hans-Werner Sinn
außer Zweifel : »English is the lingua franca.«
Unter seiner Führung wurde die bisherige Vereinszeitschrift abgelöst durch zwei neue Zeitschriften, eine englischsprachige, die German
Economic Review, die sich an die internatio­
nale Forschergemeinschaft richtete, und eine
deutschsprachige, die Perspektiven der Wirtschaftspolitik, die ein Forum für die wirt­
schaftspolitische Debatte in Deutschland bieten ­wollte. »The German Economic Review will
be a bridge between German-speaking economists and the international economic community«, so Hans-Werner Sinn in seinem Vorwort
zur ersten Ausgabe der German Economic Review im Jahr 2000.
Wenn sich junge Nachwuchswissenschaftler
heute wundern, warum es einer solchen Brücke bedarf, dann ist das der beste Beleg dafür,
wie erfolgreich Hans-Werner Sinns Initiativen
waren, um die deutschsprachigen Ökonomen
stärker als zuvor in die internationale Forschungslandschaft zu integrieren.
Im Dienste der Profession: Hans-Werner Sinn als Motor des Wandels
durch die Gründung des CES und den Aufbau
des CESifo-Forschernetzwerks, aber eben auch
durch zahlreiche Neuerungen im Verein für
Socialpolitik, die großen Anteil daran hatten,
den Verein zu öffnen und die deutschsprachigen Ökonomen international sichtbarer zu
­machen. Für seine besonderen Verdienste im
Verein wurde ihm 2014 auf der Jahrestagung in
Hamburg die erste Gustav-Schmoller-Medaille
verliehen, benannt nach einem der Gründer­
väter des Vereins. In der offiziellen Würdigung
durch den Vorsitzenden Michael Burda hieß
es : »Hans-Werner Sinn hat in seiner Zeit als
Vorsitzender (1997 – 2000) zentrale Neuerungen im Verein für Socialpolitik eingeleitet.
Durch die Neuauflage der Vereinszeitschriften,
die Einführung des innovativen Vortragsprämienprogramms für Nachwuchswissenschaftler und die Erstvergabe des Gossen-Preises hat
er dem Verein entscheidende Impulse gegeben,
die einen nachhaltigen Einfluss auf unsere Gesellschaft haben werden.«
Hans-Werner Sinns Vision war es, gerade
die jungen Nachwuchswissenschaftler fit für
den internationalen wissenschaftlichen Wettbewerb zu machen. Junge deutschsprachige
Forscher sollten ermutigt werden, ihre Forinternationalen Konferenzen zu
schung auf ­
präsentieren und sich der internationalen
Fachdiskussion zu stellen. Dazu warb HansWerner Sinn umfangreiche Mittel für ein
Vortragsprämien­programm speziell für junge
Nachwuchs­
wissenschaftler ein. Dieses Programm, das seit inzwischen 18 Jahren interna­
tionale Konferenzbeiträge mit einem Gesamtfördervolumen von fast einer Million Euro
unterstützt hat, trug wesentlich dazu bei, dass
junge Nachwuchswissenschaftler aus dem
deutschsprachigen Raum mittlerweile auf allen
internationalen Konferenzen präsent sind.
Ähnlich motiviert war auch die Einführung
des Gossen-Preises, dessen erste Vergabe in
269
Robin Boadway
HANS-WERNER SINNS VERMÄCHTNIS FÜR
RATIONALE WIRTSCHAFTSPOLITIK: DER
AUFBAU VON FORSCHUNGSINSTITUTIONEN
Im Dienste der Profession
Robin Boadway ist Emeritus der
Queen’s University, Officer im
­Order of Canada, Fellow der Royal
Society of Canada, Distinguished
CES Fellow und Vorsitzender im
Wissenschaftlichen Beirat des ifo
Instituts. Er war Herausgeber des
Journal of Public Economics und
Präsident des IIPF.
270
Hans-Werner Sinn ist bekannt für seinen beispielhaften Beitrag zu aktuellen wirtschaftspolitischen Debatten in Deutschland und Europa.
