Yehudi Menuhin

Transcrição

Yehudi Menuhin
Sonntag, 12. Juni 2016
15.04 – 17.00 Uhr
Yehudi Menuhin
Von Michael Struck-Schloen
24. Folge: Die ewigen Wahrheiten der Kammermusik
AUTOR
Im Gespräch mit dem britischen Psychotherapeuten und Musikkritiker Robin Daniels, Ende
der 1970er Jahre, hat Yehudi Menuhin auch ein Loblied auf die Kammermusik gesungen:
Sie sei eindeutig die subtilere und höher entwickelte Form der musikalischen
Kommunikation als die Orchestermusik, die mit paramilitärischer Disziplin und
ohrenbetäubender Klangfülle daher komme. Wie viele seiner Kollegen konnte sich Menuhin
ein Musikerleben ohne Kammermusik nicht denken. Einige der schönsten Aufnahmen will
ich Ihnen heute vorstellen ‒ unter dem etwas pathetischen, aber von Menuhin selbst
vorgegebenen Titel „Die ewigen Wahrheiten der Kammermusik“.
MUSIK 1
EMI
LC 06646
2641332
CD2 Track 9
Johann Sebastian Bach
Kantate „Also hat Gott die Welt geliebt“ BWV 68
(T: Christiane Mariane von Ziegler)
2) Arie Sopran „Mein gläubiges Herze“
Victoria de los Angeles, Sopran
Yehudi Menuhin, Violine
Evelyn Rothwell, Oboe
Bath Festival Ensemble
Leitung: Yehudi Menuhin
(Aufn. 1964)
4‘04
AUTOR
Natürlich sind auch die meisten Bach-Kantaten vokale Kammermusik ‒ wenn man sie nicht
in Kompaniestärke aufführt wie manche Dirigenten im frühen 20. Jahrhundert. Yehudi
Menuhin hielt sich da lieber an die Erkenntnisse des Cembalisten, Organisten und
Chorleiters George Malcolm, mit dem er vor allem beim Bath Festival zusammenarbeitete.
Malcolm, ein Jahr jünger als Menuhin, war ein Anhänger neuerbauter, klangprächtiger
Cembali und auch sonst dem großen Ausdruck nicht abgeneigt. Aber er achtete darauf,
dass man ungefähr in der von Bach vorgeschriebenen Besetzung spielte ‒ und das war im
Fall der eben gehörten Arie „Mein gläubiges Herze“ aus der Kantate Nr. 68 ein
Kammerensemble aus Violoncello piccolo, einer Geige, einer Oboe und einer ContinuoGruppe. Es sang Victoria de los Angeles.
Auf seinen eigenen Festivals in Bath, Gstaad und Windsor war die Kammermusik ein
zentrales Element. Sie war leicht zu disponieren, das Programm im Bedarfsfall schnell zu
ändern ‒ und sie entsprach dem Gedanken eines intimen Zusammentreffens
Gleichgesinnter, das die Handschrift des Programmmachers und seiner illustren Gäste trug.
Aber auch auf den Festivals von Kollegen hat Menuhin regelmäßig Kammermusik gemacht
‒ bei Benjamin Britten in Aldeburgh an der englischen Ostküste oder bei Pablo Casals im
südfranzösischen Prades. Und wenn man die Live-Mitschnitte der öffentlichen Konzerte
hört, erstaunt immer wieder, wie sehr Menuhin als Interpret und Persönlichkeit sich seinen
Partnern anpassen konnte.
Das machen vor allem die Interpretationen des zweiten Klaviertrios op. 87 von
Johannes Brahms deutlich, das in zwei Aufnahmen mit Menuhin vorliegt. Die spätere von
Yehudi Menuhin – 24. Folge
Seite 2 von 7
1966 entstand zusammen mit der Schwester Hephzibah Menuhin und dem Cellisten
Maurice Gendron, den Menuhin sehr schätzte ‒ vielleicht weil sein heller, leichter und
brillanter Celloton dem silbrigen Menuhin-Klang entgegenkam, weil Gendron und Menuhin
gleich atmeten und sich in der Auffassung von Musik ähnlich waren. Da verliert auch das
hochexpressive Brahms-Trio jede norddeutsche Schwere und atmet auf wie unter
südlichem Himmel. Hören wir den Beginn.
