Abgehoben?

Transcrição

Abgehoben?
Ausgabe 04 | 2014 | siemens.com/mobility
ITS magazine
Fachmagazin für Straßenverkehrstechnik
Abgehoben?
Wie durch Wechselwirkungen zwischen
Science und Fiction neue Konzepte für die
terrestrische Mobilität entstehen könnten
Stairway to Heaven
Warum intelligent gestaffelte
Mobility Services Effizienz­
vorteile in der Instandhaltung
bringen
„Was man heute als Science-Fiction
beginnt, wird man morgen
vielleicht als Reportage zu Ende
schreiben müssen.“
Norman Mailer
Editorial | ITS magazine 4/2014
Liebe Leserin,
lieber Leser,
kreative Inspiration, erhellende
Erkenntnisse, hohe Planungssicherheit, schiere Neugier oder reine Unterhaltung: Es gibt viele Gründe dafür,
über den Tellerrand der Gegenwart
hinauszublicken. Für den englischen
Literatur-Nobelpreisträger John Galsworthy stand fest: „Wer nicht über
die Zukunft nachdenkt, wird nie eine
haben.“ Zum Glück haben sich aber
nicht nur Dichter und Denker mit der
Frage beschäftigt, sonst wäre einer
der pointiertesten Sätze dazu vermutlich nie gesagt worden: „Gehe nicht
dahin, wo der Puck ist“, empfahl die
kanadische Eishockey-Legende Wayne
Gretzky einem Mitspieler, „gehe
dahin, wo der Puck sein wird.“
Das Antizipieren von Chancen
gehört natürlich für uns Verkehrsexperten ebenfalls zum großen Einmaleins. Deshalb macht sich die Zukunft
der Mobilität schon seit jeher auch im
ITS magazine ziemlich breit. Bisher
jedoch stützten sich die entsprechen-
den Geschichten in der Regel auf
bereits existierende Trends, sich
bereits anbahnende Entwicklungen
und bereits mehr oder weniger durchdeklinierte Technologien. Im Themenfokus dieser Ausgabe gehen wir noch
einen Schritt weiter.
Wir haben zum Beispiel auf die
Reißbretter von Visionären wie dem
US-amerikanischen Multiunternehmer
Elon Musk geschaut, der Menschen
mit Überschallgeschwindigkeit durch
teilvakuumierte Röhren schießen will.
Wir haben Schüler des Albert-EinsteinGymnasiums in München nach ihren
Vorstellungen von der Mobilität von
morgen gefragt. Und wir haben mit
Thomas Le Blanc gesprochen, der eine
einzigartige „Phantastische Bibliothek“
mit mehr als 250.000 Büchern zu
futuristischen Themen betreibt.
Auch wenn manches von dem, was
darin beschrieben wird, aus heutiger
Sicht abgehoben erscheint: Einige der
geschilderten Mobilitätskonzepte sind
durchaus einen zweiten Blick wert.
Was Le Blanc über die Wechselwirkungen zwischen Science und Fiction zu
sagen hat, ist jedenfalls nicht nur
spannend zu lesen, es erklärt auch,
warum sich die Autoindustrie zunehmend für die gesellschaftlichen und
verkehrlichen Szenarien in der
Zukunftsliteratur interessiert.
Wie schnell sich in unserer hochtechnisierten Zeit Utopien in Realität
verwandeln können, wurde selten
besser auf den Punkt gebracht als
vom umstrittenen Bestsellerautor
Norman Mailer: „Was man heute als
Science-Fiction beginnt, wird man
morgen vielleicht als Reportage zu
Ende schreiben müssen.“ Ich wünsche
Ihnen wie immer viel Spaß bei der
Lektüre.
Herzlichst Ihr
Markus Schlitt
3
ITS magazine 4/2014 | Im Fokus
Inhalt
13
16
Im Fokus
06 13
16
4
„Verschiedene Grade von Unwahrscheinlichkeit“
Thomas Le Blanc, Leiter der Phantastischen
Bibliothek in Wetzlar, über die Wechselwirkungen
zwischen Science und Fiction, die in der Zukunftsliteratur favorisierten Konzepte für die terrestrische
Mobilität und das wachsende Interesse der
Autoindustrie an den futuristischen Szenarien
Von oben bis unten
In der Horizontalen ist es schwierig, dem Stau
aus dem Weg zu fahren. Wahrscheinlich suchen
deshalb so viele Visionäre das Heil in der Vertikalen:
Sie wollen Menschen oder Güter einfach oben
drüber schicken oder unten durch – die einen mit
mehr, die anderen mit weniger realistischen
Konzepten
Mobilität X Punkt Null
Wie stellen sich eigentlich Jugendliche die
Mobilität von morgen vor? Schüler des Münchner
Albert-Einstein-Gymnasiums haben einfach mal
draufloskonzipiert – ganz ohne die berühmte
Schere im Kopf, die Experten beim Brainstorming
oft in die Quere kommt
Trends & Events
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Stairway to Heaven
Intelligent gestaffelte Mobility Services leiten
einen Paradigmenwechsel bei der Instandhaltung
verkehrstechnischer Anlagen ein. Unter dem Strich
steht ein veritabler Effizienzgewinn
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Wir müssen reden
Auf der Strecke zwischen Rotterdam und Wien
werden Fahrzeuge schon bald direkt miteinander und
mit der Infrastruktur sprechen. Wie eine Demo-Tour
im November zeigte, ist die Technologie fit für die Praxis
23Eventnews
Kurzberichte von der Gulf Traffic in Dubai und von
der InnoTrans in Berlin
Partner & Projekte
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Im Chancen-Reich
Bei der Gestaltung eines Wahl-Moduls für den erfolgreichen Master-Studiengang „Transportation Systems“
setzt die TU München auch auf das Know-how der
Experten von Siemens
Im Fokus | ITS magazine 4/2014
Schaufenster
zur Zukunft
Ist Science-Fiction-Literatur mehr
als reine Unterhaltung? Die Auto­
industrie jedenfalls interessiert sich
ernsthaft für die gesellschaftlichen
und verkehrlichen Szenarien in
futuristischen Romanen
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25Shortcuts
Aktuelle Projekte im Bereich Straßenverkehrstechnik
in Polen, Deutschland, China und den Niederlanden
Profil
30
Wissen & Forschung
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Daten à la Carte
Neben der guten alten Induktionsschleife stehen
heute eine ganze Reihe neuer Meisterdetektive zur
Verfügung. Die unterschiedlichen Technologien
ermöglichen die maßgeschneiderte Erfassung von
Informationen
Mobilität & Lebensraum
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Himmlisch effizient
In nur drei Monaten wurde das Mautsystem der
Slowakei um über 15.000 Kilometer erweitert – im
laufenden Betrieb und ohne Investitionen in
straßenseitige Anlagen. Dass dies möglich war,
ist ein Geschenk des Himmels. Oder genauer:
ein entscheidender Vorteil der modernen
Kombination aus Satellitennavigation und mobiler
Kommunikation
„Ein großer Schritt zur Vision Zero“
Roland Wunder, Product Manager Kooperative
Systeme bei Siemens Mobility, über den volkswirtschaftlichen Nutzen der Car2X-Communication, die
organisatorischen Herausforderungen beim Aufbau
des ITS-Korridors Rotterdam-Wien und die Roadmap
zum autonomen Fahren
Rubriken
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Im Seitenspiegel
Nachdenkliches und Quergedachtes zur Zukunft
der Mobilität: „Visionen für die Cloud“
32Impressum
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ITS magazine 4/2014 | Im Fokus
„Verschiedene
Unwahrschein
Interview Thomas Le Blanc, Gründer und Leiter
der Phantastischen Bibliothek in Wetzlar, über die
Wechselwirkungen zwischen Science und Fiction,
die in der Zukunftsliteratur favorisierten Konzepte für die terrestrische Mobilität und das
wachsende Interesse der Autoindustrie an den
futuristischen Szenarien.
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Im Fokus | ITS magazine 4/2014
Grade von
lichkeit“
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ITS magazine 4/2014 | Im Fokus
Ganz oben: Der myCopter, eine Studie zum möglichen Aussehen eines Personal Aerial Vehicles*:
„Wenn wir uns in der dritten Dimension über unseren Straßen bewegen könnten, würde es die
Automobilität auch weiterhin geben. Und auch die entsprechende Industrie, die dann möglicherweise sowohl Bodenwagen als auch Flugautos produziert – zweifellos ein toller Markt“
(Oben und rechts) Forschungsfahrzeug von VW, Ladesystem eines Elektroautos, futuristisches
Display: „Die Autohersteller wollen von uns nicht wissen, welches Modell sie 2044 anbieten sollen,
sondern ob es dann überhaupt noch eine Nachfrage nach Autos gibt“
* Die grundlegenden Technologien für eine sichere, umweltfreundliche und von der Gesellschaft akzeptierbare Fortbewegung in der dritten Dimension wurden im EU-Projekt myCopter (www.mycopter.eu) vom Max-Planck-Institut für biologische
Kybernetik und führenden Institutionen und Universitäten in Europa untersucht
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Im Fokus | ITS magazine 4/2014
„Beamen ist nicht ausgeschlossen,
aber wohl erst in 200, 300 Jahren
umsetzbar“
Stadtverkehr in Dubai,
Computer-Artwork zum
Thema Teleportation:
„Vielleicht gibt es in der
Zukunft Städte, die
Besucher damit anlocken,
dass sie noch Autos
in ihre City lassen“
Herr Le Blanc, wir sitzen hier zwischen mehr als 250.000 Titeln fantastischer Literatur, in trauter Eintracht mit Aliens und Androiden, in
einer Welt der Warp-Antriebe und
Materietransmitter. Wie viel Prozent
von all dem hier ist Science – und
wie viel Prozent Fiction?
Sagen wir einmal so: Für unser Forschungsprojekt „Future Life“, in dessen
Rahmen wir die in der Science-FictionLiteratur beschriebenen Ideen systematisieren und bewerten, haben wir
rund 100.000 Titel ausgewählt. Diese
Werke beinhalten mehr oder weniger
ernsthafte Denkmuster von Autoren,
die sich zumindest darum bemühen,
ihre fiktiven Welten wissenschaftlich
zu erklären und nicht über Zauberei
oder Spökenkiekerei. Und glauben
Sie mir: Mit diesen 100.000 Büchern
sind wir bei unseren Analysen mehr
als gut beschäftigt.
Im parallelen Kult-Universum von
Star Trek beamt der gute alte Scotty
Menschen, Klingonen und Vulkanier
von einem Ort zum anderen, im
richtigen Leben gelang inzwischen
immerhin die Teleportation von
Quantenzuständen. Ist das Beispiel
typisch für den Realitätsbezug von
Science-Fiction?
