Yehudi Menuhin
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Yehudi Menuhin
Sonntag, 12. Juni 2016 15.04 – 17.00 Uhr Yehudi Menuhin Von Michael Struck-Schloen 24. Folge: Die ewigen Wahrheiten der Kammermusik AUTOR Im Gespräch mit dem britischen Psychotherapeuten und Musikkritiker Robin Daniels, Ende der 1970er Jahre, hat Yehudi Menuhin auch ein Loblied auf die Kammermusik gesungen: Sie sei eindeutig die subtilere und höher entwickelte Form der musikalischen Kommunikation als die Orchestermusik, die mit paramilitärischer Disziplin und ohrenbetäubender Klangfülle daher komme. Wie viele seiner Kollegen konnte sich Menuhin ein Musikerleben ohne Kammermusik nicht denken. Einige der schönsten Aufnahmen will ich Ihnen heute vorstellen ‒ unter dem etwas pathetischen, aber von Menuhin selbst vorgegebenen Titel „Die ewigen Wahrheiten der Kammermusik“. MUSIK 1 EMI LC 06646 2641332 CD2 Track 9 Johann Sebastian Bach Kantate „Also hat Gott die Welt geliebt“ BWV 68 (T: Christiane Mariane von Ziegler) 2) Arie Sopran „Mein gläubiges Herze“ Victoria de los Angeles, Sopran Yehudi Menuhin, Violine Evelyn Rothwell, Oboe Bath Festival Ensemble Leitung: Yehudi Menuhin (Aufn. 1964) 4‘04 AUTOR Natürlich sind auch die meisten Bach-Kantaten vokale Kammermusik ‒ wenn man sie nicht in Kompaniestärke aufführt wie manche Dirigenten im frühen 20. Jahrhundert. Yehudi Menuhin hielt sich da lieber an die Erkenntnisse des Cembalisten, Organisten und Chorleiters George Malcolm, mit dem er vor allem beim Bath Festival zusammenarbeitete. Malcolm, ein Jahr jünger als Menuhin, war ein Anhänger neuerbauter, klangprächtiger Cembali und auch sonst dem großen Ausdruck nicht abgeneigt. Aber er achtete darauf, dass man ungefähr in der von Bach vorgeschriebenen Besetzung spielte ‒ und das war im Fall der eben gehörten Arie „Mein gläubiges Herze“ aus der Kantate Nr. 68 ein Kammerensemble aus Violoncello piccolo, einer Geige, einer Oboe und einer ContinuoGruppe. Es sang Victoria de los Angeles. Auf seinen eigenen Festivals in Bath, Gstaad und Windsor war die Kammermusik ein zentrales Element. Sie war leicht zu disponieren, das Programm im Bedarfsfall schnell zu ändern ‒ und sie entsprach dem Gedanken eines intimen Zusammentreffens Gleichgesinnter, das die Handschrift des Programmmachers und seiner illustren Gäste trug. Aber auch auf den Festivals von Kollegen hat Menuhin regelmäßig Kammermusik gemacht ‒ bei Benjamin Britten in Aldeburgh an der englischen Ostküste oder bei Pablo Casals im südfranzösischen Prades. Und wenn man die Live-Mitschnitte der öffentlichen Konzerte hört, erstaunt immer wieder, wie sehr Menuhin als Interpret und Persönlichkeit sich seinen Partnern anpassen konnte. Das machen vor allem die Interpretationen des zweiten Klaviertrios op. 87 von Johannes Brahms deutlich, das in zwei Aufnahmen mit Menuhin vorliegt. Die spätere von Yehudi Menuhin – 24. Folge Seite 2 von 7 1966 entstand zusammen mit der Schwester Hephzibah Menuhin und dem Cellisten Maurice Gendron, den Menuhin sehr schätzte ‒ vielleicht weil sein heller, leichter und brillanter Celloton dem silbrigen Menuhin-Klang entgegenkam, weil Gendron und Menuhin gleich atmeten und sich in der Auffassung von Musik ähnlich waren. Da verliert auch das hochexpressive Brahms-Trio jede norddeutsche Schwere und atmet auf wie unter südlichem Himmel. Hören wir den Beginn. MUSIK 2 Warner LC 02822 0825646777068 Track 5 (Beginn) Johannes