Sonderheft zur Vereinsgeschichte - ETV
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Sonderheft zur Vereinsgeschichte - ETV
November 2010 ETVMAGAZIN S O N D E R H E F T Sich der Geschichte stellen – der ETV vom Kaiserreich bis zur Nazi-Zeit Nutzfahrzeuge Machen Sie doch mal wieder „blau“ - aber bitte nur am Wochenende! Ihr persönlicher Ansprechpartner Mike Strozyk sorgt für Urlaubsgefühle - nicht nur in der Freizeit. Lassen Sie sich von ihm Ihren Traumwagen vorführen. Ob für den Alltag oder zum Verreisen, ob für Sie allein oder die Familie, bei ihm finden Sie das passende Modell von Audi oder Volkswagen. Vertrauen Sie auf Auto Wichert, dem exklusiven Partner für Audi, Volkswagen und VW-Nutzfahrzeuge, vertrauen Sie auf das Know-how von Mike Strozyk. 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Die steinernen »Turnerhakenkreuze« an der Außenfassade der Großen Halle des ETVSportzentrums an der Bundesstraße stehen symbolisch für den Umgang mit der eigenen Geschichte: Über die Zeit des Nationalsozialismus und seine Vorgeschichte schien im wahrsten Sinne Efeu gewachsen zu sein. Alle Erinnerungsdebatten der 80er und 90er Jahre waren am ETV spurlos vorüber gegangen. So verwundert es nicht, dass der Anstoß zur Auseinandersetzung letztlich von außen kam. In dem Maße, wie sich der ETV in der gesellschaftlichen Auseinandersetzung um einen Krankenhausneubau positionierte, geriet auch zunehmend seine Vergangenheit in den Blick der kritischen Öffentlichkeit. Zunächst war es die fortdauernde Benennung der Großen Halle im ETV-Sportzentrum Bundesstraße nach Robert Finn, die sich bei näherem Hinsehen als nicht mehr haltbar erwies. Die Fakten, die in diesem Zusammenhang über den langjährigen Vorsitzenden der Nachkriegszeit bekannt wurden, rückten zunehmend auch die Geschichte des Gesamtvereins in den Fokus. Bald wurde klar, dass es mit der einfachen Namensänderung einer Sporthalle nicht getan war – genau so wenig wie mit einem baulichen Tilgen der historischen Symbole, wie es von einigen gefordert wurde. Dies wäre einem »Weißwaschen« gleichgekommen, das nur neuer Bequemlichkeit im Umgang mit der eigenen Vergangenheit Vorschub geleistet hätte. Um dieser nach wie vor schwierigen und teilweise schmerzhaften Thematik adäquat zu begegnen, bedurfte es einer umfassenden Recherche der historischen Fakten und einer differenzierten wie unsentimentalen Darstellung der Geschichte des Eimsbütteler Turnverbandes. Der ETV beauftragte deshalb den unabhängigen Historiker Sven Fritz, eine Geschichte der Entwicklung des Vereins und der ihn prägenden politischen Mentalitäten zu erarbeiten und darin auch die Symbolik an der Außenfassade in ihren zeithistorischen Kontext einzuordnen. Bei seinen Recherchen fand Fritz eine derartige Menge an Fakten, dass aus dem Gutachten eine umfassende politische Geschichte des ETV von seiner Gründung bis in die Nachkriegszeit geworden ist. Herausgekommen ist am Ende eine schonungslose Konfrontation mit der eigenen Geschichte. Daraus ist ein Buch entstanden mit dem Titel »… dass der alte Geist im ETV noch lebt«, welches im Buchhandel oder beim ETV erhältlich ist. Neben Sven Fritz haben weitere Experten an dieser Aufarbeitung der Vereinsgeschichte mitgewirkt, denen ich hiermit für die konstruktive und kollegiale Zusammenarbeit herzlich danken möchte: Jürgen Bischoff für die Recherchen zur Genese und Bedeutung der Turnerkreuze, Jürgen Sielemann für seine umfangreichen Recherchen zum Schicksal ehemaliger jüdischer ETV-Mitglieder und Hannes Heer für die wissenschaftliche Begleitung der Recherche und seine Gesamtkoordination des Erinnerungsprojekts. Am 8. Oktober 2010 hat der ETV die Ergebnisse der Recherchen im Rahmen einer öffentlichen Veranstaltung vorgestellt. Dieses Sonderheft des ETV-Magazins enthält die bearbeiteten Vorträge der vier Referenten. Sie bilden eine Zusammenfassung aller Aspekte zur Geschichte des ETV zwischen 1889 und 1945, die untersucht wurden. Mit dem Buch und dem vorliegenden Sonderheft des ETV-Magazins macht der ETV seine politische Geschichte öffentlich. Mit einem Denkmal für die ehemaligen jüdischen Mitglieder des Vereins, mit zwei Erklärungstafeln zu historischen Fakten der Vereinsgeschichte und mit einem Mahnmal als Kommentierung des Kriegerdenkmals von 1919 wollen wir dokumentieren, dass sich der ETV seiner Verantwortung bewusst ist. Für die Gestaltung der Denkmäler und Tafeln zeichnet Peter Schmidt verantwortlich, dem hiermit ebenfalls herzlich gedankt sei. Seine Entwürfe wurden von der Bildhauerin Alexandra Böhm als Erinnerungsstelen aus hellem und dunklem Granit umgesetzt. So stellt sich der ETV – wenn auch spät – seiner historischen und moralischen Verantwortung. Das ist für das Selbstverständnis eines modernen, zukunftsfähigen Vereins wie dem ETV alternativlos. Unsere heutige demokratische und pluralistische Grundhaltung zeigt sich auch in einem unverklärten Blick auf die Vergangenheit. Ich möchte den Referenten sowie den Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern sehr herzlich danken für ihr großes Engagement bei diesem schwierigen Projekt. Es ist uns gemeinsam gelungen, die Grundlagen für eine geschichtsbewusste Zukunft des Vereins zu schaffen. Frank Fechner 1. Vorsitzender Eimsbütteler Turnverband e.V. Inhalt Jürgen Bischoff 5 Das Kreuz mit den Kreuzen Woher kommen die Hakenkreuze an der Fassade der ETV-Halle in der Bundesstraße? Sven Fritz 9 »… daß der alte Geist im ETV noch lebt.« Der Eimsbütteler Turnverband von der Gründung bis in die Nachkriegszeit Jürgen Sielemann 16 Nachforschungen über die Verfolgung jüdischer ETV-Mitglieder in der NS-Zeit Opferliste Hannes Heer 21 Sich der Vergangenheit stellen: Die deutsche Turnbewegung als »Einfallstor« des Nationalsozialismus Die Autoren 27 … in Kürze ETV-Magazin 4/10 | 5 3 SICH DER GESCHICHTE STELLEN Der ETV vom Kaiserreich bis zur Nazi-Zeit 4 | ETV-Magazin 4/10 frau.L. / photocase.com Jürgen Bischoff Das Kreuz mit den Kreuzen Woher kommen die Hakenkreuze an der Fassade der ETV-Halle in der Bundesstraße? Als vor Jahresfrist die Bitte an mich herangetragen wurde, für den ETV eine Tafel zu entwerfen, welche die vier Symbole an der rechten Hallenseite für die Öffentlichkeit erklärt und historisch einordnet, war ich anfangs geneigt, den Auftrag abzulehnen. Das Thema erschien mir zu sehr als ein Minenfeld: Welchen Schritt auch immer man tut, es würde der falsche sein. So hatte die Hamburger Morgenpost an der ETV-Turnhalle »versteckte Hakenkreuze« geortet. Demonstranten, darunter die Musikerin und Antifaschistin Esther Bejerano, hatten demonstrativ deren Entfernung gefordert, und der Historiker und Journalist Günther Jacob hatte – vor dem Hintergrund der Auseinandersetzung um den Krankenhausbau auf einem Teil des ETV-Geländes – fast 200 Internet-Seiten mit den höchst aufschlussreichen Ergebnissen seiner aufwändigen Recherchen zu dem Thema gefüllt. Andererseits gab es da die abwiegelnden Stellungnahmen des ETV, der an seiner Hallenwand über Jahrzehnte nicht einmal Haken-, sondern nur harmlose Turnerkreuze zu erkennen vermochte. Außerdem gehöre ich zu jenen, die den Kern ihrer politischen Identität aus der aktiven Auseinandersetzung mit der deutschen Geschichte und insbesondere dem Nationalsozialismus entwickelt haben – und die deswegen das wieder modern gewordene Herzeigen und Verharmlosen von Nazisymbolen ganz und gar unerträglich finden. Ich habe den Auftrag trotzdem angenommen. Und maßgebend dafür waren vor allem drei Gründe. Erstens hatte ich nach einem ausführlichen Gespräch mit dem ETV-Vorsitzenden Frank Fechner den Eindruck gewonnen, dass hier ein Verein ist, der es ernst meint mit der Aufarbeitung seiner Geschichte. Dass hier kein Valium zur Beruhigung einer aufgebrachten Öffentlichkeit verabreicht werden soll, sondern dass ein ernsthaftes Bestreben da ist, sich – wenn auch mit sehr großer Verspätung – den unangenehmen Teilen der Vereinshistorie zu stellen. Zweitens konnte für die Orchestrierung des Vorhabens der Historiker Hannes Heer gewonnen werden, der seinerzeit die Ausstellungen über die Beteiligung der Deutschen Wehrmacht am Holocaust und über die im Nazi-Terror verstummten Stimmen des Hamburger Kulturlebens konzipiert hatte. Und drittens hatte die öffentlich und im Internet ausgetragene Auseinandersetzung um die Symbole an der Vereinshalle schlicht meine Neugierde geweckt: Denn was sind diese Zeichen nun wirklich? Sind sie Hakenkreuze? Sind sie Nazisymbole? Oder nur harmlose Turnerkreuze? Wann und warum wurden sie in dieser Wand verbaut? Und wer hatte dazu den Auftrag erteilt? An der Wand des ETV-Gebäudes, wo sich früher ein Zugang zur Halle befand, sind diese vier verschiedenen Symbole zu sehen: Zwei jeweils in Form eines Hakenkreuzes gemauerte, sogenannte Turnerkreuze, einmal links- und einmal rechtsdrehend; eine sogenannte Bockwindmühle; das Malteserkreuz. angebracht, dass sie rechts und links den früher dort befindlichen Seiteneingang flankierten. Ferner gibt es auch in der Bauausführung oder vom verwendeten Material her gar keinen Hinweis darauf, dass es sich um nachträglichen Zierrat handeln könnte. Und schließlich existiert eine alte Postkarte mit einem Foto der Halle, das sehr bald nach ihrer Fertigstellung aufgenommen worden sein muss, denn das Gebäude steht noch auf unbepflanztem Brachland. Und unter Verwendung einer guten Lupe ist darauf mit einiger Mühe die Windmühle zu erkennen. Zunächst einmal ist natürlich die Frage zu klären, zu welchem Zeitpunkt diese Symbole dort vermauert wurden. Das ist notwendig, um daraus auf die möglichen Intentionen der Bauherren rückschließen zu können. Oder anders: Wären die Embleme beispielsweise erst 1934 dort angesetzt worden, müssten wir uns der Frage nach dem Nazisymbol gar nicht mehr lange widmen. Im Archiv des ETV allerdings fand sich dazu – gar nichts. Weder in der Bauausschreibung, die erhalten geblieben ist, noch in der Abschlussrechnung gibt es irgendeinen Hinweis über vermauerte Symbole. Allerdings: Auch in späteren Jahrzehnten nicht. Dabei wäre doch zumindest zu erwarten gewesen, hätte der Vorstand die Symbole später hinzufügen lassen, dass darauf in der Vereinszeitschrift oder in einer der zahlreichen Festschriften in irgendeiner Weise Bezug genommen worden wäre. Wurde aber nicht. Andererseits gibt es Indizien: Die Symbole sind so Aus all dem kann man schließen: Die Symbole wurden mit sehr hoher Wahrscheinlichkeit bereits beim Bau der ETV-Halle in den Jahren 1909 oder 1910 dort angebracht. Und sie galten beim damaligen Vorstand und den Vereinsmitgliedern als so selbstverständlich, dass sich jeder Hinweis darauf oder gar eine interpretierende Rechtfertigung erübrigten. Der Hallenbau aber war vor allem die Herzensangelegenheit des damaligen ETV-Vorsitzenden Julius Sparbier. Er war Gründungsmitglied des ETV, hatte die Kontakte zu Wirtschaft und Politik – und er hatte die nötige Energie, um zu jener Zeit ein solches Projekt auf den Weg zu bringen. Sparbier war belesen, wortgewandt, intellektuell. Und er hatte eine Mission: Das Turnen war für Sparbier nur zum kleineren Teil Vergnügen – es war ihm vor allem Politik, Mittel zum vaterländischen Zweck. Denn Julius Sparbier war bis auf die Knochen reaktionär, er war deutschnational und vaterländisch eingestellt. Die ETV-Magazin 4/10 | 5 DAS KREUZ MIT DEN KREUZEN von ihm verfasste Denkschrift zur Grundsteinlegung der Turnhalle am 10. Juli 1909 fasst seine Haltung mit wenigen Sätzen zusammen: »Hier soll eine Stätte der Gesundung für unsere deutsche Jugend in Hamburg entstehen; hier soll sein ein Hort vaterländischen Sinnes und deutscher Kraft. Mögen unsere Nachkommen unser Werk fortsetzen, damit hier eine Stätte geschaffen werde, von der ein reicher Strom vaterländischen Denkens und Fühlens, (…) aufopfernder, einmütiger Tätigkeit zum Wohle des Ganzen, sich fort und fort ergieße in alle Stände, alle Herzen, alle Gedanken!