MUSIK 2
Warner
LC 02822
0825646777068
Track 5 (Beginn)
Johannes Brahms
Klaviertrio Nr. 2 C-Dur op. 87
1) Allegro
Yehudi Menuhin, Violine
Maurice Gendron, Violoncello
Hephzibah Menuhin, Klavier
(Aufn. 1966)
3‘00
AUTOR
Yehudi Menuhin, Maurice Gendron und Hephzibah Menuhin mit dem Beginn des Klaviertrios
C-Dur op. 87 von Johannes Brahms ‒ eine Aufnahme der EMI von 1966, die Yehudi
Menuhin als idealen, weil einfühlsamen und anpassungsfähigen Kammermusikpartner zeigt.
Wie anpassungsfähig er tatsächlich war, demonstriert ein Live-Mitschnitt des
gleichen Trios vom Festival in Prades aus dem Jahr 1955. Pablo Casals, der katalanische
Cellist und Antifaschist, hatte Spanien noch während des Bürgerkriegs 1936 verlassen und
sich in Prades nahe der spanischen Grenze niedergelassen. Sein Festival hatte also eine
eindeutig politische Stoßrichtung ‒ auch wenn sich entsprechende Manifeste meist auf die
eigenen Auftritte und Kompositionen von Casals beschränkten. Regelmäßig ist Yehudi
Menuhin in Prades zu Gast gewesen und hat sich mit dem Festivalchef auf dem Podium
gezeigt. Und war nicht Casals in vieler Hinsicht das Pendant zu Menuhin?: ein grandioser
Musiker, für den jede Note eine existenzielle Äußerung war, was auch sein Publikum spürte;
andererseits ein bedingungsloser Tyrannenhasser, der in aller Welt als Friedensbotschafter
anerkannt war.
Im Juli 1955 war Menuhin wieder einmal in den östlichen Pyrenäen und spielte mit
Casals und dem Pianisten Eugene Istomin das zweite Brahms-Trio. Casals war damals schon
78 Jahre alt, genau doppelt so alt wie Menuhin ‒ aber vom ersten Schnaufer des Cellisten,
noch bevor die Musik begonnen hat, wird deutlich, dass Casals es ist, der Tempo,
Phrasierungen und den Geist der Musik vorgibt. Mit seinem intensiven, aus der Saite
herausgesaugten Ton erdet er die Musik, wo sie Gendron leicht gemacht hat. Und Menuhin
geht mit: Sein Ton klingt ungewöhnlich dunkel und verschattet, in den gemeinsamen
Unisono-Passagen wirken Cello und Geige wie ein großes Hybrid-Instrument, das nicht
mehr von zwei individuellen Musikern, sondern nur noch von Casals gespielt zu werden
scheint.
MUSIK 3
Warner
LC 02822
0825646777044
Track 5
Johannes Brahms
Klaviertrio Nr. 2 C-Dur op. 87
1) Allegro
Yehudi Menuhin, Violine
Pablo Casals, Violoncello
Eugene Istomin, Klavier
(Aufn. 1955)
9‘30
AUTOR
Der erste Satz des zweiten Klaviertrios C-Dur op. 87 von Johannes Brahms ‒ dargeboten
von Yehudi Menuhin, Pablo Casals und Eugene Istomin auf dem Festival in Prades im Juli
1955. Yehudi Menuhin stand hier ganz im Bann von Casals, der den Brahms nicht nur auf
© kulturradio vom Rundfunk Berlin-Brandenburg (rbb)
www.kulturradio.de
Yehudi Menuhin – 24. Folge
Seite 3 von 7
seinem Cello gestrichen, sondern auch hörbar geschnauft, gestöhnt und gelitten hat. Und
es ist ein Wunder, wie Casals mit seiner impulsiven Persönlichkeit das intime Musizieren in
der Kammermusik gleichzeitig sprengen und zusammenhalten konnte.