Brahms Klaviertrio Nr. 2 C-Dur op. 87 1) Allegro Yehudi Menuhin, Violine Maurice Gendron, Violoncello Hephzibah Menuhin, Klavier (Aufn. 1966) 3‘00 AUTOR Yehudi Menuhin, Maurice Gendron und Hephzibah Menuhin mit dem Beginn des Klaviertrios C-Dur op. 87 von Johannes Brahms ‒ eine Aufnahme der EMI von 1966, die Yehudi Menuhin als idealen, weil einfühlsamen und anpassungsfähigen Kammermusikpartner zeigt. Wie anpassungsfähig er tatsächlich war, demonstriert ein Live-Mitschnitt des gleichen Trios vom Festival in Prades aus dem Jahr 1955. Pablo Casals, der katalanische Cellist und Antifaschist, hatte Spanien noch während des Bürgerkriegs 1936 verlassen und sich in Prades nahe der spanischen Grenze niedergelassen. Sein Festival hatte also eine eindeutig politische Stoßrichtung ‒ auch wenn sich entsprechende Manifeste meist auf die eigenen Auftritte und Kompositionen von Casals beschränkten. Regelmäßig ist Yehudi Menuhin in Prades zu Gast gewesen und hat sich mit dem Festivalchef auf dem Podium gezeigt. Und war nicht Casals in vieler Hinsicht das Pendant zu Menuhin?: ein grandioser Musiker, für den jede Note eine existenzielle Äußerung war, was auch sein Publikum spürte; andererseits ein bedingungsloser Tyrannenhasser, der in aller Welt als Friedensbotschafter anerkannt war. Im Juli 1955 war Menuhin wieder einmal in den östlichen Pyrenäen und spielte mit Casals und dem Pianisten Eugene Istomin das zweite Brahms-Trio. Casals war damals schon 78 Jahre alt, genau doppelt so alt wie Menuhin ‒ aber vom ersten Schnaufer des Cellisten, noch bevor die Musik begonnen hat, wird deutlich, dass Casals es ist, der Tempo, Phrasierungen und den Geist der Musik vorgibt. Mit seinem intensiven, aus der Saite herausgesaugten Ton erdet er die Musik, wo sie Gendron leicht gemacht hat. Und Menuhin geht mit: Sein Ton klingt ungewöhnlich dunkel und verschattet, in den gemeinsamen Unisono-Passagen wirken Cello und Geige wie ein großes Hybrid-Instrument, das nicht mehr von zwei individuellen Musikern, sondern nur noch von Casals gespielt zu werden scheint. MUSIK 3 Warner LC 02822 0825646777044 Track 5 Johannes Brahms Klaviertrio Nr. 2 C-Dur op. 87 1) Allegro Yehudi Menuhin, Violine Pablo Casals, Violoncello Eugene Istomin, Klavier (Aufn. 1955) 9‘30 AUTOR Der erste Satz des zweiten Klaviertrios C-Dur op. 87 von Johannes Brahms ‒ dargeboten von Yehudi Menuhin, Pablo Casals und Eugene Istomin auf dem Festival in Prades im Juli 1955. Yehudi Menuhin stand hier ganz im Bann von Casals, der den Brahms nicht nur auf © kulturradio vom Rundfunk Berlin-Brandenburg (rbb) www.kulturradio.de Yehudi Menuhin – 24. Folge Seite 3 von 7 seinem Cello gestrichen, sondern auch hörbar geschnauft, gestöhnt und gelitten hat. Und es ist ein Wunder, wie Casals mit seiner impulsiven Persönlichkeit das intime Musizieren in der Kammermusik gleichzeitig sprengen und zusammenhalten konnte. Leidenschaft für die Kammermusik ‒ darum geht es in der heutigen Folge unserer Menuhin-Reihe im Kulturradio vom rbb. Dass es kaum Kammermusik-Aufnahmen aus Menuhins Wunderkindjahren gibt, sagt mehr über die damaligen Vorlieben der Plattenindustrie als über Menuhins wirkliche Kammermusik-Begeisterung aus. Sie ist eng verbunden mit seinem Lehrer George Enescu und dem europäischen Heim der Menuhins in Ville d’Avray, einem Pariser Vorort zwischen Sèvres und Versailles. Am Nordrand des Ortes, direkt am weitläufigen Park