Yehudi Menuhin
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Yehudi Menuhin
Sonntag, 1. Mai 2016 15.04 – 17.00 Uhr Yehudi Menuhin Eine Sendereihe zum 100. Geburtstag Von Michael Struck-Schloen 18. Folge: Geigen-Persönlichkeiten O-Ton Yehudi Menuhin (0’15) Die Geige ist eine unglaublich schöne Schöpfung. Und es lebt irgendwie, […] man tastet es direkt an. […] Wenn man mit der Geige steht und spielt, dann ist es wie eine einzige Umarmung so zu sagen. [Das musikalische Selbstporträt ‒ Yehudi Menuhin, NDR 1960] AUTOR Er hatte eben doch ein erotisches Verhältnis zu seinem Instrument. Für Yehudi Menuhin war die Violine weiblich, und er erwies sich im Laufe seines Lebens in dieser Hinsicht als echter Don Juan, der die Geige und mit der Geige verführte. Aber er war auch wählerisch und nahm nicht jedes Instrument ‒ selbst wenn es teuer war ‒, sondern bevorzugte echte Charaktere, „Geigen-Persönlichkeiten“, wie ich die heutige Folge überschrieben habe. MUSIK 1 Warner LC 02882 0825646777815 Track 7 Henryk Wieniawski Scherzo Tarantelle g-Moll op. 16 Yehudi Menuhin, Violine Artur Balsam, Klavier (Aufn. 1932) 4‘20 AUTOR Henryk Wieniawskis Scherzo Tarantelle op. 16, gespielt von Yehudi Menuhin im Jahr 1932. Und wer ermessen will, mit welch jugendlichem Draufgängertum der Sechzehnjährige spielte, mit welch perfekter Technik und nie glatter, sondern leuchtender Brillanz ‒ der muss nur diese Plattenaufnahme des scheinbar belanglosen Virtuosenschmankerls hören, das damals landauf, landab gespielt wurde ‒ nur eben nicht so. Dass die Persönlichkeit des Musikers, seine Lehrzeit und Reife dabei eine Rolle spielen, steht fest. Aber wir wollen heute auch einmal die Frage stellen, welchen Einfluss die Persönlichkeit des Instruments auf das Wunder Menuhin hatte. „Menuhin spielt sogar auf einem Besenstiel wie ein Gott“, soll der Dirigent Fritz Busch geäußert haben. In gewisser Weise hatte er Recht, denn selbst die wertvollste Stradivari ist musikalisch tot, wenn nicht ein Meister ihren Körper zum Klingen bringt. Andererseits hat Menuhin immer darauf geachtet, dass er ein Instrument spielte, das zu ihm passte; das eben nicht nur ein Werkzeug oder ein Besenstiel war, sondern seinen Körper, seine Seele und seinen Geist auf magische Weise ergänzte und zum Schwingen brachte. Jede große Geige, davon war Menuhin zusammen mit dem französischen Geigenbauer Émile Français überzeugt, war nicht nur ein perfektes Zusammenwirken von Material, Handwerkskunst und Genie, sondern das klingende Zeugnis ihrer Spieler. Ulrich Noethen liest aus Menuhins Buch Unvollendete Reise. Yehudi Menuhin – 18. Folge Seite 2 von 7 ZITAT (0’35) Bei einer großen Geige … die Seele des Künstlers bewahrt. [Yehudi Menuhin: Unvollendete Reise. Lebenserinnerungen (1976), München/Zürich: Piper 1997, S. 352] MUSIK 2 Warner LC 02822 0825646815 Track 2 Pjotr Iljitsch Tschaikowsky Violinkonzert D-Dur op. 35 2) Canzonetta. Andante Yehudi Menuhin, Violine Royal Philharmonic Orchestra Leitung: Adrian Boult (Aufn. 1959) 6‘00 AUTOR Yehudi Menuhin spielte die Canzonetta aus Peter Tschaikowskys Violinkonzert op. 35, zusammen mit dem Royal Philharmonic Orchestra und dem Dirigenten Adrian Boult. Auf welchem Instrument Menuhin das Tschaikowsky-Konzert einspielte, ist beim bloßen Hören schwer zu entscheiden. Zum Zeitpunkt der Aufnahme 1959 besaß Menuhin zwei kostbare Stradivari-Geigen mit klingenden Beinamen, die meist einen berühmten Vorbesitzer bezeichnen und jeden Geigenkenner ins Schwärmen