Grundsätzlich gibt es in der Zukunftsliteratur natürlich verschiedene Grade
von Unwahrscheinlichkeit. Nehmen Sie
das Roboterauto: In der Realität entwächst es gerade dem Forschungsstadium, in der Fiktion gehört es längst zu
den massenhaft verbreiteten Transportmitteln. Die Beschreibungen können
der Industrie also durchaus Vorstellungen davon vermitteln, wie die Menschen mit dieser Technologie umgehen
werden. Parallel dazu haben wir es mit
Szenarien zu tun, die deutlich weiter in
der Zukunft liegen. Die liefern mitunter
ebenfalls hochinteressante Antworten –
unter anderem auf die Frage: Auf welche Ideen kommen Menschen, wenn
sie über grenzenlose Möglichkeiten und
Ressourcen verfügen? Aber natürlich
stoßen wir auch auf technologische
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ITS magazine 4/2014 | Im Fokus
Konzepte, von denen wir uns heute
nur schwer vorstellen können, dass sie
funktionieren werden. Das Beamen fällt
zweifellos derzeit noch in diese Kategorie, auch wenn der Wiener Professor
Anton Zeilinger seine Versuche zur Verschränkung von Quanten unter dieser
medienwirksamen Überschrift laufen
lässt. Meines Erachtens ist das lediglich
ein PR-Gag. Was an sich erst einmal gar
nichts Schlechtes ist, weil es in der
Öffentlichkeit die Bereitschaft weckt,
sich auf ungewöhnliche Gedankenspiele in Sachen Mobilität einzulassen.
Um zumindest eine Ahnung vom
Facettenreichtum der Ideen allein in
Bezug auf die terrestrische Mobilität
zu bekommen: Könnten Sie einige
kreative Superlative skizzieren, die
den Besucher in der Phantastischen
Bibliothek erwarten?
Die weitreichendste Zukunftsvision ist
sicherlich das Beamen: nicht gänzlich
ausgeschlossen, aber vermutlich erst in
200, 300 Jahren umsetzbar. Am interessantesten erscheint mir das Flugauto –
vor allem, wenn wir unterstellen, dass
relativ bald der Antigravitationsantrieb
erfunden wird, was aus meiner wissenschaftlichen Sicht durchaus passieren
kann. Dann hätten wir die dritte Dimension und könnten uns problemlos auch
in der Luft über unseren Straßen bewegen. Das wiederum würde bedeuten,
dass es die Automobilität weiterhin
geben wird. Und auch die entsprechende Industrie, die dann möglicherweise sowohl Bodenwagen als auch
Flugautos produziert – zweifellos ein
toller Markt. Für eines der wahrscheinlichsten Konzepte, die uns in der
Science-Fiction oft begegnen, halte ich
die Weiterentwicklung der Car-SharingModelle, die in der Realität noch in
den Kinderschuhen stecken. In der
Zukunftsliteratur besitzen die Menschen in der Regel keine Autos mehr, sie
benutzen autonome, ein- bis maximal
zweisitzige Fahrzeuge, die überall in
den Städten am Straßenrand stehen
und sich mit Hilfe eines im Körper
implantierten Chips starten lassen. Die
kleinen Cabs sind elektrogetrieben,
müssen aber nicht an die Tankstelle,
weil sie während der Fahrt induktiv
geladen werden. Für die Industrie
bedeutet das: Kein Mensch kauft sich
noch ein eigenes Auto, schon gar nicht
zum Angeben. Der Fokus liegt nicht
mehr auf Leistung, Image und Status,
10
sondern eher auf der Zuverlässigkeit,
weil die Fahrzeuge nicht mehr wie
heute größtenteils irgendwo herumstehen, sondern fast nonstop unterwegs
sind.
Das klingt aber nach einem vorprogrammierten Abschied von der
vielzitierten Freude am Fahren…
Wer weiß? Vielleicht gibt es in der
Adaptionszeit noch spezielle Resorts
für passionierte Selbstfahrer: so eine
Art Disneylands – oder einzelne
Städte, die Besucher damit anlocken,
dass sie noch Autos nach heutiger
Wie weit voraus blicken denn die
seriöseren unter den Autoren im
Durchschnitt?
Das ist sehr unterschiedlich. Manche
schauen nur ein paar Jahre in die
Zukunft – oder nicht einmal das, weil
die Technologien, die sie beschreiben,
schon in der Gegenwart existieren, wie
etwa beim Roboterauto. Ein besonderer
Reiz liegt meines Erachtens übrigens
auch in Zukunftsromanen älteren
Datums, die in einer Zeit spielen, die
damals noch Zukunft war und heute
bereits Vergangenheit ist. Es kann sehr
spannend sein zu ana­lysieren, welche
„Gute Science-Fiction muss
plausibel sein, sonst ist es keine
gute Science-Fiction“
Bauart in ihre City lassen. Über die
Übergänge von einem Mobilitätskonzept zum anderen macht sich der Science-Fiction-Autor ja keine Gedanken:
Der lässt seinen Protagonisten einfach
morgens aus dem Haus gehen und
irgendwo einsteigen.
Das futuristische Car-Sharing-Modell,
das Sie gerade beschrieben haben,
ist im Wesentlichen die fiktive
Vollendung einer Entwicklung, die
sich heute bereits abzeichnet. Wie
oft treffen Sie bei Ihren Analysen
auf Mobilitätskonzepte, für die es
noch gar keine Entsprechungen in
der Gegenwart gibt?
Unterm Strich kommt das nach meiner Beobachtung sogar weitaus
häufiger vor. Ich glaube, die meisten
Ideen entstehen dadurch, dass sich
der Autor fragt: Was gefällt mir nicht
an der Welt, in der ich lebe? Und
dann lässt er seiner Fantasie – und
seinem oft bemerkenswerten naturwissenschaftlichen Wissen – freien
Lauf. Er überlegt sich beispielsweise,
wie die Geschichte der Mobilität
eigentlich weitergegangen wäre,
wenn man sich Ende des 19. Jahrhunderts anders entschieden hätte.
Wenn man also damals nicht dem
Konzept des Verbrennungsmotors
von Herrn Otto, sondern gleich dem
des Elektroantriebs von Herrn Siemens
gefolgt wäre.
Visionen des Autors eingetroffen sind
und welche nicht – und sich zu überlegen, warum es in dem einen Fall so
kam und in einem zweiten anders. Im
krassen Gegensatz dazu gibt es auch
Geschichten, die im Jahr 3000, 5000
oder 10.000 spielen – das hat dann
aber sicherlich kaum mehr etwas mit
Science, sondern nur noch mit Fiction
zu tun. Für die interessantesten und
für unsere Auswertungen ergiebigsten
halte ich grundsätzlich die Romane, die
etwa 20, 30 Jahre vorausblicken.
Wie plausibel sind in diesen Fällen
die physikalischen und soziolo­
gischen Ausgangsbedingungen,
von denen aus die Schriftsteller ihre
Utopien entwickeln?
Gute Science-Fiction muss plausibel
sein, sonst ist es keine gute Science-Fiction. Das heißt selbstverständlich nicht,
dass alle darin erwähnten Technologien
bereits bekannt oder mit aktuellem
Wissen erklärbar sein müssen. Aber
die Annahmen dürfen nicht gegen die
Grundgesetze der Logik verstoßen, und
es darf keine Brüche in der Argumentation geben. Wenn der Autor zum Beispiel
einen neuen Werkstoff mit gewissen
Eigenschaften in die Handlung einführt,
dann muss alles, was darauf aufgebaut
wird, in sich definitiv stimmen.
Welche futuristischen Antriebskonzepte stehen bei den Autoren gene-
Im Fokus | ITS magazine 4/2014
rell besonders hoch im Kurs, wenn es
um die irdische Mobilität geht?
Die Science-Fiction ist natürlich auch
immer eine Literatur ihrer Zeit. Deshalb
finden sich etwa in den Werken der
1940er-Jahre sehr viele Fahrzeuge mit
Atomantrieben, weil man damals große
Hoffnungen in die Kernenergie setzte
und sich über die Nebenwirkungen
noch nicht wirklich im Klaren war. Verbrennungsmotoren gaben in der
Zukunftsliteratur nur zwei relativ kurze
Gastspiele: zunächst kurz nach Geburt
des Genres im früheren 20. Jahrhundert
– und dann noch einmal in den 1950erund Anfang der 1960er-Jahre. Seit den
1970er-Jahren, also mit den ersten
ernsthaften Diskussionen um die Endlichkeit der fossilen Ressourcen, sind
sie eigentlich ganz aus den Romanen
verschwunden. In moderneren Werken
bewegen sich die Menschen in der
Regel per Elektroantrieb fort: in autonomen Autos, in Einschienen-Systemen
oder in unterirdischen Röhren. Die Energie dafür kommt entweder aus einem
Hochleistungsakku, der in der Realität
leider noch nicht zur Verfügung steht –
oder sie wird per Induktion von der Straßeninfrastruktur übertragen. Wobei wir
hier nur über den literarischen Konsens
reden, daneben gibt es natürlich jede
Menge mitunter sehr radikale Modelle.
Das geht teilweise so weit, dass die
Figuren in den Geschichten nur noch
zu Fuß gehen, weil es der Menschheit
nicht gelungen ist, ihre energetischen
Probleme zu lösen.
wissenschaftler, die mit manchen ihrer
Konzepte in der Realität noch an die
Grenzen des technologisch Machbaren
stoßen. In der Fiktion lassen sich diese
temporären Limits natürlich relativ
leicht überwinden. Auf der anderen
Seite gibt es die Spezialisten in den
Forschungs- und Entwicklungsabteilungen von Unternehmen, die permanent nach innovativen Lösungen für
die künftigen Wünsche und Bedürfnisse ihrer Kunden suchen. Und davon
hat die Science-Fiction einige zu bieten.
Es geht also im weitesten Sinn um
Marktforschung – jenseits von demoskopischen Meinungsumfragen
und Trendindikatoren?
Das müssten natürlich eigentlich
unsere Auftraggeber beantworten.
Auf jeden Fall ist es so, dass sich die
Firmen normalerweise nicht für ganz
bestimmte spekulative Ingenieurleistungen interessieren, sondern vielmehr für Szenarien, die in der Zukunft
denkbar wären.
Welche Einsichten erhoffen sich
zum Beispiel die Autohersteller, die
Ihre Dienste in Anspruch nehmen?
Im Wesentlichen geht es den Unternehmen um allgemeine Strömungen
in der Gesellschaft. Alles andere macht
eigentlich auch keinen Sinn, da ein zu
eng eingestellter Fokus zu viele interessante Ansätze von vornherein ausklammern würde. Die Autohersteller
wollen also von uns nicht wissen, wel-
„Wird es künftig nur noch Nerds
geben, die lieber in der virtuellen
Welt unterwegs sind?“
In erster Linie zerbrechen sich die
Science-Fiction-Autoren ihre kreativen Köpfe, um Leser zu unterhalten.
Was genau versprechen sich die
Firmen und Institutionen, die Ihnen
den Auftrag erteilen, in der Zukunftsliteratur nach Antworten auf bestimmte Fragestellungen zu fahnden?
In der Science-Fiction steckt ganz
einfach ein riesiger Datenschatz von
Ideen, der bisher noch nicht gehoben
worden ist. Bei den Schriftstellern handelt es sich zum großen Teil um Natur-
ches Modell sie 2044 anbieten sollen,
sie interessieren sich eher dafür, ob es
dann überhaupt noch eine Nachfrage
nach Autos gibt. Die Fragen, die an
uns gestellt werden, lauten zum Beispiel: Wie leben die Menschen in
30 Jahren? Sind sie sozial eingestellt?
Reisen sie viel? Werden sie die immer
größeren zeitlichen und finanziellen
Freiräume, die ihnen die Technologie
eröffnet, dazu nutzen, um in der
Zukunft noch mehr unterwegs zu
sein? Oder wird es künftig nur noch
Nerds geben, die lieber virtuell reisen,
weil man die künstliche Welt von der
wirklichen gar nicht mehr richtig
unterscheiden kann?
Die Autoindustrie würde sicherlich
Variante eins favorisieren...
