Yehudi Menuhin

Transcrição

Yehudi Menuhin
Sonntag, 20. März 2016
15.04 – 17.00 Uhr
Yehudi Menuhin
Eine Sendereihe zum 100. Geburtstag
Von Michael Struck-Schloen
12. Folge: Musik gegen das Grauen
AUTOR
Yehudi Menuhin sei im Zweiten Weltkrieg „zum Mann gereift“, hat einmal sein englischer
Biograf Humphrey Burton behauptet. Natürlich lässt sich darüber streiten, was einen
richtigen Mann ausmacht ‒ in jedem Fall haben Menuhin die Erlebnisse, die er bei seinen
Konzerten für die amerikanischen Streitkräfte, bei der Befreiung von Paris oder bei
Auftritten in ehemaligen Konzentrationslagern machte, als Menschen und Künstler
verändert. Und er lernte ein Publikum kennen, für das klassische Musik keine
Selbstverständlichkeit war, sondern das immer aufs Neue überzeugt, verzaubert oder
getröstet werden musste. „Musik gegen das Grauen“ ‒ die zwölfte Folge unserer Serie über
Yehudi Menuhin.
MUSIK 1
BBC
LC 10552
4083-2
Track 7
Claude Debussy
Violinsonate g-Moll
3) Final. Très animé
Yehudi Menuhin, Violine
Benjamin Britten, Klavier
(Aufn. 1959)
3‘37
AUTOR
Yehudi Menuhin spielte das Finale von Claude Debussys Violinsonate ‒ einem Stück aus
dem Kriegsjahr 1917, das Debussy ausdrücklich als „Musicien français“, also als aufrechter
Franzose komponiert hatte. Benjamin Britten begleitete Menuhin am Klavier in diesem
Konzertmitschnitt vom Festival im englischen Aldeburgh im Jahr 1959. Britten wird im
Laufe dieser Sendung noch eine zentrale Rolle spielen, denn die Folgen des Zweiten
Weltkriegs haben ihn ebenso verändert wie seinen Freund und gelegentlichen Duopartner
Yehudi Menuhin.
Die Musik von Claude Debussys Sonate erzählt nichts von der Depression und der
Wut, die den krebskranken, todgeweihten Komponisten 1917 angesichts der anhaltenden
Konfrontation zwischen Franzosen und Deutschen in den Schützengräben von Verdun
erfasst hatte. Auch er war damals wie viele Künstler und Intellektuelle von einem
patriotischen Virus infiziert, der sich über ganz Europa ausbreitete und von der offenen
Kampfansage bis zur stillen Hoffnung auf eine reinigende Wirkung des Weltenbrandes
reichte.
Im Zweiten Weltkrieg, den Yehudi Menuhin hautnah miterlebte, war die politische
Ausgangslage für die Künstler eine andere. Die patriotische Begeisterung am Beginn des
Ersten Krieges war durch das endlose Abschlachten an der Front und den
menschenverachtenden Zynismus der Militärs schnell verflogen und einer maßlosen
Enttäuschung und Anklage gewichen. Hinzu kam, dass die faschistischen Regimes in Italien,
Spanien und Deutschland zahllose jüdische und politisch verfolgte Künstler in die
Emigration getrieben hatten, so dass Identität nicht mehr durch die Nation, sondern mehr
und mehr durch die Ideologie oder die Religion bestimmt wurde. Der Krieg betraf Menuhin
eben nicht nur als überzeugten Amerikaner, der Freiheit und Gesellschaftsordnung seines
Yehudi Menuhin – 12. Folge
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Landes verteidigte, sondern auch als Juden, der nach und nach das Ausmaß des Holocausts
gewärtigte.