« Das Turnen galt dem Vorsitzenden Sparbier als das adäquate Mittel, junge Männer im vaterländischen Geiste zu erziehen und sie wehrtüchtig zu machen. Was daraus klar wird: Der ETV war zur Zeit seiner Gründung keinesfalls ein unpolitischer Spiel- und Spaßverein. Stattdessen herrschten zumindest in der Führung vaterländisches Gedankengut und Deutschtümelei. Genau in diesen Kontext gehören auch die Symbole, die der Vorstand damals in der Hallenwand verbauen ließ. Es gibt zu diesen im Archiv des Eimsbüttler Turnverbandes keinerlei schriftliche Unterlagen, keine Interpretation, nichts. Bei der Deutung der Darstellungen und der Intentionen der Bauherren sind wir also auf Indizien angewiesen. Sicher ist: Diese Embleme sollten öffentliche Embleme sein, sollten einen Wiedererkennungswert haben, eine Botschaft vermitteln. Sie sind kein geheimnisvoller Zierrat. Ich halte es bei der Interpretation deshalb mit dem Naheliegendsten. Und am nächsten liegt immer das, was man sieht. Da ist zum einen eine Windmühle, eine sogenannte Bockwindmühle. Zwar wurde dieser Typ im 12. Jahrhundert in Frankreich erfunden, firmiert aber, weil sie später vor allem in Norddeutschland verbreitet war, auch unter der Bezeichnung »Deutsche Windmühle«. Die »Deutsche Windmühle« taucht in der Turnerschaft des 19. Jahrhunderts immer mal wieder als Symbol auf: als Synonym für Bewegung. Die »Windmühle« war schon damals in der Gymnastik und bei den Turnern eine 6 | ETV-Magazin 4/10 beliebte Übung. Es ist deshalb anzunehmen, dass auch das Symbol an der ETV-Halle als Bewegungs-Symbol gedeutet werden muss – zumal die Mühlenflügel in ihrer Kreuzform mit den anderen Emblemen optisch korrespondieren. So mögen wohl auch ästhetische Aspekte bei der Auswahl eine Rolle gespielt haben. Interessanter wird es beim zweiten Symbol: dem Malteserkreuz. In dieser Darstellung mit den verdickten Enden wird es auch als »Tatzenkreuz« bezeichnet. Das Malteserkreuz ist ein Zeichen, das die bürgerliche Turnbewegung des 19. Jahrhunderts von Anfang an begleitet. Ich sage extra: bürgerliche Turnbewegung. Denn es gab auch eine andere. Im Anschluss an die gescheiterte deutsche Revolution von 1848, an der sich viele, oft studentische Turnvereine höchst aktiv beteiligt hatten, kam es vielerorts zu Spaltungen der Turnbewegung: Konservative Kräfte verließen die demokratisch gesinnten Turner und gründeten Konkurrenz-Clubs. Diese gaben sich nach außen unpolitisch, versuchten aber tatsächlich, sich mit der Obrigkeit, welche die studentischen Turner zunehmend drangsalierte, zu arrangieren. Und zwar unter ausdrücklicher Bezugnahme auf Friedrich Ludwig Jahn, der mit seinem 1810 erschienenen Buch »Das Deutsche Volksthum« die öffentliche, deutsche Turnbewegung begründet hatte. Für Jahn war Turnen keine bloße Leibesübung, es war Erziehung zu nationalem Bewusstsein und Wehrtüchtigkeit – um »das welsche Joch abzuschütteln«, also im Kampf gegen Frankreich bestehen zu können, das damals Teile des späteren Deutschen Reiches besetzt hielt. Die Franzosen galten Jahn als »Mischlingsbrut von ausverrömerten Galliern, Römlingen und vielen deutschen Stämmen«. Vor allem aber verhinderten sie seiner Ansicht nach die Überwindung der deutschen Kleinstaaterei – und damit »Deutschlands Größe auf dem Erdenrund«. »Polen, Franzosen, Pfaffen, Junker und Juden«, schrieb Jahn, »sind Deutschlands Unglück.« Viel Feind, viel Ehr. Zumindest Franzosen, Pfaffen und Junker nahmen ihm das übel. Aber seine Turner bewährten sich 1813 im Lützower Freikorps, im Kampf gegen Napoleon, und Jahn selbst befehligte sie als Oberleutnant – was ihm die Anwartschaft auf das von der Preußischen Regierung seinerzeit neu gestiftete Eiserne Kreuz verschaffte. Verliehen wurde es ihm allerdings erst 1840, nachdem er zuvor wegen seines Eintretens für die deutsche Einigung fünf Jahre Festungshaft verbüßt hatte. Das Kreuz als Turnerzeichen wird deshalb von vielen Historikern als Zitat des an Jahn verliehenen Ordens verstanden: als Siegeszeichen der patriotischen Turnbewegung über die feudalistische Kleinstaaterei. Gut möglich also, dass die reichstreuen Granden des damaligen ETV mit den beiden Malteserkreuzen an der Hallenwand genau daran erinnern wollten. Allerdings irritiert die spezielle Ausfertigung des Symbols: Es zeigt eben nicht das Eiserne Kreuz, sondern das Tatzenkreuz. Dieses aber war seit dem Mittelalter das Hoheitszeichen des Deutschen Ordens. Die Deutschritter hatten sich an vorderster Front an den Kreuzzügen nach Palästina beteiligt – also am Kampf gegen Juden und Islam – und sie hatten im 13. Jahrhundert im heutigen Baltikum durch Vertreibung der dort ansässigen Prußen einen gewaltigen Ordensstaat begründet. Städte wie Elbing oder Königsberg waren Gründungen des Deutschen Ritterordens. Da nimmt es nicht Wunder, dass dessen Symbolik bei den völkischen und antisemitischen Organisationen, die in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts (und vor allem nach der deutschen Reichsgründung 1871) immer mehr Nährboden fanden, gern genommen wurde. Gut möglich also auch, dass die Völkischen im ETV zu Beginn des 20. Jahrhunderts mit der Auswahl der Embleme auf genau diesen Hintergrund verweisen wollten. Denn die bürgerlichen Viertel in Eimsbüttel waren zu jener Zeit Hochburgen des Antisemitismus JÜRGEN BISCHOFF in Hamburg, und es ist davon auszugehen, dass diese Tendenzen ihre Widerspiegelung auch unter Mitgliedern und Funktionären des ETV fanden. Und schließlich, Möglichkeit Nummer drei: Im Jahr 1910, als die Halle eröffnet wurde, war das Malteserkreuz Bestandteil der kaiserliche Marineflagge. Es kann also auch sein, dass der damalige ETV-Vorstand mit diesen Symbolen an der Hallenmauer die besondere Verbundenheit der Turnerschaft mit Kaiser und Vaterland betonen wollte. zurückführen. Ein unstrittiger Beleg für dessen Urheberschaft ließ sich jedoch nicht finden. Die Zeit, über die wir hier reden, war eine Zeit der großen Debatten, der Umbrüche und gesellschaftlichen Veränderungen. Über jedes Detail, über alles Neue wurde leidenschaftlich gestritten. Auch in der Turnerbewegung. Und so schlug im Jahr 1846 der Darmstädter Kupferstecher Heinrich Felsing als »Zeichen für Turnfahnen« ebenfalls ein Kreuz aus den vier F vor. Aber: »Ich ordne die vier F so zusammen, dass dadurch die Form des Deutschen Kreuzes gebildet wird. Das Kreuz ist ein Christen-Zeichen, ein allgemeines; es ist aber auch das spezielle deutsche Zeichen.« Dieses FelsingKreuz, bei dem die vier Buchstaben mit den Kopfstrichen aneinander lagen, setzte sich im Laufe der folgenden Jahrzehnte als offizielles Zeichen der Deutschen Turnerschaft durch. Übrigens gegen den ausdrücklichen Widerstand vieler demokratisch gesinnter Turner – vor allem aber gegen den Widerstand jener Turner, die jüdischen Glaubens waren: Ihnen erschien der ausdrückliche Bezug auf das »Christen-Zeichen« als nicht hinnehmbare Ausgrenzung. Quelle: www.kaiserliche-marine.de Wahrscheinlich also wurde das Malterserkreuz-Symbol gewählt, weil es von allem etwas repräsentiert: ein bisschen Jahn-Kult, ein bisschen Kaiser-Kult, ein bisschen antisemitische Deutschtümelei. Besonders den letzten Verdacht stützen auch die Embleme Nummer drei und vier an der Wand, die spiegelbildlichen Turnerhakenkreuze. Niemand bestreitet, dass die Turnerhakenkreuze eine Kombination sind: eine grafische Verbindung der vier Anfangsbuchstaben jener Parole, die Friedrich Ludwig Jahn zum Wahlspruch der Turnerbewegung gemacht hatte: »Frisch, Frei, Fröhlich, Fromm.« Jahn hatte den Spruch aus dem Althochdeutschen übernommen, in dem »fromm« noch eine andere Bedeutung hatte als heute: »wehrhaft«. Die Reihenfolge »Frisch, Fromm, Fröhlich, Frei«, wie wir sie heute kennen, setzte sich erst Doch neben dem Felsing-Kreuz taucht in jenen Jahren später durch – gegen Jahns ausdrücklichen Willen: auch die hakenkreuzförmige Anordnung der vier F Wehrhaft zu sein, galt ihm als die Quintessenz der an- immer öfter in Emblemen und auf Vereinsfahnen auf: deren drei Eigenschaften. Der »Männer Turnverein in Cassel« verwendete das Die Idee, die vier Anfangsbuchstaben mit der Basis ge- Turnerhakenkreuz vermutlich seit Anfang 1850. Dieser geneinander zu setzen und daraus ein Kreuz zu bilden, Verein, den es heute nicht mehr gibt, hatte sich im liegt nahe. Es gibt ein paar schriftliche Quellen, die Herbst 1849 von der Casseler Turngemeinde losgesagt diese Darstellung des Turnerkreuzes direkt auf Jahn – aus politischen Gründen: Denn jene hatte sich an der 48er-Revolution beteiligt und war auch danach noch demokratisch aktiv, was den Männerturnern nicht passte. Mehr aber ist vom Männerturnverein nicht überliefert. Auch der »Alte Breslauer Turnverein« von 1859 führte die vier F als Turner-Hakenkreuz im Wappen. 