bringen. Eine davon war die „Soil“ von 1714, die nach einem belgischen Sammler benannt ist und heute von Itzhak Perlman gespielt wird. Menuhin selbst hat den Ton der „Soil“ als kraftvoll, brillant und rein beschrieben. Sicher ist sie ein Instrument, auf dem das hochromantische TschaikowskyKonzert prachtvoll zur Wirkung kommt. „Sie ist wie ein hochgezüchtetes Rennpferd“, schreibt Menuhin in einem Buch über die Violine. „Sie befähigt zu höchsten Leistungen an Ausdauer, Brillanz, Selbstdisziplin und Beherrschung und ist doch so stolz und unbeugsam, das es sich nur durch die geschmeidigste Berührung reiten lässt. Sie ist Vollkommenheit und verlangt Vollkommenheit im Spiel“. Die Geige als Rennpferd ‒ wir werden sehen, dass Menuhin für seine Instrumente noch viele blumige Vergleiche finden sollte. Die Stradivari, die Menuhin die längste Zeit seines Lebens spielte und der er in fast sentimentaler Empfindung die Treue hielt, war die „Fürst Khevenhüller“ die heute auch Menuhins Namen trägt. Antonio Stradivari hatte sie 1733 im Alter von neunzig Jahren in Cremona gefertigt ‒ was er stolz auf einem Zettel im Instrument vermerkte. Joseph Böhm, der einflussreiche Lehrer von Joseph Joachim oder Jenő Hubay, gehörte zu den Vorbesitzern. „Es ist“, so Menuhin, „eine Violine mit einem warmen, großen, kräftigen und geschmeidigen Klang, die ganz ideal zu meiner jugendlichen, romantischen Einstellung passte.“ Um die „Fürst Khevenhüller“ rankt sich eine der berühmtesten Anekdoten aus Menuhins Wunderkindjahren. Sie dreht sich um die Erfüllung eines Wunschtraums, die dem knapp dreizehnjährigen Geiger von einem bedeutenden Mitglied der Bankiersdynastie Goldman & Sachs gewährt wurde. Zum Mittelsmann wurde im Jahr 1929 der Hausarzt der Menuhins, der Vater Moshe, genannt Abba, auf einen heimlichen Bewunderer des jungen Geigers hinwies. ZITAT (3‘20) Zu Dr. Garbats Patienten … Wallstreet Crash. [Yehudi Menuhin: Unvollendete Reise. Lebenserinnerungen (1976), München/Zürich: Piper 1997, S. 103ff.] © kulturradio vom Rundfunk Berlin-Brandenburg (rbb) www.kulturradio.de Yehudi Menuhin – 18. Folge MUSIK 3 Warner LC 02822 0825646777068 Track 6 César Franck Violinsonate A-Dur 2) Allegro Yehudi Menuhin, Violine Hephzibah Menuhin, Klavier (Aufn. 1936) Seite 3 von 7 7‘48 AUTOR Ein Beweis dafür, zu welcher Tonfülle und zu welchen klanglichen Abstufungen Yehudi Menuhin sein Instrument im wahrsten Sinne „erziehen“ konnte: der zweite Satz der A-DurSonate von César Franck, wie ihn Menuhin 1936 zusammen mit seiner Schwester Hephzibah spielte ‒ höchstwahrscheinlich auf seiner Stradivari „Fürst Khevenhüller“, dem großzügigen Geschenk von „Onkel“ Henry Goldman. Im Übrigen ließ es sich der nahezu blinde Goldman nicht nehmen, zu Yehudis legendärem Berlin-Debüt im Jahr 1929 eigens nach Europa zu reisen und zu überprüfen, wie sein Schützling mit dem edlen Geschenk zurecht kam. Eine Geige wie die „Fürst Khevenhüller“ kann, wenn sie von einer Persönlichkeit gespielt wird, zur Legende werden. Andererseits ist auch eine „Strad“, wie sie die Amerikaner sportlich abkürzen, letztlich eine bestimmte Konstellation von Materialien, die nur von einem Geigenbauer mit dem Format eines Stradivari zum klingenden Kosmos zusammengefügt werden können. Im Vorwort zu Menuhins Violinbuch hat der legendäre französische Geigenbauer Étienne Vatelot den Körperbau einer Violine erläutert. „Die Violine“, schreibt Vatelot mit der ungerührten Sachlichkeit des Handwerksmeisters, „ist aus 82 oder 