Leidenschaft für die Kammermusik ‒ darum geht es in der heutigen Folge unserer
Menuhin-Reihe im Kulturradio vom rbb. Dass es kaum Kammermusik-Aufnahmen aus
Menuhins Wunderkindjahren gibt, sagt mehr über die damaligen Vorlieben der
Plattenindustrie als über Menuhins wirkliche Kammermusik-Begeisterung aus. Sie ist eng
verbunden mit seinem Lehrer George Enescu und dem europäischen Heim der Menuhins in
Ville d’Avray, einem Pariser Vorort zwischen Sèvres und Versailles. Am Nordrand des
Ortes, direkt am weitläufigen Park von Saint-Cloud mieteten die Menuhins 1931 eine
großzügige und elegante, etwas verwohnte Villa mit schönem Garten. Sie gehörte einem
gewissen Paul Vian, einem Unternehmer und Spekulanten, dessen Geschäfte nach der
Weltwirtschaftskrise schlecht liefen. Man brauchte Geld und vermietete die eigene Villa an
die mittlerweile gut betuchten Menuhins ‒ so kam es, dass Yehudi zum Spielgefährten des
vier Jahre jüngeren Boris Vian wurde, der später als Jazzmusiker und Autor surrealer
Romane berühmt wurde.
Da aber Mutter Marutha trotz des weltweiten Erfolges ihres Sohnes in der Familie
immer noch Zucht und Ordnung walten ließ, blieb für Ausflüge und Fahrradtouren wenig
Zeit: Der 15-jährige Yehudi musste Sprachen lernen und einmal wöchentlich zum
Unterricht bei Enescu in die Pariser Innenstadt fahren. Andererseits schleppte Enescu
etliche Kollegen nach Ville d’Avray, um mit Yehudi Kammermusik zu machen. Es waren
Weltstars, die sich in den Sommerferien an jedem Donnerstag versammelten: der Geiger
Jacques Thibaud, Enescu, gern die Bratsche spielte und sich dabei mit dem Dirigenten
Pierre Monteux abwechselte, oder der Cellist Maurice Eisenberg, Sohn eines SynagogenKantors aus Königsberg, der in den USA aufgewachsen war und von Pablo Casals energisch
gefördert wurde.
Es müssen herrliche Abende im Musikzimmer oder auf der Terrasse der Villa „Les
fauvettes“ gewesen sein, nach denen Marutha und ihre italienische Köchin regelmäßig
köstliche Diners servierten. Das wichtigste Kammermusik-Repertoire hat der junge Menuhin
in diesen Jahren zwischen 1931 und 1935 hier kennengelernt. Die Quartette von
Beethoven wurden systematisch angegangen; und wenn einmal kein zweite Geige zur Hand
war, legte man einfach Streichtrios auf die Pulte: Mozart vielleicht oder das Triofragment
vom 19-jährigen Franz Schubert, das dem großen Vorbild Mozart die apollinische Heiterkeit
und die bewunderungswerte Fertigkeit verdankt, mit nur drei Stimmen eine ganze Welt
aufzutun.
MUSIK 4
Warner
LC 02822
0825646777815
Track 5
Franz Schubert
Streichtrio B-Dur D 471 (Fragment)
1) Allegro
Yehudi Menuhin, Violine
Cecil Aronowitz, Viola
Derek Simpson, Violoncello
(Aufn. 1965)
6‘57
AUTOR
Musik im Geiste Mozarts: das war das Allegro für Streichtrio B-Dur von Franz Schubert, D
471, der einzige vollendete Satz des Werks, das Schubert nicht weiter verfolgte. In einer
Aufnahme von 1965 spielte Yehudi Menuhin zusammen mit dem Bratscher Cecil Aronowitz
und dem Cellisten Derek Simpson ‒ der klingende Beweis dafür, mit welcher unmanirierten
Natürlichkeit Menuhin die Wiener Klassik zu spielen verstand.
Das Fundament für diese stilistische Sicherheit wurde mit den KammermusikAbenden von Ville d’Avray vor den Toren von Paris gelegt, bei denen Menuhin zusammen
mit den größten Musikern seiner Zeit die Meisterwerke von Haydn bis Brahms in
zwangloser Atmosphäre spielte. Das geistige Zentrum des Kreises war natürlich George
© kulturradio vom Rundfunk Berlin-Brandenburg (rbb)
www.kulturradio.de
Yehudi Menuhin – 24. Folge
Seite 4 von 7
Enescu, bei dem Menuhin regelmäßig in die Lehre ging; später hat er mit Enescu als
Dirigent zahlreiche Plattenaufnahmen gemacht, von denen etliche zur diskografischen
Legende wurden. Im Übrigen wirkte Enescu in der Villa „Les fauvettes“ auch als Pianist mit,
wenn nicht gerade Alfred Cortot oder der polnische Pianist Artur Balsam, Menuhins
späterer Duobegleiter, zur Verfügung standen.