Doch ebenso wichtig ist sein Engagement bei
der Entwicklung bedeutender Forschungseinrichtungen, die das Streben nach wissenschaftlicher Erkenntnis mit der Verbreitung fundierter Ideen zur Gestaltung von Politik verbinden;
sie sind eine Ausbildungsstätte für künftige Generationen kritischer Wissenschaftler, die sich
sowohl in der Forschung als auch in öffentlichen Politikdebatten engagieren. Diese Institutionen spiegeln Hans-Werners eigene Kompetenzen und Werte wider.
Hans-Werners Engagement bei der Entwicklung von Institutionen begann vor 25 Jahren,
als er kurz nach Übernahme des Lehrstuhls für
Finanzwissenschaft an der Ludwig-Maximi­
lians-Universität München (LMU) das Center
for Economic Studies (CES) gründete. Seitdem
beherbergt das CES einen nie abbrechenden
Strom von Gastwissenschaftlern, deren Semi-
nare Kernbestandteile der Doktorandenausbildung und des intellektuellen Austauschs an der
Volkswirtschaftlichen Fakultät sind. Finanzwissenschaft war anfangs das zentrale Forschungsgebiet des CES und bleibt weiterhin
seine Stärke, wenngleich es inzwischen auch
auf anderen großen Feldern der Ökonomie aktiv ist. Das Flaggschiff des CES sind die alljährlichen Munich Lectures, die von renommierten Wirtschaftswissenschaftlern gehalten und
als Buch von MIT Press veröffentlicht werden.
Sie haben sich als eine der führenden ökonomischen Vortragsreihen weltweit etabliert.
Als Hans-Werner im Jahr 1999 ifo-Präsident
wurde, hat sich die Dimension seiner Tätigkeit
geradezu verdoppelt. Seine Führungsleistung
außergewöhnlich zu nennen wäre eine Untertreibung. Hatte das ifo damals noch den Status
einer Serviceeinrichtung, wurde es zügig in ein
vollwertiges Leibniz-Forschungsinstitut umgewandelt, dessen Arbeit eng mit der Volkswirtschaftlichen Fakultät verknüpft wurde. Dies ist
Kooperation zwischen CES und ifo Institut institutionalisierte. Deren Kern ist das weltweite
Netzwerk von Wissenschaftlern, die zunächst
als kurzfristige Gäste ans CES oder ifo kommen
und dann eine permanente Verbindung eingehen. Die internationale Reichweite des CESifo
wurde gestärkt durch jährliche Konferenzen
der Netzwerk-Areas, die CESifo-Working-Paper-Reihe und politikorientierte Publikationen
wie das CESifo Forum. Auf Hans-Werners Initiative hin wurde CESifo Mitherausgeber der
Zeitschrift Economic Policy, und er war maßgeblich beteiligt an der Gründung der Zeitschrift German Economic Review durch den
Verein für Socialpolitik. Zu Hans-Werners bedeutendsten Initiativen zählt, wie er seine Präsidentschaft des International Institute of Public Finance (IIPF) nutzte, um dessen Reputation
als führender und ältester weltweiter Verbund
der Finanzwissenschaftler zu stärken. Dank
seines Einsatzes wurde das IIPF-Büro in das ifo
Institut verlagert. Die akademische Bedeutung
des IIPF wurde durch seine Verbindung mit
der Zeitschrift International Tax und Public
­Finance und durch die von IIPF und CESifo
­gemeinsam ausgerichtete Richard Musgrave
Lecture erhöht.
Das Wirkungsspektrum dieser Institutionen, die Hans-Werner aufbaute, ist breit. Deren
Beitrag zu den politischen Debatten in Europa
wurde signifikant ausgeweitet, und ihre Be­
deutung für die wissenschaftliche Förderung
einer neuen Generation junger Ökonomen in
Deutschland und Europa kann nicht hoch genug bewertet werden. Vielleicht am bedeutsamsten ist, in welchem Ausmaß die interna­
tionale Ausstrahlung von CES, ifo Institut und
CESifo die Zusammenarbeit unter jungen Wissenschaftlern aus vielen Ländern angeregt hat.
Die Institutionen sind eine Hommage an
Hans-Werners Energie und Weitblick.
Im Dienste der Profession: Hans-Werner Sinn als Motor des Wandels
in hohem Maß auf Hans-Werners Engagement,
Talent und harte Arbeit zurückzuführen, nach
dessen Bild das ifo Institut gestaltet wurde.