Ganz klar. Aber auch, falls Variante
zwei Realität würde, wäre es natürlich
von Vorteil, wenn man sich rechtzeitig
darauf vorbereiten kann. Wenn zum
Beispiel Daimler wüsste, dass die Menschen auch in der virtuellen Realität
noch Wert auf automobile Statussymbole legen, lohnt es sich ja vielleicht,
über die Entwicklung eines besonders
gut ausgestatteten Cyber-Mercedes
nachzudenken.
Liefert die Science-Fiction eine Antwort darauf, wie das heute schon
beginnende Wettrennen zwischen
physischer und virtueller Mobilität
ausgeht?
Zumindest ist eine Tendenz erkennbar: Die Mehrheit der Autoren unterstellt, dass wir Menschen als von
Grund auf soziale Wesen auch in
Zukunft noch aus uns herausgehen,
dass wir die vielfältigen Optionen der
Mobilität morgen sogar noch extremer nutzen werden, als wir das heute
bereits tun. Gleichzeitig wächst aber
auch die Zahl der Schilderungen einer
Welt, in der wir uns vollkommen in
die virtuelle Realität zurückziehen
und kaum noch einen Fuß vor die
Tür setzen. Das hat jedoch zum Teil
sicherlich auch damit zu tun, dass
unter den Fans von Science-Fiction
relativ viele Nerds sind, die natürlich
gern über etwas lesen, das sie selbst
praktizieren.
Wie könnte sich die Relation zwischen individueller und kollektiver
Mobilität in den nächsten Jahrzehnten entwickeln?
Diese Frage wird in Zukunft wahrscheinlich gar niemand mehr stellen,
weil die beiden Bereiche immer mehr
miteinander verschmelzen. Nehmen
Sie zum Beispiel das autonome einsitzige Elektroauto, über das wir vorhin
gesprochen haben: In der Stadt bin ich
damit natürlich individuell unterwegs,
um mehrere persönliche Ziele ohne
Umsteigen zu erreichen – auf weiteren
Strecken aber schließen sich die einzelnen Kabinen dann zu kollektiven Verbünden zusammen. Es ist also fast
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ITS magazine 4/2014 | Im Fokus
„Die Zukunftsliteratur hat nicht
nur eine Prognose-, sondern auch
eine Warnfunktion“
Zur Person
Thomas Le Blanc hat Mathematik und Physik studiert
und war zunächst Studienrat,
startete dann aber eine Laufbahn als freier Publizist mit
inzwischen über 1200 eigenen Veröffentlichungen.
1987 gründete er in Wetzlar
die Phantastische Bibliothek
mit heute über 250.000
Titeln aus dem Genre
Zukunftsliteratur. Im Rahmen
des Projekts „Future Life“
werden aus diesem riesigen
Reservoir technische und
systemische Ideen exzerpiert
und anhand bestimmter Fragestellungen für Unternehmen oder Forschungseinrichtungen ausgewertet.
unmöglich zu entscheiden, ob wir es
hier mit einem individuellen oder mit
einem kollektiven Verkehrsmittel zu
tun haben. Wir empfehlen auch jedem
Auftraggeber, den Fragenkatalog an
uns sehr breit anzusetzen. Denn auf
die von Ihnen angesprochene Differenzierung kommt es in 30, 40 Jahren
vermutlich nicht mehr an. Dann
geht es nur noch darum, wie gut die
Vernetzung funktioniert. Und der
Anspruch der Menschen wird dies­
bezüglich mit Sicherheit steigen.
Was die Verkehrsverantwortlichen
mindestens genauso brennend
interessiert: Gibt es auf den Verkehrswegen der Zukunft noch Staus?
In der Theorie dürfte es sie eigentlich
nicht mehr geben. Schon allein deshalb, weil die meisten Staus heute von
uns Menschen verursacht werden und
wir in Zeiten autonomer Fahrzeuge als
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Störfaktor mehr oder weniger aus­
fallen. In der Praxis ist es allerdings
höchst wahrscheinlich, dass irgendwo
in den automatisiert gesteuerten
Kolonnen einer mitfährt, der gerade
Lust aufs Selberfahren hat. Wenn der
dann das autonome System deaktiviert, ist das Chaos auch in der
Zukunft vorprogrammiert.
Und wenn sich das autonome System nicht mehr ausschalten ließe?
Das wird nicht passieren, weil sonst
kaum jemand ein solches Fahrzeug
benutzen würde. Dafür ist unsere
Skepsis gegenüber Maschinen zu groß.
Die sitzt nämlich noch tiefer, als viele
glauben. Im Prinzip haben wir es hier
mit unserer menschlichen Urangst
davor zu tun, uns der Technik komplett
auszuliefern und eines Tages komplett
von ihr abgelöst zu werden. Auch
dafür liefert die Science-Fiction jede
Menge Indizien. Und sie kann gewisse
Trends verstärken oder abschwächen,
indem sie den Leser mehr oder weniger dazu zwingt, sich gegenüber einer
bestimmten Idee zu positionieren.
Nach meiner Überzeugung hat die
Zukunftsliteratur nicht nur eine Prognose-, sondern auch eine Warnfunktion. Das eindrucksvollste Beispiel
dafür ist der Roman „1984“ von
George Orwell: Hätte es den nie gegeben, wäre der bürgerliche Widerstand
gegen den sogenannten Überwachungsstaat heute bei weitem nicht so
groß. Oder noch pointierter formuliert:
Die Vision „1984“ ist so lange nicht
eingetreten, weil der Roman „1984“
so eindringlich davor warnte.
Je autonomer der Verkehr der Zukunft wird, desto mehr stellt sich die
Frage: Wer wird ihn steuern? Hat die
Science-Fiction darauf eine Antwort?
In der Zukunftsliteratur sind das eher
die Konzerne und weniger die Staaten.
Das hängt vor allem mit einer Entwicklung zusammen, die längst begonnen
hat: Das Internet lässt sich lokal oder
national immer weniger überwachen.
Global Player wie Google beispiels-
weise werden also in 30, 40 Jahren
mehr Macht über unsere Bewegungsmuster haben als die Regierungen der
Länder, in denen wir leben. Das muss
nach meiner Überzeugung aber nicht
unbedingt ein Nachteil sein, solange
sich die Unternehmen ihrer Verantwortung bewusst sind.
Wie gewichten die Autoren denn
prinzipiell die verschiedenen
Faktoren, die zur Entwicklung
bestimmter Mobilitätskonzepte
führen – geht es vorwiegend um
Zeitgewinn, um Sicherheit oder
um Umwelt­verträglichkeit?
Dazu kann die Science-Fiction kaum
belastbare Aussagen machen. Für die
Autoren ist die Mobilität in der Regel
nur ein Nebenkriegsschauplatz: Sie ist
notwendig, damit der Held von A nach
B kommt. Aus welchen Gründen die
eine Mobilitätsform zur Verfügung steht
und die andere nicht, wird eher selten
thematisiert. In dem einen Roman
kommt die eine vor, in dem anderen
die andere, weil jeder Autor spezifische
Voraussetzungen für seine Geschichte
benötigt.
Gibt es Beispiele für mobilitätsspe­
zi­fische Strategien oder Konzepte,
die zunächst in der Zukunftsliteratur
beschrieben und später in mehr oder
weniger ähnlicher Form wirklich realisiert worden sind?
Als prominentester Vordenker in dieser
Hinsicht gilt sicherlich Jules Verne.
Er war zwar nicht der Erfinder des
U-Boots, wie man immer wieder mal
hört, aber er ist tatsächlich eng mit der
Historie des modernen Atom-U-Boots
verwoben. Als der US-amerikanische
Maschinenbauingenieur Simon Lake
Ende des 19. Jahrhunderts das Konzept
einer autarken U-Boot-Flotte realisierte,
hatte er ein klares Vorbild vor Augen:
die „Nautilus“ von Kapitän Nemo aus
dem Zukunftsroman „20.000 Meilen
unter dem Meer“.
Herr Le Blanc, wir danken Ihnen für
das Gespräch.
Im Fokus | ITS magazine 4/2014
Von oben bis unten
Futuristische Transportmittel In der Horizontalen ist es schwierig,
dem Stau aus dem Weg zu fahren. Wahrscheinlich suchen deshalb so
viele Visionäre das Heil in der Vertikalen: Sie wollen Menschen oder
Güter einfach oben drüber schicken oder unten durch – die einen mit
mehr, die anderen mit weniger realistischen Konzepten.
Skizze zum Projekt „Hyperloop”:
Tesla-Motors-Chef Elon Musk will
Menschen in Aluminiumkapseln mit
Überschallgeschwindigkeit durch
teilvakuumierte Röhren schießen
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ITS magazine 4/2014 | Im Fokus
(Oben links) Rohrpost-System CargoCap:
Ein interdisziplinäres Forscherteam der
Ruhr-Uni in Bochum möchte bestimmte
Frachtgüter künftig unterirdisch durchs
Ruhrgebiet schicken
(Oben rechts) AeroMobil-Prototyp 3.0:
Das Flugauto aus der Slowakei soll bereits 2016
serienreif werden – es braucht nur 200 Meter
Anlauf beim Start und 50 Meter Auslauf
bei der Landung
(Rechts) Terrafugia Transition: Ebenfalls im
kommenden Jahr will das US-Unternehmen mit
der Serienfertigung seines Flugautos beginnen
– angeblich gibt es schon 100 Vorbestellungen
zu einem Kaufpreis von 279.000 Dollar
„Erinnert Euch an meine Worte“: Wer
seine Sätze so einleitet, der hat für
gewöhnlich eine Mitteilung von größerer Tragweite zu machen. Das gilt
auch für Henry Ford, der 1940 eine
für damalige Verhältnisse mehr als
gewagte Prognose stellte – oder
soll man es Prophezeiung nennen?
„Irgendwann“, so ließ der Mann, der
als Erster Autos in Millionenstückzahlen von Fließbändern rollen ließ, seine
Zeitgenossen wissen, „irgendwann
wird es eine Kombination aus Flugzeug und Auto geben. Ihr könnt ruhig
lachen – aber so wird es kommen.“
Wenn es nach Carl Dietrich ginge,
dann wäre dieses „Irgendwann“
eigentlich schon längst gewesen.
Seine im US-Bundestaat Massachusetts beheimatete Firma Terrafugia
verkündete nämlich bereits des Öfteren den unmittelbar bevorstehenden
Start der Serienfertigung des ersten
Flugautos. 2016 soll es nun aber endgültig losgehen. Laut Dietrich gibt es
bereits 100 Vor­bestellungen zu einem
Kaufpreis von 279.000 Dollar. Ein Prototyp des ersten Modells Terrafugia
Transition ist bereits öffentlichkeitswirksam abgehoben.
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Angetrieben wird das multitalentierte Gerät von einem 104 PS starken
Rotax-Motor, der eine maximale Fluggeschwindigkeit von 185 km/h ermöglicht und eine Höchstgeschwindigkeit
auf der Straße von 105 km/h. Die
Karosserie besteht aus Kohlefaserverbundstoff, das ganze Flugauto wiegt
gerade mal 440 Kilogramm. Aufgrund
einer Ausnahmegenehmigung der USBehörden ist es mit besonders leichten
Reifen und einer extrem gewichtsreduzierten Verglasung ausgestattet.
Einfach mal so in die Luft gehen,
wenn man im Stau steht, kann man
mit dem Transition allerdings nicht.
