Tages-Anzeiger vom 11. Oktober 2013

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Tages-Anzeiger vom 11. Oktober 2013
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Tages-Anzeiger – Freitag, 11. Oktober 2013
Hintergrund
Im Wald gestrandet
Sie träumen vom Paradies und landen in der Hölle: Der Weg nach Europa endet für viele junge Afrikaner
in Marokko. Hätten sie gewusst, was sie dort erwartet, wären sie nie aufgebrochen.
Von Amir Ali, Nador
Unter ihm liegt das Paradies. Er kann es
von seinem Berg aus sehen. Jeden Tag,
auch bei Nebel und Regen. So nah ist es.
Tausende Kilometer hat er zurückgelegt, seit er seine Familie in Gabun verlassen hat. Die grosse Wüste hat er
durchquert und viele Grenzen überschritten. Nie war er seinem Ziel näher.
Und nie war das gelobte Land so unerreichbar wie hier. «Ich mag nicht
mehr. Ich bin müde», sagt Lapapy. Sein
Blick geht ins Leere. Sein Gesicht zuckt.
Ob Lapapy sein wahrer Name ist, ob
er wirklich aus Gabun stammt – es spielt
keine Rolle. Im Wald von Gourougou hat
Bilder und Video der Gestrandeten in Marokko
www.gestrandet.tagesanzeiger.ch
weder das Gestern noch das Heute Bedeutung. Hier gibt es nur das Morgen.
Morgen kann der Tag sein, den Gott für
ihn und all die anderen hier vorgesehen
hat. «Le jour de Dieu», wie sie sagen, der
Tag Gottes, an dem sie es auf die andere
Seite schaffen. Dieser Glaube allein hat
verhindert, dass aus ihrer Hoffnung nicht
längst Verzweiflung geworden ist.
Infrastruktur der Elenden
Der Wald von Gourougou auf einem
Berg über der spanischen Exklave Melilla ist einer der Orte, wo sich die Hoffnungen Afrikas stauen. Nicht jene des
aufstrebenden Afrika, sondern die Hoffnungen derer, die dachten, sie hätten
nichts zu verlieren. Sie kommen zu Tausenden, seit Jahren. Geschickt von ihren
Familien, deren Erwartungen sie mit
sich tragen. Diese Erwartungen, die sie
auch dann nicht begraben können, wenn
ihre Hoffnung versiegt ist.
Vor Jahren kamen die Malier, dann
folgten Zentralafrikaner, Tschader, Ivorer, Senegalesen, Nigerianer, Kameruner und Kongolesen. Keiner weiss mehr,
wer die ersten Höhlen eingerichtet und
die ersten Steinmäuerchen für Biwaks
aufgeschichtet hat. Von wem die verrussten Blechtöpfe stammen, in denen
sie das wenige kochen, das sie unten in
Nador und in Beni Enzar erbetteln. Und
niemand weiss, wie viele diese Infrastruktur der Elenden in Zukunft noch
benutzen werden.
Wie viele im Wald von Gourougou leben, kann man nur ahnen. 4000 lautet
die Schätzung, die ein Offizier der spanischen Guardia Civil im März der Zeitung
«El Mundo» abgegeben hat. Eine Herde
von Gestrandeten, bewirtschaftet von
Schleppern und korrupten Grenzbeamten in einem verheerenden Kreislauf.
Je näher die jungen Männer aus allen
Winkeln West- und Zentralafrikas an
Europa kommen, desto gefährlicher wird
es für sie. Ihr letztes Hindernis ist der
Zaun, der die spanische Exklave in Afrika
umgibt. Genauer: drei Zäune, bis zu sieben Meter hoch, mit allen technischen
Schikanen – von Nato-Stacheldraht über
Bewegungsmelder bis zu PfefferspraySelbstschussanlagen. 20 Millionen Euro
teuer, markieren sie den ersten Aussenposten der Festung Europa.
Ob der Tag Gottes gekommen ist, offenbart sich erst unten am Zaun. Wenn
sie zu Hunderten ausschwärmen, mit
selbst gebastelten Leitern, bewaffnet mit
Steinen und Stöcken. Manche nackt und
mit den eigenen Exkrementen eingeschmiert, um die marokkanischen Forces
Auxiliaires und die spanische Guardia Civil abzuschrecken. Die meisten werden
trotz allem hängen bleiben am Bollwerk,
das der Guardia-Civil-Offizier als «eigentlich unüberwindbar» bezeichnet. Aber
ein paar schaffen es fast immer.