„Dieses Land wurde von einer großen Dynamik erfasst“ schrieb Menuhin 1942 an
seinen Schwiegervater in Australien, „weil persönliche Interessen in der einen
allumfassenden Notwendigkeit aufgehen. Der Union Jack und Hammer und Sichel wehen in
Brüderlichkeit, Menschen jedes Standes leisten ihren Beitrag, und fürs erste sind alle
Gedanken, alles Trachten und Streben untadelig.“ Und dann erwähnt Menuhin noch eine
ganz persönliche Erfahrung, die dem Geiger auf seiner elitären Insel der Kunst ganz
besonders nahe ging. „Erst jetzt“, so schrieb er, „habe ich meine amerikanischen Brüder,
meine eigene Generation kennengelernt ‒ etwas, das mir in meinem Leben vorenthalten
worden war. Wenn man vor diesen Menschen spielt, sind Musik und Musiker ganz und gar
der Gunst des Augenblicks ausgeliefert ‒ keine Tradition, kein Zeremoniell wie beim
Konzert steht dem direkten Kontakt im Wege.“
In seiner Sendereihe The Music of Man, die Menuhin Ende der 1970er Jahre für
das kanadische Fernsehen konzipierte, kam er auch auf seine Kriegserlebnisse zu sprechen
und darauf, dass er Erfahrungen machte, die weit über die frühere Konzertroutine hinaus
gingen: Erfahrungen mit dem wahren Leben, in dem das Unvorhergesehene und die
Improvisation zur Regel wurden.
O-TON Yehudi Menuhin (0’12)
The traumatic upheaval of war made a deep impact on me. For wrenched out of a concert
artist‘s routine I was thrust into a life, where the unexpected and improvised became the
rule.
[The Music of Man, Folge 8: Sound or Unsound, hosted by Yehudi Menuhin. CBC 1979 ‒
youtube.com])
MUSIK 2
EMI
LC 06646
2641732
CD 50 Track 19
Stéphane Grappelli
Jermyn Street
Yehudi Menuhin & Stéphane Grappelli, Violine
Alan Care Trio
(Aufn. 1973)
4‘03
AUTOR
Yehudi Menuhin und Stéphane Grappelli, der Duopartner der späten Jahre, spielten
Grappellis Titel Jermyn Street, benannt nach dem Mekka der Hemdenschneider im Zentrum
von London. Was hier wie eine nostalgische Erinnerung wirkt, hatte einen ernsten
Hintergrund: Am 1. September 1939, beim Überfall Hitlers auf Polen, befand sich Grappelli
gerade zusammen mit Django Reinhardt und dem „Quintette du Hot Club de France“ auf
einer Konzerttournee in England und blieb dort bis zum Ende des Zweiten Weltkriegs.
Auch für Yehudi Menuhin wurden die Auswirkungen des Krieges spürbar. Geplante
Konzertreisen nach Europa wurden erst verschoben und dann gänzlich abgesagt; am Ende
musste er sich auf Australien, auf die Vereinigten Staaten und Mexiko beschränken. Und er
befand sich am 7. Dezember 1941 gerade im mexikanischen Grenzort El Paso, als im
Rundfunk eine Konzertübertragung aus der Carnegie Hall für eine Sondermeldung
unterbrochen wurde.
O-TON Meldung Pearl Harbour (0’17)
We interrupt this programme to bring you a special news bulletin. The Japanese have
attack Pearl Harbour, Hawaii, by air, President Roosevelt has just announced. The attack
also was made on all naval and military activities of the principal island of O’ahu.
[Unterbrechung einer Konzertübertragung aus der New Yorker Carnegie Hall zur
Durchsage der Meldung vom japanischen Überfall auf Pearl Harbour ‒ WDR: 6124934122]
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Yehudi Menuhin – 12. Folge
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AUTOR
Dem Überraschungsangriff japanischer Bomber auf die in Pearl Harbour ankernde USFlotte, bei dem etwa 2500 Menschen starben und der als „Tag der Infamie“ in die
amerikanische Geschichte einging, folgte am nächsten Tag die Kriegserklärung der USA an
Japan ‒ der Zweite Weltkrieg hatte sich auf Asien und den Pazifischen Raum ausgeweitet.
Menuhin absolvierte seine vier Konzerte in Mexiko-Stadt und kehrte nach Kalifornien
zurück. Schon am 30. Dezember gab er nahe seinem Haus in Los Gatos das erste von
unzähligen Konzerten für Soldaten und bewies sofort sein Talent zur Improvisation, das
ihm in den Kriegsjahren zustatten kam: Er spielte kein festgelegtes Programm, sondern
reagierte auf die Zurufe des Publikums, mit dem er sofort Kontakt aufnahm.
In den folgenden Monaten absolvierte er mehrere Benefizkonzerte für das Rote
Kreuz und Auftritte in Militärlagern. Da er auch später vom Kriegsdienst freigestellt war,
betrachtete er seinen kulturellen Kriegsbeitrag als heilige Pflicht. Seinem Schwiegervater
schrieb er, dass er mit seinen Konzerten den Kampfgeist der Truppen stärken wolle. Das
klang nur äußerlich nach einem etwas hohlen Patriotismus, denn im Inneren hat Menuhin
immer an die heilsame Macht der Kunst und der Schönheit geglaubt ‒ auch beim
Kriegsgegner Deutschland, dem er zum Entsetzen seiner Landsleute und der Juden in aller
Welt schon kurz nach dem Krieg wieder einen Besuch abstattete.