84 einzelnen Holzteilen zusammengesetzt, wobei die Decke oder der Boden aus einem oder zwei Teilen besteht. Für den Boden, die Zargen und die Schnecke wird Ahorn verwendet, Fichte für die Decke, Ebenholz für das Griffbrett und Buchsbaumholz, Rosenholz oder Ebenholz für die Wirbel, den Geigenhals und den Saitenhalter. Der gute Klang eines Instruments hängt von verschiedenen Faktoren ab: von der Auswahl und dem Alter des Holzes, von der Wölbung der Decke und des Bodens, von der Stärke des Holzes, von der Spannung des Bassbalkens, der die Decke stützt, von der Geschmeidigkeit des Lacks, vom Zuschnitt des Stegs, vom Winkel, den die Saiten mit dem Steg bilden und von der Stärke der Saiten. Zu all diesen Faktoren kommen noch der Geschmack und sogar der Charakter des Geigers, der sein Instrument nicht nur nach der Klangfülle auswählt, sondern auch als Spiegel seiner eigenen Persönlichkeit. Und vergessen wir nicht den Bogen aus einer brasilianischen Holzart: er muss zugleich kräftig und biegsam, leicht und ausgewogen sein.“ Schreibt Étienne Vatelot, den Yehudi Menuhin für einen der besten Geigenbauer der Welt hielt. In Vatelot, der 2013 mit 87 Jahren gestorben ist, erkannte Menuhin noch die alte Handwerkskunst, in der ein Stück von Anfang bis Ende aus einer Hand kam ‒ eine Seltenheit bei heutigen Instrumentenbauern, von der Fabrikproduktion billiger Massengeigen in Fernost ganz zu schweigen. Die verschiedenen Faktoren für den guten Klang, dieses Zusammenwirken zwischen beruflicher Erfahrung, Intuition und Musikertalent zeigen allerdings auch, dass die astronomischen Preise für alte Instrumente mit den Zaubernamen Stradivari oder Guarneri nur den Bedingungen des kapitalistischen Marktes entsprechen. Zum musikalischen Ereignis gehört eben auch der große Musiker, der sich nicht in einen Banksafe sperren lässt. © kulturradio vom Rundfunk Berlin-Brandenburg (rbb) www.kulturradio.de Yehudi Menuhin – 18. Folge MUSIK 4 Warner LC 02822 0825646777815 Track 2 Franz Schubert Streichquintett C-Dur D 956 2) Adagio Yehudi Menuhin & Robert Masters, Violine Walter Gerhardt, Viola Maurice Gendron & Derek Simpson, Violoncello (Aufn. 1968) Seite 4 von 7 12‘46 AUTOR Das Adagio aus Franz Schuberts Streichquintett C-Dur D 956 in einer Aufnahme von 1968, in der Yehudi Menuhin primus inter pares war. Ihm zur Seite spielten der Geiger Robert Masters, der Bratschist Walter Gerhardt und die beiden Cellisten Maurice Gendron und Derek Simpson. Eine ziemlich unsentimentale, fast sachliche Interpretation, die Schuberts Endzeitmusik wieder auf den Boden holt. Um „Geigen-Persönlichkeiten“ geht es in der heutigen Folge unserer MenuhinSerie im kulturradio vom rbb; im Studio ist Michael Struck-Schloen. Die erste Geige, die ihm die Eltern zum vierten Geburtstag schenkten, hat er kurzerhand auf dem Boden zertrümmert: Es war eine Spielzeuggeige mit Metallsaiten, die ihm nur einen einzigen Schrei entlockte: „Sie singt nicht!“ Für den Kauf der ersten brauchbaren Geige schickte dann die Großmutter aus Palästina die stolze Summe von 800 Dollar, aber Yehudis Mutter dachte ausnahmsweise nicht nur an das Wohl des künftigen Wunderkinds, sondern auch an die Mobilität der jungen Familie und zweigte 400 Dollar für das erste Automobil ab: einen offenen Chevrolet. Ein besseres Stück war dann die 7/8-Geige von 1696 aus der Werkstatt des Mailänders Giovanni Grancino, auf der Menuhin 1927 sein Debüt in der New Yorker Carnegie Hall unter Leitung von Fritz Busch gab. Bis zuletzt