1863 zierte es dann die Festkarte zum dritten Deutschen Turnfest in Leipzig – überwölbt von einer großen Fahne in den republikanischen Farben Schwarz-Rot-Gold. Quelle: Jahn-Museum Beim fünften Deutschen Turnfest in Frankfurt überreichte der Oberbürgermeister der Deutschen Turnerschaft eine aufwändig gestaltete Fahne, »gewidmet von Frauen und Jungfrauen der Stadt Frankfurt«, in der die vier F hakenkreuzförmig in einem Malteserkreuz angeordnet sind, hinterlegt mit Schwert und Fackel, Symbolen der demokratischen Turnvereine. Quelle: Jahn-Museum ETV-Magazin 4/10 | 7 DAS KREUZ MIT DEN KREUZEN Und beim Breslauer Turnfest 1894 (den ETV gab es da noch nicht) zogen Turner aus Hamburg, darunter auch vier des Eimsbüttler Männerturnvereins, hinter einem Motivwagen her, der als Hanse-Kogge gestaltet war: Am Mast wehte das Hamburger Stadtwappen, am Heck das Turner-Hakenkreuz auf einer Fahne mit den Farben des nunmehr geeinten Deutschen Kaiserreichs – Schwarz-Weiß-Rot. Der Festzug in seinen Festwagen und Kostümgruppen, Breslau 1894 Mitglied des Männerturnvereins und schon damals sehr angesehen war Julius Sparbier. Es wäre interessant zu wissen, ob er in Breslau dabei war, denn zu jenem Zeitpunkt war das hakenkreuzförmiger Turnerzeichen schon ideologisch besetzt, belastet mit völkisch-antisemitischem Gift. 1887 hatte der »Erste Wiener Turnverein« in Österreich auf Antrag von Oberturnwart Franz Kießling in seiner Satzung bestimmt, dass »nur Deutsche arischer Abkunft Vereinsangehörige sein können.« Der Beschluss richtete sich vor allem gegen die jüdischen Mitglieder: 480 Juden und 20 weitere »Nichtdeutsche« mussten den Verein verlassen. Es war der Beginn der »Arisierung« in Deutschlands Turnvereinen, die dann schnell auch weitere Anhänger findet. 1888 übernimmt der gesamte Gau Niederösterreich den »Arierparagraphen« – und wird daraufhin von der Deutschen Turnerschaft ausgeschlossen. Als Reaktion vereinigt er sich mit den »judenreinen« Vereinen Nordböhmens zum »Deutschen Turnerbund« (der mit dem heutigen DTB allerdings auch historisch nichts zu tun hatte). Als Bundesabzeichen wählen sich die antisemitischen Turner das Turnerhakenkreuz, denn gegen Ende des 19. Jahrhunderts hatte sich die »Swastika«, das Hakenkreuz, ein Jahrtausende altes Ornamentzeichen, in antisemitisch-völkischen Organisationen, in neugermanischen Geheimgesellschaften und Religionsbünden als Erkennungszeichen verbreitet. Offiziell als DTB-Kennzeichen eingeführt wurde das Turnerhakenkreuz im Jahr 1910 – in exakt jenem Jahr, als auch die Eimsbüttler Turnhalle der Turnerschaft übergeben wurde. Es ist sicher davon auszugehen, dass den Männern um Julius Sparbier diese ideologischen Aufladungen bekannt waren, als sie sich irgendwann 1909 oder 1910 für diese Ornamente an ihrer Hallenwand entschieden – und nicht für die Anbringung des offiziellen Vereinsabzeichens, des Felsing-Kreuzes. Dann aber gibt es für dieses Handeln nur eine Erklärung: Es war Ausdruck ihrer Gesinnung, ihrer tiefsten Überzeugungen. Insofern muss man die oben gestellte Frage nach der Bedeutung dieser Embleme ein wenig gespreizt beantworten: Ein Turnerkreuz? Ja. – Harmlos? Nein. – Ein Hakenkreuz? Ja. – Ein Nazisymbol? Nein. Aber es ist, das steht außer Frage, ein völkisch-antisemitisches Erkennungszeichen. Übrigens gab es in der Tat eine kurze Phase vor 1933, in der sich auch die Nazis dieses Zeichen zu eigen machten: 1923, als die SA nach dem gescheiterten Putschversuch Hitlers kurzfristig verboten wurde, tarnte sie sich in Hamburg als »Blücher Turn-, Sport- und Wandervereinigung«. Doch man brauchte eine Fahne – und wählte im Jahr darauf das Turnerhakenkreuz. Denn, so liest man in der 1933 erschienenen NS-Chronik »Hamburg unterm Hakenkreuz«: »Die Querstriche der vier F ergeben ein großes Hakenkreuz, in dem ein zweites, kleineres liegt. Zu dieser List wurde gegriffen, um wenigstens in unserer neutralen Fahne das Parteizeichen zu haben, während wir andererseits uns mit dem Hinweis verteidigen konnten, dass es sich um das alte, unveränderte Abzeichen der deutschen Turner handele.« So bleibt zum Schluss eigentlich nur noch eine einzige Frage, die zu beantworten wäre: Warum wir, angesichts Riekes Vater / photocase.com 8 | ETV-Magazin 4/10 dieser Sachverhalte, dem Vorstand des ETV nicht empfohlen haben, diese Symbole einfach von der Wand zu entfernen. Die Antwort ist nicht ganz einfach, und sie wird auch nicht jeden zufriedenstellen. Aber diese Symbole sind, wie auch das Kriegerdenkmal vor dem Haupteingang, untrennbarer Teil der Geschichte dieses Hauses, der Geschichte des ETV. Dieser Geschichte muss er sich stellen, und er tut das gerade in sehr eindrucksvoller Weise. Zugegebenermaßen ist nun Geschichtsunterricht nicht die originäre Aufgabe eines Turnvereins – doch gerade der ETV legt großen Wert auf die Arbeit mit Kindern und Jugendlichen, seine Räume werden vom benachbarten Gymnasium genutzt. Vor allem ihnen sollte, ja muss der Verein seine Geschichte zugänglich und begreifbar machen, eingeordnet in die historischen Zusammenhänge. Nur so ist eine Auseinandersetzung damit möglich. Nur so lassen sich daraus Lehren ziehen. Und nur so lässt sich verhindern, dass sich Vergangenheit wiederholt. Sven Fritz »… daß der alte Geist im ETV noch lebt.« Der Eimsbütteler Turnverband von der Gründung bis in die Nachkriegszeit Im Herbst letzten Jahres beauftragte mich der ETV mit der Erstellung eines wissenschaftlichen Gutachtens zur Geschichte des Verbandes. Vorausgegangen war eine öffentliche Diskussion um die Vergangenheit des ETV, angestoßen durch die Recherchen Günther Jacobs und der Initiative gegen die Bebauung der Sparbierplätze. Was für mich als Bearbeitung einzelner Problemstellungen begann, wurde im Verlauf der Recherche zu einer Geschichte der politischen Mentalität des Verbandes von seiner Gründung 1889 bis in die Zeit unmittelbar nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges. Diese Geschichte umfassend darzulegen sprengt die Möglichkeiten eines Vortrags. Ich will mich deshalb darauf beschränken, in einem Exkurs zur Verbandsgründung und zwei anschließenden kurzen Kapiteln eine Julius Sparbier Schneise in die hier zur Debatte stehenden ersten 60 Jahre der ETV-Geschichte zu schlagen. Verbindendes Element dieser Ausschnitte sollen zwei Akteure sein, die den ETV in dieser Zeit maßgeblich prägten: Julius Sparbier und Robert Finn. Exkurs: Turnen und völkische Bewegung im Kaiserreich Die deutsche Turnbewegung war ursprünglich als Teil der liberalen Nationalbewegung am Beginn des 19. Jahrhunderts entstanden. Das Erstarken der nationalkonser vativen Kräfte, vor allem aber das »Erweckungserlebnis« der Reichsgründung 1871, ließ die deutschen Turner die Seiten wechseln: Sie ordneten liberales Gedankengut sukzessive dem Ziel eines deutschen Nationalstaates unter und ersetzten den Kampf gegen Feudalismus, Absolutismus und für einen deutschen Verfassungsstaat durch einen kritiklosen, affirmativen Reichsnationalismus und die bedingungslose Unterwerfung unter die politische Linie der Reichsführung. Gleichzeitig übernahmen die Turner deren Feindbild – die »vaterlandslosen Gesellen« der Sozialdemokratie, die sie in der Folgezeit bekämpften und aus ihren Reihen ausschlossen.1 Diese Entwicklung hatte ihre Wurzeln auch in der Turnbewegung selbst: Ihr Begründer, Friedrich Ludwig Jahn, hatte sich an reformpädagogischen Ansätzen orientiert, diese aber in seinem Konzept des »deutschen Turnens« stark deformiert: Neben die Individualerziehung trat die Nationalerziehung, die das Turnen zu einer »Propädeutik für Vaterlandverteidiger«2 machte. Zur körperlichen, vormilitärischen Ausbildung kam damit die »nationale Gesinnungsschule«,3 deren Leitidee ein mit militaristischen, völkischen und antisemitischen Anteilen versehener Nationalismus war. Diese Vorstellungswelt des beginnenden 19. Jahr- hunderts erhielt mit dem Aufkommen des politisch organisierten Antisemitismus ab den 1880er Jahren neue politische Sprengkraft. 1873 hatte eine handfeste Wirtschaftskrise die industrialisierten Staaten erfasst, die der bürgerliche Mittelstand als massive ökonomische und kulturelle Bedrohung empfand. Als Urheber dieser sogenannten »Gründerkrise« wurden, neben den tatsächlich verantwortlichen Banken und Spekulanten, die Juden ausgemacht. Die Folge war eine Welle von Parteigründungen, die ab den 1880er Jahren den Antisemitismus zu ihrem zentralen Programmpunkt machten – auch in Eimsbüttel, mit dessen Stimmen 1897 der erste Hamburger Vertreter einer Antisemitenpartei in die Hamburger Bürgerschaft gewählt wurde.4 Zwar verschwanden diese Parteien Robert Finn ETV-Magazin 4/10 | 9 DASS DER ALTE GEIST IM ET V NOCH LEBT in Ermangelung tragfähiger Politikkonzepte bis zum Ersten Weltkrieg wieder von der politischen Bühne, jedoch hatten sie den Judenhass salonfähig gemacht und in der Vorstellungswelt des Bürgertums etabliert. Zusätzlich gelang es ihnen, sich in mächtigen Interessensverbänden wie dem Alldeutschen Verband oder dem Deutschnationalen Handlungsgehilfenverband zu sammeln und so Einfluss auf die Politik zu nehmen. Diese Verbände waren, zusammen mit zahlreichen kleinen Vereinigungen und Vertretern rechtskonservativer Parteien, Exponenten einer unter der Bezeichnung »völkische Bewegung« zu subsummierenden Strömung innerhalb des deutschnationalen Bürgertums.5 Der Historiker Rainer Hering hat die Völkischen als »Gegen- und Suchbewegung« beschrieben, »charakterisiert durch Antisemitismus, Antislawismus, Antiromanismus, Antiurbanismus und Antiinternationalismus. Gesucht wurden angeblich ›durch jahrhundertelange Überfremdungsprozesse‹ verschüttete Wesens- und Charaktermerkmale der Deutschen und ihrer Kultur.«6 Grundlage dieser Denkart waren die als »wissenschaftlich« auftretenden Vorstellungen einer »Rassenlehre«, wie sie in den Schriften Arthur de Gobineaus,7 vor allem aber in Houston Stewart Chamberlains »Grundlagen des 19. Jahrhundert«8 massenhaft verbreitet und rezipiert wurden. Im Weltbild der Völkischen verband sich dabei das politische Konzept des Nationalstaates mit rassistischen Vorstellungen vom »Wesen der Völker« und insbesondere der »Deutschen«. Entscheidend für die Volkszugehörigkeit war in diesem Konzept nicht die Staatsbürgerschaft, sondern die Zugehörigkeit zum »Volkskörper«. Dieser definierte sich zum einen über die gemeinsame deutsche Sprache, zum anderen über eine als spezifisch »deutsch« imaginierte Kultur, vor allem aber über eine angenommene, gemeinsame »biologische Abstammung«. Die Definition der als »deutsch« anzusehenden Anteile ließ dabei den Ausschluss aller als »undeutsch« klassifizierten Gruppen zu: Der Sozialdemokraten, der ethnischen Minderheiten und der Juden. In diesem Klima der nationalistischen und völkischen Selbstmobilisierung gründete sich der ETV.9 Der alte Geist Der Eimsbütteler Turnverband war nach Auftreten und Selbstverständnis ein bürgerlicher Turnverein – die zur Verfügung stehenden Daten zur Sozialstruktur bestätigen dies: Unter den Mitgliedern stellten diejenigen mit kaufmännischen Berufen den weitaus größten Anteil, gefolgt von Handwerkern, Beamten, im Staatsdienst beschäftigten Angestellten und Lehrern. Mit einer Zahl von 1789 Mitgliedern im Gründungsjahr verfügte der Verband über eine personelle Basis, die durch ihre Mitgliedsbeiträge ein sicheres finanzielles Fundament schuf.10 Diese ökonomischen Erwägungen waren maßgeblich für die Verbandsgründung gewesen, denn 10 | ETV-Magazin 4/10 Ausgangspunkt für den Zusammenschluss der bestehenden Eimsbütteler Turnvereine zum Eimsbütteler Turnverband war ein gemeinsames Anliegen: Der Bau einer eigenen Turnhalle.11 für eine Turnhalle und auch die finanziellen Mittel […] zum Teil hergeben will, steht im auffallenden Gegensatz zum Verhalten des Staates zu den Arbeiterturnvereinen.