Denn zum einen benötigt der Fahrer
eine gültige Fluglizenz, bevor er zum
Piloten mutieren darf. Zum anderen
braucht der Autoflieger eine rund 800
Meter lange Start- und Landebahn.
Zwar hat das Unternehmen auch ein
Modell für Senkrechtstarter im Programm. Aber bis sich der TF-X dank
schwenkbarer Rotoren aus dem Stand
über den Stau erhebt, gehen selbst
nach den optimistischen Herstellerangaben noch etwa zehn Jahre ins Land.
Nur 200 Meter Anlauf beim Start
und 50 Meter Auslauf bei der Landung
braucht der Prototyp 3.0 des slowakischen Terrafugia-Konkurrenten AeroMobil, dessen Flugauto ebenfalls 2016 serienreif werden soll. Damit abgehoben ist
bisher nur einer: der Designer Stefan
Klein, der früher unter anderem für
Audi, BMW und Volkswagen tätig war,
inzwischen aber seit etwa 20 Jahren
an dem Karbon-gewordenen Zukunftstraum tüftelt. Der Motor, der gleiche
übrigens wie beim Transition, steckt
hinter dem Cockpit und treibt während
der Fahrt die Vorderräder und im Flug
den Propeller an.
Auch wenn es mit dem Massenstart
des fliegenden Autos offenbar noch ein
bisschen dauert: Begonnen hat die
Zukunft der individuellen Mobilität
hoch über unseren Köpfen trotzdem
schon. Die meist zweisitzigen Geräte,
mit denen der Schritt in die dritte
Dimension längst möglich ist, heißen
Tragschrauber – oder auch Gyrokopter.
Sie sehen in etwa so aus, wie man sich
eine fliegende Windmühle vorstellt,
funktionieren aber nach einem ausgeklügelten Konzept: Anders als beim
Hubschrauber wird der Rotor des Tragschraubers nicht durch ein Triebwerk,
sondern passiv durch den Fahrtwind in
Im Fokus | ITS magazine 4/2014
Womöglich
wird es
in Zukunft
ziemlich eng
am Himmel
Drehung versetzt. Der Auftrieb entsteht
durch den Widerstand des sich drehenden Rotorblatts. Der an Bord befindliche
Motor ist lediglich für den Propeller, also
für den Antrieb zuständig.
In Deutschland beispielsweise sind
Tragschrauber als Ultraleichtflugzeuge
zugelassen. Um sie zu fliegen, braucht
man eine Sportpilotenlizenz. Die deshalb naheliegende Schlussfolgerung,
dass es sich um reine Freizeitgeräte
handelt, trifft indes nur zum Teil zu.
Im Irak etwa werden Gyrokopter seit
einigen Jahren zu polizeilichen Zwecken
eingesetzt. Und Forscher des Deutschen
Zentrums für Luft- und Raumfahrt (DLR)
testen seit 2012 gemeinsam mit dem
Technischen Hilfswerk die Verwendungsmöglichkeiten von Tragschraubern für den Katastrophenschutz und
den Rettungseinsatz.
Bei weitem nicht so realistisch, sondern auf den ersten Blick eher wie
die Idee des genialen Erfinders Daniel
Düsentrieb aus den Donald-Duck-Comics
mutet das Konzept des so genannten
Jetpacks an. Doch die neuseeländische
Martin Aircraft Company meint es
durchaus ernst mit ihrem Konzept des
Düsen-Rucksacks, für das sie mittler-
weile vom zuständigen Luftfahr­amt
eine offizielle Lizenz für bemannte
Testflüge im normalen Luftverkehr
be­kommen hat. Der von Rotoren
erzeugte Auftrieb reicht, um einen
Menschen bis zu 1500 Meter in die
Luft steigen zu lassen. Die Spitzengeschwindigkeit liegt bei rund 100 Stundenkilometern.
Für Interessenten hat das Unternehmen eine gute und eine schlechte
Nachricht: Um das futuristische Luftfahrzeug zu steuern, bedarf es angeblich keiner Fluglizenz; allerdings wird
der fliegende Rucksack voraussichtlich
stolze 150.000 Dollar kosten. Echte
Mobilitäts-Pioniere scheint das jedoch
keineswegs abzuschrecken. „Über
10.000 Leute haben bereits nachgefragt, wo man das Jetpack in Zukunft
kaufen kann“, freut sich Peter Coker,
seines Zeichens CEO der Martin Aircraft
Company.
Nicht nur preislich in ganz anderen
Dimensionen ist die Idee unterwegs,
mit der der US-amerikanische Multiunternehmer Elon Musk im vergangenen
Jahr die Welt beglückte. Der Mitgründer des Internetbezahlsystems PayPal
und Chef des Elektroautoherstellers
Tesla Motors will Menschen in Aluminiumkapseln mit bis zu 1220 Stundenkilometern durch spezielle Fahrröhren
aus Stahl schießen. „Hyperloop“ nennt
er das Projekt, mit dem er „das Reisen
revolutionieren“ möchte.
Luftkissen sollen die mit maximal
je 28 Personen besetzten Geschosse in
den maximal 3,3 Meter starken Röhren
stabilisieren. Ein Teilvakuum innerhalb
dieser Röhren ermöglicht Reisegeschwindigkeiten bis knapp oberhalb
der normalen Schallgeschwindigkeit
ohne Durchstoßen der Schallmauer.
Beschleunigt und gebremst werden
die Kapseln über asynchrone Linearmotoren. Der dazu benötigte Strom
wird von Sonnenkollektoren erzeugt,
die über den auf Stelzen stehenden
Stahlröhren angebracht sind.
Völlig ausgereift, das gibt der Internetmilliardär zu, sei das Konzept noch
keineswegs. Es handle sich vielmehr
um einen Open-Source-Entwurf, an
dem auch andere mitarbeiten und ihre
technischen Ideen einbringen können.
Nicht zuletzt im Hinblick auf den Steuermechanismus der Kapseln, auf die
Detailplanung der Stationen zum Einund Aussteigen und auf die Tests der
gesamten Hyperloop-Technik wünscht
sich der gebürtige Südafrikaner möglichst breite externe Unterstützung.
Mit einer Rohrpost anderer Art
beschäftigt sich ein interdisziplinäres
Forscherteam der Ruhr-Uni Bochum.
Die Idee dazu hatte Professor Dr.
Dietrich Stein von der Fakultät für
Bauingenieurwesen: Er will Joghurts,
Wäschetrockner, Maschinenbauteile
und vieles andere, was bisher per Lkw
transportiert wird, künftig unterirdisch
kreuz und quer durchs Ruhrgebiet
schicken. CargoCap, so der Name des
Konzepts, ist also eine Art Mini-U-Bahn
für Transportgüter, die die wichtigsten
logistischen Zentren des Ballungsraums miteinander verbindet.
Etwa zwei Drittel der in Deutschland zu transportierenden Waren
passt nach Schätzung des Projektteams ohne weiteres Aufbrechen der
Ladung in den CargoCap-Frachtraum.
Ein gigantischer Markt für das innovative System also, dem andererseits
aber auch stattliche Investitionen
für die Unterkellerung einer ganzen
Region gegenüberstehen. Allein für
die rund 80 Kilometer lange Trasse
vom Duisburger Hafen zum Flughafen
Dortmund stehen Baukosten von
etwa einer halben Milliarde Euro auf
dem Plan. „Wenn man das in der Relation zu anderen Investitionen in die
Erhöhung verkehrlicher Kapazitäten
sieht, ist das jedoch ein sehr geringer
Aufwand“, meint Professor Stein. „Ein
Kilometer Fahrrohrleitung für CargoCap kostet inklusive Rohrvortrieb 3,2
Millionen Euro, während der Kilometer einer zweispurigen Autobahn je
nach Bauwerken und Bebauung mit
10 bis 30 Millionen Euro und ein Tunnelkilometer im städtischen Bereich
sogar mit mehr als 100 Millionen
Euro veranschlagt wird.“
Zumindest kleine Transportgüter mit
weniger als 2,5 Kilogramm Gewicht
könnten in Zukunft freilich auch auf
deutlich luftigerem Weg zu ihren Empfängern gelangen. Als Jeff Bezos, Chef
des Internethändlers amazon, Ende
vergangenen Jahres über den möglichen Einsatz von Drohnen bei der
Zustellung von Paketen schwadronierte, glaubten viele noch an einen
Werbegag. Inzwischen jedoch hat auch
der Web-Tycoon Google damit begonnen, die innovative Luftfracht-Variante
zu testen. Vielleicht müssen wir uns ja
tatsächlich damit abfinden, dass es in
Zukunft ziemlich eng wird am Himmel.
15
ITS magazine 4/2014 | Im Fokus
„Mobilität ist sicherlich ein großes Zukunftsthema. Welchen Stellenwert es hat, führte uns der letzte Bahnstreik in Deutschland wieder
ganz deutlich vor Augen: Viele Menschen kamen nicht zur Arbeit
oder zu Terminen. Das zeigte sehr deutlich, wie wichtig es ist, individuelle Alternativen zu entwickeln – und da habe ich unter den Ideen
meiner Schüler einige sehr interessante Ansätze entdeckt.“
Sophia Leiß, Albert-Einstein-Gymnasium München
Mobilität
X Punkt Null
Thinking Future Wenn Fachleute über die Mobilität von morgen
nachdenken, steht allzu oft das im Vordergrund, was alles nicht geht.
Deshalb hat das ITS magazine Jugendliche gefragt, bei denen die
Schere im Kopf naturgemäß noch nicht zuschnappt. Unter der Regie
ihrer Kunstlehrerin Sophia Leiß entwickelten Schüler des Albert-Einstein-Gymnasiums in München eine ganze Reihe faszinierender Ideen.
Im Fokus | ITS magazine 4/2014
„Mir ging es vor allem darum, ein Konzept zu finden, um Benzin zu sparen. Mit dem Puzzle
Car geht das. Da können sich beliebig viele Autos mit demselben Ziel miteinander
verbinden und wie ein Zug fahren. Dabei müssen dann nicht die Motoren aller Autos
laufen, sondern nur ein paar davon. Gesteuert wird das alles über eine App.“
Charlotte Popp, Klasse 9a
„Ich hab‘ mir einfach überlegt, wie man schnell und gemütlich von einem Platz zum anderen kommt. In dem Film ,Wall.E‘ fahren auch alle in
so Sesseln rum, das fand ich ziemlich cool. Die Röhren sind praktisch die Straßen, sie verlaufen überall in der Stadt in ein paar Metern Höhe.
Der Antrieb funktioniert irgendwie mit Wasser, auf jeden Fall muss man nichts verbrennen.“
Felix Hadasch, Klasse 6c
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ITS magazine 4/2014 | Im Fokus
„Mit den düsengetriebenen Bürosesseln kann man von der Arbeit aus überall hinfahren, man muss nicht extra aufstehen. Im Vordergrund
steht der Komfort – und die Umweltfreundlichkeit, weil die Energie aus Wasserstoff gewonnen wird. Nach meiner Vorstellung wäre das
eine Alternative vor allem für die Strecken, die man bisher mit dem Fahrrad oder zu Fuß zurücklegt.“
Nuschin Rabiei, Klasse 10d
„Die Blasen sind nicht aus irgendeinem Material, es sind magnetische Felder,
die sich auf Knopfdruck über eine entsprechende App ein- und ausschalten
lassen. Deshalb stoßen sie sich auch gegenseitig ab, und es können keine
Unfälle passieren. Man muss sich im Verkehr also keine Sorgen mehr machen
und kommt immer total entspannt an seinem Ziel an.“
Carys-May Teixeira, Klasse 10d
18
Im Fokus | ITS magazine 4/2014
„Mein Konzept heißt Edfatsap: Electronic Device for Apps, Teleport, Shopping and Phone. Es funktioniert
über einen Chip, der neben dem Kopf seines Besitzers schwebt und der durch Gedanken gesteuert wird.