In den USA gab Menuhin so viele Wohltätigkeitskonzerte dass sich manche
Beobachter fragten, ob er überhaupt noch reguläre Gagen einnahm, von denen er leben
konnte. Tatsächlich hat er auch das vornehme Konzertpublikum nicht vernachlässigt und
regelmäßig in der Carnegie Hall in New York konzertiert ‒ zum Beispiel mit Antonín Dvořáks
Violinkonzert a-Moll. Hören Sie das Finale in einer älteren Aufnahme, die Menuhin noch
1936 in Paris gemacht hat, mit seinem Lehrer und Mentor George Enescu am
Dirigentenpult.
MUSIK 3
Naxos
LC 05537
8.110966
Track 6
Antonín Dvořák
Violinkonzert a-Moll op. 53
3) Allegro giocoso, ma non troppo
Yehudi Menuhin, Violine
Orchestre de la Société des Concerts du
Conservatoire
Leitung: George Enescu
(Aufn. 1936)
10‘52
AUTOR
Yehudi Menuhin als Solist im Finale des Konzerts a-Moll von Antonín Dvořák. Er wurde
begleitet vom Orchestre de la Société des Concerts du Conservatoire unter Leitung von
George Enescu ‒ in einer Aufnahme aus dem Jahr 1936, als Menuhin zwar in Frankreich
und England, aber aus naheliegenden Gründen nicht mehr in Deutschland auftrat.
Obwohl der Zweite Weltkrieg reguläre Konzerteisen für jeden amerikanischen
Künstler beträchtlich einschränkte, hatte Menuhin auch jetzt kaum eine ruhige Minute. In
Lateinamerika spielte er auf Stützpunkten der Amerikaner, Anfang 1944 machte er eine
ausgedehnte Tournee nach Alaska und auf die Aleuten ‒ jene Inselkette zwischen
Nordamerika und Russland, die kurz zuvor Schauplatz einer strategisch sinnlosen Schlacht
zwischen Amerikanern und Japanern gewesen war. Menuhin und sein polnischer
Klavierbegleiter Adolf Baller bereisten vier Wochen lang die unwirtlichen Inseln, um
demoralisierte und gelangweilte Soldaten zu unterhalten ‒ eine harte Probe für die Musiker
fernab jeder Zivilisation.
Menuhin hat einmal bemerkt, dass ihn, der in der Familie vor allem unter Frauen
aufgewachsen ist, das Zusammensein mit Männern in jeder Lebenslage am Anfang ziemlich
irritierte. Zuletzt aber scheint er sich an militärische Umgangsformen, derbe Pullover und
noch derbere Witze der Soldaten gewöhnt zu haben. Nicht gewöhnt hat er sich dagegen an
das Leid der Verwundeten, wie er es im Sommer 1944 auf Hawaii erlebte. Gerade hatte im
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Yehudi Menuhin – 12. Folge
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Pazifik die Schlacht um Guam und weitere japanisch besetzte Marianeninseln
stattgefunden, die Tausenden von Soldaten das Leben kostete. In einem Propagandafilm
sieht man den sauber gescheitelten und lächelnden Menuhin mit seiner Geige zwischen
verbundenen Soldaten in Krankenbetten und ärztlichem Personal ‒ die fast unwirkliche
Inszenierung einer Lichtgestalt inmitten von Vaterlandsverteidigern.
MUSIK 4
EMI
LC 06646
2641362
Track 7
Johann Sebastian Bach
Partita Nr. 1 h-Moll BWV 1002
3) Courante
Yehudi Menuhin, Violine
(Aufn. 1957)
3‘14
AUTOR
Die Courante aus Johann Sebastian Bachs Partita h-Moll, Werkverzeichnis 1002. Ein
Ausschnitt aus der zweiten Gesamtaufnahme aller Sonaten und Partiten für Violine solo,
die Yehudi Menuhin 1956 und ´57 einspielte und die auch zu seinem Repertoire bei der
kulturellen Betreuung amerikanischer Soldaten im Zweiten Weltkrieg gehörten.