«13 Damit war die politische Implikation ETV: Große Halle Bei seinen Bemühungen um einen Bauplatz und um die Finanzierung des Projektes konnte sich der Verein der Unterstützung der Hamburger Politik sicher sein: Einige seiner Mitglieder waren Abgeordnete der nationalkonservativ dominierten Hamburger Bürgerschaft und saßen auch in deren Finanzdeputation, die für das Bauprojekt das entscheidende Gremium war.12 Zusätzliche Hilfe kam von befreundeten Senatoren und zahlreichen Bürgervereinen. Derart gestärkt gelang es dem ETV, den Baugrund an der Ecke Bundesstraße/ Hohe Weide überaus günstig zu pachten und etwa die Hälfte der Bausumme durch großzügige Kredite der Stadt und der Hamburger Sparkasse zu decken. Die eigenen Pläne der Stadt, die die Errichtung einer Oberrealschule in der Nachbarschaft vorsahen und durch die doppelte Nutzung der Halle, als Turnstätte von Schule und Verein, den Bau eines eigenen Gebäudes einzusparen hoff te, taten ein übriges. In einer der mit dem Thema befassten Bürgerschaftssitzungen intervenierte der Redner der SPD-Fraktion: »Ich muß sagen, das erscheint mir doch wie ein Stück verkehrter Welt! Wenn der Staat für seine Oberrealschule eine Turnhalle braucht, […] warum gibt er dann den Platz und das Geld einem Privatverein und bedingt sich nur das Mitbenutzungsrecht aus? Da erscheint es mir doch logischer, wenn der Staat die Turnhalle nötig hat, daß er sie selbst baut und sie eventuell dem Eimsbütteler Turnverband zur Mitbenutzung zur Verfügung stellt.« Die Erklärung für diese Politik lieferte er indes mit: »Dieses Entgegenkommen, das hier dem Turnverbande staatsseitig gezeigt wird, indem der Staat den Platz klar benannt: Der ETV schuf sich nicht nur eine Stätte turnerischer Betätigung, sondern war, trotz seiner beständigen Selbstdarstellung als unpolitischer Verein, Exponent einer nationalpolitischen Erziehung. Deren Stoßrichtung war nicht nur antisozialdemokratisch und nationalistisch, sondern, wenigstens in Teilen, auch völkisch-rassistisch: Der Volksschullehrer Julius Sparbier, von 1905 bis 1911 erster ETV-Vorsitzender, feierte in seiner Rede zur Eröffnung der Halle im April 1910 den Neubau vor etwa 1500 Zuhörern als »Hort der Deutschheit« und Trutzburg gegen alles Fremde: »Aber man vergißt sehr oft, daß Hamburg auch die große Ausfallspforte Deutschlands ist, aus der schon seit Jahrhunderten deutsche Kraft und deutsche Art sich zum Segen der Menschheit ins Ausland ergießt. […] Wir Hamburger leben für den Fremden an erster Stelle des deutschen Bodens; da ist es doch unsere Pflicht, dafür Sorge zu tragen, daß in unsern Straßen ein Geschlecht wandelt, das dem Fremden auch schon physisch Achtung vor dem Deutschen Volke abnötigt. […] Auf die Dauer wird das Volk im Kampf sich am besten behaupten, das physisch am meisten zuzusetzen hat.«14 Dass es sich bei Sparbiers Rede keineswegs um servile Anbiederung im deutschnationalen Establishment mittels nationalistischer Rhetorik handelte, sondern um den Ausdruck völkischer Überzeugung, belegt der Blick in die ETV-Zeitung: 1901 rief Sparbier die ETVer zur Teilnahme am Knivsbergfest bei Appenrade auf, veranstaltet vom »Deutschen Verein für das nördliche Schleswig«, der sich die Bekämpfung des dänischen SVEN FRITZ Einflusses auf das deutsche Schleswig zum Ziel gesetzt hatte. Sparbier berichtete begeistert von der auf dem Knivsbergfest stattfindenden Einweihung eines monumentalen Bismarck-Denkmals, einem »Merkzeichen deutscher Größe an der Grenze unseres Volkstums; möge er hier für ewig allen Volksgenossen ein Mahnzeichen zu einmütigem, kräftigem Handeln sein.«15 Ein Jahr später, im November 1902, initiierte der ETV eine vereinsinterne Vortragsreihe mit Sparbier als Eröffnungsredner. Unter dem Titel »Inwiefern sind wir noch Jünger Jahns?« führte Sparbier aus, »wie die Gedanken, die Jahn hegte, die Ziele, die er seinem Volke steckte, sich vollständig decken mit den Betrachtungen, die der englische Schriftsteller H. St. Chamberlain über Volkstum und Volksgröße entwickelt.«16 In seinem kurz zuvor erschienenen Buch hatte Chamberlain, ausgehend von seinem Konzept der »Heiligkeit reiner Rasse«, das Begriffspaar von der kulturzerstörenden – jüdischen – und der kulturschöpfenden – arischen – Rasse entwickelt, das Hitler später übernehmen sollte.17 In seinem Vortrag machte Sparbier damit nichts anderes, als Jahns völkische Ideen des frühen 19. Jahrhunderts mit den modernen Vorstellungen der angeblich wissenschaftlichen Rassenlehre zu verbinden. Die Zuhörer dankten ihm dies mit »anhaltende[m] Beifall«.18 Die Beispiele zeigen: Im ETV waren völkisch-rassistische Vorstellungen seit der Jahrhundertwende virulent und wurden mit der Turnhalleneröffnung 1910 Teil der offiziellen Darstellung des Verbandes. Vor diesem Hintergrund ist auch die Gestaltung der Außenwand der ETV-Turnhalle zu sehen: Die ins Mauerwerk eingebrachten Turnerhakenkreuze dokumentierten die Annäherung des Vereins an die völkische Bewegung. Als die Turnhalle 1910 eröffnet wurde, war das Hakenkreuz in völkischen Kreisen bekannt und eindeutig rassistisch und antisemitisch aufgeladen.19 Dies dürften auch die Protagonisten des ETV gewusst haben, denn in den mit dem Hallenbau befassten Gremien wirkten ETVMitglieder und Förderer, die gleichzeitig in antisemitischen Agitationsverbänden wie dem Alldeutschen Verband und dem Deutschnationalen Handlungsgehilfenverband organisiert waren. Zudem lag die Verantwortung für den Gesamtverband von 1905 bis 1911, also in der Phase der Planung, Durchführung und Eröffnung des Baus, bei dem ersten Vorsitzenden Julius Sparbier, einem völkischen Turnintellektuellen, der auch selbst publizierte.20 Er gehörte zu den Gründungsmitgliedern des ETV, war Mitglied sämtlicher mit dem Projekt befasster Gremien und »geistiger Vater« des Hallenbaus.21 Sparbier prägte den Verband wie kein anderer und dürfte in den Augen seiner Turnkameraden zu einer Art »Turnvater Jahn des ETV« geworden sein . Mit der Anbringung der Hakenkreuze setzte der Vorstand unter seiner Führung ein politisches Signal. Dieser Befund wird durch die weiteren politischen Aktivitäten Sparbiers gestützt: Seit spätestens 1902 war er Mitglied im »Zentralausschuss zur Förderung der Volks- und Jugendspiele«, der neben einer dezidiert antisozialdemokratischen Jugendarbeit seinen Schwerpunkt auf die Wehrhaftmachung der männlichen Jugend legte und eng mit dem Militär zusammenarbeitete.22 Zudem war Sparbier die treibende Kraft hinter dem 1890 gegründeten Hamburger »Verein für Jugendspiel«, der sich stark an der Arbeit dieses Zentralausschusses orientierte.23 Schließlich bewirkte er den Beitritt des ETV zum »Hamburgischen Landesverband für Jugendpflege«, der eng mit dem Militär und dem Deutschnationalen Handlungsgehilfenverband verflochten war.24 Sparbier und mit ihm der ETV waren damit in ein Netzwerk von Verbänden eingebunden, die ein »nationalistisch-chauvinistische[s] Jugendpflegekonzept«25 verfolgten und die Jugend nachhaltig militarisierten. Ihre Blüte erreichten sie insbesondere in der Zeit des Ersten Weltkrieges: Der Hamburgische Jugendverband organisierte zusammen mit den Turnvereinen Jugendkompanien zur Vorbereitung der männlichen Jugendlichen für den Kriegsdienst. Auch der ETV war mit einer eigenen Kompanie beteiligt und Julius Sparbier organisierte im Auftrag des Verbandes Propagandavorträge für die Jugendlichen.26 Als 1914 der Krieg begann und hunderte ETVer zum Militär eingezogen wurden, äußerte er im Verbandsmagazin begeistert: »Unsere Eimsbütteler Turner waren auf dem Platze, als unser großes deutsches Vaterland sie in seiner schwersten Schicksalsstunde rief! Ein deutscher Turner bringt nicht nur den guten Willen, er bringt das Können mit! Mit Stolz dürfen wir es heute bekennen: Unser deutsches Turnen, unsere deutsche Turnerschaft, in ihr an seinem bescheidenen Platze unser Eimsbütteler Turnverband, haben nicht versagt. Wir halten die Treue, die wir gelobt!«27 Sparbiers Kriegsbegeisterung war ein weit verbreitetes Phänomen und der ETV bildete keine Ausnahme. Für seine Turner, das belegen zahlreiche Artikel im Verbandsblatt, war der Krieg die Bewährungsmöglichkeit, für die sie sich im Verein vorbereitet hatten. Wer zu Hause blieb, war Teil der Heimatfront und hatte die kämpfende Truppe nach Kräften zu unterstützen. Der Krieg wurde, mit Hilfe Gottes und einer schicksalhaften Geschichte, für die Vorherrschaft Deutschlands wenigstens in Mitteleuropa geführt; er einte das Volk hinter seinem Kaiser und nivellierte alle Gegensätze in dem Ziel eines bedingungslosen Siegfriedens.28 Angesichts dieser nationalen Allmachtsphantasien kam die Niederlage einem Sturz ins Bodenlose gleich: Der Traum von der deutschen Weltmacht war zerplatzt und die revolutionären, bürgerkriegsähnlichen Zustände schienen die schlimmsten Befürchtungen – einen kommunistischen Umsturz – wahr werden zu lassen. Auch nach der gewaltsamen Niederschlagung der Aufstände und dem Übergang in die Demokratie prägte das Gefühl der Bedrohung die Wahrnehmung der Republik. Deutschnationale und Völkische konservierten deshalb in der Folgezeit die Ideenwelt des Kaiserreiches, passten sie in Reaktion auf die zeitgenössischen Entwicklungen an, erweiterten und radikalisierten sie. Die negativen Bezugspunkte dieses Koordinatensystems waren: die »schmachvolle Niederlage« der »im Felde unbesiegten« Armee durch den »Verrat« der »Heimatfront«; die Revolution und mit ihr die beständige Angst vor einer »Bolschewisierung« Deutschlands; der Versailler »Schandvertrag« mit Kriegsschuldzuweisung, Reparationsforderungen und Gebietsabtretung; die wirtschaftlichen Krisen mit den Höhepunkten der Hyperinflation 1923 und der Weltwirtschaftskrise 1929; die Zersplitterung der Politik in »Parteiengezänk« statt »nationaler Sammlung«; die Bedrohung »deutscher Kultur« durch »Amerikanisierung« und Massenkultur; und schließlich die angebliche Verrohung und Desorientierung der Jugend durch »Schund und Schmutz«. Der ETV reagierte mit trotzigem Beharren auf der tradierten Weltsicht: Am 9. Februar 1919 veranstaltete der Verband eine Begrüßungsfeier für seine vom Militär zurückkehrenden Mitglieder. Diese sollten »an ihrem Ehrentage möglichst in Uniform« erscheinen, um durch turnerische Vorführungen, vaterländische Gesänge und eine Ansprache Adolf Jacobsens, ETV-Vorsitzender seit 1915, zu erleben, »daß der alte Geist im ETV noch lebt.