Damit kann man alles Mögliche machen: zum Beispiel shoppen, Suchanfragen stellen – oder sich zu
einem beliebigen Telespot irgendwo auf der Welt teleportieren lassen.“
Tim Waßmund, Q11
„Ich wollte als Kind schon immer gern fliegen, deshalb sind mir gleich die Schuhe eingefallen, als wir die Aufgabe bekommen haben. Für
weitere Strecken sind sie wahrscheinlich nicht geeignet, weil es ein bisschen anstrengend ist, ständig das Gleichgewicht zu halten. Aber zum
Beispiel für den Weg in die Schule wären sie echt optimal.“
Linda Krisp, Klasse 6c
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ITS magazine 4/2014 | Trends & Events
Stairway to Heaven
Mobility Services (Serie, Teil 1) Wenn etwas defekt ist, dann
kommt der Kundendienst. So war das in der Straßenverkehrstechnik,
und so wird es auch bleiben – nur nicht mehr so oft. Denn innovative Systeme haben inzwischen hellseherische Fähigkeiten entwickelt
und verhindern mit Hilfe intelligent gestaffelter Konzepte mögliche
Fehler, bevor sie entstehen. Wichtigste Auswirkung der technologischen Aufrüstung ist die maximale Verfügbarkeit.
Immer einen Schritt voraus:
Die Zukunft der Instandhaltung hat bereits begonnen
Fehlervorhersage durch Analyse von
Datenmustern und Trends
Regelbasierende
Instandhaltung
(Prescriptive Maintenance)
Erstellung konkreter Lösungsvorschläge
Unterstützung bei der Lösungsfindung
Definition der Servicemaßnahmen
anhand des vorhergesagten Zustands
der Anlage
Voraussagende
Instandhaltung
Fehlervorhersage durch Analyse von
Datenmustern und Trends
Definition der Servicemaßnahmen
anhand des aktuellen Zustands der
Anlage
Zustandsbasierte
Instandhaltung
Basierend auf Diagnosedaten und
Remote-Monitoring
Wartung und gegebenfalls Reparaturen
bevor ein Fehler auftritt
Basierend auf fest definierten
Service-­Intervallen und Inspektionen
Reparaturen als Reaktion
auf ­ein Ereignis
20
Präventive Instandhaltung
Reaktive Instandhaltung
Trends & Events | ITS magazine 4/2014
Zur Ruhe setzen kann er sich natürlich
nicht, der gute alte Schraubenzieher.
Aber er wird wohl in Zukunft deutlich
weniger zu tun haben, weil ihm sein
neuer Kollege, das Keyboard, einen
immer größeren Teil der Arbeit ab­­
nimmt. Nicht wenige der Störungen,
die bis vor kurzem noch den Einsatz
eines Servicetechnikers vor Ort erforderlich machten, lassen sich heute per
Fernwartung beheben. Oder – noch
besser: Sie treten gar nicht mehr auf,
da die zugrunde liegenden Fehler
schon im Vorfeld vom System erkannt
und daraufhin sofort behoben wurden, bevor sie tatsächlich Unheil
anrichten konnten.
Inzwischen sind die Verkehrsleitwarten von rund 250 Städten weltweit an die so genannte common
Remote Service Platform (cRSP) von
Siemens angeschlossen: an eine
extern zertifizierte Plattform, die
höchste Sicherheitsanforderungen
erfüllt und die beispielsweise auch für
die Überwachung von Kraftwerken
und medizinischen Großgeräten eingesetzt wird. Die entsprechenden
Kundenanlagen werden mit Hilfe der
cRSP Platform automatisch überwacht, vorbeugend gewartet und
gegebenenfalls „remote“, sprich aus
der Ferne durch die Service-Experten
repariert. Und viele dieser Kommunen
haben ihre Verkehrsprobleme dank
der höheren Verfügbarkeit von Lichtsignalanlagen nachweislich besser in
den Griff bekommen.
Konzipiert worden ist das komplexe Highend-System cRSP ursprünglich für den hochsensiblen Bereich
der Medizintechnik. Der permanente
unternehmensinterne Know-howTransfer sorgte jedoch dafür, dass
auch die Mobility-Kollegen und vor
allem deren Kunden von den zahlreichen Vorteilen der innovativen Technologie profitieren können. „Das ist
einer der ganz großen Pluspunkte
eines diversifizierten Konzerns“, sagt
Fred Kalt, weltweit verantwortlich für
den Service der Siemens Straßenverkehrstechnik. „Für uns allein hätten
wir so ein Projekt nicht stemmen
können – oder wir könnten die neuen
Leistungen zumindest nicht zu so
attraktiven Preisen anbieten.“
Nur durch den Schulterschluss zwischen den Unternehmensbereichen
war das Team um Fred Kalt also in der
Lage, mit seinem Service-Portfolio
einen echten Paradigmenwechsel im
Bereich der Straßenverkehrstechnik
einzuleiten: Repariert werden nicht
mehr ausschließlich die Teile, die
bereits defekt sind, sondern auch die
Komponenten, die demnächst für
Störungen sorgen könnten. Insgesamt fünf Stufen umfasst die innovative Service-Treppe, die schrittweise
zu einem klar definierten Ziel führt:
die maximale Verfügbarkeit verkehrstechnischer Anlagen.
Die Basis bildet natürlich auch weiterhin der Reaktive Service – also der
Kundendienst, der auf Zuruf kommt,
wenn eine Schadensmeldung eingeht. „Wir haben nach wie vor rund
1100 Techniker draußen im Feld, die
bei Wind und Wetter unterwegs sind
und Störungen bearbeiten, teilweise
mit zugesicherten Reaktionszeiten
von 30 Minuten“, sagt Senior Service
Manager Konrad Weichmann. „Das
war jahrzehntelang eine unserer entscheidenden Stärken – und wird es
auch noch lange bleiben.“
Noch einen
Schritt weiter
nach oben auf
der ServiceTreppe geht die
Voraussagende
Instandhaltung
Ebenfalls noch analog, aber bereits
präventiv geht es auf Stufe zwei der
Service-Treppe zu. Durch Definition
regelmäßiger Service-Intervalle und
intensiver Kontrollen der verschleißanfälligen Komponenten lassen sich
Schwachstellen im System schon
erkennen, bevor sie zu Beeinträchtigungen der Leistung führen. Durch
rechtzeitigen Austausch der entsprechenden Teile werden Anlagenausfälle verhindert und somit Verkehrs­
sicherheit und Verkehrsfluss nonstop
aufrechterhalten.
Digital wird es erst ab Stufe drei –
bei der Zustandsbasierten Instand­
haltung: Hier kommt die common
Remote Service Platform ins Spiel,
über die sich die Spezialisten im
Customer Support Center in München
direkt in die Kundenanlagen einloggen
und mit Hilfe spezieller Agents
(= Servicetools) nach eventuellen Fehlern in den Systemen fahnden können.
So werden zum Beispiel gehäufte
Lese- und Schreibfehler von Festplatten schon erkannt, lange bevor sie
dem Kunden auffallen – und bevor sie
spürbare Probleme verursachen.
Noch einen Schritt weiter nach
oben auf der Service-Treppe geht die
Voraussagende Instandhaltung: Dabei
analysiert das System nicht nur den
derzeitigen Zustand der jeweiligen
Anlage, es stellt darüber hinaus
anhand bestimmter Modelle und
Algorithmen auch Hochrechnungen
zu deren künftigem Zustand dar. Auf
diese Art ist es möglich, sich abzeichnende Fehlfunktionen noch früher
zu erkennen. Durch die zeitnahe Einleitung entsprechender Gegenmaß­
nahmen lässt sich zum einen der
ununterbrochene Betrieb der Anlage
sicherstellen. Zum anderen vermeidet
man durch einen in der Regel kostengünstigen – weil geplanten – Serviceeinsatz, dass in der Folge weitaus
t­eurere Schäden entstehen.
Ganz oben auf der Service-Treppe
steht aktuell die Regelbasierende
Instandhaltung (Prescriptive Maintenance) – eine Strategie, die für den
Bereich Straßenverkehrstechnik zwar
noch sehr neu ist, die aber zum
­Beispiel in der IT bereits als echter
Zukunftstrend propagiert wird. Sie
nutzt sämtliche Instrumente der Voraussagenden Instandhaltung, belässt
es jedoch nicht bei einer Diagnose,
sondern gibt dazu noch konkrete
Handlungsempfehlungen. Um die
Funktionsweise zu verdeutlichen,
bedient sich Fred Kalt eines Vergleichs
mit der automobilen Technik: „Das ist
in etwa so, als würde der Bordcomputer eines modernen Fahrzeugs sagen:
Die Motortemperatur nähert sich allmählich dem kritischen Bereich, weil
der Öldruck immer niedriger wird. Am
besten wäre es, wenn man die Dichtung der Ölwanne austauscht.“ Auch
hier ist der Experte weiterhin gefragt,
der diese Handlungsempfehlung prüft
und die letztliche Entscheidung trifft,
welche Maßnahme zu ergreifen ist.
Die Kunden haben in Sachen Service jetzt also die freie Wahl angesichts der innovativen Vielfalt an
unterschiedlichen Konzepten. Und
wenn sie der damit verbundenen
Qual entgehen möchten, gibt es
­noch eine weitere Möglichkeit: den
so genannten Verfügbarkeitsvertrag.
„Dabei“, sagt Fred Kalt, „wird lediglich
vereinbart, wie hoch die Verfügbarkeit der verkehrstechnischen Anlagen
sein soll – alles andere erledigen wir.“
21
ITS magazine 4/2014 | Trends & Events
Wir müssen reden
Car2X-Korridor Der Weg in eine sicherere, effizientere und umweltverträg­
lichere Zukunft des Straßenverkehrs
führt über die innovative Kommunikation, da sind sich die Experten einig.
Auf der Strecke zwischen Rotterdam
und Wien werden Fahrzeuge deshalb
schon bald direkt miteinander und mit
der Infrastruktur sprechen. Wie eine
Demo-Tour im November eindrucksvoll
zeigte, ist die Technologie fit für die
Praxis.
Bisher vermeldete ein „Satz mit X“
nicht wirklich hoffnungsfrohe
Botschaften. Jetzt bekommt die
umgangssprachliche Floskel plötzlich
eine ganz andere Färbung: Denn mit
der Car2X-Kommunikation startet
eine neue Ära der Mobilität. Und die22
ses Zeitalter sorgt nicht nur für mehr
Sicherheit auf unseren Straßen, sondern auch für mehr Bewegung und
damit für weniger Schadstoffemissionen. Darüber hinaus schafft die Vernetzung von Fahrzeug und Fahrbahn
die Grundlage für die inzwischen
durchaus nicht mehr unrealistische
Vision vom autonomen Fahren (siehe
auch Interview ab Seite 30).