Allerdings gab es im Hause Menuhin noch ein weiteres Talent an Tasten: Yehudis
Schwester Hephzibah hatte sich trotz ihrer Jugend zu einer Pianistin von Rang entwickelt,
was auch den anwesenden Koryphäen nicht verborgen blieb. Und als die Elfjährige eines
Tages das Klavierkonzert von Robert Schumann spielte, wobei Alfred Cortot am zweiten
Klavier das Orchester ersetzte, kamen die gestandenen Musiker aus dem Staunen nicht
heraus. Es war der Dirigent Pierre Monteux, der sofort forderte, dass Hephzibah öffentlich
auftreten müsse ‒ zum Schrecken der Mutter, für die ein Wunderkind in der Familie vorerst
genug Aufregung bedeutete.
Aber Marutha Menuhin konnte den Lauf der Dinge nicht aufhalten: Hephzibah wurde
zwar keine berühmte Solistin, doch zusammen mit ihrem Bruder bildete sie eines der
großartigsten Familien-Duos im 20. Jahrhundert ‒ an anderer Stelle bin ich darauf
detaillierter eingegangen. In den 1930er Jahren perfektionierten Yehudi und Hephzibah ihr
Zusammenspiel, wobei sie nicht nur das traditionelle Repertoire einspielten, sondern auch
Raritäten wie die erste Violinsonate des Italieners Ildebrando Pizzetti. Der Mann mit dem
germanischen Vornamen, der sich später aktiv dem Faschismus anschloss und Mussolinis
Kulturpolitik unterstützte, gehörte zur „Generation der 1880er“ ‒ einer
Komponistengruppe um Ottorino Respighi und Alfredo Casella, die dem opernvernarrten
Italien eine hochkarätige Instrumentalmusik zurückbringen wollte.
Im Herbst 1918, kurz vor Ende des für Italien äußerst verlustreichen Ersten
Weltkriegs, begann Pizzetti mit der Komposition seiner Violinsonate A-Dur, die er im
beigegebenen Programm als Echo des Krieges interpretierte. Der letzte der drei Sätze
schildert den neu gewonnenen Frieden in Melodien, die von italienischer Volksmusik
inspiriert sind. Hören wir dieses Finale in der Aufnahme, die Yehudi und Hephzibah Menuhin
1938 in London gemacht haben.
MUSIK 5
Warner
LC 02822
0825646777068
Track 6
Ildebrando Pizzetti
Violinsonate Nr. 1 A-Dur
3) Vivo e fresco
Yehudi Menuhin, Violine
Hephzibah Menuhin, Klavier
(Aufn. 1938)
8‘41
AUTOR
Ein Meilenstein der italienischen Kammermusik im 20. Jahrhundert ist diese Violinsonate
A-Dur von Ildebrando Pizzetti aus dem Jahr 1920. Yehudi und Hephzibah Menuhin spielten
in einer Aufnahme von 1938 das Finale.
Im Gespräch mit Robin Daniels hat Yehudi Menuhin über die Vorzüge der
Kammermusik nachgedacht: über ihre Intimität und Feinheit des Handwerks, vor allem über
die Ökonomie der instrumentalen Mittel, die ein Streichquartett vom Orchester
unterscheide ‒ wobei Menuhin gleich ins Philosophieren gerät über die moderne
Maßlosigkeit und die Überschreitung von Grenzen: Alles sei übermenschlich schnell, hoch
und komplex geworden, der Einzelne gehe in der Masse auf, was man auch an der
Gleichschaltung vieler Musiker im Orchester beobachten könne, etwa bei den Streichern,
die alle mit dem gleichen Bogenstrich zu spielen haben. Menuhin, der Musik eben auch
politisch sah, entdeckte nur in der Kammermusik die volle Verantwortung für die eigene
Stimme und eine höher entwickelte Form der Kommunikation.