Der Weg über den Zaun ist der Weg
der letzten Hoffnung. Der Weg jener, die
ihre Fahrkarten für den Schlepper-Express bereits verspielt haben. Die Reiserouten durch Wüsten und über Grenzen
in Marokkos Norden sind genauso organisiert wie die Anstürme auf den Grenzzaun. Je nach bezahltem Preis hat ein
«Reisender» – so nennen sich die Flüchtlinge selbst – einen oder mehrere Versuche zugut. Fast jeden Tag finden die
Grenzbeamten Afrikaner, versteckt in
Kofferräumen von Autos oder doppelten
Böden von Lieferwagen. Andere werden
Ein schwarzafrikanischer Flüchtling sammelt Feuerholz im Wald, der unweit der Grenze zur spanischen Exklave Melilla liegt. Foto: Marco Di Lauro (Getty Images)
Der Weg über den
Zaun nach Melilla
ist der Weg der
letzten Hoffnung.
über das Wasser auf die letzte Meile zwischen Nador und Melilla geschickt. Viele
Reisen enden hier, weil die Flüchtlinge
in den präparierten Autos an Abgasen
ersticken oder vor der Küste ertrinken.
Wer auffliegt, wird zurückgeschickt an
die Grenze mit Algerien und in der Wüste
ausgesetzt. Doch die meisten stehen
kurze Zeit später wieder in Nador und
nehmen Plan B in Angriff: den Zaun.
Lapapy, seit zwei Jahren im Wald, war
schon viermal unten. Einmal hat er es
bis vor das Tor des «Campo» geschafft,
des Auffanglagers auf spanischem Territorium, wo sie ihm laut Gesetz ein faires
Verfahren inklusive Anwalt hätten gewähren müssen. Doch sie hätten ihn geschnappt und zurückgeschafft, sagt der
23-Jährige. Und er ist nicht der Einzige.
Spanier schmieren Marokkaner
«Wir glaubten, in Europa gelte das Gesetz
noch etwas», sagt ein junger Ivorer.
Glaubt man den Erzählungen der Männer
von Gourougou, haben die spanischen
Behörden die Regeln während des Spiels
SPANIEN
Ceuta
GIBRALTAR
Mittelmeer
Melilla
Atlantik
Nador/ Beni Enzar/
Gourougou
Rabat
Casablanca
MAROKKO
150 km
TA-Grafik mrue
ALGERIEN
geändert. Europäischer Boden bedeutet
nicht mehr automatisch Sicherheit. Die
Marokkaner, so Lapapy, würden von den
Spaniern in Euros geschmiert, damit sie
die Zaunstürmer zurücknehmen.
Früher, in den 80er-Jahren, waren die
Grenzen zu den Überbleibseln des europäischen Kolonialismus in Marokko relativ einfach zu passieren. Seit Mitte der
90er-Jahre aber hat Europa stetig aufgerüstet. Die vielen jungen Afrikaner, die
seither den Tod gefunden haben am
Zaun, im Wasser oder unter den Schlagstöcken der Grenzwächter, haben den
Strom der afrikanischen Glücksritter allerdings nicht zum Versiegen gebracht.
Sporadisch nimmt die Öffentlichkeit
in Europa davon Notiz, wie kürzlich, als
ein beklemmendes Video der Guardia Civil die Runde machte. Oder als der Zaun
von Melilla und jener von Ceuta, Spaniens zweiter Exklave, 2005 wiederholt
überrannt wurden. Hunderte wurden damals verletzt, 14 starben. Doch fast tausend schafften es auf die andere Seite.
Aus Episoden wie dieser nährt sich
der Mythos, der junge Afrikaner nach
Norden lockt. Der Mythos vom offenen
Weg ins Paradies, der sich in Marokko
als höllische Sackgasse entpuppt. «Wenn
ich gewusst hätte, was mich hier erwartet, wäre ich zu Hause geblieben», sagt
Fofana Raphael aus Togo. Die anderen
murmeln müde Zustimmung.
Die Männer in Gourougou haben ihre
Länder nicht verlassen, weil sie dort verfolgt wurden. Daraus machen sie keinen
Hehl. Was sie «Migration volontaire» nennen, heissen wir Wirtschaftsflüchtlinge:
Menschen, die kein Recht auf Europa haben, weil sie nicht totgeschlagen werden,
wo sie herkommen, sondern in einem
wirtschaftlichen Vakuum langsam ersticken. Sie haben Schulabschlüsse, kennen
sich mit Computern aus, sprechen oft
eine Fremdsprache – aber es gibt für sie
keine Chance in einem Afrika, das ausländische Konzerne Hand in Hand mit korrupten Regierungen ausbeuten. Die Männer von Gourougou sind nicht dumm, sie
wissen Bescheid.
«Ihr Europäer seid für unsere Lage genauso verantwortlich wie unsere Regierungen», sagt Lapapy. Vor allem die Fran-
zosen, darin ist man sich auf dem Berg einig, müssten ihre Afrikapolitik überdenken. «Paris kontrolliert die Politik von
mindestens 15 afrikanischen Staaten»,
sagt ein aufgebrachter Kameruner. «An
das Volk denken die zuletzt.»