von Saint-Cloud mieteten die Menuhins 1931 eine großzügige und elegante, etwas verwohnte Villa mit schönem Garten. Sie gehörte einem gewissen Paul Vian, einem Unternehmer und Spekulanten, dessen Geschäfte nach der Weltwirtschaftskrise schlecht liefen. Man brauchte Geld und vermietete die eigene Villa an die mittlerweile gut betuchten Menuhins ‒ so kam es, dass Yehudi zum Spielgefährten des vier Jahre jüngeren Boris Vian wurde, der später als Jazzmusiker und Autor surrealer Romane berühmt wurde. Da aber Mutter Marutha trotz des weltweiten Erfolges ihres Sohnes in der Familie immer noch Zucht und Ordnung walten ließ, blieb für Ausflüge und Fahrradtouren wenig Zeit: Der 15-jährige Yehudi musste Sprachen lernen und einmal wöchentlich zum Unterricht bei Enescu in die Pariser Innenstadt fahren. Andererseits schleppte Enescu etliche Kollegen nach Ville d’Avray, um mit Yehudi Kammermusik zu machen. Es waren Weltstars, die sich in den Sommerferien an jedem Donnerstag versammelten: der Geiger Jacques Thibaud, Enescu, gern die Bratsche spielte und sich dabei mit dem Dirigenten Pierre Monteux abwechselte, oder der Cellist Maurice Eisenberg, Sohn eines SynagogenKantors aus Königsberg, der in den USA aufgewachsen war und von Pablo Casals energisch gefördert wurde. Es müssen herrliche Abende im Musikzimmer oder auf der Terrasse der Villa „Les fauvettes“ gewesen sein, nach denen Marutha und ihre italienische Köchin regelmäßig köstliche Diners servierten. Das wichtigste Kammermusik-Repertoire hat der junge Menuhin in diesen Jahren zwischen 1931 und 1935 hier kennengelernt. Die Quartette von Beethoven wurden systematisch angegangen; und wenn einmal kein zweite Geige zur Hand war, legte man einfach Streichtrios auf die Pulte: Mozart vielleicht oder das Triofragment vom 19-jährigen Franz Schubert, das dem großen Vorbild Mozart die apollinische Heiterkeit und die bewunderungswerte Fertigkeit verdankt, mit nur drei Stimmen eine ganze Welt aufzutun. MUSIK 4 Warner LC 02822 0825646777815 Track 5 Franz Schubert Streichtrio B-Dur D 471 (Fragment) 1) Allegro Yehudi Menuhin, Violine Cecil Aronowitz, Viola Derek Simpson, Violoncello (Aufn. 1965) 6‘57 AUTOR Musik im Geiste Mozarts: das war das Allegro für Streichtrio B-Dur von Franz Schubert, D 471, der einzige vollendete Satz des Werks, das Schubert nicht weiter verfolgte. In einer Aufnahme von 1965 spielte Yehudi Menuhin zusammen mit dem Bratscher Cecil Aronowitz und dem Cellisten Derek Simpson ‒ der klingende Beweis dafür, mit welcher unmanirierten Natürlichkeit Menuhin die Wiener Klassik zu spielen verstand. Das Fundament für diese stilistische Sicherheit wurde mit den KammermusikAbenden von Ville d’Avray vor den Toren von Paris gelegt, bei denen Menuhin zusammen mit den größten Musikern seiner Zeit die Meisterwerke von Haydn bis Brahms in zwangloser Atmosphäre spielte. Das geistige Zentrum des Kreises war natürlich George © kulturradio vom Rundfunk Berlin-Brandenburg (rbb) www.kulturradio.de Yehudi Menuhin – 24. Folge Seite 4 von 7 Enescu, bei dem Menuhin regelmäßig in die Lehre ging; später hat er mit Enescu als Dirigent zahlreiche Plattenaufnahmen gemacht, von denen etliche zur diskografischen Legende wurden. Im Übrigen wirkte Enescu in der Villa „Les fauvettes“ auch als Pianist mit, wenn nicht gerade Alfred Cortot oder der polnische Pianist Artur Balsam, Menuhins späterer Duobegleiter, zur Verfügung standen. Allerdings