Mag sein, dass solche Äußerungen gegen Ende der 1970er Jahre auch gegen die
orchestrale Hochglanz-Ästhetik eines Herbert von Karajan gerichtet waren, der an den
Einspielungen mit seinen Philharmonikern aus Berlin auch nach den Aufnahmesitzungen so
© kulturradio vom Rundfunk Berlin-Brandenburg (rbb)
www.kulturradio.de
Yehudi Menuhin – 24. Folge
Seite 5 von 7
lange im Studio feilte, bis sie ganz seinen Vorstellungen vom perfekten Kunstwerk
entsprachen. Menuhin hat so nie gedacht. Natürlich ging es auch ihm um Präzision beim
Zusammenspiel, um hohe technische Standards und Klangkultur ‒ aber die Musik sollte
doch spontan und nicht leblos wirken, wie viele im Studio nachbearbeitete Aufnahmen der
Zeit.
Die Gegenströmung kam aus der „Alte-Musik-Bewegung“, die vor allem die als
langweilig verschriene Barockmusik aus dem Notenschrank holte oder in den Archiven
entdeckte. Die Experimente, mit denen Musiker wie Frans Brüggen, Nikolaus Harnoncourt
oder Reinhard Goebel das Repertoire von Monteverdi bis Bach als unerhörte Musik
präsentierten, beeindruckten auch Menuhin ‒ nicht zuletzt, weil sie durchweg
kammermusikalisch gedacht und empfunden waren. In England hatte er schon seit den
fünfziger Jahren einen Kreis von Musikern um sich geschart, die sich mit historischen
Spielpraktiken und Klangideen beschäftigten. Der Dirigent und Cembalist Raymond Leppard
gehörte dazu, der schon erwähnte George Malcolm oder der Musikwissenschaftler Robert
Donington, ein Schüler des Alte-Musik-Pioniers Arnold Dolmetsch. Donington, der als
Gambist sein eigenes Ensemble hatte, hat das barocke Repertoire in kritischen oder
praktischen Ausgaben wieder zugänglich gemacht ‒ so wie im Fall der Violinsonaten op. 5
von Arcangelo Corelli.
MUSIK 6
EMI
LC 06646
2641772
CD 46 Track 8
Arcangelo Corelli
Violinsonate D-Dur op. 5 Nr. 1
2) Allegro
Yehudi Menuhin, Violine
George Malcolm, Cembalo
Robert Donington, Viola da gamba
(Aufn. 1978)
2‘33
AUTOR
Yehudi Menuhin spielte aus Arcangelo Corellis Sonate op. 5 Nr. 1 für Geige und
Generalbass ‒ bei der Ausführung waren ihm die beiden Männer im Continuo behilflich: der
Cembalist George Malcolm und der Gambist Robert Donington, der als bekannter
Musikwissenschaftler eine Neuausgabe der Corelli-Sonaten herausgegeben hatte.
Für seine Beschäftigung mit Corelli, Händel, Purcell oder Vivaldi bot Menuhin das
Musikfestival im südenglischen Bath, das er ein Jahrzehnt lang künstlerisch leitete, ein
reiches Experimentierfeld. Aber auch die englischen Komponisten nach Elgar und Vaughan
Williams interessierten sich mehr und mehr für die barocke Vergangenheit. 1953 wurde
beim Edinburgh Festival ein Werk von Michael Tippett uraufgeführt, das Musik von Corelli
mit der englischen Gattung der „Fantasia“ und Tippetts eigener Tonsprache zu einem
höchst eigenwilligen musikalischen Plumpudding vermischte.
Fantasia concertante über ein Thema von Corelli nannte Tippett das Werk für
Streicher. Als Thema diente ihm das Adagio eines Concerto grosso aus Corellis Opus 6, das
Tippett in mehreren Variationen bearbeitet, bevor er es in einer brillanten und komplexen
Fuge durchführt. Am Schluss aber steht eine Pastorale, die sich immer weiter von Corellis
Thema weg und in eigene Klangwelten hineinträumt. Vor alle in diesem lyrischen
Schlussteil spielt die Idee von Kammermusik, das Thema dieser Sendung, eine wichtige
Rolle. Tippett hat aus dem großen Streicherapparat zwei Geigen und ein Cello solistisch
herausgelöst ‒ ein Concertino, das gemäß der Idee des Concerto grosso mit dem Tutti
kommuniziert, aber auch sein Eigenleben führt und im Schlussteil die Führung übernimmt.
Womit Tippett eine Art tönender Perspektivwechsel vom Großen zum Kleinen gelingt.
Hören Sie Tippetts Corelli-Fantasie jetzt in einer EMI-Produktion von 1964 mit dem
Bath Festival Orchestra, das der Komponist selbst dirigiert. Das solistische Streichtrio
spielen Yehudi Menuhin, Robert Masters und Derek Simpson.