Car2X heißt: Autos kommunizieren
sowohl untereinander als auch mit
den Verkehrsleitstellen und der Infrastruktur an der Straße. Kreuzungen
und Hinweisschilder werden intelligent und arbeiten mit den Fahrzeugen zusammen. Sie schicken zum Beispiel Warnungen vor akuten Gefahren
direkt ins Auto – und zwar genau für
den Streckenabschnitt, auf dem man
sich gerade befindet. Genauso ziel­
gerichtet senden sie konkrete Handlungsempfehlungen etwa zur Wahl
der idealen Route angesichts der
aktuellen Verkehrslage oder zur optimalen Geschwindigkeit für die Nutzung Grüner Wellen.
Nach zahlreichen intensiven Tests
stehen die so genannten Kooperativen Systeme inzwischen unmittelbar
vor ihrem ersten zentraleuropäischen
Großeinsatz: 2015 beginnen Autohersteller, Straßen- und Infrastrukturbetreiber in einer konzertierten Aktion
mit dem Aufbau eines Car2X-Korridors von Rotterdam über Frankfurt
am Main nach Wien. Auf dieser rund
1300 Kilometer langen Strecke werden die vielfältigen Möglichkeiten
dieser Technologie schon sehr bald
Wirklichkeit. Ganz konkret geht es
zunächst um Warnungen vor mobilen
Baustellen und die Erfassung der
aktuellen Verkehrslage durch die
Fahrzeuge selbst. Für weitere Anwendungen entwickeln die drei beteiligten Länder Niederlande, Deutschland
und Österreich eine gemeinsame Einführungsstrategie.
Dass die dazu notwendige Technologie fit für die Praxis ist, haben die
Beteiligten im Rahmen einer DemoTour durch Deutschland, Österreich
und die Niederlande im November
2014 eindrucksvoll bewiesen. Thilo
Jourdan, Leiter der Siemens-Division
Mobility in Deutschland, sagte beim
Tour-Auftakt auf der electronica in
München: „Car2X ist keine Vision
mehr, sondern eine faszinierende
Option, die bereits verfügbar ist.“
Trends & Events | ITS magazine 4/2014
In die Vollen
Gulf Traffic Dass der Mittlere Osten
beim Ausbau seiner Verkehrsinfrastruktur keine halben Sachen macht, ließ
sich unschwer an den Zahlen ablesen,
die unmittelbar vor der größten Branchenmesse der Region veröffentlicht
wurden: Demnach will die gesamte
Golfregion umgerechnet mehr als 120
Milliarden US-Dollar in Straßen und Brücken investieren. Allein Saudi-Arabien
hat beispielsweise für die Modernisierung seiner landesweiten Transportin­
frastruktur 26,9 Milliarden reserviert,
der Wert der in Katar aktuell laufenden
Projekte im Bereich der Straßeninfrastruktur beläuft sich auf rund 17 Milliarden. Entsprechend groß war folgerichtig das Interesse der mehrheitlich
hochkarätigen Besucher an den Lösungen und Produkten der über 200 internationalen Aussteller bei der diesjährigen Gulf Traffic vom 7. bis 9. Dezember
2014 im Dubai International Convention and Exhibition Centre. Für besondere Aufmerksamkeit sorgte dabei
die aktuelle Controller-Generation von
Siemens, die eine neue Ära in der
Verkehrssteuerung einläutet: Dank
leistungsfähigster Hardware und innovativster Software setzt Sitraffic sX
ganz eigene Maßstäbe in Sachen Bedienungskomfort, Flexibilität, Konnektivi-
Bei der Gulf Traffic in Dubai stand die aktuelle Controller-Generation im Blickpunkt
tät und Effizienz. Neben perfekten Vernetzungsoptionen bietet das kleine
Multitalent zum Beispiel auch eine bislang einzigartige Möglichkeit zur Erhöhung der Verkehrssicherheit: Denn erstmals lassen sich Funktionen von bereits
im Feld betriebenen Steuergeräten über
Remote-Updates erweitern – und das
ohne Unterbrechung des laufenden
Betriebs, so dass gefährliche „Dunkel“Situationen nunmehr endgültig der
Vergangenheit angehören. Dasselbe
gilt natürlich auch für die Fernwartung,
eine Option, die darüber hinaus die
Anzahl von Vor-Ort-Serviceeinsätzen
erheblich reduziert. Was bei den Entscheidern in der dynamischen Golf­
region ebenfalls bestens ankam: Das
neue Verkehrssteuergerät ist in der
Lage, mit der Infrastruktur einer Stadt
mitzuwachsen, da es sich in unterschiedlichsten Konstellationen betreiben lässt – als Stand-alone-Lösung
ohne Sensorik und Anbindung an einen
übergeordneten Verkehrsrechner
genauso wie als nahtlos eingebundene
Komponente in die komplexen Verkehrsleitsysteme größerer Städte.
Im Großen und Ganzen
Die integrierte Mobilitätsplattform vereinfacht intermodales Reisen
InnoTrans Eigentlich gilt sie als Weltleitmesse für die
Schienenverkehrstechnik, doch inzwischen stehen auf
der InnoTrans zunehmend auch ganzheitlich vernetzte
Lösungen im Blickpunkt. So informierten sich bei der
aktuellen Auflage vom 23. bis 26. September in Berlin
viele der fast 140.000 Fachbesucher aus über 100 Ländern zum Beispiel über die integrierte Mobilitätsplattform
von Siemens, die den Betreibern die Einbindung komplementärer Mobilitätsdienste in das eigene Angebot auf
besonders effiziente Art ermöglicht. Auf diesem Weg
können gebündelte Verkehrsangebote entstehen, die
die Planung, Buchung und Abrechnung intermodaler
Services erleichtern. Ein weiterer wichtiger Baustein zur
attraktiven Vernetzung von Verkehrsmitteln ist das so
genannte eTicketing mit einer elektronischen Smartcard,
die künftig die Fahrkarte aus Papier ersetzt. Ein großer
Vorteil dabei: Die Nutzer müssen sich keine Tarife merken,
sie bezahlen ganz einfach für die zurückgelegte Strecke,
egal ob für die Bahnfahrt, die Benutzung von Fahrrädern
oder für das Parken des Autos.
23
ITS magazine 4/2014 | Partner & Projekte
Im Chancen-Reich
Nachwuchsförderung Der Master-Studiengang „Transportation
Systems“ an der TU München bietet seinen Absolventen glänzende
Perspektiven. Das hat vor allem mit seiner einzigartigen Spezialisierung
zu tun, aber auch mit seiner lebendigen Nähe zur Praxis. Bei der Gestaltung von einem der Wahl-Module setzt Professor Dr. Fritz Busch zum
Beispiel auf das hochaktuelle Know-how der Experten von Siemens.
Wann genau das didaktische Miteinander begann, lässt sich heute gar
nicht mehr so exakt datieren. „Sicher
ist: Schon als ich 2003 den Lehrstuhl
für Verkehrstechnik an der TU München übernahm, haben wir immer
wieder mal Spezialisten von Siemens
gebeten, eine Vorlesung zu halten“,
erinnert sich Professor Dr. Fritz Busch.
„Das waren damals aber noch sporadische Einsätze. Mit der Gründung
eines neuen Master-Studiengangs vor
einigen Jahren wurde die Zusammenarbeit dann intensiver.“
Der Master-Studiengang, um den
es hier geht, heißt „Transportation
Systems“, und er ist ein echtes Unikat zumindest in der deutschen UniLandschaft. Denn hier ist „Verkehr“
24
„Unter dem
Strich gibt es
bei dieser Art
von Koope­ration
nur Gewinner.“
das Hauptfach und nicht eines von
mehreren Vertiefungsfächern. Das
gibt den Architekten des Curriculums
die Möglichkeit, weiter in spezifische
Themen wie etwa die Steuerungsverfahren einzusteigen. So entstand der
Gedanke, dem innerstädtischen Verkehr samt Planung und Erstellung
verkehrsabhängiger Steuerungen ein
eigenes Wahl-Modul zu widmen: mit
vier Vorlesungen plus vier geblockten Tagen für einen Office-Kurs und
weiteren zwei Tagen fürs Tutorial.
Genau dieses Wahl-Modul betreut
ein Siemens-Expertenteam um Senior
Software Engineer Dr. Andreas
Poschinger – natürlich in enger
inhaltlicher Abstimmung mit der TU
München. „Für uns sind dabei zwei
Dinge wichtig“, sagt Professor Busch:
„Einerseits müssen die Vorlesungen
frei von Produktwerbung sein, andererseits sollen sie den höchstaktuellen Stand der Technik in der praktischen Anwendung darstellen. Auf
diese Art gibt es unter dem Strich
nur Gewinner bei der Kooperation –
allen voran die Studierenden, deren
Abschluss bei uns bei möglichen
Arbeitgebern auch deshalb sehr
hoch im Kurs steht.“
Wie die anhaltende Flut von internationalen Bewerbungen für den
Studiengang beweist, haben die
Studierenden ihre Vorteile längst
erkannt: Dazu gehört letztlich nicht
nur der hautnahe Einblick in die
Praxis, sondern zum Beispiel auch
der direkte Draht zu hochkarätigen
Mentoren für die Master-Thesis, die
Chance auf einen attraktiven Praktikumsplatz – und später vielleicht
sogar auf einen perfekten Start in die
berufliche Karriere.
Partner & Projekte | ITS magazine 4/2014
Vernetzt in die
Zukunft
München Die bayerische Zentralstelle
für Verkehrsmanagement (ZVM) hat
sich für ein zentrales Verkehrssteuerungssystem entschieden, das sämtliche Lichtsignalanlagen im Freistaat miteinander verbindet. Den zentralisierten
Betrieb und das Monitoring für die
rund 2100 Ampeln wird künftig ein
Verkehrsrechner vom Typ Sitraffic Scala
übernehmen, der auch die zentralisierte Auswertung der landesweit
erfassten Verkehrsdaten erlaubt. Mit
Sitraffic smartGuard steht außerdem
ein höchst nutzerfreundliches und
sicheres webbasiertes Monitoring-System zur Verfügung. Mit dem Projekt
unterstreicht die ZVM unter anderem
auch den ehrgeizigen Plan Bayerns,
eine führende Rolle im Bereich der
Car2X-Communication zu übernehmen.
Die polnische Stadt Bydgoszcz rüstet ihr Straßennetz mit ANPR-Kameras aus
Sicher im Blick
Bydgoszcz Sowohl zur Früherkennung von Verkehrsbehinderungen als auch zur Erhöhung
der Verkehrssicherheit rüstet die
Hauptstadt der polnischen Woiwodschaft Kujawien-Pommern
ihr Straßennetz mit mehr als 50
Kameras zur automatischen Nummernschilderkennung (ANPR) aus.
Die Videosysteme vom Typ Sitraffic Sicore, die bis zu zwei Fahrspuren und auch unterschiedliche
Fahrtrichtungen detektieren kön-
nen, sollen bereits ab Frühjahr
2015 über eine halbe Million
Nummernschilder erfassen. Der
Arbeitsbereich der Kameras liegt
bei rund fünf bis 35 Metern.
Die integrierte Lese-Technologie
erreicht höchste Erkennungsraten
bei Fahrzeuggeschwindigkeiten
von bis zu 250 km/h. Spezielle
Algorithmen erlauben auch die
Unterscheidung verschiedener
Fahrzeugklassen und die Überwachung von Gefahrguttransporten.