gab es im Hause Menuhin noch ein weiteres Talent an Tasten: Yehudis Schwester Hephzibah hatte sich trotz ihrer Jugend zu einer Pianistin von Rang entwickelt, was auch den anwesenden Koryphäen nicht verborgen blieb. Und als die Elfjährige eines Tages das Klavierkonzert von Robert Schumann spielte, wobei Alfred Cortot am zweiten Klavier das Orchester ersetzte, kamen die gestandenen Musiker aus dem Staunen nicht heraus. Es war der Dirigent Pierre Monteux, der sofort forderte, dass Hephzibah öffentlich auftreten müsse ‒ zum Schrecken der Mutter, für die ein Wunderkind in der Familie vorerst genug Aufregung bedeutete. Aber Marutha Menuhin konnte den Lauf der Dinge nicht aufhalten: Hephzibah wurde zwar keine berühmte Solistin, doch zusammen mit ihrem Bruder bildete sie eines der großartigsten Familien-Duos im 20. Jahrhundert ‒ an anderer Stelle bin ich darauf detaillierter eingegangen. In den 1930er Jahren perfektionierten Yehudi und Hephzibah ihr Zusammenspiel, wobei sie nicht nur das traditionelle Repertoire einspielten, sondern auch Raritäten wie die erste Violinsonate des Italieners Ildebrando Pizzetti. Der Mann mit dem germanischen Vornamen, der sich später aktiv dem Faschismus anschloss und Mussolinis Kulturpolitik unterstützte, gehörte zur „Generation der 1880er“ ‒ einer Komponistengruppe um Ottorino Respighi und Alfredo Casella, die dem opernvernarrten Italien eine hochkarätige Instrumentalmusik zurückbringen wollte. Im Herbst 1918, kurz vor Ende des für Italien äußerst verlustreichen Ersten Weltkriegs, begann Pizzetti mit der Komposition seiner Violinsonate A-Dur, die er im beigegebenen Programm als Echo des Krieges interpretierte. Der letzte der drei Sätze schildert den neu gewonnenen Frieden in Melodien, die von italienischer Volksmusik inspiriert sind. Hören wir dieses Finale in der Aufnahme, die Yehudi und Hephzibah Menuhin 1938 in London gemacht haben. MUSIK 5 Warner LC 02822 0825646777068 Track 6 Ildebrando Pizzetti Violinsonate Nr. 1 A-Dur 3) Vivo e fresco Yehudi Menuhin, Violine Hephzibah Menuhin, Klavier (Aufn. 1938) 8‘41 AUTOR Ein Meilenstein der italienischen Kammermusik im 20. Jahrhundert ist diese Violinsonate A-Dur von Ildebrando Pizzetti aus dem Jahr 1920. Yehudi und Hephzibah Menuhin spielten in einer Aufnahme von 1938 das Finale. Im Gespräch mit Robin Daniels hat Yehudi Menuhin über die Vorzüge der Kammermusik nachgedacht: über ihre Intimität und Feinheit des Handwerks, vor allem über die Ökonomie der instrumentalen Mittel, die ein Streichquartett vom Orchester unterscheide ‒ wobei Menuhin gleich ins Philosophieren gerät über die moderne Maßlosigkeit und die Überschreitung von Grenzen: Alles sei übermenschlich schnell, hoch und komplex geworden, der Einzelne gehe in der Masse auf, was man auch an der Gleichschaltung vieler Musiker im Orchester beobachten könne, etwa bei den Streichern, die alle mit dem gleichen Bogenstrich zu spielen haben. Menuhin, der Musik eben auch politisch sah, entdeckte nur in der Kammermusik die volle Verantwortung für die eigene Stimme und eine höher entwickelte Form der Kommunikation. Mag sein, dass solche Äußerungen gegen Ende der 1970er Jahre auch gegen die orchestrale Hochglanz-Ästhetik eines Herbert von Karajan gerichtet waren, der an den Einspielungen mit seinen Philharmonikern aus Berlin auch nach den Aufnahmesitzungen so © kulturradio vom Rundfunk Berlin-Brandenburg (rbb) www.kulturradio.de