Es leistet fundierte empirische Wirtschaftsforschung, um politische Debatten in Deutschland und über dessen Grenzen hinaus mit
überzeugenden Argumenten und aus einem
ideologiefreien Blickwinkel zu bereichern. Forschung und Politikberatung des ifo sind davon geleitet, was aus langfristiger Perspektive
für die Wirtschaft und den gesellschaftlichen
Fortschritt wichtig ist. Es legt Wert sowohl auf
wissenschaftliche Publikationen in referierten
internationalen Zeitschriften als auch auf politikorientierte Bücher und Berichte.
Ein wesentlicher Baustein für die Umwandlung in ein vollwertiges Forschungsinstitut
­waren die Berufungen herausragender Forschungsbereichsleiter, die gleichzeitig als Professoren an der LMU tätig sind, sowie die
Gewinnung junger Wissenschaftler, die ihre
­
Forschung für das Institut mit ihrer Promotion
oder Habilitation kombinieren. Die enge Verknüpfung des ifo mit der LMU war und ist der
Schlüsselfaktor für die Gewinnung und Bindung dieses hochqualifizierten Personals. So
stieg das ifo Institut schnell an die Spitze von
Deutschlands Wirtschaftsforschungsinstituten
auf, und sein Einfluss erstreckte sich bald auf
Europa und darüber hinaus. Hans-Werner war
mehr als nur ein Institutspräsident. Durch seine außergewöhnliche Forschungsleistung, vor
allem in Form von Büchern, durch die Initi­
ierung neuer Forschungsfelder und durch die
aktive Teilnahme an politischen Debatten in
den Medien war er Vorbild für die leitenden
Wissenschaftler wie auch für die Nachwuchswissenschaftler und prägte er den Ton im Ins­
titut.
Die Symbiose aus akademischer und politikorientierter Forschung wurde mit der Gründung der CESifo GmbH verfestigt, die die enge
271
Bert Losse
ABTEILUNG ATTACKE: HANS-WERNER SINN UND
SEINE GASTBEITRÄGE IN DER WIRTSCHAFTS­
WOCHE – EINE PERSÖNLICHE RÜCKSCHAU
Im Dienste der Profession
Bert Losse ist Diplom-Volkswirt
und stellvertretender Leiter des
Politik-Ressorts der Wirtschafts­
Woche. Dort verantwortet er unter
anderem die Heftstrecke »Der
Volkswirt«. Vor seiner Tätigkeit bei
der WirtschaftsWoche arbeitete
er mehrere Jahre beim Magazin
impulse.
272
Etwa alle vier Wochen, meistens donnerstags,
kommt es zwischen Hans-Werner Sinn und
der WirtschaftsWoche-Redaktion zu einem
­nahezu identischen Mailverkehr. Je nachdem,
wer zuerst an den Termin denkt, steht darin :
»Lieber Herr Losse, was soll ich schreiben ?
HWS« oder »Lieber Herr Professor Sinn, haben
Sie schon eine Idee für Ihre Kolumne ?« Die anschließende Diskussion ist kurz (Ökonomen
würden sagen : effizient), und das Ergebnis lässt
sich seit über zehn Jahren in der WirtschaftsWoche nachlesen, aktuell in der Heftstrecke
»Der Volkswirt«.
Es ist für Journalisten ja so eine Sache mit
Gastautoren, zumal solchen aus der Wissenschaft. Bisweilen ist das Redigieren kein Vergnügen, die Texte sind nicht selten langatmig
und verschachtelt, und wenn man sie vereinfacht, sind manche Autoren beleidigt. Bei HWS
gab und gibt es diese Probleme so gut wie nie.
Die Zusammenarbeit war stets angenehm und
konstruktiv. Gut, seine Texteinstiege kommen
gern etwas überfallartig, aber Sinn formuliert
so, dass man seinen Gedankengängen auch
ohne VWL-Diplom folgen kann; die Thesen
sind klar und kontrovers, die Unterfütterung
mit Daten und eigenen Berechnungen ist stets
akkurat. Fragen zu Griechenland und der Europäischen Zentralbank (EZB) darf man ihm
auch zu Zeiten zusenden, zu denen andere
längst im Bett liegen. Es kann passieren, dass
die Antwort um 0 :35 Uhr kommt.