war die Grancino in seinem Besitz und erbrachte nach seinem Tod bei der Versteigerung seiner Instrumente bei Sotheby’s die stolze Summe von knapp 112.000 Pfund ‒ eine Summe, die der preisbewusste Menuhin angesichts des historischen Werts der Geige sicher für angemessen gehalten hätte. Und gern erzählte er die Geschichte, wie er kurz nach dem Kauf der Geige einen Traum hatte. Da war ihm das leuchtende Vorbild, der Wiener Geiger Fritz Kreisler, erschienen und hatte ihm vom Podium herab die Geige gereicht mit den Worten „Die ist für dich“. Es war die kindliche Ahnung von der mystischen Übertragung der Persönlichkeit über das Instrument. Denn was Menuhin an Kreisler bewunderte, war der enorme Vorsprung an Lebenserfahrung, der auch dem Klang seiner Geige anzuhören war, die Kreisler durch seine prsönlichen Schwingungen prägte. Und plötzlich dämmerte Menuhin, dass es eine direkte Verbindung zwischen Klangfülle und Lebensfülle geben müsse. O-TON Yehudi Menuhin (0’34) Darin habe ich verstanden, dass das Leben nötig ist, um das Leben zu übersetzen im Geigenspiel. […] Das Geigenspiel hängt ganz ab […] von der Tiefe der Erfahrungen und der Leidenschaft vom Geiger. Wenn er weniger erlebt hat, dann ist seine Musik auch weniger ausdrucksvoll. Je mehr man mit der Menschheit zusammen sich gefreut und gelitten usw., je reicher wird der musikalische Ausdruck. [Gespräch HdK Berlin, SFB 1985] MUSIK 5 Warner LC 02822 0825646777815 Track 3 Benjamin Britten Violinkonzert op. 15 3) Passacaglia Yehudi Menuhin, Violine London Symphony Orchestra Leitung: Istvan Kertész (Aufn. 1968) © kulturradio vom Rundfunk Berlin-Brandenburg (rbb) 12‘40 www.kulturradio.de Yehudi Menuhin – 18. Folge Seite 5 von 7 AUTOR Ein selten zu hörendes Stück ‒ zumal auf dem Kontinent: das Violinkonzert op. 15 von Benjamin Britten aus dem Jahr 1940, als der erklärte Pazifist Britten England verlassen hatte und in den USA weilte. Yehudi Menuhin spielte das Finale, eine ausgedehnte Passacaglia, in einem Live-Mitschnitt vom Edinburgh Festival 1968. István Kertész dirigierte das London Symphony Orchestra. Wer wissen will, was Menuhin über die Geige dachte, sollte seinen Beitrag zum Buch Violine und Viola lesen. Während sich William Primrose darin um die Bratsche kümmert, beschreibt Menuhin Bau- und Spielweise, aber auch die Symbolik der Violine, so wie er sie sieht. Am Anfang steht ein Vergleich mit der Kunst des Bogenschießens, wobei er in der Violine den Bogen und im Geigenbogen den Pfeil erkennt ‒ eine etwas problematische Parallele, die ihn aber direkt zum Bild von der friedfertigen Waffe führt: die Geige, so Menuhin, sei eines „der wenigen Werkzeuge des Menschen, das nicht zum Töten gedacht ist, eine der am vollkommensten verkörperten Formen, und doch gleichzeitig körperlos, bestimmt, Geist und Seele anzusprechen, nicht zu physischer Gewaltanwendung“. Womit Menuhin elegant die Brücke von der Musik zu seinem humanitären Engagement in aller Welt schlägt, für das er 1976, als das Buch entstand, fast schon bekannter war als für sein Geigenspiel. Eher zu erwarten war dagegen der Vergleich der Violine mit dem weiblichen Körper. Menuhin genießt die geschwungenen Linien und zarten Konturen des Instruments, deren Teile tatsächlich als Hals, Schultern oder Taille bezeichnet werden; wie seidige menschliche Haut erscheint ihm der Lack einer Stradivari oder Guarneri, der Diven unter den Geigen. Menuhin gesteht, dass er regelmäßig seine Violine küsst, bevor er sie zum Schlafen im