Yehudi Menuhin – 24. Folge Seite 5 von 7 lange im Studio feilte, bis sie ganz seinen Vorstellungen vom perfekten Kunstwerk entsprachen. Menuhin hat so nie gedacht. Natürlich ging es auch ihm um Präzision beim Zusammenspiel, um hohe technische Standards und Klangkultur ‒ aber die Musik sollte doch spontan und nicht leblos wirken, wie viele im Studio nachbearbeitete Aufnahmen der Zeit. Die Gegenströmung kam aus der „Alte-Musik-Bewegung“, die vor allem die als langweilig verschriene Barockmusik aus dem Notenschrank holte oder in den Archiven entdeckte. Die Experimente, mit denen Musiker wie Frans Brüggen, Nikolaus Harnoncourt oder Reinhard Goebel das Repertoire von Monteverdi bis Bach als unerhörte Musik präsentierten, beeindruckten auch Menuhin ‒ nicht zuletzt, weil sie durchweg kammermusikalisch gedacht und empfunden waren. In England hatte er schon seit den fünfziger Jahren einen Kreis von Musikern um sich geschart, die sich mit historischen Spielpraktiken und Klangideen beschäftigten. Der Dirigent und Cembalist Raymond Leppard gehörte dazu, der schon erwähnte George Malcolm oder der Musikwissenschaftler Robert Donington, ein Schüler des Alte-Musik-Pioniers Arnold Dolmetsch. Donington, der als Gambist sein eigenes Ensemble hatte, hat das barocke Repertoire in kritischen oder praktischen Ausgaben wieder zugänglich gemacht ‒ so wie im Fall der Violinsonaten op. 5 von Arcangelo Corelli. MUSIK 6 EMI LC 06646 2641772 CD 46 Track 8 Arcangelo Corelli Violinsonate D-Dur op. 5 Nr. 1 2) Allegro Yehudi Menuhin, Violine George Malcolm, Cembalo Robert Donington, Viola da gamba (Aufn. 1978) 2‘33 AUTOR Yehudi Menuhin spielte aus Arcangelo Corellis Sonate op. 5 Nr. 1 für Geige und Generalbass ‒ bei der Ausführung waren ihm die beiden Männer im Continuo behilflich: der Cembalist George Malcolm und der Gambist Robert Donington, der als bekannter Musikwissenschaftler eine Neuausgabe der Corelli-Sonaten herausgegeben hatte. Für seine Beschäftigung mit Corelli, Händel, Purcell oder Vivaldi bot Menuhin das Musikfestival im südenglischen Bath, das er ein Jahrzehnt lang künstlerisch leitete, ein reiches Experimentierfeld. Aber auch die englischen Komponisten nach Elgar und Vaughan Williams interessierten sich mehr und mehr für die barocke Vergangenheit. 1953 wurde beim Edinburgh Festival ein Werk von Michael Tippett uraufgeführt, das Musik von Corelli mit der englischen Gattung der „Fantasia“ und Tippetts eigener Tonsprache zu einem höchst eigenwilligen musikalischen Plumpudding vermischte. Fantasia concertante über ein Thema von Corelli nannte Tippett das Werk für Streicher. Als Thema diente ihm das Adagio eines Concerto grosso aus Corellis Opus 6, das Tippett in mehreren Variationen bearbeitet, bevor er es in einer brillanten und komplexen Fuge durchführt. Am Schluss aber steht eine Pastorale, die sich immer weiter von Corellis Thema weg und in eigene Klangwelten hineinträumt. Vor alle in diesem lyrischen Schlussteil spielt die Idee von Kammermusik, das Thema dieser Sendung, eine wichtige Rolle. Tippett hat aus dem großen Streicherapparat zwei Geigen und ein Cello solistisch herausgelöst ‒ ein Concertino, das gemäß der Idee des Concerto grosso mit dem Tutti kommuniziert, aber auch sein Eigenleben führt und im Schlussteil die Führung übernimmt. Womit Tippett eine Art tönender Perspektivwechsel vom Großen zum Kleinen gelingt. Hören Sie Tippetts Corelli-Fantasie jetzt