Natürlich kann man sich fragen, warum sich Menuhin den Strapazen unterzog, die
das Reisen in den ungeheizten Frachträumen unerträglich lauter und unbequemer
Militärflugzeuge mit sich brachten ‒ ganz zu schweigen von den primitiven Unterkünften in
den Soldatencamps. Vielleicht war es wirklich ein später Prozess des Erwachsenwerdens,
den nicht, wie erwartet, die Ehe mit Nola Nichols brachte, sondern das Ende der
Bequemlichkeit am Ende der Welt. Vielleicht aber war es auch das Gefühl, seine behütete
Kindheit und sein luxuriöses Leben als umschwärmter Künstler nachträglich kompensieren
zu müssen durch etwas, das er als lebensnah oder sinnvoll empfand. Wenn er dann in sein
Haus nach Kalifornien oder in die ehrwürdigen Konzertsäle in den amerikanischen
Metropolen zurückkehrte, war er jedes Mal wieder ein Stück gereift: Er hatte Tod und
Verstümmelung durch den Krieg erlebt, er wusste, was es bedeutete, sich für eine
gemeinschaftliche Sache einzusetzen, und er hatte ein neues, gänzlich unelitäres Publikum
kennengelernt. Kein Wunder, dass sich Menuhins Verhältnis zu den einst so dominanten
Eltern gerade in den Kriegsjahren zunehmend abkühlte und er den Vater in lautstarken
Auseinandersetzungen zwang, seine Rolle als Manager des Sohnes aufzugeben.
Zweimal ist Menuhin während des Krieges auch in Europa gewesen: 1943 und
1944 flog er unter abenteuerlichen Umständen nach England, wo er nicht nur in der Royal
Albert Hall konzertierte, sondern auch in Militärkrankenhäusern, Fabriken oder auf dem
Schlachtschiff Duke of York. Unter imposanten Kanonenrohren hat er dort fürs Foto posiert
‒ ein lächelnder Fremdkörper inmitten der uniformierten Admiralität. Aber Menuhin fand in
England auch wieder Zeit, nach längerer Pause für die EMI aufzunehmen. Produziert vom
legendären Walter Legge, entstand im März 1943 in Liverpool die Aufnahme von Mozarts
Violinkonzert D-Dur, KV 218. Malcolm Sargent begleitete Menuhin mit dem Royal Liverpool
Philharmonic Orchestra.
MUSIK 5
EMI
LC 06646
2641692
CD 38 Track 13
Wolfgang Amadeus Mozart
Violinkonzert D-Dur KV 218
3) Rondeau
Yehudi Menuhin, Violine
Royal Liverpool Philharmonic Orchestra
Leitung: Malcolm Sargent
(Aufn. 1943)
7‘28
AUTOR
Das Finale von Wolfgang Amadeus Mozarts Violinkonzert D-Dur, KV 218, mit Yehudi
Menuhin und dem Königlichen Philharmonischen Orchester Liverpool ‒ am Pult dieser
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Plattenproduktion vom März 1943 stand der damalige Chefdirigent des Orchesters,
Malcolm Sargent.
Anderthalb Jahre später, im Herbst 1944, unternahm Menuhin seine zweite
Kriegstournee nach Großbritannien, die sich bis nach Belgien und Frankreich ausweiten
sollte. Die Situation hatte sich mittlerweile für die Alliierten positiv entwickelt: nach ihrer
Landung in der Normandie am 6. Juni und der Befreiung von Paris am 25. August konnte
Frankreich aufatmen, General de Gaulle bereitete sich auf die Rückkehr vor. Am 1. Oktober
1944 gab Menuhin in der Londoner Royal Albert Hall ein Benefizkonzert zugunsten des
Komitees „Freies Frankreich“, de Gaulle verlieh ihm das Lothringerkreuz und man dinierte
anschließend gemeinsam mit dem französischen Exilkabinett im Hotel Savoy.
Aber der Geiger wollte die Befreiung Frankreichs nicht nur aus sicherem Abstand
von der britischen Insel beobachten: Die Kunst sollte den weltpolitischen Umwälzungen
möglichst nahe sein, wobei ihm sein Ruhm viele Türen öffnete. Und sicherlich war auch eine
Portion Abenteuerlust dabei, als Menuhin am 2. Oktober zusammen mit seinem belgischen
Klavierbegleiter Marcel Gazelle ins befreite Brüssel flog. Allerdings war mittlerweile der
schnelle Vormarsch der Alliierten in den Niederlanden von den deutschen Besatzern
gestoppt worden, die Lage war gefährlich, als Menuhin in Antwerpen ein Konzert gab,
während fünfzig Kilometer entfernt die Schlacht an der Scheldemündung stattfand.