Beim ZVM-Projekt in Bayern kommt auch
Sitraffic smartGuard zum Einsatz
Besser im Fluss
Premiere in China
Zhuhai Als erste chinesische
Kommune überhaupt installiert die
1,5-Millionen-Einwohner-Stadt in
der Provinz Guangdong ein System
zur Straßenbahnpriorisierung für
die Zhuhai Tram Line No. 1. Die
effiziente Koordination von Individualverkehr und Öffentlichem Ver-
kehr läuft dabei über den neuen
ST950-Controller. Das Projekt ist
Bestandteil eines Memorandum
of Understanding über eine Kooperation zur umweltfreundlichen
Gestaltung des Verkehrs zwischen
Siemens und den örtlichen Regierungsbehörden.
Eindhoven Mit Hilfe der innova­
tiven Car2X-Technologie soll das
Projekt „Ghost Traffic Jam“ auf der
niederländischen A58 zwischen
Eindhoven und Tilburg künftig
Staus, die in Folge von Stoßwellen
entstehen, verhindern oder reduzieren. Die Maßnahme ist Teil des
Programms „Beter benutten“, an
dem das Ministerium für Infrastruktur und Umwelt, die Provinz Nordbrabant und der Distrikt Eindhoven
beteiligt sind. Die Inbetriebnahme
des Systems, zu dem Siemens
sowohl Lösungen für die Datenfusion als auch Road Side Units und
den Master Road Infrastructure
Server beisteuert, steht bereits für
Sommer 2015 auf dem Programm.
25
ITS magazine 4/2014 | Wissen & Forschung
Daten à la Carte
Detektor-Systeme Die Formel ist eigentlich ganz simpel: Je besser die
Datenlage, desto effizienter die Verkehrssteuerung. Neben der guten alten
Induktionsschleife stehen heute eine ganze Reihe neuer Meisterdetektive
zur Verfügung. Hier eine Übersicht der wichtigsten Technologien für
die je nach Anwendung sowohl technisch als auch wirtschaftlich maßgeschneiderte Erfassung von Informationen.
26
Wissen & Forschung | ITS magazine 4/2014
Von Magnetfeldtechnik bis Bluetooth:
Für jeden Bedarf das richtige
Detektor-System
Induktionstechnik
Die bewährten Schleifendetektoren Sitraffic SLD4 und LD4-F
erfassen mit höchster Zuverlässigkeit und unabhängig von
Umgebungsbedingungen die Verkehrssituation an Kreu­
­z­ungen. Über 50.000 Installationen und 30 Jahre Erfahrung
– nach wie vor die beste Lösung, wenn wes auf Robustheit
und sehr hohe Erfassungsgenauigkeit ankommt.
Magnetfeldtechnik
Relativ neu und außergewöhnlich klein sind die drahtlosen Bodensensoren Sitraffic Wimag für den Einbau in
den Straßenbelag. Zuverlässige Detektion, lange Lebensdauer, niedrige Installationskosten und – mit Mikroradarmodul – die Möglichkeit der Detektion von Fahrrädern
und stehenden Fahrzeugen machen das System zu einer
Art Tausendsassa unter den Detektoren.
Passiv Infrarot Technik (PIR)
Mit ihrem extrem niedrigen Stromverbrauch bei hoher
Datenqualität eignen sich die PIR-Detektoren besonders
für solarbetriebene Systeme wie Traffic Eye Universal
(TEU). Als strategisches Detektionssystem für die Messung der Verkehrslage kann es an beliebigen Standorten
eingesetzt werden; auch dort, wo keine Stromversorgung vorhanden ist.
Videotechnik
Für die kostengünstige Präsenz-Detektion an Kreuzungen
sind die Videodetektoren Sivicam und Phoenix ideal
geeignet. Hochwertige Bildverarbeitung und fortschrittliche Sensortechnik sorgen für eine hohe Erkennungsrate
bei jedem Wetter und rund um die Uhr. Das ANPR-Kamerasystem Sicore erkennt Nummernschilder noch bei 250
km/h und lässt sich zum Beispiel für Reisezeitmessungen
und Zugangskontrollen einsetzen.
Radartechnik
Dank ihrer Technologie sind die 24 GHz-Radardetektoren
Heimdall vollkommen unempfindlich gegenüber optischen Beeinträchtigungen. Es gibt sie in verschiedenen
Ausprägungen für unterschiedliche Detektionsaufgaben,
sie eignen sich vor allem für Kreuzungssteuerungen und
lassen sich schnell und einfach installieren.
Funktechnik
Bluetooth-Scanner haben sich als sehr praktisch für die
Reisezeitmessung im Rahmen der strategischen Detektion erwiesen. Sie sind schnell installiert und eignen sich
nicht nur für dauerhafte Installationen, sondern auch für
mobile Einsätze an Baustellen oder temporären Umleitungen. Mit der integrierten WLAN-Funktion können
auch moderne Smartphones erkannt werden, die für
Bluetooth oft unsichtbar sind.
Detail-Tabellen mit Leistungs­
merkmalen der unterschiedlichen
Technologien finden Sie hier:
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ITS magazine 4/2014 | Mobilität & Lebensraum
Himmlisch effizient
Mautsystem Slowakei In der Rekordzeit von
drei Monaten wurde das inzwischen umfangreichste Mautsystem Europas um über 15.000
Kilometer erweitert – im laufenden Betrieb und
ohne Investitionen in straßenseitige Anlagen.
Dass dies möglich war, ist ein Geschenk des
Himmels. Oder genauer: ein entscheidender
Vorteil der modernen Kombination aus Satellitennavigation und mobiler Kommunikation.
Falls noch ein Beweis nötig gewesen
wäre für die Effizienz satellitengestützter
Mautsysteme: Die jüngste Erweiterung
des für Fahrzeuge über 3,5 Tonnen
gebührenpflichtigen Straßennetzes in
der Slowakei hätte ihn mehr als eindrucksvoll erbracht. Etwas überspitzt
formuliert, kamen dabei gleichsam
auf Knopfdruck 3162 neue Streckenabschnitte hinzu, fast über Nacht wur28
den aus 2447 Kilometern mehr als sieben Mal so viele: exakt 17.762 – und
damit mehr als genug, um die Nummer-Eins-Position in der Europarangliste der Mautsysteme einzunehmen.
Ebenfalls einzigartig in der EU ist die
umfangreiche Integration von Straßen
zweiter und dritter Ordnung, auf
deren Konto der weitaus größte Teil
der Ergänzung geht.
Multitalent Sitraffic Sensus: Die On-BoardUnit eignet sich für alle Maut-Technologien
Keine teuren Erfassungsstationen
an den Straßen, keine aufwändigen
Kabelverbindungen, kein Spalier von
Videokameras: Schon bei ihrer Einführung im Jahr 2010 galt die auf der
Positionsbestimmung über das Global
Navigation Satellite System (GNSS)
basierende slowakische Lösung als
wegweisendes Beispiel innovativer
Flexibilität. Erstmals kam dabei eine
Mobilität & Lebensraum | ITS magazine 3/2014
On-Board-Unit (OBU) zum Einsatz, die
vom Fahrer selbst in wenigen Minuten
installiert werden kann. Die Datenkommunikation zwischen den mehr als
200.000 OBUs und der Zentrale läuft
über die bestehende Infrastruktur der
GSM-Netze. Die OBUs können also jederzeit „over the air“ Aktualisierungen empfangen: Änderungen der geografischen
Daten genauso wie alle erforderlichen
Modifizierungen an der OBU-Software
oder der Firmware von Hardware-Komponenten.
Auf genau diesem Weg wurde zu
Beginn des Jahres auch das außergewöhnlich komplexe Update übermittelt,
das die Erweiterung der bemauteten
Streckenabschnitte enthielt. Eine Unterbrechung der Anwendung war dazu
ebenso wenig nötig wie die kostenintensive Installation straßenseitiger Anlagen.
Die Verkehrsingenieure mussten lediglich
das Geo-Modell um mehrere 1000 virtuelle
Mautbrücken für die zusätzlichen Streckenabschnitte ergänzen. Zur Optimierung der korrekten Identifikation gebührenpflichtiger Fahrten wurde übrigens ein
patentierter „Wegpunkt-Algorithmus“ entwickelt, mit dessen Hilfe man in der Slowakei vom ersten Tag an eine effektive
Erkennungsrate von 99 Prozent erreicht.
Wie hoch der Effizienzgewinn satellitengestützter Mautsysteme gerade auch
bei solch umfassenden Erweiterungen
ist, zeigt der Blick auf ein Alternativ-Szenario: Hätte die Slowakei ein auf Basis der
Dedicated Short Range Communication
(DSRC) errichtetes System um 3162
zusätzliche Mautsegmente ausbauen
wollen, wären allein für die Installation
von Mikrowellen-Infrastruktur Kosten von
über 100 Millionen Euro entstanden –
zuzüglich der Betriebskosten natürlich,
die sich über die Jahre schnell noch einmal auf ein Mehrfaches dessen summieren würden.
Mit dem GNSS-Ansatz waren nicht
nur die Kosten für die Erweiterung
des slowakischen Mautstraßennetzes
um über 15.000 Kilometer marginal:
Sie betrugen nur einen Bruchteil der
ursprünglichen Investition für die Einrichtung des Mautsystems – und waren
dank der höheren Einnahmen bereits
nach drei Monaten fast wieder eingespielt. Außerdem blieb den Verantwortlichen jede Menge weiterer Aufwand
erspart: Sie brauchten weder entsprechende Bauplätze im Umfeld der
be­treffenden Straßen zu erwerben noch
Tausende von Baugenehmigungen zu
beantragen oder neue Stromleitungen
zu verlegen.
Im Seitenspiegel
Visionen für die Cloud
Visionen brauchen ihre Zeit. Bis wir Normalbürger wahre Geniestreiche erkennen, können
Ewigkeiten vergehen.
Mit Visionen ist es so eine Sache: Der Begriff beschreibt zum einen
die optische Sinnestäuschung oder Halluzination – zum anderen aber
die bildhafte Vorstellung zukünftiger Entdeckungen, Erfindungen
oder Innovationen. Manchmal wird erst in späteren Jahrhunderten
klar, zu welcher Kategorie der jeweilige Visionär gehörte, denn die
Grenze zwischen Geistesblitz und Querschläger ist oft fließend.
Nimmt man als Maßstab Werner von Siemens, Gottlieb Daimler und
Carl Benz oder Ferdinand Porsche, der schon um 1900 ein Hybridauto
mit elektrischem Allradantrieb konstruierte, sind wahre Visionäre eher
selten. Doch auch die Visionen etwa des französischen Schriftstellers
Jules Verne wirken nach. Er beschrieb 1865 die Reise „Von der Erde
zum Mond“ mit technischen Details, die bei der ersten Mondlandung
hundert Jahre später tatsächlich umgesetzt wurden. Und das rätselhafte Genie Leonardo da Vinci, kühner Vordenker in Sachen Mobilität,
skizzierte bereits um das Jahr 1500 ein dreirädriges Fahrzeug mit
Federwerkantrieb – lokal emissionsfreie Mobilität erster Güte.
Jede Zeit hat freilich ihre speziellen Genies: So wollen, inspiriert von
Facebook und Twitter, moderne Visionäre um den amerikanischen
Dokumentarfilmer Bruce Duncan die Persönlichkeit eines Menschen
vollständig digitalisieren – die physische Existenz also gegen eine
virtuelle austauschen: Beim Avatar-Projekt „LifeNaut“ kann man schon
zu Lebzeiten mit seinem virtuellen Selbst chatten, ihm die eigenen
Gedanken, Ideen und rhetorischen Fähigkeiten nahebringen – für
kluge Post-mortem-Gespräche mit den Anderen. Künftig sollen die
Avatare sogar autonom ihre Timeline pflegen oder twittern können.