Mit wem hat sich Hans-Werner Sinn in den
vergangenen Jahren nicht alles angelegt : An­
gela Merkel teilte er in einem offenen Brief via
WirtschaftsWoche mit : »Sie sollten aufpassen,
dass Sie nicht als Kanzlerin in die Geschichte
eingehen, die Deutschlands Wohlstand verspielt hat.« Er kritisierte in seiner Kolumne die
Spartengewerkschaften und die Umweltpolitik,
er geißelte den gesetzlichen Mindestlohn und
die Europäische Bankenunion, forderte die
Pkw-Maut und eine Freihandelszone der EU
mit Russland, er rechnete aus, warum die Ab-
lierte eine Replik auf die Replik, und im Poli­
tikressort der WirtschaftsWoche brach leichte
Nervosität angesichts der Frage aus, wie viel
Reden und Gegenreden wohl noch folgen
könnten. Aus anderen Ressorts kam die vorsichtige Rückfrage, ob das Thema Leistungs­
bilanz auf dem Lesermarkt tatsächlich massentauglich sei.
Wer mit Hans-Werner Sinn zusammenarbeitet, muss nur drei Situationen fürchten. Erstens : Der ifo-Server hakt, so dass Mails im
­Nirvana landen (kommt selten vor). Zweitens :
Sinn hat sich mal wieder eine neue (kryptische)
E-Mail-Adresse zugelegt, weil die alte (ebenso
kryptische) zu vielen Personen bekannt geworden ist und nun zu viel unerwünschte Post seinen elektronischen Briefkasten verstopft. Und
drittens : Man schreibt eine eilige Nachricht
und erhält diese Antwort : Dear sender, Prof.
Sinn reserves certain times during the year for
his research. Thus your mail will not be read.
Doch irgendwie erreichte man sich am Ende
immer. Hans-Werner Sinn schrieb für uns aus
dem Urlaub auf Fuerteventura (über die Wirtschaftsaussichten für 2015), aus Italien (über
die Abhängigkeit von russischem Gas) und
während einer Chinareise (über die Ein-KindPolitik).
Meine Lieblingsmail von Hans-Werner Sinn
(er verzeihe mir an dieser Stelle die Abkehr von
der journalistischen Verschwiegenheitspflicht)
ist die Folgende : »Lieber Herr Losse, worüber
soll ich schreiben ? Über das Wetter ? Oder über
das Klima ? Gar das Wirtschaftsklima ? Oder
über die Ferien, die wir alle dringend benötigen ?«
Gar keine schlechte Idee. Ich bin sicher : Auch
dazu würde ihm etwas Sinnvolles einfallen.
Im Dienste der Profession: Hans-Werner Sinn als Motor des Wandels
wrackprämie für Pkw der Volkswirtschaft
schadet, und erklärt, warum das gesetzliche
Rentenalter von 65 Jahren abgeschafft gehört.
Mit Inbrunst und zum großen und anhaltenden Missfallen der Bundesregierung attackierte er die Rettungspolitik der EU im griechischen Dauerdrama (»Öffentliches Geld senkt
den Reformdruck und verlängert den Schlendrian«) und die ordnungspolitische Rutschpartie der EZB, die für ihn »zur Bad Bank mutiert«. Einmal widmete einen ganzen Text der
Frage, ob man Griechenland vom Entwicklungsstand her mit der Mongolei gleichsetzen
könne. Im Frühjahr 2011 eröffnete er eine Debatte, die die Wirtschaftspolitik bis heute begleitet : die Frage der Target-Salden im Euro­
päischen System der Zentralbanken. Nur über
die Erbschaftsteuer und die Reformpläne des
Bundesfinanzministers wollte er trotz Bitten
der Redaktion partout nicht schreiben. Das
Thema sei ihm zu verworren.