«29 Seine Rede fasste das Verbandsblatt zusammen: »Noch stehe der deutsche Eichbaum, wenn er auch im vierjährigen Gewittersturm arg beschädigt sei, wenn auch in seinem Gezweig Aaskrähen sitzen und Ungeziefer und von Feinden gegossenes Gift sein Wurzelwerk zu zerstören drohte. Noch sei eine seiner Hauptwurzeln, die Deutsche Turnerschaft, gesund; Zu sorgen, daß sie es bleibe, sei unsere heilige Pflicht. […] Den alten Zielen der Deutschen Turnerschaft wollen wir treu bleiben. Gegen alles Undeutsche solle der Kampf sich richten.«30 Damit hatte Jacobsen den Kurs vorgegeben, den der ETV während der gesamten Zeit der Weimarer Republik unverändert halten sollte: Er verharrte am rechten Rand des deutschnationalen Milieus, unempfänglich für die Chancen einer politischen, gesellschaftlichen oder kulturellen Modernisierung und bot so einen Rückzugsort für all jene, die diesen Möglichkeiten indifferent bis ablehnend gegenüber standen. Sein geistiges Klima wurde dabei zunächst weiterhin durch die Generation der Vereinsgründer bestimmt. Diese kultivierten in der gemeinschaftlichen Erinnerung an die im Krieg getöteten ETV-Mitglieder eine militaristische und nationalistische Geschichts- und Gegenwartsbetrachtung: An den jährlich wiederkehrenden Gedenktagen stilisierten die Redner die deutschen ETV-Magazin 4/10 | 11 DASS DER ALTE GEIST IM ET V NOCH LEBT Soldaten zu Helden, die Sieger zu Feinden und den Tod der Verbandskameraden zur Verpflichtung, im »alten Geist« weiter zu wirken. Der 1920 eingeweihte Gedenkstein und die im September 1923 in der Turnhalle installierten Gedenktafeln erinnerten die Vereinsmitglieder daran, dass Turnen und Sport im ETV in einem nationalen Bezugsrahmen stattfanden, dass die körperliche Ertüchtigung Teil der Befreiung Deutschlands von den »inneren« und »äußeren« Feinden war – in der Gegenwart und in der Zukunft, wie Julius Sparbier 1920 deutlich machte: »Mit ehrfürchtigem Danke gedenke hier jeder deutsche Junge, jedes deutsche Mädchen, das jetzt oder in Zukunft, wie einst unsere Toten, hier zur Pforte eingeht, der ungeheuren Leistung unserer Brüder, zu deren Ehre der Denkstein hier in treuer Pflege weiter stehen wird von Jahrzehnt zu Jahrhunderten.«31 Auch rassistische Töne waren unüberhörbar, etwa in der Ansprache des 2. ETV-Vorsitzenden, Landrichter Dr. Georg Lenz, 1925: »Der Gedanke an unser Vaterland, wie es sich in unserer engeren Heimat darstellt, dennoch aber weit über ihre Grenzen hinaus alle diejenigen umfaßt, die deutschen Bluts und deutschen Geistes sind, steht über allen anderen Gedanken. […] Deutschland über alles!«32 Es blieb nicht bei Lippenbekenntnissen: Der ETV engagierte sich weiterhin in deutschnationalen Verbänden und rückte Mitte der 1920er öffentlich in die Nähe der rechtsradikalen Deutschnationalen Volkspartei und des Deutschnationalen Handlungsgehilfenverbandes.33 Zudem diffamierte die Fußballabteilung 1924 öffentlich einen ETVer, der den Verband wegen dessen rechter Gesinnung verlassen hatte.34 Adolf Jacobsen hatte es auf den Punkt gebracht – der »alte Geist« lebte weiter und wurde in den Elternhäusern, in den Schulen und in Sportvereinen wie dem ETV der nachwachsenden Generation mit auf den Weg gegeben. Die Jüngeren, die den Krieg als Kinder und Jugendliche erlebt und ihre Gegenwart als feindliche Umwelt wahrzunehmen gelernt hatten, nahmen ihn bereitwillig auf, gaben ihm neue Form und radikalisierten ihn. Robert Finn und das »Antlitz der deutschen Jugend« Bereits in der Zeit vor dem ersten Weltkrieg hatte sich in der sogenannten »Wandervogel-Bewegung« eine jugendliche Protestbewegung gebildet, die nach alternativen Lebenskonzepten suchte. In den 1920er Jahren erhielt diese Bewegung neuen Auftrieb: In selbst organisierten Bünden suchten die Jugendlichen Naturverbundenheit, pflegten das Ideengut der deutschen Romantik und die Gemeinschaft mit Gleichaltrigen. Gleichzeitig bezog diese Jugendbewegung einen Teil ihrer Energie aus antidemokratischen, antiurbanen und antiindustriellen Impulsen, aus einer »deutschtümelnden Sozialromantik«,35 aus der Ablehnung von Juden und von Mädchen, aus einem romantisierten 12 | ETV-Magazin 4/10 Führerkult und einem elitären Sendungsbewusstsein.36 heben sich zum Treueschwur. Das Deutschlandlied klingt machtvoll in die Nacht hinaus […] ›Deutschland, Hatte sich diese Entwicklung zunächst außerhalb der Turnbewegung vollzogen, so organisierten sich die Deutschland über alles und im Unglück nun erst recht.‹ jugendbewegten Turner in den 1920er Jahren als so- – Zurück zur Stadt. […] Am Abend fanden wohlgelungenannte »Turnerjugend« und trugen ihre Vorstel- gene Feiern ›Deutsches Volkstum in deutscher Kunst durch deutsche Jugend‹ in mehreren Sälen statt.«40 lungen in die Vereine.37 Im ETV gab dazu vor allem eine Gruppe um den jungen Kaufmann Robert Finn Die Nähe dieser politischen Inszenierung zu den Prakdie entscheidenden Impulse, die um 1920 damit be- tiken der Nationalsozialisten ist offenkundig – sie war gann, ein »rein deutsches Jugendleben«38 im ETV zu es auch für die Zeitgenossen: Viele Angehörige der etablieren. Finn und seine Mitstreiter begannen mit Turnerjugend vollzogen den Schritt und schlossen der Pflege von Wanderfahrten und Gemeinschafts- sich der NSDAP an.41 Im ETV geschah dies im Juli 1931, als die Landfahrer das NSDAP-Mitglied Karl Schacht zu abenden, initiierten eine jugendbewegte Zeitschrift ihrem Anführer wählten. Dass dies ein bewusster poliunter Finns Leitung und begannen mit dem Aufbau einer Jugendbibliothek, die offenbar bevorzugt zeitge- tischer Schritt war, dokumentierte die Gruppe im ETVnössische Romane antimoderner und germanophiler Blatt: »Die politische Entwicklung der letzten Jahre hat Ausrichtung aufnahm.39 In ihren Bestrebungen um die auch unsere Haltung beeinflußt und uns veranlaßt, Pflege deutscher Kultur und um die Entwicklung eigener unsere Gedanken über Ziel und Weg der Gruppe einOrganisationsformen erhielten sie prominente Unter- mal kritisch zu beleuchten. […] Ein anderer Führer mußte stützung: Julius Sparbier griff regelmäßig zugunsten naturgemäß ein anderes Ideengefüge in die Gruppe hineintragen und so zeitigte die Überprüfung unseres der Jungen in die unausweichlichen Konflikte mit der traditionsverhafteten älteren Generation ein. Aus dem Weges folgende Beschlüsse: Bekenntnis zum absovon Robert Finn angestoßenen ETV-Jugendleben ent- luten Führertum, Schaffung eines Arbeitskreises als wickelten sich die sogenannte Gruppe der Landfahrer, Mitarbeiterstab des Führers, Reinigung der Gruppe ein Volkstanzkreis sowie verschiedene jugendliche von Mitläufern und unzuverlässigen Elementen.«42 Wandergruppen innerhalb der Abteilungen. In ihren Unter Schachts Führung begann die Gruppe 1931 daPraktiken griffen die ETV-Jugendgruppen dabei von mit, den Wehrsport in ihr Programm aufzunehmen Beginn an auf völkische Rituale zurück: mystifizierte und die Ergebnisse des »Handgranatenweitwurfs« Sonnenwendfeiern, Umbenennung der julianischen stolz im Vereinsblatt zu publizieren.43 Im Sommer Monatsnamen nach pseudo-germanischen Bezeich- 1932 folgte die größte Männer-Turnabteilung dem nungen, »Julklapp« statt Weihnachtsfeier und Teilnah- Vorschlag Schachts und übernahm mit Beschluss ihrer me an deutschnationalen Massenveranstaltungen mit Hauptversammlung den Wehrsport ebenfalls in ihren martialischer Aufmachung. Eine solche war etwa der Übungsplan.44 Im ETV hatten sich damit die WortJugendtag des Norddeutschen Fußballverbandes 1924, führer der jungen Generation dem Nationalsozialismus über den das ETV-Magazin berichtete: Nach abend- zugewandt und begonnen, ihre politischen Vorstellichem Anmarsch im Fackelzug und in Sichtweite des lungen offen im Verband zu propagieren. Hermann-Denkmals im Teutoburger Wald »mahnt[e] In der Verbandsöffentlichkeit kam es zu keinen maßgeblichen Auseinandersetzungen, im Gegenteil: Die der Redner die Jugend mit packenden Worten zur hochgradig nazifizierten Jugendgruppen erhielten Einheit. ›Ein Volk, ein Wille, ein Weg ‹ und 7000 Hände SVEN FRITZ immer wieder Unterstützung von Sparbier und Finn: Letzterer verwies im April 1933 werbend auf die Landfahrer, in deren selbst veröffentlichter Zeitung »ein wertvolles Bild von 'Antlitz und Politik der deutschen Jugend – der heutigen Jugend«45 gezeichnet würde. Spätestens jetzt waren »alter Geist« und »junger Nationalsozialismus« offen sichtbar miteinander verwoben. Die Mitglieder und Sympathisanten der Nazi-Partei innerhalb des ETV hatten zu Beginn der 1930er Jahre allen Grund, selbstbewusst aufzutreten: Nach ihrem Wahlerfolg im September 1931 legte die NSDAP im April 1933 nochmal an Stimmen zu und wurde stärkste Fraktion der Hamburger Bürgerschaft. Die Ernennung Hitlers zum Reichskanzler am 30. Januar 1933 und der Sieg bei der Reichstagswahl am 5. März besiegelten den Machtwechsel. Am Abend des 5. März besetzten SA-Einheiten nach Schließung der Wahllokale das Rathaus, noch in der Nacht begann der Terror gegen die politischen Gegner; gestützt auf die nach dem Reichstagsbrand erlassene »Verordnung zum Schutz von Volk und Staat« wurden nach Massenverhatungen in den folgenden Wochen hunderte Regimegegner in den Konzentrationslagern Fuhlsbüttel und Wittmoor inhaftiert. Drei Tage nach der Wahl wurde am 8. März 1933 ein neuer, nationalsozialistischer Senat gewählt. Am 1. April 1933 trat der Terror gegen die Juden im reichsweit organisierten »Judenboykott« offen zutage und wurde am 7. April mit dem »Gesetz zur Wiederherstellung des Berufsbeamtentums« in eine erste Gesetzesform gegossen. Am 2. Mai folgte die Auflösung der Gewerkschaften, am 15. Mai die Bücherverbrennungen – in Eimsbüttel in direkter Nachbarschaft des ETV, am Kaiser-Friedrich-Ufer. Im Juni 1933 wurde die SPD verboten und mit der im Oktober erfolgenden Auflösung der Bürgerschaft war Hamburgs Politik schließlich »gleichgeschaltet«. Wie innerhalb des ETV auf die tagespolitischen Ereignisse im Januar und Februar reagiert wurde, lässt sich aus den Quellen nicht rekonstruieren. Nachdem sich die NSDAP im März 1933 endgültig als die bestimmende Macht im Staat erwiesen hatte, stellte sich das höchste Verbandsgremium, der Turnrat, offiziell hinter das neue Regime, indem er den Satzungszweck des Verbandes, »die Pflege vaterländischer Gesinnung, deutscher Art und deutschen Wesens« in eine Linie mit der nationalsozialistischen Politik stellte: »Die Bestrebungen der nationalen Regierung laufen auf die gleichen hohen Ziele hinaus. Es ist daher eine Selbstverständlichkeit und es bedarf jetzt keiner langen Erklärungen, daß wir in gleichem Sinne mit ihr, getreu unserem Grundgesetz […] weiterarbeiten werden für unser Vaterland, für Deutschland.