© kulturradio vom Rundfunk Berlin-Brandenburg (rbb)
www.kulturradio.de
Yehudi Menuhin – 24. Folge
MUSIK 7
Warner
LC 02822
0825646777044
Track 15
Michael Tippett
Fantasia concertante on a Theme of Corelli
Yehudi Menuhin & Robert Masters, Violine
Derek Simpson, Violoncello
Bath Festival Orchestra
Leitung: Michael Tippett
(Aufn. 1964)
Seite 6 von 7
18‘23
AUTOR
Das war von Michael Tippett die Fantasia concertante on a Theme of Corelli in einer
Aufnahme von 1964. Solisten waren Yehudi Menuhin und Robert Masters (Geige) und
Derek Simpson (Violoncello). Michael Tippett leitete das Bath Festival Orchestra.
Sie hören das Kulturradio vom rbb mit der 24. Folge unserer Reihe über Yehudi
Menuhin. Am Mikrofon ist Michael Struck-Schloen, und im Zentrum steht heute Menuhins
Leidenschaft für die Kammermusik, die über das Interesse seiner Kollegen am intimen
kammermusikalischen Dialog doch weit hinausging.
Im Laufe seines Lebens hat Menuhin zwar nie in festen Ensembles, dafür aber mit
bevorzugten Partnern gespielt, mit denen er sich am wohlsten fühlte oder die ihn
inspirierten: im Klaviertrio etwa mit den Cellisten Maurice Gendron, Gaspar Cassadó oder
Mstislaw Rostropowitsch, am Klavier häufig seine Schwester Hephzibah, Louis Kentner
oder Wilhelm Kempff. Seltsamerweise gibt es keine Plattenaufnahme mit einem Exempel
der Gattung, die er als Krone der Kammermusik ansah: das Streichquartett. Seit den
Kammermusikabenden in Ville d’Avray kannte er die wichtigsten Quartette auch als Spieler,
aber wahrscheinlich schreckte er davor zurück, mit einem ad hoc zusammengestellten
Quartett den Vergleich mit den starken Profi-Ensembles seiner Zeit herauszufordern.
Ungewöhnliche Besetzungen reizten ihn mehr ‒ zum Beispiel das Quintett von Franz
Schubert mit zwei Celli oder die Streichsextette von Johannes Brahms, die Menuhin Anfang
der sechziger Jahre mit vorwiegend englischen Kollegen eingespielt hat. Und die
Musizierlust, mit der die Musiker an die schon im 19. Jahrhundert höchst populären Stücke
herangehen, beweist einmal mehr, dass Kammermusik nicht nur raffinierte Kunst, sondern
auch Hausmusik sein kann. „Das Quartett gehört eigentlich ins Haus“, hat Menuhin seinem
Interviewer Robin Daniels anvertraut. „Diese Musik ist für die Menschen gedacht, die sie
spielen ‒ und für die wenigen, die vielleicht zuhören.“ Das trifft mehr noch für die Sextette
von Brahms zu, die wohl nur deshalb ein Überraschungserfolg wurden, weil sie auf eine
lebendige Hausmusiktradition im 19. Jahrhundert trafen.
Hören wir den Beginn des ersten Sextetts B-Dur op. 18, mit dem der skrupulöse
Brahms 1862 sein erstes Kammermusikwerk vorlegte. Neben Yehudi Menuhin spielt der
Geiger Robert Masters, außerdem Cecil Aronowitz und Ernst Wallfisch (Bratsche), Maurice
Gendron und Derek Simpson (Violoncello).
MUSIK 8
Warner
LC 02822
0825646777075
Track 1
Johannes Brahms
Streichsextett Nr. 1 B-Dur op. 18
1) Allegro ma non troppo
Yehudi Menuhin & Robert Masters, Violine
Cecil Aronowitz & Ernst Wallfisch, Viola
Maurice Gendron & Derek Simpson, Violoncello
(Aufn. 1963)
12‘08
AUTOR
Für Johannes Brahms war es das Entreebillet zur großen Musikwelt: das erste
Streichsextett op. 18, das sein Verleger wegen der exotischen Besetzung nur ungern
herausbrachte, das aber sofort große Popularität bei den Kammermusikfreunden in aller
Welt genoss. Wir hörten eine Aufnahme von 1963 mit einem Ensemble, das Yehudi
© kulturradio vom Rundfunk Berlin-Brandenburg (rbb)
www.kulturradio.de
Yehudi Menuhin – 24. Folge
Seite 7 von 7
Menuhin für sein Festival in Bath zusammengestellt hat: außer Menuhin spielten der Geiger
Robert Masters, die Bratschisten Cecil Aronowitz und Ernst Wallfisch und die Cellisten
Maurice Gendron und Derek Simpson ‒ alle bewährte Kammermusikpartner von Menuhin,
der seit 1959 in London wohnte und hier auf einen Pool von erstklassigen Musikern
zurückgreifen konnte.