Mit einer amerikanischen Militärmaschine erreichten die Musiker dann am 4.
Oktober Paris, das trotz Hitlers Auslöschungsbefehl den Krieg ohne größere Zerstörungen
überstanden hatte. Menuhin quartierte sich im Hotel Ritz ein und spielte für die US-Army im
Rokokotheater von Versailles. Der Höhepunkt der Kurztournee war ein Konzert in der
wiedereröffneten Oper von Paris, dem heutigen Palais Garnier, das trotz kurzfristiger
Terminierung völlig ausverkauft war. Jacques Thibaud, der große Kollege, lieh Menuhin
seine Stradivari für den Konzertnachmittag, der mit der Marseillaise eingeleitet wurde.
Dann spielte Menuhin das Violinkonzert von Mendelssohn, das während der deutschen
Besatzung in Frankreich verboten gewesen war. Ein Mitschnitt der Rundfunkübertragung
hat sich erhalten ‒ trotz der technisch fragwürdigen Qualität weht durch ihn der Atem der
Geschichte.
MUSIK 6
Warner
LC 02822
082564625051
Track 7-8
Konzert aus der Pariser Opéra
Marseillaise & Kommentar
Felix Mendelssohn Bartholdy
Violinkonzert e-Moll op. 64
2) Andante (Ausschnitt bis 1’16)
Yehudi Menuhin, Violine
Orchestre de la Société des Concerts du
Conservatoire
Leitung: Charles Münch
(Aufn. 1944)
2‘37
AUTOR
Ein Ausschnitt aus dem zweiten Satz von Felix Mendelssohns Violinkonzert e-Moll, gespielt
von Yehudi Menuhin zusammen mit dem Orchestre de la Société des Concerts du
Conservatoire unter Leitung von Charles Münch. Und selbst durch den Rauschvorhang
dieses Live-Mitschnitts vom 7. Oktober 1944 ist die ungeheure Intensität von Menuhins
Spiel spürbar ‒ eine Intensität, wie sie vielleicht nur das Bewusstsein für den historischen
Moment hervorbringt.
Im Konzert in der Pariser Oper ließ Menuhin ‒ neben unzähligen Zugaben ‒ noch
das Beethoven-Konzert und die Symphonie espagnole von Édouard Lalo folgen, eines
seiner Schlachtrösser seit den frühen Wunderkindtagen. Hören Sie den vierten Satz
„Andante“ aus einer Nachkriegsaufnahme von 1956; Menuhin spielt zusammen mit dem
Philharmonia Orchestra, dirigiert von Eugene Goossens.
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Yehudi Menuhin – 12. Folge
MUSIK 7
EMI
LC 06646
2641622
CD 31 Track 4
Édouard Lalo
Symphonie espagnole d-Moll op. 21
4) Andante
Yehudi Menuhin, Violine
Philharmonia Orchestra
Leitung: Eugene Goossens
(Aufn. 1956)
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6‘52
AUTOR
Der vierte Satz aus Édouard Lalos Symphonie espagnole op. 21. Eugene Goossens leitete
das Philahrmonia Orchestra, der Solist war Yehudi Menuhin.
„Musik gegen das Grauen“, so habe ich die zwölfte Folge der Menuhin-Serie im
Kulturradio vom rbb übertitelt: es geht um die Aktivitäten des Geigers während des
Zweiten Weltkriegs, den er nicht nur in seinem sicheren Heim in Kalifornien erlebte,
sondern auch in der Nähe der Kriegsschauplätze. Durch die Sendung führt Sie Michael
Struck-Schloen, und wenn Sie das Thema und die gesendeten Musiken interessieren: Sie
können das Manuskript nach dieser Sendung auf unserer Website kulturradio.de lesen; die
meisten
Musikaufnahmen
sind
noch
greifbar
‒
auch
dank
zahlreicher
Wiederveröffentlichungen zu Menuhins hundertstem Geburtstag am 22. April 2016.