«46 In seinem Jahresbericht bekräftigte der ETV-Vorstand in Person des 1. Vorsitzenden Hans Winkel und des Kassenwartes Julius Stahl die Zustimmung des Verbandes zum Nationalsozialismus: »Bei Abschluß des Berichts hat sich die große politische Umwälzung unseres Volkswesens bereits vollzogen. Ueberall regen sich junge Kräfte, erscheinen neue Gedanken, die alle auf das gleiche Ziel zustreben: Umbau aller deutschen Einrichtungen auf völkischer Grundlage. Von dieser Strömung ist auch bereits die deutsche Turn- und Sportbewegung erfaßt. Und damit auch unser Verein, der vor Entscheidungen gestellt ist, die zwangsläufig zu einer völligen Neugestaltung unserer Grundlage führen müssen.« Welche Entscheidungen damit gemeint waren, machte der Vorstand einen Monat später klar: »Nach einer Botschaft des Reichssportkommissars von Tschammer und Osten soll von jetzt an grundsätzlich der arische Mensch den deutschen Sport bestimmen und die neue Führung der DT verkündet, daß Juden als Führer in der deutschen Turnerschaft nicht tragbar sind […], und daß Marxisten […] auf keinen Fall in die Deutsche Turnerschaft gehören. Ueberall wird der Führergedanke in den Vordergrund gestellt. Nicht mehr der Mehrheitsbeschluß der Mitglieder, sondern allein der Wille des Führers soll entscheiden. […] Der Turnrat des ETV hat sich mit selbstverständlicher Einmütigkeit zum neuen Staat bekannt und sich vorbehaltlos zur Mitarbeit hinter seine Regierung und die führenden Männer gestellt. Bindende Beschlüsse für den Umbau des Vereins sollen erst gefaßt werden, wenn die zu erwartenden Richtlinien […] vorliegen.«47 Die anstehenden Entscheidungen drehten sich damit um die Frage des Ausschlusses von Juden, Sozialdemokraten und Kommunisten sowie um die Aufgabe demokratischer Vereinsstrukturen durch die Einführung des Führerprinzips. Die Reaktion des ETVVorstandes auf diese tiefgreifenden Veränderungen bestand im Abwarten von Richtlinien und der Ankündigung ihrer pflichtbewussten Ausführung. Mit diesen programmatischen Aussagen von Turnrat und Vorstand wenige Wochen nach der Machtübernahme war die politische Linie des Verbandes für die folgende Zeit vorgegeben. Im Juni 1933 nahm ein Ausschuss »zur Vorbereitung der evtl. Gleichschaltung des ETV und der damit zusammenhängenden Fragen« seine Arbeit auf.48 Neben dem ersten Vorsitzenden und Vertretern verschiedener Abteilungen gehörte ihm auch Robert Finn an, der zu diesem Zeitpunkt keine Funktion im Verband bekleidete, sich aber durch intensive Tätigkeit im ETV ausgezeichnet hatte und wohl wegen seines Sachverstandes in den Ausschuss geladen worden war – Finn war als Manager in der »Rhenania-Ossag«, dem deutschen Zweig des Erdölkonzerns »Royal Dutch Shell«, zur gleichen Zeit in die »Gleichschaltung« der Firma eingebunden und dürfte deshalb die größeren Kompetenzen im Umgang mit diesen neuen Formen gelenkter Politik gehabt haben.49 Zwar lässt sich nicht mehr rekonstruieren, worüber der ETV-Ausschuss im Einzelnen beriet. Das Ergebnis war jedoch die reibungslose Anpassung, wohl auch, weil Finn sich für eine widerspruchslose Einordnung in die neuen Strukturen ausgesprochen hatte.50 Am 28. Juni 1933 wählten die 120 anwesenden ETVMitglieder auf einer Hauptversammlung per Akklamation den bisherigen 1. Vorsitzenden Hans Winkel zum »Verbandsführer«. Die demokratischen Gremien des Verbandes, Turnrat und Hauptversammlung, verzichteten im Anschluss auf ihre satzungsgemäßen Rechte. Winkel ging sofort daran, die politische Zuverlässigkeit der ETV-Funktionäre zu überprüfen: »Als Führer des Vereins […] erwächst mir auch die Pflicht, darüber zu wachen, daß der ETV in allen seinen Abteilungen so geleitet wird, wie es die Richtlinien der neuen Regierung fordern. Es ist deshalb nötig, daß mir die Abteilungsführer bis zum 15. August ein genaues Verzeichnis der von ihnen berufenen Vorstandsmitglieder geben und zwar unter Anführung ihrer politischen Stellung und Parteizugehörigkeit.«51 Inwieweit die Überprüfung der Parteizugehörigkeit für einzelne Mitglieder Konsequenzen nach sich zog, ist aus den Quellen nicht rekonstruierbar. Offenbar gab es keine maßgeblichen Umbesetzungen, was angesichts der politischen Ausrichtung des Verbandes jedoch nicht überrascht. Im September wechselte die ETV-Spitze: 130 ETVMitglieder bestimmten den vom Turnrat nominierten Dr. Eduard Brose zu ihrem neuen Führer.52 Der promovierte Studienrat Brose war am 1. Mai 1933 der NSDAP beigetreten und bot damit auch formal die Gewähr einer NS-konformen Verbandsführung.53 Offenbar betätigte er sich nicht nur im ETV als linientreuer Nazi, sondern trug seine Überzeugung auch in seinen Beruf als Lehrer: Als Leiter eines Lagers der Kinderlandverschickung kontrollierte er in den 1940er Jahren persönlich die private Post von Eltern und Schülern, denunzierte unangepasste Jugendliche bei der Hitlerjugend und rechtfertigte deren Gewaltexzesse gegen auffällige Mitschüler.54 Sein Stellvertreter wurde bis 1945 Robert Finn, erfolgreicher Manager der Rhenania-Ossag, NSDAP-Mitglied seit 1940 und ab 1943 als Leiter der »Arbeitsgemeinschaft Schmierstoff verteilung« in einer zentralen Position in der deutschen Kriegswirtschaft tätig. 55 Als erster Vorsitzender sollte er von 1948 bis 1973 den ETV erneut nachhaltig prägen. Kurz vor Broses Wahl zum Vereinsführer hatte Adolf Jacobsen, der 1933 für einige Monate offenbar als Interims-Führer fungierte, im ETV den Hitlergruß in einer Turner-Variante eingeführt und dabei gleichzeitig die Begeisterung des ETV für das neue Regime zum Ausdruck gebracht: »Die nationale Erhebung ist auch den Mitgliedern des Eimsbütteler Turnverbandes ETV-Magazin 4/10 | 13 DASS DER ALTE GEIST IM ET V NOCH LEBT ein tief und froh empfundenes Erlebnis gewesen. Wir begrüßen es freudigst [sic!], daß die Ziele und der Inhalt unserer Arbeit: ›Deutschtum, körperliche und charakterliche Kraft, Ordnung und Gehorsam‹ durch den Führer der nationalsozialistischen Bewegung wieder zu Ehren gebracht worden sind […] Ich ordne daher, um unserer Übereinstimmung mit den Zielen der Regierung des neuen Deutschlands auch äußerlich Ausdruck zu geben, an, daß fortan der deutsche Gruß mit unserm Turnergruß derart verbunden wird, daß während des ›Gut Heil!‹-Rufs der rechte Arm ausgestreckt wird.«56 Turnfest Breslau 1938 Im September 1933 hatte die ETV-Spitze damit die organisatorische Selbstgleichschaltung des Vereins weitgehend abgeschlossen. Sie hatte den Verband auf das Führerprinzip umgestellt, die Funktionsträger in den Abteilungen einer politischen Prüfung unterzogen und nationalsozialistische Rituale eingeführt. Den nächsten Schritt, die Vertreibung der jüdischen Mitglieder, vollzog der Verein mit weniger öffentlichem Aufsehen. Anders als der Dachverband »Deutsche Turnerschaft«, der einen radikal antisemitischen Kurs einschlug und bereits Anfang April den Ausschluss der Juden aus seinen Reihen verfügte, vertrieb der ETV seine jüdischen Mitglieder offenbar nicht durch die Implementierung eines »Arierparagraphen« in die Satzung. Dies war auch nicht zwingend nötig, denn der Verein war bereits 1924 wegen sportlicher Differenzen aus der Deutschen Turnerschaft ausgetreten.57 Im Oktober 1933 schloss er sich dem Deutschen Fußballbund an, der bis dato Juden bereits aus leitenden Positionen ausgeschlossen hatte.58 Der ETV verfuhr ebenso: Der einzige bekannte jüdische ETV-Funktionär, der Leiter der Fechtabteilung John Heinemann, verlor seinen Posten bis zum Sommer 14 | ETV-Magazin 4/10 1934 und hatte, in den Worten Robert Finns 1964, ab diesem Jahr ein »hartes Schicksal als Emigrant« auf sich zu nehmen59. Heinemann verließ also 1934 den Verein und verschwand damit aus Finns Blickfeld. Auch gegen die anderen jüdischen Mitglieder scheint der ETV einzeln vorgegangen zu sein, indem er den Druck sukzessive erhöhte, ihnen den freiwilligen Austritt nahelegte oder ihre Mitgliedschaft aufkündigte. Im März 1935 stellte der Verein seine Arbeit schließlich per Satzungsänderung auf die Grundlage des »nationalsozialistischen Volksstaates«60, der in der nationalsozialistischen Ideologie alle »Rassefremden« ausschloss. Damit dürfte auch der ETV ab März 1935 »judenfrei« gewesen sein. Seit der Machtübernahme hatte sich der Verband reibungslos in die nationalsozialistischen Strukturen eingefügt und bei zahlreichen Gelegenheiten seine Übereinstimmung mit den politischen und ideologischen Vorgaben öffentlich dokumentiert. Die neuen Machthaber zeigten sich erkenntlich: Sie würdigten die Generation der Vereinsgründer. Bereits im Juli 1933 ehrte der Hamburger NS-Senat den völkischen spiritus rector des ETV, Julius Sparbier, zu seinem 65. Geburtstag durch die Umbenennung des Sportplatzes an der Bundesstraße zum »Julius-Sparbier Platz«.61 Im August des Jahres folgte der, von 1000 ETV-Mitgliedern gestaltete, »Julius-Sparbier-Tag«, dem der Ehrengast in Begleitung von NSDAP-Funktionären beiwohnte.62 Ebenfalls 1933 machte das Regime den 67-jährigen August Bosse, ehemaliger Volksschullehrer, Begründer der Eimsbütteler Fußballtradition und langjähriger Sportfunktionär im Norddeutschen Fußballverband, zu dessen Hamburger Bezirksführer.63 Der Bericht zu seiner Beerdigung 1935 offenbarte den Grund für diesen Aufstieg. Der NSDAP-Sektionsleiter führte in seiner August Bosse Trauerrede aus: »So, wie es August Bosse, den Kämpfer im Sport, zur Jugend getrieben habe, so habe er auch politisch zu der jungen Idee des Nationalsozialismus kommen müssen. Mit den Jungen habe er für das Dritte Reich gekämpft, und sein Vermächtnis sei, weiter zu kämpfen.«64 Der charismatische Sportfunktionär und im ETV jahrzehntelang als Fußballtrainer tätige Bosse hatte maßgeblich dazu beigetragen, »alten Geist« und »jungen« Nationalsozialismus zu amalgamieren und an die Jugend weiterzugeben. Seinen Erfolg belegt eine Mitteilung der Fußball-Abteilung, die in der Saison 1933/34 über den Ausfall zahlreicher Mannschaften klagte, deren »Spieler wegen Dienstes in der SA oder SS nicht antraten.