Auch Ökonomenkollegen geraten bisweilen
in den Fokus, und wie es scheint, streitet sich
Hans-Werner Sinn besonders gern mit Marcel
Fratzscher, dem Präsidenten des Deutschen
­Instituts für Wirtschaftsforschung, etwa über
Anleihekäufe der Notenbank oder die Ursachen des deutschen Exportüberschusses. Nach­
dem Sinn geschrieben hatte, die Überschüsse
seien »Spiegelbild der milliardenschweren Rettungsmaßnahmen für Krisenländer, zu denen
Deutschland gedrängt wurde«, und es sei »finsterste Winkelakrobatik, wenn man Deutschland vorwirft, es sei bei den Rettungsaktionen
zu knausrig, und ihm andererseits seine großen Exportüberschüsse anlastet«, schickte uns
Marcel Fratzscher eine kritische Replik. Die
Reaktion aus München nach deren Veröffentlichung kam prompt : Hans-Werner Sinn formu-
273
Ulrich Wilhelm
DAS HAT ER SICH VERDIENT –
ÜBER DIE MEDIENMARKE
HANS-WERNER SINN
Im Dienste der Profession
Ulrich Wilhelm, Journalist und
Jurist, ist seit 2011 Intendant des
Bayerischen Rundfunks und seit
2013 Mitglied im Executive Board
der Europäischen Rundfunkunion
(EBU). Von 2005 bis 2010 war er
Chef des Presse- und Informa­
tionsamtes der Bundesregierung
sowie Regierungssprecher.
274
Für viele Journalisten ist Hans-Werner Sinn
ein »Medienstar«. Ein vergiftetes Lob ? Je mehr
Sendeplätze und Kolumnen einer füllt, desto
argwöhnischer wird gefragt : Ist diese Medienpräsenz wirklich gerechtfertigt, stehen dahinter auch gute und substanzielle Gedanken ? Bei
Hans-Werner Sinn wird das wohl niemand bestreiten können. Kaum ein deutscher Ökonom
hat es geschafft, so zu einem Meister des Agenda Settings zu werden wie Hans-Werner Sinn –
dank einer klaren Haltung und sicher auch
dank des Umstandes, zur richtigen Zeit mit
den richtigen Inhalten am richtigen Ort gewesen zu sein.
Zusammen mit seiner Frau Gerlinde beschreibt und kritisiert er 1991 in dem Buch
Kaltstart die wirtschaftliche Gestaltung der
Wiedervereinigung. Wenige Jahre später gibt
er wesentliche Impulse für die Entwicklung
der »Riester-Rente« : In einem Gutachten des
Wissenschaftlichen Beirats beim Bundeswirtschaftsministerium formuliert er Eckpunkte
für eine kapitalgedeckte Zusatzrente – nicht
unbedingt zur Freude des damaligen Bundesarbeitsministers Norbert Blüm.
2003 veröffentlicht er seinen Bestseller Ist
Deutschland noch zu retten? – ein Buch, mit
dem er die Debatte um Gerhard Schröders
Agenda 2010 anfeuert, auch wenn dieser später
einmal über ihn sagen wird : »Dieser Herr
Sinn – oder heißt er Unsinn ?« Dabei lässt sich
Hans-Werner Sinn keiner politischen Couleur
zuordnen oder »unterordnen«, wie er sagen
würde, er sieht sich als Mitglied der »Wissenschaftspartei«.
Wahrgenommen wird, wer Gelegenheiten
beim Schopfe packt. Historische Zäsuren sind
dafür ein gutes Umfeld. Der Fall der Mauer
brachte eine Neuausrichtung des Medieninteresses. Die Politik wurde ökonomischer, die Berichterstattung ebenfalls. Das »Gleichgewicht
des Schreckens« war der Aufmacher von gestern, die »Globalisierung« wurde zur neuen
Headline. Hans-Werner Sinns akademische
All das ohne großen Pressestab und Ghost­
writer. Der einzige Luxus, den er sich gönnt :
Ab und zu nimmt er sich eine Auszeit, um in
Ruhe ein Buch zu Ende zu schreiben.
Das Handelsblatt kann ihn in einer Titelgeschichte als »Falschen Propheten« brandmarken – und freut sich doch weiterhin über seine
engagierten Meinungsartikel. Selbstverständlich, unverdrossen, und warum auch nicht ?
Hans-Werner Sinn hat sich auf diese Spielregeln eingestellt. Selbstironie gehört auch dazu.
Alle kennen seinen markanten Bart, weshalb
die taz aus ihm schon mal »Käpt’n Ahab im ifo«
machte. Seitdem ziert der Artikel, eingerahmt
zwischen akademischen Würden, den Flur des
ifo Instituts – aufgehängt vom Chef persönlich.
Medienverstand mal Tempo plus Inhaltstiefe
hoch Fleiß – mit dieser Formel ist der Ökonom
Sinn zur Medienmarke geworden. Mit handwerklichem Geschick, Mut zur Meinung und
fachlicher Brillanz. Dieses rare Angebot wird
auch weiterhin auf starke Nachfrage treffen.