1000 Euro für ein Leben
«Würdet ihr heimkehren, wenn man
euch ein Flugticket und 300 Euro geben
würde?», frage ich. Kopfschütteln. Bei
1000 Euro beginnen die Ersten zu nicken. Was die jungen Schwarzafrikaner
in Marokko erleiden, haben die Ärzte
ohne Grenzen dokumentiert. Je länger
die Menschen auf dem Weg nach Europa
stecken bleiben, desto verletzlicher werden sie, so ein Fazit. Die Bedingungen
unter freiem Himmel oder in den Armenvierteln von Rabat und Casablanca
sind prekär. Die Migranten werden zusammengeschlagen, ausgeraubt, vergewaltigt – nicht nur, aber vor allem von
den marokkanischen Sicherheitskräften. Im Wald von Gourougou schaut die
Polizei fast täglich vorbei.
Nicht nur Europas Grenzen beginnen
in Afrika. Auch die Drecksarbeit haben
die Europäer an die Nachbarn im Süden
delegiert. Dass dabei Menschenrechte
verletzt werden, wird in Kauf genommen. Einen wichtigen Partner wie Marokko im Kampf gegen die unerwünschte
Migration hätschelt man lieber, als dass
man ihn kritisiert.
«Marokko ist die Hölle», lautet das
einstimmige Urteil auf dem Berg. Ans
Umkehren denken dennoch die wenigsten. Seine Familie habe Geld in ihn und
seine Reise investiert, sagt Fofana. Wenn
er jetzt mit leeren Händen zurückkehre,
sei das «ein Fuck-up. Das geht nicht.
Wirklich. Ich muss nach Europa.»
Zu Hause, in Kamerun, Nigeria oder
wo auch immer, kennt niemand die Wahrheit. Die Männer erzählen ihren Angehörigen nicht vom Dahinvegetieren in Höhlen und Steinverschlägen, von Hunger
und Hieben, von Narben und Zäunen. In
den seltenen Telefongesprächen mit
­Eltern und Geschwistern beteuern sie, alles sei in Ordnung, das Ziel bald erreicht.
Ihre Facebook-Profile gaukeln Normalität
vor. In der virtuellen Realität leben sie in
Casablanca oder Rabat, posten Witze
und religiöse Sprüche.
«Ich will nicht, dass sich meine Familie Sorgen macht», sagt Fofana. Ausserdem würde ihnen ohnehin niemand
glauben, was sie hier erlebten. «Wenn
ich scheitere, heisst das nicht, dass es
mein Bruder nicht schafft», sagt Lapapy.
«Im Gegenteil, es fordert ihn heraus.»
Jene, die etwas Distanz gewonnen haben, sehen die grösseren Zusammenhänge. William aus Kamerun ist mit 23
bereits ein Veteran. Ohne seinen Schutz
und seine Vermittlung hätten wir uns
auf dem Berg nicht blicken lassen können. Er machte uns eine Liste mit Dingen, mit denen wir uns den Zugang erkaufen konnten: Brot, Konserven, Verbandsmaterial, Zigaretten.
Die reine Wahrheit
Auch William lebte fast zwei Jahre im
Wald, auch er war mehrmals am Zaun.
Bis er nach seinem vorerst letzten Versuch auf der Flucht über eine Klippe
stürzte. Schwer verletzt kam er nach Rabat, wo sich die Caritas und eine Flüchtlingsorganisation um ihn kümmerten.
Sein Ziel ist noch immer Europa, «aber
ich habe keine Eile», sagt er.
Mit anderen schwarzafrikanischen Migranten hat er sich zusammengeschlossen zur Vereinigung, um die klandestine
Migration in Marokko öffentlich zu machen, kurz Alecma. Ihr Ziel: den Menschen in ihrer Heimat den Traum von
Europa auszutreiben. Auf ihrem Blog machen die Alecma-Aktivisten auf die Gefahren der Reise nach Norden aufmerksam.
«Wir müssen endlich damit beginnen, die
Wahrheit zu sagen», meint William.
Die Wahrheit und 1000 Euro nützen
vielleicht mehr als immer höhere Zäune
und immer härtere Repression. Vielleicht sollten all die Experten und Politiker einmal eine Reise in den Wald von
Gourougou machen und das Paradies
von der Hölle aus betrachten. Dort, wo
einem jede Asylgesetzrevision wie ein
müder Witz vorkommen muss.
Die Männer dort werden es versuchen. Wieder und wieder. Bis sie drüben
sind oder tot. Der Tag, den Gott für sie
ausgewählt hat, wird kommen.