«65 Die Nationalsozialisten dankten auch Bosse seinen Einsatz mit der Benennung eines Sportplatzes zum »August-Bosse-Platz«. Im Nachkriegs-Narrativ des ETV hatten Sparbiers und Bosses Funktionen als Wegbereiter und Parteigänger des Nationalsozialismus keinen Platz. Die Erinnerung an sie wurde entpolitisiert und auf ihre turnerischen und sportlichen Verdienste beschränkt. Auch andere Aspekte der NS-Zeit verschwanden hinter Chiffren: Die Vertreibung der Juden, ihre Flucht ins Exil oder ihre Deportation und Ermordung wurden als »schweres Emigrantenschicksal«, so Robert Finn 1964, getarnt. Die Kriegshetze im ETV-Blatt der Jahre 1940/41 wurde ausgeblendet und dagegen die Rolle als ausgebombte Opfer der »Kriegsfurie«,66 so Adolf Jacobsen 1954, in den Vordergrund gestellt. Eine ebensolche Chiffre war das Diktum der »Fremdarbeiter«67 in der Turnhalle des ETV. Auf sie soll im Folgenden kurz eingegangen werden. In der Forschungsliteratur war die Nutzung der großen ETV-Turnhalle als Lager für ausländische Arbeitskräfte bislang nur bruchstückhaft bekannt.68 Im Rahmen der Recherchen war es jedoch möglich, auf bisher unerschlossene Quellen zurückzugreifen und damit den Wissensstand erheblich zu erweitern. Es handelt sich um eine umfangreiche zeitgenössische Kartei, in der wahrscheinlich alle im Lager untergebrachten Menschen verzeichnet wurden.69 Für die finanzielle Unterstützung der Digitalisierung der Quelle möchte ich an dieser Stelle dem Freundeskreis der KZ Gedenkstätte Neuengamme herzlich danken. Außerdem danke ich meinem Kollegen Jens Geiger für seine ebenso schnelle wie gewissenhafte Hilfe. Bereits im September 1938 war die große Turnhalle des ETV dem Turnbetrieb entzogen und im Rahmen der Kriegsvorbereitungen als Lagerstätte für Getreide requiriert worden. Ab August 1940 änderte sich die Nutzung erneut: Aus der Halle wurde nun ein »Gemeinschaftslager« der »Deutschen Arbeitsfront«, in dem ausländische Arbeitskräfte untergebracht wurden.70 Die Deutsche Arbeitsfront hatte nach Kriegsbeginn tausende Lager gegründet, um die Versorgung der SVEN FRITZ Kriegswirtschaft mit Arbeitskräften sicherzustellen. Im Fall der ETV-Halle arbeiteten die Menschen offenbar vorrangig für die »Sonderbauleitung Unterelbe der Abteilung Rüstungsausbau im Reichsministerium für Bewaffnung und Munition« sowie für die mit Rüstungsbauten befasste »Organisation Todt«, die ihrerseits in das Rüstungsministerium eingegliedert war. Die Sonderbauleitung Unterelbe unterhielt in Hamburg neben der Bundesstraße noch mindestens drei weitere Lager, in denen auch Kriegsgefangene interniert waren. Die »Abteilung Rüstungsausbau« zeichnete beispielsweise für den Bau der Flakbunker auf dem Heiligengeistfeld verantwortlich. Nachdem die Halle im August und September 1940 durch die »Organisation Todt« für die Nutzung als Arbeitslager vorbereitet worden war, trafen im Dezember die ersten Insassen, italienische Zivilarbeiter, ein. Bis zum November 1943 – dem letzten Zeitpunkt, für den eine Lagernutzung nachweisbar ist – lebten hier insgesamt 2050 Menschen, ausschließlich Männer, aus 23 Nationen. Die größten Gruppen stellten Italiener, Holländer, Franzosen und Polen, gefolgt von Dänen, Spaniern, Belgiern, Tschechen und Slowaken, Litauern sowie Menschen aus der Sowjetunion. Ihre Lebensbedingungen dürften sich, wie in anderen Lagern auch, an der rassistischen Werteskala der NSIdeologie orientiert haben. Arbeiter aus befreundeten oder neutralen Staaten, etwa aus Italien, waren meistens freiwillig nach Deutschland gekommen und den deutschen Arbeitern zunächst weitgehend gleichgestellt. Auch die als »germanisch« eingestuften Arbeiter, z.B. die Dänen, erhielten meist eine gute Behandlung. Die Arbeiter aus den als »fremdvölkisch« angesehenen Ländern – etwa Franzosen und Belgier – waren dagegen schlechter gestellt. Die unterste Stufe bildeten Gedenktafel am ETV-Gebäude zur Erinnerung an die Zwangsarbeiterunterbringung in der Großen Halle. schließlich die als »slawische Untermenschen« stigmatisierten polnischen und sowjetischen Zwangsarbeiter. Sie waren ins Reich deportiert worden und praktisch rechtlos. Auch bei den Arbeitern aus West- und Nordeuropa kann allerdings nur bedingt von einem freiwilligen Einsatz ausgegangen werden, da ihre Herkunftsländer besetzt waren und festgelegte Kontingente an Arbeitskräften abzuliefern hatten. Zudem änderte sich der Status der Italiener, die mit der Kapitulation Italiens im September 1943 als »Verräter« galten und fortan zu den Zwangsarbeitern mit den schlechtesten Lebensbedingungen zählten. Die Zeiträume, die die Arbeiter in der ETV-Halle verbringen mussten, waren sehr unterschiedlich und reichten von wenigen Tagen bis zu eineinhalb Jahren. Für den größten Teil von ihnen war die Turnhalle nur eine Durchgangsstation, denn sie wurden von hier in zahlreiche Lager im Hamburger Stadtgebiet verlegt – Neugraben, Waltershof, Stellingen, Wandsbek, Billstedt, Niendorf, Veddel, Hummelsbüttel, Eilbek, Barmbek, Blankenese, Altona und St. Pauli waren weitere Stationen. Mindestens drei Menschen starben, während sie in der ETV-Halle untergebracht waren: Der Franzose Francois Autret starb am 14. Dezember 1942 im Krankenhaus Harburg. 1942/43 kam der Franzose Jean Marie Michel Saffray ums Leben, und am 24. März 1943 starb der Däne Paul William Bach. Möglicherweise gab es im Lager noch einen weiteren Toten, den Italiener Guido Fabro. Für ihn vermerkt eine Nachkriegs-Auflistung verstorbener Ausländer als Todestag den 26.8.1943 und als Todesort das »A[rbeits] L[ager] Bundesstr. 96«. Laut der neu erschlossenen Meldekartei hatte Fabro das Lager allerdings bereits im August 1941 verlassen. Es bleibt damit unklar, ob auch er während seiner Unterbringung in der ETV-Halle starb. Der kurze Aufriss der Geschichte des Lagers in der Bundesstraße macht deutlich: Hinter der Chiffre der »Fremdarbeiter« verschwanden im ETV die Ausbeutung und der Tod von Menschen aus ganz Europa durch die deutsche Kriegswirtschaft. Auch diese Chiffre wurde Teil einer Verbandsgeschichte, die nach Kriegsende systematisch abgespalten, umgedeutet, verleugnet und umgelogen wurde. Die derart gesäuberte Vergangenheit machte schließlich ein ungebrochen positives Nachkriegs-Narrativ möglich, für das Robert Finn und Adolf Jacobsen 1949 den Grundstein legten: Laut Finn hielt der ETV »das Gedenken an unsere Vorderen wach und pflanzte damit gute Vorsätze in die Brust der Wachen, Starken und Guten […] Vaterlandsliebe fand in ihm einen Hort.«71 Jacobsen ergänzte: »Möge die Jugend […] erkennen, daß nur durch Arbeit, Begeisterung, Opfer und Kampf das Erbe geschaffen werden konnte, das sie in Händen hat […] Jugend Eimsbüttels, wende den Blick zurück zu denen, die vor Dir waren und eifere ihnen nach! Die Alten unter den Mitgliedern Deines Vereins schauen auf Dich. Sie werden Dir helfen, soweit sie können.«72 Die Leitmotive der Nachkriegs-Geschichte des ETV lauteten demnach: Vaterlandsliebe, Traditionsbewusstsein, Arbeit, Begeisterung, Opferwille und Kampfgeist. Zum Kern der auf diese Weise neu erzählten Geschichte wurde damit all das, was vom »alten Geist« noch übrig war. Anmerkungen 1 Vgl. Dieter Düding, Von der Opposition zur Akklamation – Die Turnbewegung im 19. Jahrhundert als politische Bewegung, in: Irene Diekmann/Joachim H. Teichler (Hg.), Körper, Kultur und Ideologie. Sport und Zeitgeist im 19. und 20. Jahrhundert, Bodenheim bei Mainz 1997, S. 79–97. Hans-Georg John, Politik und Turnen. Die Deutsche Turnerschaft als nationale Bewegung im deutschen Kaiserreich von 1871–1914, Ahrensburg 1976. Dieter Langewiesche, »Für Volk und Vaterland kräftig zu würken…« Zur politischen und gesellschaftlichen Rolle der Turner zwischen 1811 und 1871, in: Dieter Langewiesche (Hg.), Nation, Nationalismus, Nationalstaat in Deutschland und Europa, München 2000, S. 103–131. ETV-Magazin 4/10 | 15 DASS DER ALTE GEIST IM ET V NOCH LEBT 2 Düding, Opposition, S. 82. 3 Ebd. 4 Beate Meyer, »Goldfasane« und »Nazissen«. Die NSDAP im ehemals »roten« Stadtteil Hamburg Eimsbüttel, Hamburg 2002, S. 23. Daniela Kasischke-Wurm, Antisemitismus im Spiegel der Hamburger Presse während des Kaiserreichs 1884–1914, Hamburg 1997, S. 368. Kurt-Gerhard Riquarts, Antisemitismus als politische Partei in Schleswig-Holstein und Hamburg 1871–1914, Kiel 1975, S. 278 ff. 5 Zum Alldeutschen Verband vgl.: Rainer Hering, Konstruierte Nation. Der Alldeutsche Verband 1890 bis 1939, Hamburg 2003. Zum Deutschnationalen Handlungsgehilfenverband vgl.: Iris Hamel, Völkischer Verband und nationale Gewerkschaft. Der Deutschnationale Handlungsgehilfen-Verband 1893–1933, Frankfurt am Main 1967. 6 Hering, Konstruierte Nation, S. 15. 7 Arthur de Gobineau, Versuch über die Ungleichheit der Menschenrassen, 4 Bände, Stuttgart 1922 [zuerst 1853]. 8 Houston Stewart Chamberlain, Die Grundlagen des Neunzehnten Jahrhunderts, 2. Bände, München 1900. 9 Gangolf Hübinger, Sakralisierung der Nation und Formen des Nationalismus im deutschen Protestantismus, in: Gerd Krumeich/ Hartmut Lehmann (Hg.), »Gott mit uns«. Nation, Religion und Gewalt im 19. und frühen 20. Jahrhundert, Göttingen 2000, S. 233–248, hier: 235. Zur völkischen Bewegung vgl.: Stefan Breuer, Die Völkischen in Deutschland. Kaiserreich und Weimarer Republik, Darmstadt 2008. Julia Schmid, Kampf um das Deutschtum. Radikaler Nationalismus in Österreich und dem Deutschen Reich 1890–1914, Frankfurt, New York 2009. Peter Walkenhorst, Nation-Volk-Rasse. Radikaler Nationalismus im Deutschen Kaiserreich 1890-1914, Göttingen 2007. 10 Mitglieder-Verzeichnis der Männer-Abteilungen und der AltherrenAbteilung des Eimsbütteler Turnverbandes, in: Archiv des ETV (AETV), Vereinsnachrichten (VN), Dezember 1905. Vereinsbericht für die Zeit vom 1. Januar 1907 bis 31. März 1908, S. 4. Die Vereinsberichte 1902–1908 sind angebunden an die zu einem Band zusammengefügten Jahrgänge der Vereinsnachrichten, Band 1901–1907. AETV, VN, Band 1901–1907. 11 Julius Sparbier, Vorgeschichte des Eimsbütteler Turnhallenbaues. Denkschrift zur Grundsteinlegung der neuen Turnhalle des Eimsbütteler Turnverbandes e.V., 10. Juli 1909, Hamburg 1909, S. 3. 12 So war etwa der Rechtsanwalt David Wolfhagen Mitglied im völkischen und antisemitischen Alldeutschen Verband, ETV-Mitglied seit Mai 1896 und Vorsitzender des Finanzausschusses der ETVBaukommission. Zum Alldeutschen Verband: Hering, Konstruierte Nation, S. 288. Zur ETV-Mitgliedschaft: Ehrentafel, AETV, Der Eimsbütteler, Juni 1936, S. 85. 13 37. Sitzung der Bürgerschaft, 6. 11. 1907, in: Stenographische Berichte über die Sitzungen der Bürgerschaft zu Hamburg im Jahre 1907 (Sitzung 1 bis 42), Hamburg 1908, S. 955. 14 Die Einweihung unserer Halle, AETV, VN, Mai 1910, S. 9. 15 Knivsbergfest, AETV, VN, September 1901, S. 16. 16 Bericht über den ersten Vortragsabend des Verbandes, AETV, VN, Januar 1903, S. 4. 17 Vgl. Chamberlain, Grundlagen. 18 Bericht über den ersten Vortragsabend des Verbandes, AETV, VN, Januar 1903, S. 4. 19 Hajo Bernett, Turnerkreuz und Hakenkreuz – Zur Geschichte politischer Symbolik, in: Spectrum der Sportwissenschaft, 4 (1992), Heft 1, S. 14-35. 