Denn Hans-Werner Sinn liebt den Dialog mit
der Öffentlichkeit. Als Ökonom weiß er : Aufmerksamkeit ist eines der knappen Güter un­
serer Zeit. Wir schenken sie ihm, er schenkt sie
uns. Ob er sie verdient hat, mag sein Publikum
entscheiden. Dass er sie sich verdient hat, ist
­gewiss.
Im Dienste der Profession: Hans-Werner Sinn als Motor des Wandels
Entwicklung und die relevanten Fragen dieser
Zeit – sie laufen synchron.
Zur richtigen Zeit mit passendem Profil am
richtigen Ort – das ist eine fraglos notwendige,
aber sicher nicht hinreichende Bedingung für
Hans-Werner Sinns Medienerfolg. Ein Erfolg,
der kam, weil Wissenschaft für ihn nicht Selbstzweck ist. »In der Universität hat man doch
­einiges zu sagen, und ich möchte, dass das gehört wird« – mit diesem wissenschaftlichen
Selbstbewusstsein tritt Sinn auf. Und das verständlich und, wenn gewünscht, auch in 30 Sekunden. Bei ihm wird in deutscher Sprache
­lebendig, was sonst vor allem angelsächsischen
Ökonomen zugeschrieben wird. Die renommierte britische Zeitung The Independent wählte ihn vor diesem Hintergrund 2011 zu den
»Ten People Who Changed The World«, vor
­allem wegen seiner erhellenden Analysen der
Finanzkrise. Einem so technisch klingenden
Begriff wie »Target-Salden« wird durch ihn Leben eingehaucht.
All das zeigt : Hans-Werner Sinn hat das
­zentrale Themenfeld Wirtschaft mit den Be­
dürfnissen der Medienöffentlichkeit versöhnt.
Selbst die immer anspruchsvolleren Rhythmen
der Medienwelt bewältigt er in einem atem­
beraubenden Pensum. Er steht in- und ausländischen Reportern zur Verfügung, gibt Radiointerviews und bezieht in Talkshows Position.
275
HWS und der ehemalige bayerische Wirtschaftsminister Otto
Wiesheu bei der 60-Jahr-Feier des
ifo Instituts im Juni 2009.
Meinhard Knoche, Wilhelm
S­ imson – seinerzeit ifo-Ver­
waltungsratsvorsitzender – und
HWS in der Jahresversammlung
des ifo Instituts 2010.
Koryphäen der Volkswirtschaftslehre bei HWS’ Geburtstagskon­
ferenz im April 2008: ( von links
nach rechts ) Peter Birch Sørensen,
Sir James Mirrlees, Monika
­Schnitzer, Assaf Razin, John D.
Wilson und Michael Keen.
276
Nobelpreisträger Robert Solow
und HWS bei der CESifo Economic
Studies Konferenz »What’s
Wrong with Modern Macro­
economics?« 2009.
»Griechen zwangsgerettet –
­Europa gespaltet?« ( von links nach
rechts ) Michalis Pantalouris,
­Peter Altmaier, Günter Verheugen,
HWS und Silvia Wadhwa, bei
Maybrit Illner am 16. Juli 2015.
Professorenkollegen und gute
Freunde: Pierre Pestieau,
­Robin Boadway und HWS im Juni
2009 am Rande der Richard
­Musgrave Lecture in München.
277
ANHANG
BILDNACHWEISE
Sämtliche Autorenporträts wurden von den jewei­
ligen Autoren zum Zwecke der Veröffentlichung in
diesem Buch zur Verfügung gestellt. Die Bildrechte
liegen bei den Autoren, sofern es nicht anders
angegeben wird.