Geigenkasten verstaut ‒ sicher eine rührende Geste. Kurioser ist schon die Überlegung, ob Geigerinnen zum vermeintlich „weiblichen“ Körper der Violine nicht ein grundsätzlich anderes Verhältnis haben als Männer ‒ eben, so die Schlussfolgerung, weniger ein erotisches als ein narzisstisches. Frauen rät Menuhin deshalb lieber zum Cello. Das hat sicher etwas Kurioses, versetzt mit einer Prise Sexismus. Dennoch sollte man Menuhin nicht für einen notorischen Schwerenöter halten, sondern in seinem Denken auch den vitalen Aspekt erkennen: Für ihn ist die Geige ein lebendiges Wesen, das man behandeln und lieben muss wie ein Lebewesen, das frei schwingen und nicht gequetscht oder gepresst werden sollte. Leider sind auch den zärtlichen Berührungen Grenzen gesetzt: Damit der wunderbare Lack nicht beschädigt wird, muss sich der Kontakt auf die Reinigung mit einem Lappen beschränken ‒ die Liebe zur Geige bleibt letztlich platonisch, „beschränkt auf edelste Kunst und Kunstfertigkeit, sublimiert im herrlichen Klang, den alle hören können“. Und nach diesem letzten Zitat aus Menuhins Geigenbuch jetzt ein Treffen von zwei Instrumenten mit ausgesprochen kurvigen Formen. Yehudi Menuhin und der Harfenist Nicanor Zabaleta spielen die zweisätzige Sonate Es-Dur von François Adrien Boieldieu. MUSIK 6 Warner LC 02822 0825646777815 Track 6-7 François Adrien Boieldieu Sonate Es-Dur für Geige und Harfe Yehudi Menuhin, Violine Nicanor Zabaleta, Harfe (Aufn. 1980) 12‘00 AUTOR Elegante Klassik für den adligen französischen Salon, in dem um 1800 die Harfe eine klangvolle Rolle spielte. François Adrien Boieldieu, der Meister der Opéra comique, komponierte diese Sonate für Geige und Harfe. Yehudi Menuhin und Nicanor Zabaleta spielten in einer Aufnahme von 1980. Und man könnte sich vorstellen, dass Menuhin diese Kammermusik nicht auf einer Stradivari, sondern auf seiner neuen Guarneri del Gesù mit dem Beinamen „Lord Wilton“ © kulturradio vom Rundfunk Berlin-Brandenburg (rbb) www.kulturradio.de Yehudi Menuhin – 18. Folge Seite 6 von 7 gespielt hat, einem Instrument von 1742, das er kurz zuvor erworben hatte. Es war keineswegs seine erste Geige aus der Dynastie der Guarneri. Schon seine erste Frau Nola hatte ihm nach der Hochzeit ein Instrument von Bartolomeo Giuseppe Guarneri geschenkt, der nach den Christus-Initialen in seinen Geigen nur „Guarneri del Gesù“ genannt wurde. Die Guarneri spielte also in Menuhins Leben immer wieder eine Rolle; und er war sich der unterschiedlichen Qualitäten und Individualitäten der beiden Antipoden Stradivari und Guarneri sehr bewusst. Ulrich Noethen liest aus Menuhins Lebenserinnerungen Unvollendete Reise. ZITAT (3‘35) Mein ganzes Leben könnte ich beschreiben …denken lässt. [Yehudi Menuhin: Unvollendete Reise. Lebenserinnerungen (1976), München/Zürich: Piper 1997, S. 350] AUTOR Über die generelle Bevorzugung der Stradivari hinaus, war es für Menuhin selbst immer überraschend, welche seiner vielen Geigen er schließlich für ein Konzert auswählte. Die endgültige Wahl traf er in einem „schweigsamen Colloquium“, wie er schrieb, in dem weniger die anstehende Musik als das Eigenleben der Geigen eine Rolle spielte, ihr aktueller Zustand, ihr Bedürfnis nach Ruheperioden. Aber man kann davon ausgehen, dass er das große Konzert von Jean Sibelius auf einer Stradivari, höchstwahrscheinlich der klangstarken „Soil“ spielte, die er sich 1951 gekauft hatte. Ihr pompöser, stolzer, manchmal etwas harter Klang kommt im Eingangssolo des