Das wahre Grauen aber stand Menuhin noch bevor ‒ es war das Leid der Opfer, die
von den Nazis in den Konzentrationslagern in unvorstellbaren Verhältnissen
zusammengepfercht, gefoltert oder getötet worden waren: Juden, Sinti und Roma,
politische Häftlinge, Homosexuelle, Zwangsarbeiter oder Opfer ärztlicher Brutalität. Als
nach Kriegsende das Ausmaß der rassistischen Politik und der Vernichtungslager bekannt
wurde, entschloss sich Menuhin, von London aus nach Deutschland zu reisen und das
ehemalige Konzentrationslager in Bergen-Belsen im Kreis Celle zu besuchen. Vor allem in
England wurde das Lager, in das kurz vor Kriegsende zahlreiche Häftlinge aus den östlichen
Lagern verlegt worden waren, zum Inbegriff der deutschen Barbarei. Anne Frank fand in
Bergen-Belsen den Tod, und auch nach der Befreiung durch britische Soldaten im April
1945 starben zehntausende Menschen an Unterernährung und Seuchen.
Die Überlebenden wurden in den ehemaligen Kasernen der Wehrmacht und der SS
untergebracht und blieben in Belsen als so genannte „displaced persons“ bis zu ihrer
Entlassung. Die Erfahrungen, die Menuhin hier im Sommer 1945 machte, haben sein Leben
verändert. Ulrich Noethen liest aus Menuhins Memoiren unter dem Titel Unvollendete
Reise.
ZITAT (1‘45)
Der Krieg in Europa … in den traurigsten Ruinen des Dritten Reichs.
[Yehudi Menuhin: Unvollendete Reise. Lebenserinnerungen (1976), München/Zürich: Piper
1997, S. 195f.]
AUTOR
Die Engländer schrieben der Kultur in den Lagern für die „displaced persons“ eine wichtige
Rolle zu und hatten schon kurz nach der Befreiung in den Baracken von Bergen-Belsen
einen Musikraum eingerichtet, in dem Konzerte, Theater- und Revuevorführungen
organisiert wurden. Neben dem Unterhaltungsprogramm traten auch klassische
Opernsänger oder Musikerinnen auf wie die Geigerin Lily Mathé oder die Cellistin Anita
Lasker, die beide im so genannten „Mädchenorchester“ von Auschwitz gespielt hatten und
nach Bergen-Belsen verlegt worden waren.
Am 27. Juli trafen Menuhin und Britten im Lager ein, um vor den stark
traumatisierten Menschen zwei Konzerte zu geben. Man erwartete von ihnen eher
jiddische Lieder und Populäres, aber die beiden Musiker muteten ihren Zuhörern vor allem
die große Literatur zu ‒ darunter, wie sich Anita Lasker erinnert, das Mendelssohn-Konzert
und die gewichtige „Kreutzer-Sonate“ op. 47 von Ludwig van Beethoven. Unter den sieben
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Yehudi Menuhin – 12. Folge
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Platteneinspielungen des Werks, die Menuhin gemacht hat, findet sich keine mit Benjamin
Britten. Allerdings hat Menuhin bei Brittens Festival in Aldeburgh mehrfach gastiert und mit
dem glänzenden und empathischen Pianisten legendäre Kammermusikabende gegeben.
Achtzehn Jahre nach dem gemeinsamen Erlebnis in Bergen-Belsen trafen sich Britten und
Menuhin 1963 mit dem Cellisten Maurice Gendron, um Beethovens „Geistertrio“ op. 70 Nr.
1 zu spielen. Und es ist faszinierend, wie sich Menuhin durch die dramatische Präsenz des
Pianisten anstecken lässt, wie er im Eröffnungssatz des Trios wie ein Tiger stets auf dem
Sprung ist und die Sehnen dieses enorm kraftvollen Satzes immer gespannt hält.
MUSIK 8
BBC
LC 10552
BBCL 4134-2
Track 1
Ludwig van Beethoven
Klaviertrio D-Dur op. 70 Nr. 1 „Geistertrio“
1) Allegro vivace e con brio
Yehudi Menuhin, Violine
Maurice Gendron, Violoncello
Benjamin Britten, Klavier
(Aufn. 1963)
10‘27
AUTOR
Der erste Satz von Ludwig van Beethovens Klaviertrio op. 70 Nr. 1, dem so genannten
„Geistertrio“. Gespielt wurde er von einem spontan zusammengestellten All-Star-Trio, das
beim Aldeburgh Festival 1963 die Hörer entzückte: Yehudi Menuhin an der Geige, Maurice
Gendron am Cello und Benjamin Britten am Klavier.