VORWORT
Fotos zur Zeitgeschichte:
S. 12 oben
Romy Bonitz, 22.10.2008
S. 12 Mitte
Romy Bonitz, 12.06.2015
S. 12 unten
Kinga Bien, 22.06.2004
S. 13 oben
Romy Bonitz, 29.06.2006
S. 13 Mitte
dpa, 17.10.2014
S. 13 unten
Falk Heller/argum, 07.05.2002
KAPITEL 1
Autorenporträts:
S. 16
Barbara Hartmann
S. 22
Erzbischöfliches Ordinariat
München (Fotograf : Klaus D. Wolf)
S. 30
Xinwei Zhang, zuerst veröffentlicht
im International Talent Magazine
(China)
S. 41
Reto Klar
Anhang
Fotos zur Zeitgeschichte:
S. 44 oben
Lorenz Böck, 25.04.2008
S. 44 Mitte
Markus Siebler, 20.11.2013
S. 44 unten
dpa, 20.04.2009
S. 45 oben
Romy Bonitz, 22.04.2009
S. 45 Mitte
dpa – Bildarchiv, 18.02.2004
S. 45 unten
Andrea Rapl, 05.08.2008
280
KAPITEL 2
Autorenporträts:
S. 52
Alessandra Schellnegger
S. 62
Tristan Rösler Photography
S. 64
Deutscher Bundestag/
Stella von Saldern
Fotos zur Zeitgeschichte:
S. 68 oben
ifo, 10.11.1999
S. 68 Mitte
Romy Bonitz, 04.02.2014
S. 68 unten
Romy Bonitz, 11.10.2007
S. 69 oben
Romy Bonitz, 28.09.2015
S. 69 Mitte
Romy Bonitz, 13.07.2013
S. 69 unten
Klaus-Reiner Klebe, 02.05.2003
KAPITEL 3
Autorenporträts:
S. 84
Jan Voth
Fotos zur Zeitgeschichte:
S. 90 oben
Romy Bonitz, 28.06.2010
S. 90 Mitte
Hilmar Jönke, 06.11.2001
S. 90 unten
Renate Meitner, 04.07.2014
S. 91 oben
Klaus-Reiner Klebe, 02.05.2003
S. 91 Mitte
Ulf Huber, 21.06.1999
S. 91 unten
Klaus-Reiner Klebe, 05.05.2006
KAPITEL 4
Fotos zur Zeitgeschichte:
S. 112 oben
Kinga Bien, 24.11.2004
S. 112 Mitte
Romy Bonitz, 24.01.2006
S. 112 unten
Romy Bonitz, 29.06.2007
S. 113 oben
Kinga Bien, 22.06.2004
S. 113 Mitte
Romy Bonitz, 25.10.2010
S. 113 unten
Romy Bonitz, 12.06.2015
Fotos zur Zeitgeschichte:
S. 138 oben
Lorenz Böck, 21.05.2015
S. 138 Mitte
Romy Bonitz, 04.02.2013
S. 138 unten
Romy Bonitz, 25.10.2012
S. 139 oben
Lorenz Böck, 21.05.2015
S. 139 Mitte
CES, 1992/93
S. 139 unten
Romy Bonitz, 17.04.2008
KAPITEL 6
Autorenporträts:
S. 148
Julica Bracht/RWI
S. 156
Laurence Chaperon
Fotos zur Zeitgeschichte:
S. 160 oben
Leonhard Lenz, 06.06.2009
S. 160 Mitte
Hilmar Jönke, 19.11.2002
S. 160 unten
Romy Bonitz, 13.05.2015
S. 161 oben
Markus Zimmer, 19.11.2014
S. 161 Mitte
Romy Bonitz, 12.06.2015
S. 161 unten
Romy Bonitz, 20.01.2010
KAPITEL 7
Autorenporträts:
S. 168
Laurence Chaperon
S. 170
Frank Rumpenhorst/Bundesbank
S. 176
David Ausserhofer
Fotos zur Zeitgeschichte:
S. 184 oben
Lorenz Böck, 29.04.2010
S. 184 Mitte
Andrea Rapl, 05.08.2008
S. 184 unten
Romy Bonitz, 10.10.2007
S. 185 oben
Romy Bonitz, 28.05.2014
S. 185 Mitte
Lorenz Böck, 29.04.2010
S. 185 unten
Romy Bonitz, 26.04.2008
KAPITEL 8
Autorenporträts:
S. 202
Nordrhein-westfälische
­Akademie der Wissenschaften
Ilja C. Hendel/BMF
S. 216
Fotos zur Zeitgeschichte:
S. 218 oben
Ulf Huber, 21.06.1999
S. 218 Mitte
Lorenz Böck, 21.05.2015
S. 218 unten
Romy Bonitz, 28.06.2006
S. 219 oben
Romy Bonitz, 14.06.2013
S. 219 Mitte
Romy Bonitz, 14.06.2013
S. 219 unten
Romy Bonitz, 26.06.2013
KAPITEL 9
Autorenporträts:
S. 230