Konzerts eindrucksvoll zur Geltung. Yehudi Menuhin wird begleitet vom London Philharmonic Orchestra, der Dirigent ist Adrian Boult. MUSIK 7 EMI LC 06646 2641762 CD 45 Track 4 Jean Sibelius Violinkonzert d-Moll op. 47 1) Allegro moderato Yehudi Menuhin, Violine London Philharmonic Orchestra Leitung: Adrian Boult (Aufn. 1955) 15‘04 AUTOR Yehudi Menuhin als Solist im ersten Satz des Konzerts op. 47 von Jean Sibelius ‒ einem Repertoire, das für ihn eher untypisch war. Man spürt die Anstrengung im oft forcierten Ton, der dem romantischen Überdruck bei Sibelius eher mit Kraft als mit Tonfülle begegnet. 1955 entstand diese Studioaufnahme mit dem London Philharmonic Orchestra, dirigiert von Adrian Boult. Menuhin war der festen Überzeugung, dass das Holz der Geige die Seele des Künstlers bewahrt, der sie spielt ‒ vorausgesetzt, er ist ein Könner von Gnaden. Er selbst konnte das erleben, als er sich z.B. die Guarneri des großen Eugène Ysaÿe für einen Monat auslieh und den Eindruck hatte, nur ein Schattenspieler von Ysaÿe zu sein. Wer Menuhins Geigen zu Lebzeiten oder nach seinem Tod im Jahr 1999 erwarb und sie nicht nur als Geldanlage betrachtete, sondern wirklich spielen wollte, der musste sich gegen ihre Charakterprägung durch Menuhin durchsetzen ‒ sicher kein Problem für Itzhak Perlman, der Menuhin die Stradivari „Soil“ in den achtziger Jahren abkaufte. Auch seine geliebte „Fürst Khevenhüller“, das Geschenk von Henry Goldman, hat Menuhin zu Beginn der achtziger Jahre verkauft, um seine neue Wohnung im Londoner Stadtteil Belgravia zu finanzieren; sie verschwand in einer Privatsammlung ‒ so wie die Guarneri „Lord Wilton“, die für sechs Millionen Dollar verkauft wurde, aber hin und wieder doch gespielt wird. Mittlerweile ist sie auch für erschwingliche 1000 Dollar erhältlich: als amerikanische Kopie. © kulturradio vom Rundfunk Berlin-Brandenburg (rbb) www.kulturradio.de Yehudi Menuhin – 18. Folge Seite 7 von 7 Die Geige, die Menuhin jetzt im Variationensatz aus Ludwig van Beethovens Kreutzersonate op. 47 spielt, ist keine billige Kopie, sondern das Original einer Stradivari ‒ Objekt der permanenten Liebkosung und Beschwörung, wie es Menuhin in seinem Buch über die Geige geschrieben hat. Hören Sie den Satz aus der Gesamtaufnahme der Beethoven-Sonaten aus den fünfziger Jahren mit dem Pianisten Louis Kentner. MUSIK 8 EMI LC 06646 2641462 CD 15 Track 9 Ludwig van Beethoven Violinsonate A-Dur op.47 „Kreutzersonate“ 2) Andante con variazioni Yehudi Menuhin, Violine Louis Kentner, Klavier (Aufn. 1953) 15‘43 AUTOR Andante con variazioni, der langsame Satz aus Beethovens anspruchsvollster Violinsonate, der so genannten „Kreutzersonate“ A-Dur op. 47. Yehudi Menuhin spielte zusammen mit seinem Klavierbegleiter und Schwager Louis Kentner. Eine Aufnahme von 1953 ‒ und die Schlussmusik der heutigen Menuhin-Huldigung im kulturradio vom rbb. Das Manuskript können Sie von unsrer Website kuturradio.de herunterladen, auch wenn Sie noch einmal Interpreten oder Aufnahmedaten nachhalten wollen. Beim nächsten Mal spielt dann nicht die Diva unter den Streichinstrumenten, nämlich die Geige, eine Rolle, sondern die unscheinbarere Schwester, die Bratsche, für die aber viele Komponisten große Musik geschrieben haben. Auch die Viola hat Menuhin gespielt ‒ wenn es Sie interessiert: am nächsten Sonntag zur gleichen Zeit auf dieser Welle. Für heute verabschiedet sich Michael Struck-Schloen. © kulturradio vom Rundfunk Berlin-Brandenburg (rbb) www.kulturradio.de