Dem russischen Medienunternehmer Dmitri Itzkow ist das noch
nicht visionär genug. Er beschäftigt rund 30 Wissenschaftler aller
Fakultäten, die in einer ersten Stufe das komplette Gehirn in einen einfach zu wartenden Roboterkörper verpflanzen sollen. Ziel sei langfristig
aber, so Itzkow, auch noch den Androiden einzusparen und durch ein
Hologramm zu ersetzen.
Ewiges Leben in der Cloud: Einem uralten Menschheitstraum
kommt das schon sehr nahe. Ein cerebraler Geniestreich also – so
lange keiner den Strom abstellt.
29
ITS magazine 4/2014 | Profil
„Ein großer Schritt
zur Vision Zero“
Interview Roland Wunder, Product Manager Kooperative Systeme
bei Siemens Mobility, über den volkswirtschaftlichen Nutzen der
Car2X-Communication, die organisatorischen Herausforderungen
beim Aufbau des ITS-Korridors Rotterdam-Wien und die Roadmap
zum autonomen Fahren.
Herr Wunder, Zwei-Mann-Tragschrauber gibt es längst zu kaufen,
das erste Flugauto ist angeblich
serienreif, und auch der DüsenRucksack scheint bereits zu funktionieren (siehe Seite 13): Brauchen
wir da überhaupt noch so revolutionäre Technologien wie die Car2XCommunication für den Straßen­
verkehr?
Ich sehe hier eigentlich kein Entweder-Oder. Denn letztlich sollten schon
allein aus Sicherheitsgründen ja auch
diese futuristischen Transportmittel
30
miteinander und mit der Infrastruktur
kommunizieren. Außerdem: Selbst
wenn zum Beispiel das Flugauto
tatsächlich bereits technologisch
aus­gereift wäre, müssten vor einer
flächendeckenden Einführung noch
die nötigen Rahmenbedingungen
geschaffen werden. Auch hier sind
wir mit der Vision der Kooperativen
Systeme natürlich deutlich weiter.
Und rein rechnerisch spricht aus Sicht
der Öffentlichen Hand ebenfalls alles
dafür, die Car2X-Communication mit
Hochdruck weiter voranzutreiben:
Nach aktuellen Studien bringt hier
jeder investierte Euro ein Vielfaches
an volkswirtschaftlichem Nutzen.
Die meistgenannten Vorteile Kooperativer Systeme sind die Erhöhung
der Verkehrssicherheit, die Verbesserung des Verkehrsflusses und die
Reduzierung verkehrsbedingter
Emissionen. Welchen dieser Effekte
halten Sie für den wichtigsten?
Im Grunde sind alle drei extrem wichtig für die Zukunft der Mobilität.
­Aber wenn ich mich für einen Bereich
Profil | ITS magazine 4/2014
Zur Person
• 1987-1991: Ausbildung bei
der Siemens AG zum Kommunikationselektroniker, Fachrichtung Nachrichtentechnik
• 1992-1998: Tätigkeit im
Bereich Systemprüffeld der
Siemens Straßenverkehrstechnik
• 1998-2000: Ausbildung zum
Industriemeister Elektrotechnik / Nachrichtentechnik, mit
Auszeichnung (Bayerischer
Meisterpreis)
• 1999-2000: Projektleitung
und Fertigungsaufbau Parkscheinautomaten
• 2001-2002: Tätigkeit im ITS
Trainingscenter, Schwerpunkt
Parken
• 2002-2005: Projektleitung
Verkehrsmanagementsysteme in der Vertriebsregion
Deutschland
• 2005: Zertifizierung als
Projektmanager nach
PM@Siemens
• Seit 2006: Produktmanager
mit Schwerpunkt Innovations­
technologie – Kooperative
Systeme
entscheiden müsste, wäre es die Verkehrssicherheit. Was die Zahl der tödlichen Verkehrsunfälle angeht, haben
wir natürlich auch mit konventionellen
Mitteln schon einiges erreicht, aber
die 26.200 Menschen, die 2012 auf
den Straßen der EU ihr Leben verloren,
sind definitiv 26.200 zu viel. Und ich
bin davon überzeugt, dass uns die
Kooperativen Systeme der Vision Zero
einen großen Schritt näherbringen.
Der Begriff Car2X-Communication
schließt sowohl die Kommunikation
zwischen Fahrzeugen als auch die
Vernetzung von Fahrzeugen mit der
Infrastruktur mit ein. Welches der
beiden Konzepte verspricht Ihres
Erachtens den höheren Nutzen?
Auch wenn die Autohersteller eine
Zeit lang anderer Meinung waren:
Inzwischen hat sich unter allen an der
Entwicklung der Systeme Beteiligten
die Erkenntnis durchgesetzt, dass es
nicht reicht, wenn ausschließlich die
Fahrzeuge miteinander sprechen.
Den größtmöglichen Nutzen bieten die
Kooperativen Systeme, wenn man ihren
Namen wörtlich nimmt und die Zusammenarbeit auf eine möglichst breite
Basis stellt: in technologischer Hinsicht
genauso wie in organisatorischer.
Als eine der ersten regulären
An­wendungen der Car2X-Communication steht ab 2015 der Aufbau des
ITS-Korridors von Rotterdam nach
Wien auf der Agenda – ein Projekt,
in das gleich drei Länder involviert
sind (siehe Seite 22). Wo sehen Sie
bei der Realisierung die größeren Herausforderungen: im technologischen
oder im organisatorischen Bereich?
Eindeutig in der Organisation. Dass
die Technologie bereit ist für den
praktischen Einsatz, hat sie im Rahmen diverser Feldversuche immer
wieder bewiesen. Jetzt geht es vor
allem noch um administrative Fragen
wie die Zuständigkeiten bei der Zertifizierung der Informationen, die zum
Austausch freigegeben werden dürfen. Und auch an der grenzübergreifenden Abstimmung der Spezifika­
tionen und Funktiona­litäten gilt es
natürlich noch zu feilen.
Wie viele Fahrzeuge mit entsprechenden Sende- und Empfangs­
einheiten müssen denn auf den
Straßen unterwegs sein, um
spürbare Effekte zu erzielen?
Das kommt immer auf die Anwendung an. In einigen Fällen, wie etwa
der Warnung vor mobilen Baustellen,
ist das System schon vom ersten Fahrzeug an interessant. Zur Erstellung
von Geschwindigkeits-Profilen oder
zur Detektion von Kreuzungen ist
dagegen ein Ausstattungsgrad von
80 Prozent und höher nötig.
Europa läutet mit dem ITS-Korridor
die Zukunft des Straßenverkehrs
ein. Gibt es in anderen Teilen der
Welt ähnlich ambitionierte Car2XProjekte?
Das Thema steht definitiv weltweit im
Fokus – schon allein deshalb, weil
auch die Automobilindustrie global
aufgestellt ist. Die USA beispielsweise
sind in puncto Standardisierung sogar
einen Schritt weiter als die EU. Und
auch in anderen Teilen der Erde ist
man bereits dabei, die Car2X-Technologie auszurollen.
Im Rahmen des ITS-Korridors kommen zunächst nur zwei Anwendungen zum Einsatz: Warnungen vor
mobilen Baustellen und die Übermittlung von Daten zur Verkehrslage. Was genau können Kooperative Systeme dabei besser als
Navigationssysteme?
Der Hauptunterschied liegt in der
Aktualität und der lokalen Relevanz
der Daten. Die Informationen für
Navigationssysteme werden in der
Regel zunächst an ein Rechenzentrum
gesendet, dort aggregiert und erst
dann an die Empfänger geschickt. Die
Car2X-Daten stehen praktisch in Echtzeit zur Verfügung, und zwar genau
für die Position, an der sich der Autofahrer gerade befindet. Wie wesentlich dieser Unterschied ist, zeigt sich
zum Beispiel, wenn hinter einer Kurve
eine mobile Baustelle meine Spur
­blockiert: Dann hilft mir die Info, ­dass
mich in 20 Kilometern ein Stau erwartet, nicht wirklich dabei, einen Unfall
zu vermeiden.
Welche weiteren Car2X-Anwendungen wären mit heutiger Technologie
bereits realisierbar?
Im Interurban-Bereich sind zum Beispiel individuelle Geschwindigkeitsdaten interessant. Wenn ich weiß,
dass unmittelbar vor mir ein Fahrzeug
von 120 auf 20 km/h abbremst,
erwartet mich dort vermutlich ein
Hindernis: ein Stauende, ein Unfall
oder was auch immer. Aber auch für
innerstädtische Applikationen gibt es
reichlich Ideen: von Kreuzungsassistenten über Fußgängerwarnungen bis
zu ÖPNV- oder Event-Infos.
Wenn man die Entwicklung weiterdenkt, landet man dann nicht schon
beim autonomen Fahren?
So ist es. So lautet im Übrigen für ­
die nächsten 10 bis 20 Jahre auch das
erklärte Ziel der Autohersteller. Und
um das zu erreichen, ist nach meiner
Überzeugung auf jeden Fall eine kommunizierende Infrastruktur nötig.
Werden Sie persönlich dann schon
im Flugauto unterwegs sein – oder
noch mit Bodenhaftung im Kooperativen System?
Da ich ein bodenständiger Mensch
bin, wäre mir aus heutiger Sicht definitiv das Zweite lieber.
Herr Wunder, wir danken Ihnen für
das Gespräch.
31
ITS magazine 4/2014 | Im Fokus
IMPRESSUM
ITS magazine · Fachmagazin
für Straßenverkehrstechnik / ITS
Herausgeber: Siemens AG · Mobility Division ·
Mobility Management
Otto-Hahn-Ring 6 · D-81739 München
Redaktion: Stephan Allgöwer (verantwortlich),
Karin Kaindl, Roland Michali: Siemens AG,
Communications and Governmental Affairs
Koordination: Roland Michali:
Siemens AG, Communications and
Governmental Affairs
Textredaktion: Peter Rosenberger, Philip Wessa:
www.bfw-tailormade.de · Eberhard Buhl
(„Im Seitenspiegel“)
Fotos:
Corbis Seite 1, 8 l.u. . Getty Images Seite 2, 6/7,
8 u.m., 8 u.r. 9 u., 13 o. . Gareth Padfield, Flight
Stability and Control Seite 8 o. . iStockphoto Seite 9
o., 20, 25 o., 25 u. . Thomas Le Blanc Seite 12 .
dpa picture-alliance Seite 13 u., 14 l., 14 u., 24 .
AeroMobil Seite 14 o. . Achim Graf Seite 16-19 .
Photocase.com Seite 29
Alle anderen Fotos: Siemens AG
Konzeption & Gestaltung: Agentur Feedback,
München · www.agentur-feedback.de
Druck: G. Peschke Druckerei, München
Copyright: © Siemens AG 2014
Alle Rechte vorbehalten. Vervielfältigung dieser
Unterlage sowie Verwertung ihres Inhalts unzu­
lässig, soweit nicht ausdrücklich zugestanden!
Technische Änderungen vorbehalten.
Printed in Germany.
Das nächste ITS magazine erscheint im
April 2015
www.siemens.de/traffic
ISSN 2190-0299
Bestell-Nr. A19100-V355-B118
Dispo-Nr. 22300 · K-Nr. 689
313702 IF 12145.0
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