Menuhins Favorit in der Kammermusik war neben Beethoven, Schubert und Brahms
ein Komponist, den ihm der Lehrer und Mentor George Enescu ans Herz gelegt hatte:
Wolfgang Amadeus Mozart. In den dreißiger Jahre, als die Menuhins bei ihren EuropaAufenthalten die wunderbare Villa am Park von Saint-Cloud bei Paris bewohnten, schickte
Enescu seinen Schützling in die Oper, um sich Mozarts Meisterwerke anzusehen. Und mit
einem Mal wurde Menuhin klar, dass auch in der Kammermusik des Salzburgers ein
musikdramatischer Puls schlug, dem man mit gleicher Leidenschaft folgen musste. Und fast
scheint es, als habe sich Menuhin gerade für Mozarts Kammermusik die feinfühligsten und
verständigsten Musiker ausgesucht: Benjamin Britten etwa, der fantastisch Klavier spielte,
seine Schwester Hephzibah, aber auch den Chinesen Fou Ts’ong, der aus Schanghai
stammte und seit 1960 in London wohnte.
Fou Ts’ong gehörte in den sechziger Jahren zur Familie: er hatte Menuhins Tochter
Zamira aus erster Ehe mit Nola Nicholas geheiratet und lebte bis zur Scheidung im Jahr
1969 gleichsam im Dunstkreis des Meisters. Als künstlerische Persönlichkeit allerdings
erscheint Fou Ts’ong in den Plattenaufnahmen als durchaus eigenständig: sein Klavierton
ist rein und leuchtend, seine Technik geschult an den großen Mozart-Pianisten von Clara
Haskil bis Alfred Brendel und Friedrich Gulda ‒ obwohl Fou Ts’ong vor allem als ChopinInterpret einen besonderen Ruf genoss.
1966 hat der 32-jährige Fou mit seinem Schwiegervater die beiden
Klavierquartette von Mozart eingespielt ‒ und es geschafft, durch seine Poesie und
Musikalität ein echtes Gegengewicht zu Menuhin herzustellen. Hören wir das Quartett EsDur KV 493; neben Fou Ts’ong und Menuhin sielen Walter Gerhardt (Bratsche) und Gaspar
Cassadó (Violoncello).
MUSIK 9
Warner
LC 02822
0825646777815
Track 4-6
Wolfgang Amadeus Mozart
Klavierquartett Nr. 2 Es-Dur KV 493
Yehudi Menuhin, Violine
Walter Gerhardt, Viola
Gaspar Cassadó, Violoncello
Fou Ts’ong, Klavier
(Aufn. 1966)
27‘00
AUTOR
Wolfgang Amadeus Mozart: sein Quartett für Klavier und Streicher Es-Dur KV 493 ‒
allerfeinste Kammermusik-Kunst, hier dargeboten vom Pianisten Fou Ts’ong, und einem
Streichtrio mit Yehudi Menuhin, Walter Gerhardt und Gaspar Cassadó.
Den „ewigen Wahrheiten der Kammermusik“ war Menuhin im Laufe seines langen
Lebens auf der Spur ‒ in Aufnahmen wie dem Mozart-Quartett kommt er diesen Wahrheiten
ziemlich nahe. Das Manuskript zur 24. Folge unserer Menuhin-Serie können Sie im Internet
nachlesen: unter der Adresse kulturradio.de. Beim nächsten Mal werden sich bedeutende
Persönlichkeiten und Schüler an Menuhin erinnern. Einen schönen Sonntagvorabend
wünscht Ihnen Michael Struck-Schloen.
© kulturradio vom Rundfunk Berlin-Brandenburg (rbb)
www.kulturradio.de