Die Konzertreise durch mehrere deutsche Lager für „displaced persons“, die
Britten und Menuhin im Juli 1945 unternahmen, waren für beide eine Erfahrung, die
Spuren hinterließ. Benjamin Britten schrieb an seinen Lebensgefährten Peter Pears, dass er
die ehemaligen KZ-Häftlinge in erschreckendem Zustand vorfand, dass sie kaum stillsitzen
und zuhören konnten ‒ und trotzdem von der Darbietung begeistert waren. Auch Menuhin
erinnert sich an das Publikum, das ihm in Bergen-Belsen zuhörte.
ZITAT (0‘58)
Männer wie Frauen unter unseren Zuhörern … habe ich nie wiedergesehen.
[Yehudi Menuhin: Unvollendete Reise. Lebenserinnerungen (1976), München/Zürich: Piper
1997, S. 196f.]
AUTOR
So schrieb Yehudi Menuhin in seinem Buch Unvollendete Reise über seinen Besuch in
Bergen-Belsen. Es war eine Situation, die Menuhin und seinen Begleiter überforderte, in der
sie mit ihrer Kunst an die Grenze der Mitteilbarkeit stießen. Benjamin Britten, der
bekennende Pazifist, hat das Erlebnis, ohne es explizit zu nennen, in manchen Werken der
folgenden Jahre verarbeitet ‒ am eindrücklichsten sicher in seinem zweiten Streichquartett
op. 36, das im Herbst 1945 entstand.
Offiziell verdankt es seine Entstehung einem Kompositionsauftrag zum 250.
Todestag von Henry Purcell; und die große, abschließende Chaconne mit ihren 21
Variationen ist zweifellos im Geiste des Orpheus Britannicus konzipiert worden. Doch schon
das Unisono-Thema, das dem Satz zugrunde liegt, beschwört mit seinen bedrohlichen
Schwellern eher das Außenseiterdrama Peter Grimes, mit dem Britten gerade die englische
Oper reformiert hatte. Diese Chaconne ist ein großer kollektiver Klagegesang,
unterbrochen von expressiven Solopassagen, die dem Individuum eine Stimme geben.
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Yehudi Menuhin – 12. Folge
MUSIK 9
WDR Eigenprod.
6999926929
Track 3
Benjamin Britten
Streichquartett Nr. 2 C-Dur op. 36
3) Chacony. Sostenuto
Patricia Kopatchinskaja, Violine
Pekka Kuusisto, Violine
Lilli Maijala, Viola
Pieter Wispelwey, Violoncello
(Aufn. 2013)
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18‘34
AUTOR
Das war das Finale von Benjamin Brittens zweitem Streichquartett C-Dur op. 36, einem
Werk, das der 31-jährige Komponist kurz nach seinem Besuch im Lager Bergen-Belsen im
Juli 1945 komponiert hat. Gespielt wurde es von Patricia Kopatchinskaja, Pekka Kuusisto,
Lilli Maijala und Pieter Wispelwey.
Für Britten und Yehudi Menuhin war die gemeinsame Tour durch das
Nachkriegsdeutschland der Beginn einer lebenslangen Freundschaft. Für Menuhin war die
kurze Reise nach Bergen-Belsen und zu anderen deutschen Stätten der Unmenschlichkeit
in anderer Hinsicht ein Schlüsselmoment. Als jüdischer Musiker, dessen Familie vom
Holocaust kaum betroffen war, hatte er mit seinem ersten Besuch in Deutschland seit
1932 ein Zeichen gesetzt. Während Kollegen wie Jascha Heifetz, Isaac Stern oder Artur
Rubinstein nie wieder im Land der Täter öffentlich auftraten, reichte Menuhin den
Deutschen gleich nach Kriegsende die Hand zur Versöhnung ‒ eine Geste, die viele jüdische
Opfer nicht verstehen konnten. Und vor allem durch seine Zusammenarbeit mit dem
politisch belasteten Wilhelm Furtwängler wurde einige Jahre später die Diskussion um
Menuhins Aufrichtigkeit als Patriot und Jude wieder angefacht und ist vor allem in Israel
nie abgerissen.