in einer EMI-Produktion von 1964 mit dem Bath Festival Orchestra, das der Komponist selbst dirigiert. Das solistische Streichtrio spielen Yehudi Menuhin, Robert Masters und Derek Simpson. © kulturradio vom Rundfunk Berlin-Brandenburg (rbb) www.kulturradio.de Yehudi Menuhin – 24. Folge MUSIK 7 Warner LC 02822 0825646777044 Track 15 Michael Tippett Fantasia concertante on a Theme of Corelli Yehudi Menuhin & Robert Masters, Violine Derek Simpson, Violoncello Bath Festival Orchestra Leitung: Michael Tippett (Aufn. 1964) Seite 6 von 7 18‘23 AUTOR Das war von Michael Tippett die Fantasia concertante on a Theme of Corelli in einer Aufnahme von 1964. Solisten waren Yehudi Menuhin und Robert Masters (Geige) und Derek Simpson (Violoncello). Michael Tippett leitete das Bath Festival Orchestra. Sie hören das Kulturradio vom rbb mit der 24. Folge unserer Reihe über Yehudi Menuhin. Am Mikrofon ist Michael Struck-Schloen, und im Zentrum steht heute Menuhins Leidenschaft für die Kammermusik, die über das Interesse seiner Kollegen am intimen kammermusikalischen Dialog doch weit hinausging. Im Laufe seines Lebens hat Menuhin zwar nie in festen Ensembles, dafür aber mit bevorzugten Partnern gespielt, mit denen er sich am wohlsten fühlte oder die ihn inspirierten: im Klaviertrio etwa mit den Cellisten Maurice Gendron, Gaspar Cassadó oder Mstislaw Rostropowitsch, am Klavier häufig seine Schwester Hephzibah, Louis Kentner oder Wilhelm Kempff. Seltsamerweise gibt es keine Plattenaufnahme mit einem Exempel der Gattung, die er als Krone der Kammermusik ansah: das Streichquartett. Seit den Kammermusikabenden in Ville d’Avray kannte er die wichtigsten Quartette auch als Spieler, aber wahrscheinlich schreckte er davor zurück, mit einem ad hoc zusammengestellten Quartett den Vergleich mit den starken Profi-Ensembles seiner Zeit herauszufordern. Ungewöhnliche Besetzungen reizten ihn mehr ‒ zum Beispiel das Quintett von Franz Schubert mit zwei Celli oder die Streichsextette von Johannes Brahms, die Menuhin Anfang der sechziger Jahre mit vorwiegend englischen Kollegen eingespielt hat. Und die Musizierlust, mit der die Musiker an die schon im 19. Jahrhundert höchst populären Stücke herangehen, beweist einmal mehr, dass Kammermusik nicht nur raffinierte Kunst, sondern auch Hausmusik sein kann. „Das Quartett gehört eigentlich ins Haus“, hat Menuhin seinem Interviewer Robin Daniels anvertraut. „Diese Musik ist für die Menschen gedacht, die sie spielen ‒ und für die wenigen, die vielleicht zuhören.“ Das trifft mehr noch für die Sextette von Brahms zu, die wohl nur deshalb ein Überraschungserfolg wurden, weil sie auf eine lebendige Hausmusiktradition im 19. Jahrhundert trafen. Hören wir den Beginn des ersten Sextetts B-Dur op. 18, mit dem der skrupulöse Brahms 1862 sein erstes Kammermusikwerk vorlegte. Neben Yehudi Menuhin spielt der Geiger Robert Masters, außerdem Cecil Aronowitz und Ernst Wallfisch (Bratsche), Maurice Gendron und Derek Simpson (Violoncello). MUSIK 8 Warner LC 02822 0825646777075 Track 1 Johannes Brahms Streichsextett Nr. 1 B-Dur op. 18 1) Allegro ma non troppo Yehudi Menuhin & Robert Masters, Violine Cecil Aronowitz & Ernst Wallfisch, Viola Maurice Gendron & Derek Simpson, Violoncello (Aufn. 1963) 12‘08 AUTOR Für Johannes Brahms war es das Entreebillet zur großen Musikwelt: das erste Streichsextett op. 18, das sein Verleger wegen der exotischen Besetzung nur ungern