Jörg Carstensen/dpa
Stefan Brending
S. 240
Fotos zur Zeitgeschichte:
S. 244 oben
Leonhard Lenz, 06.06.2008
S. 244 Mitte
Hilmar Jönke, 25.11.2013
S. 244 unten
Romy Bonitz, 26.04.2008
S. 245 oben
Romy Bonitz, 10.10.2007
S. 245 Mitte
Lorenz Böck, 20.05.2011
S. 245 unten
Klaus-Rainer Klebe, 04.05.2006
KAPITEL 10
Foto im Beitrag von Ulrich Wilhelm:
S. 275 Romy Bonitz, 29.06.2006
Fotos zur Zeitgeschichte:
S. 276 oben
Romy Bonitz, 23.06.2009
S. 276 Mitte
Romy Bonitz, 28.06.2010
S. 276 unten
Lorenz Böck, 25.04.2008
S. 277 oben
Romy Bonitz, 06.11.2009
S. 277 Mitte
dpa, 16.07.2015
S. 277 unten
Romy Bonitz, 25.05.2009
KARIKATUREN
S. 14 :
S. 46 :
S. 70 :
S. 92 :
S. 114 :
S. 140 :
S. 162 :
S. 186 :
S. 220 :
S. 246 :
Torsten Wolber
Torsten Wolber
Bernhard Prinz
Torsten Wolber
Torsten Wolber
Dirk Meissner
Heiko Sakurai
Miriam Migliazzi & Mart Klein
Bernhard Prinz
Frank Hoppmann
Anhang
KAPITEL 5
281
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2 3 4 5 20 19 18 17 16
© 2016 Carl Hanser Verlag München
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unter Verwendung einer Fotografie von Romy Bonitz
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Sinn_02_festschrift_anhang.indd 282
17.02.2016 12:44:11
DIE WICHTIGSTEN WERKE
VON HANS-WERNER SINN
Der Euro. Von der Friedensidee zum Zankapfel
Carl Hanser Verlag, 2015, 560 Seiten, auch als E-Book erhältlich
Die Target-Falle. Gefahren für unser Geld und unsere Kinder
Carl Hanser Verlag, 2012, 418 Seiten, auch als E-Book erhältlich
Kasino-Kapitalismus. Wie es zur Finanzkrise kam, und was jetzt zu tun ist
Zuerst erschienen im Econ Verlag, 2009, 351 Seiten
Das grüne Paradoxon. Plädoyer für eine illusionsfreie Klimapolitik
Zuerst erschienen im Econ Verlag, 2008, 477 Seiten
Die Basar-Ökonomie. Exportweltmeister oder Schlusslicht?
Zuerst erschienen im Econ Verlag, 2005, 247 Seiten
Ist Deutschland noch zu retten?
Zuerst erschienen im Econ Verlag, 2003, 499 Seiten
Kaltstart. Volkswirtschaftliche Aspekte der deutschen Vereinigung
Zuerst erschienen im Mohr Siebeck Verlag, 1991, 242 Seiten
Weitere Informationen zum Autor und seinen Büchern:
www.hanswernersinn.de
25 JA HR E DEUTSCHE
WIRTSCHA FTSPOLITIK
Hans-Werner Sinn hat wie kein anderer Wissenschaftler die wirtschaftspolitische Diskussion der letzten 25 Jahre in Deutschland geprägt.
Anlässlich seines Eintritts in den Ruhestand als Präsident des ifo Instituts
sowie als Professor an der Universität München stellen in diesem
Buch 111 bedeutende Persönlichkeiten aus Wissenschaft, Politik, Wirtschaft und Medien ihre Sicht auf die wichtigsten Themen dieser
Debatte vor. Damit liefert das Buch nicht nur einen Rückblick auf Sinns
öffentliches Wirken, sondern bietet zugleich eine geschichtliche
Tour d’Horizon der großen Streitfragen eines Vierteljahrhunderts
deutscher und europäischer Wirtschaftspolitik.
ISBN 978-3-446-44791-2
24,90 € [D] 25,60 € [A] WG 970
www.hanser-literaturverlage.de

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