Menuhin hat bis zuletzt versucht, politische Verfehlungen und kulturelle
Leistungen streng zu trennen ‒ auch wenn ihn der Widerspruch zwischen Weimar und
Buchenwald, zwischen den Höhenflügen des Geistes und der Wirklichkeit des Massenmords
zutiefst irritierten. Fast ein halbes Jahrhundert nach seinem Besuch in Bergen-Belsen
kehrte er noch einmal an den Ort des Schreckens zurück, der seit 1952 Gedenkstätte ist.
Ulrich Noethen liest aus Menuhins Buch Unterwegs.
ZITAT (2’14)
Mein erster Besuch nach dem Krieg … jeder von uns auf sich laden kann.
[Yehudi Menuhin: Unterwegs. Erinnerungen 1976-1995, München/Zürich: Piper 1996, S.
120f.]
MUSIK 10
apex
LC 04281
2564605442
Track 1
Ludwig van Beethoven
Ouvertüre zu Coriolan c-Moll op. 62
Sinfonie Varsovia
Leitung: Yehudi Menuhin
(Aufn. 1994)
7‘00
AUTOR
Ludwig van Beethovens Ouvertüre zum Trauerspiel Coriolan vom Wiener Dramatiker
Heinrich Joseph von Collin. Yehudi Menuhin leitete die Sinfonia Varsovia in einem
Konzertmitschnitt aus dem Jahr 1994 ‒ und wie immer entfacht Menuhin beim
Lieblingsorchester seiner späten Jahre einen hohen dramatischen Puls und eine zum
Reißen gespannte Energie.
Coriolan, der gefallene Kriegsheld, der sich in militärischem Hochmut gegen die
eigene Republik Rom wendet und sich am Ende selbst tötet ‒ war er nicht ein Symbol für
den gefallenen Diktator Hitler, der Millionen Tote auf dem Gewissen hatte, nur weil er jedes
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Yehudi Menuhin – 12. Folge
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menschliche Maß verloren hatte? Der Zweite Weltkrieg hatte die Machtverhältnisse
verändert; Deutschland schied als Großmacht aus, Frankreich und das britische Empire
verloren an Einfluss, während die Sowjetunion und die USA ihre ideologischen Gegensätze
allmählich zum Kalten Krieg schärften.
Yehudi Menuhin hatte also genug zu tun, um in aller Welt die Botschaft der Kultur
und Humanität zu verkünden. Ende Oktober 1945 reiste er in die befreite
Tschechoslowakei und begleitete den Präsidenten Eduard Beneš nach Lidice, wo die Nazis
während des Krieges ein ganzes Dorf ausgelöscht hatten. Dann reiste er weiter nach
Moskau mit einem Zwischenstopp in Berlin, wo er kein Konzert gab, sondern durch die
Straßen der zerstörten Stadt lief und fast nichts mehr wiedererkannte: zerstört war die
Philharmonie, der Ort seiner frühen Triumphe, ebenso wie die meisten Theater und
Opernhäuser. Als er endlich in Moskau landete, war er der erste westliche Künstler, der
nach dem Krieg in der sowjetischen Hauptstadt konzertierte ‒ in einer Stadt, die auch nicht
mehr aussah wie zur Zeit des Romantikers Henryk Wieniawski, als der sein Souvenir de
Moscou op. 6 komponiert hatte. Yehudi Menuhin wird am Klavier begleitet von Marcel
Gazelle.
MUSIK 11
Testament
LC 03573
SBT 1003
Track 1
Henryk Wieniawski
Souvenir de Moscou op. 6
Yehudi Menuhin, Violine
Marcel Gazelle, Klavier
(Aufn. 1935)
7‘50
AUTOR
Souvenir de Moscou ‒ Erinnerung an Moskau hat Henryk Wieniawski diese Variationen über
das russische Volkslied Der rote Safran überschrieben. Yehudi Menuhin spielte das
romantische Virtuosenstück zusammen mit seinem Klavierbegleiter Marcel Gazelle.
Und mit Menuhins Erinnerungen an Moskau, das er im November 1945 als erster
westlicher Künstler nach dem Krieg besuchte, geht die heutige Sendung zu Ende. „Musik
gegen das Grauen“ war der Titel der zwölften Folge unserer Menuhin-Reihe ‒ am nächsten
Sonntag soll es um seinen Einsatz für die Musik des 20. Jahrhunderts gehen. Die
Manuskripte der bisher gesendeten Folgen finden Sie im Internet unter „kulturradio.de“. Ich
freue mich, dass Sie heute dabei waren ‒ auf Wiederhören sagt Michael Struck-Schloen.
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