herausbrachte, das aber sofort große Popularität bei den Kammermusikfreunden in aller Welt genoss. Wir hörten eine Aufnahme von 1963 mit einem Ensemble, das Yehudi © kulturradio vom Rundfunk Berlin-Brandenburg (rbb) www.kulturradio.de Yehudi Menuhin – 24. Folge Seite 7 von 7 Menuhin für sein Festival in Bath zusammengestellt hat: außer Menuhin spielten der Geiger Robert Masters, die Bratschisten Cecil Aronowitz und Ernst Wallfisch und die Cellisten Maurice Gendron und Derek Simpson ‒ alle bewährte Kammermusikpartner von Menuhin, der seit 1959 in London wohnte und hier auf einen Pool von erstklassigen Musikern zurückgreifen konnte. Menuhins Favorit in der Kammermusik war neben Beethoven, Schubert und Brahms ein Komponist, den ihm der Lehrer und Mentor George Enescu ans Herz gelegt hatte: Wolfgang Amadeus Mozart. In den dreißiger Jahre, als die Menuhins bei ihren EuropaAufenthalten die wunderbare Villa am Park von Saint-Cloud bei Paris bewohnten, schickte Enescu seinen Schützling in die Oper, um sich Mozarts Meisterwerke anzusehen. Und mit einem Mal wurde Menuhin klar, dass auch in der Kammermusik des Salzburgers ein musikdramatischer Puls schlug, dem man mit gleicher Leidenschaft folgen musste. Und fast scheint es, als habe sich Menuhin gerade für Mozarts Kammermusik die feinfühligsten und verständigsten Musiker ausgesucht: Benjamin Britten etwa, der fantastisch Klavier spielte, seine Schwester Hephzibah, aber auch den Chinesen Fou Ts’ong, der aus Schanghai stammte und seit 1960 in London wohnte. Fou Ts’ong gehörte in den sechziger Jahren zur Familie: er hatte Menuhins Tochter Zamira aus erster Ehe mit Nola Nicholas geheiratet und lebte bis zur Scheidung im Jahr 1969 gleichsam im Dunstkreis des Meisters. Als künstlerische Persönlichkeit allerdings erscheint Fou Ts’ong in den Plattenaufnahmen als durchaus eigenständig: sein Klavierton ist rein und leuchtend, seine Technik geschult an den großen Mozart-Pianisten von Clara Haskil bis Alfred Brendel und Friedrich Gulda ‒ obwohl Fou Ts’ong vor allem als ChopinInterpret einen besonderen Ruf genoss. 1966 hat der 32-jährige Fou mit seinem Schwiegervater die beiden Klavierquartette von Mozart eingespielt ‒ und es geschafft, durch seine Poesie und Musikalität ein echtes Gegengewicht zu Menuhin herzustellen. Hören wir das Quartett EsDur KV 493; neben Fou Ts’ong und Menuhin sielen Walter Gerhardt (Bratsche) und Gaspar Cassadó (Violoncello). MUSIK 9 Warner LC 02822 0825646777815 Track 4-6 Wolfgang Amadeus Mozart Klavierquartett Nr. 2 Es-Dur KV 493 Yehudi Menuhin, Violine Walter Gerhardt, Viola Gaspar Cassadó, Violoncello Fou Ts’ong, Klavier (Aufn. 1966) 27‘00 AUTOR Wolfgang Amadeus Mozart: sein Quartett für Klavier und Streicher Es-Dur KV 493 ‒ allerfeinste Kammermusik-Kunst, hier dargeboten vom Pianisten Fou Ts’ong, und einem Streichtrio mit Yehudi Menuhin, Walter Gerhardt und Gaspar Cassadó. Den „ewigen Wahrheiten der Kammermusik“ war Menuhin im Laufe seines langen Lebens auf der Spur ‒ in Aufnahmen wie dem Mozart-Quartett kommt er diesen Wahrheiten ziemlich nahe. Das Manuskript zur 24. Folge unserer Menuhin-Serie können Sie im Internet nachlesen: unter der Adresse kulturradio.de. Beim nächsten Mal werden sich bedeutende Persönlichkeiten und Schüler an Menuhin erinnern. Einen schönen Sonntagvorabend wünscht Ihnen Michael Struck-Schloen. © kulturradio vom Rundfunk Berlin-Brandenburg (rbb) www.kulturradio.de