20 Vgl. etwa: Julius Sparbier, Deutsche Turn- und Kampfspiele. Ihr Wesen, ihr Betrieb, ihr Werden. Nebst einer Darstellung der Vorübungen und vorbereitenden Spiele im Schul- und Vereinsbetrieb (Handbuch der Leibesübungen, herausgegeben im Auftrage der Deutschen Hochschule für Leibesübungen, 2. Band), Berlin 1923. Julius Sparbier, Der deutsche Turnwart. Ein Hilfs- Trost- und Mahnspruch für deutsche Turnwarte und Turnlehrer, Dresden 1926. Julius Sparbier, Bau von sportlichen Übungsstätten, in: Heinrich Hasperg, Ein Jahrhundert Sport in Hamburg, Hamburg 1932, S. 152–158. 21 Eimsbütteler Turnverband (Hg.), 50 Jahre Eimsbütteler Turnverband 1889–1939, Hamburg 1939, S. 106. 22 Ralf Schäfer, Der Zentralausschuss für Volks- und Jugendspiele und seine Stellung in der deutschen Sportgeschichte, in: Michael Krüger (Hg.), »Mens sana in corpore sano«. Gymnastik,Turnen, Spiel und Sport als Gegenstand der Bildungspolitik vom 18. bis zum 21. Jahrhundert. Jahrestagung der dvs-Sektion Sportgeschichte vom 7.–8. Juni 2007 in Frankfurt am Main, Hamburg 2008, S. 41–55. 16 | ETV-Magazin 4/10 Zu Sparbiers Rolle im Zentralausschuss und der Anbindung des ETV an den Ausschuss: AETV, VN, September 1902, S. 57; VN, September 1908, S. 32; VN, November 1908, S. 46. 23 Wolfgang Meyer, Geschichte des Turnwesens im Gau Nordmark der deutschen Turnerschaft, 2 Bände, Hamburg 1936 und 1938, hier: Band 2, S. 60. Auch: AETV, Der Eimsbütteler, Januar 1929, S. 1 ff. 24 Uwe Uhlendorff, Geschichte des Jugendamts. Entwicklungslinien der öffentlichen Jugendhilfe 1871-1929, Weinheim, Basel, Berlin 2003, S. 257 ff. Zur Mitgliedschaft des ETV: Hamburgischer Landesverband für Jugendpflege an den Eimsbütteler Turnverein, 12. 12. 1912, StAHH, 614-1/18, Nr. 27 Bd. 3. 25 Uhlendorff, Jugendamt, S. 261. 26 Zu Sparbiers Tätigkeit: Hauptgeschäftsstelle der militärischen Vorbereitung der Jugend im Staatsgebiet Hamburg an die Bezirksleiter der Jugendkompagnien, 10.12.1914, StAHH 614-1/18, Nr. 28, Bd. 1. 27 Zum Geleite, AETV, VN, November 1914, S. 44. Jahresbericht, AETV, VN, März 1916, S. 3. Jahresbericht, AETV, VN, August 1918, S. 9. 28 Unser Volk und der Krieg, AETV, VN, November 1914, S. 45. 29 Anzeige für die Begrüßungsfeier, AETV, VN, Januar 1919, S. 23. 30 Ebd. 31 Festrede zur Weihe des Gedenksteins für unsere Gefallenen, AETV, VN, September 1920, S. 32 f. 32 Ansprache am Gedenkstein für unsere Gefallenen, AETV, Der Eimsbütteler, Oktober 1925, S. 119–120, hier: S. 120. 33 Dies belegen etwa die Werbeanzeigen des Handlungsgehilfenverbandes in: AETV, Der Eimsbütteler, Februar 1926, S. 179 und April 1926, S. 15. Hinzu traten Anzeigen der dem Verband angeschlossenen Deutschnationalen Krankenkasse in: AETV, Der Eimsbütteler, April 1925, S. 16; Dezember 1925, S. 156; Januar 1926, S. 168; März 1926, S. 192. Außerdem machte der ETV Werbung für die DNVP in: Anzeige der DNVP, AETV, Sportzeitung, 15.11.1924, S. 24. 34 AETV, Sportzeitung, 15.12.1924, S. 19. 35 Hans-Ulrich Wehler, Das Deutsche Kaiserreich 1871–1918, in: Reinhard Rürup/Hans-Ulrich Wehler/Gerhard Schulz (Hg.), Deutsche Geschichte, Band 3: 19. Und 20. Jahrhundert 1815–1945, Göttingen 1985, S. 203–404, hier: S. 306. 36 Ebd. 37 Zur Turnerjugend vgl.: Jürgen Dieckert, Die Turnerjugendbewegung. Ein Beitrag zur Erziehungsgeschichte der außerschulischen Jugenderziehung während der Weimarer Republik, Schorndorf 1968. 38 Jugendbewegung, Bericht über die Jahre 1922/24, AETV, VN, Februar 1924, S. 9. 39 Bücherei für unsere Jugend, AETV, VN, März 1920, S. 10. 40 Der Jugendtag in Detmold, 4. bis 6. Oktober, AETV, VN, November 1924, S. 99. 41 Dieckert, Turnerjugendbewegung, S. 133. 42 Jahresbericht 1931/32, Der Eimsbütteler, Juni 1932, S. 3–10, hier: S. 10, STAHH, Z 509/0115. 43 Die Landfahrer, Der Eimsbütteler, November 1931, S. 2, StAHH, Z 509/0115. 44 Wehr-Sport, AETV, Der Eimsbütteler, Juli 1932, S. 3. 45 Sie sollen daran nicht vorübergehen, AETV, Der Eimsbütteler, März 1933, S. 5. 46 Aus den April-Turnratssitzungen, Der Eimsbütteler, Mai 1933, S. 3, StAHH, Z 509/0115. 47 Vorstand des ETV, AETV, Der Eimsbütteler, Juni 1933, S. 5. 48 Aus der Juni-Turnratssitzung, AETV, Der Eimsbütteler, Juli 1933, S. 5. 49 Zu Finns Tätigkeit als Manager der Royal Dutch Shell vgl.: Internetpräsenz der »Initiative gegen die Bebauung des Sparbier-Sportplatzes«, http://keindiakonieklinikum.blogger.de, letzter Zugriff 12.9.2010. 50 Armin Finn, Der Mann der arbeitete und schwieg. Wer war Robert Finn, unveröffentlichtes Manuskript, unpaginiert, verfasst im März 2010, Privatbesitz Armin Finn. Armin Finn stellte mir das Manuskript freundlicherweise zur Verfügung. 51 Der Führer des ETV, AETV, Der Eimsbütteler, August 1933, S. 1. 52 Bekanntmachung des Führers, AETV, Der Eimsbütteler, Oktober 1933, S. 3. 53 NSDAP-Mitgliederkartei (Ort), BA (ehem. BDC), 3200, Film C0035, Eduard Brose, 24.5.1895. 54 Dies geht aus verschiedenen Schreiben hervor, die Brose aus Gößweinstein an Dienststellen der HJ schickte und mit »Lagerleiter« zeichnete. Vgl. Brose an die Inspektion HJ der Dienststelle KLV, 12.4.1943; KLV-Schulinspektor Sarhage an Brose, 6. 1. 1944; Brose an Sahrhage, 12.1.1944; alle in: StAHH, 362-2/8, Nr. 181. 55 Arbeitsgemeinschaft Schmierstoff-Verteilung (ASV), in: Öl und Kohle, 39 (1943), S. 588. Armin Finn, Wer war Robert Finn, Blatt 4 Erklärung Robert Finns, 8.12.1946, Entnazifizierungsverfahren Robert Finn, StAHH, 221-11, J (0) 11. Vgl. auch: Ulrich Prehn, Zur Geschichte des Eimsbütteler Turnverbandes (ETV) in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts sowie zur Rolle Robert Finns im Verein und in der deutschen Vorkriegs- und Kriegswirtschaft (SchmierstoffIndustrie), unveröffentlichtes Gutachten im Besitz des ETV, Hamburg 2007. 56 Bekanntmachung des Führers, AETV, Der Eimsbütteler, Oktober 1933, S. 3. 57 Warum sich der ETV dem Deutschen Fußball-Bund angeschlossen hat, AETV, Der Eimsbütteler, Dezember 1933, S. 1 f. 58 Ebd. Vgl. auch: Nils Havemann, Fußball unterm Hakenkreuz. Der DFB zwischen Sport, Politik und Kommerz, Frankfurt, New York 2005, S. 158. 59 Nachruf für John Heinemann, AETV, Der Eimsbütteler, Januar 1968, S. 3–4, hier: S. 4. 60 Abdruck der ETV-Satzung, AETV, Der Eimsbütteler, Juli 1935, S. 9–10, hier: S. 9. 61 Der Staat ehrt Julius Sparbier, AETV, Der Eimsbütteler, August 1933, S. 2–4, hier: S. 2. 62 Julius Sparbier-Tag, Hamburger Tageblatt, 28. August 1933. 63 Der Bezirkstag in Hamburg: Der Vorstand unter nationalsozialistischer Leitung, HamburgerTageblatt, 4. Mai 1933. Aussprache des Bezirks-Führers mit den prominenten Vereinsführern Groß-Hamburgs, Hanseatische Sport-Zeitung, 12. September 1933. 64 August Bosses letzter Gang: Wir trugen einen Kämpfer zu Grabe, Hamburger Tageblatt, 25. Januar 1935. Vgl. auch: August Bosses letzter Weg, Hamburger Fremdenblatt, 25. Januar 1935. 65 Bericht der Fußball-Abteilung im ETV, AETV, Der Eimsbütteler, Juli 1934, S. 112–113, hier: S. 113. 66 Ein stolzer Tag, AETV, Der Eimsbütteler, Januar 1954, S. 1. 67 Eimsbütteler Turnverband (Hg.), 75 Jahre Eimsbütteler Turnverband e.V. Hamburg 1889–1964, Hamburg 1964, S. 13. Adolf Jacobsen schrieb darin: »So stand das Vereinsleben wieder in schöner Blüte, als der 2. Weltkrieg sich ankündigte. Schon vor Ausbruch des Krieges wurde unsere große Halle beschlagnahmt, anfangs, um Gerste zu lagern, später, um in ihr Fremdarbeiter unterzubringen. Zum Glück hat unser Gebäude zwei Hallen, so daß das Turnen nicht ganz stillgelegt zu werden brauchte. Daß der Betrieb in allen Abteilungen sehr zurückging, bedarf keiner Betonung.« 68 Vgl. Friederike Littmann, Ausländische Zwangsarbeiter in der Hamburger Kriegswirtschaft 1939–1945, München 2006. Das Lager in der Bundesstraße 96 ist in der zu Littmanns Monographie gehörenden Datenbank dokumentiert: Bundeszentrale für politische Bildung u.a. (Hg.), Zwangsarbeit in der Hamburger Kriegswirtschaft 1939–1945. Wegweiser zu Lagerstandorten und Einsatzstätten ausländischer Zwangsarbeitskräfte basierend auf einer Datenbank von Friederike Littmann (CD-ROM), Hamburg 2007. Die Datenbank ist mittlerweile auch im Internet verfügbar: www.zwangsarbeit-in-hamburg.de, letzter Zugriff 14.9.2010. Littmanns Ergebnisse wurden erweitert durch: Prehn, Geschichte des ETV, S. 23–25. 79 Es handelt sich um die sog. »Hausmeldekartei«, in der sämtliche Bewohner eines Hauses vermerkt wurden. Die Hamburger Behörden führten die Bundesstraße 96 als Wohnhaus, denn in dem Gebäude befanden sich auch zwei Privatwohnungen; in einer von ihnen lebte der ehemalige Turnlehrer des ETV. Auch die Turnhalle wurde offenbar als Wohngebäude in die Kartei aufgenommen. Damit gelangten alle dort untergebrachten Arbeiter als Hausbewohner in die Kartei. Hausmeldekartei, StAHH, 332-8, A51/1, verfilmte Hauskartei 1939–1968 im Bestand 741-4, Fotoarchiv K 2441L. 70 Für die folgenden Angaben zum Lager in der Bundesstraße 96 vgl.: Sven Fritz, »… daß der alte Geist im ETV noch lebt. Der Eimsbütteler Turnverband von der Gründung bis in die Nachkriegszeit, Hamburg 2010, S. 142–147. 71 Robert Finn, Zum Geleit!, AETV, Der Eimsbütteler, Mai 1949, S. 2. 72 Adolf Jacobsen, Rückblick, Eimsbütteler Turnverband (Hg.), Festschrift zum sechzigjährigen Bestehen des Eimsbütteler Turnverbandes e.V. 1889–1949, Hamburg 1949, S. 7 und S. 17. Jürgen Sielemann Nachforschungen über die Verfolgung jüdischer ETV-Mitglieder in der NS-Zeit Im vergangenen Jahr wandte sich der Vorstand des Eimsbütteler Turnverbands an die Hamburger Gesellschaft für jüdische Genealogie, um Auskunft über Vereinsmitglieder zu erhalten, die in der Zeit des nationalsozialistischen Regimes als Juden verfolgt wurden. Als Vorsitzender der Hamburger Gesellschaft für jüdische Genealogie habe ich dieses Anliegen gern unterstützt. Die Möglichkeiten, Schwierigkeiten und Grenzen solcher Nachforschungen waren mir sehr bewusst, denn ähnliche Ermittlungen hatten vor meiner 2007 erfolgten Pensionierung jahrzehntelang zu meinen Aufgaben als Referent des Staatsarchivs für das Archivgut und die Geschichte der Juden in Hamburg gehört. Dazu zählte auch die Bearbeitung des 1995 vom Staatsarchiv veröffentlichten Gedenkbuchs »Hamburger jüdische Opfer des Nationalsozialismus«. Im Folgenden möchte ich zunächst auf die ETV-eigenen Archivquellen eingehen, danach den Gang der Recherchen an einem Beispiel demonstrieren und anschließend von den bis dato festgestellten jüdischen Vereinsmitgliedern des ETV sprechen. Im März 2010 gab der ETV-Vorstand in einer Presseinformation den damaligen Stand der Nachforschungen bekannt: »Die Recherche der Namen dieser ehemaligen jüdischen Mitglieder, die es ganz sicher gegeben hat, gestaltet sich recht schwierig, denn systematische Mitgliederlisten für die entsprechende Zeit gibt es – wenn überhaupt – nur noch zufällig. Eine Mitgliederkartei dieser Zeit liegt nicht mehr vor. Inzwischen haben einige interessierte Vereinsmitglieder im Vereinsregister und im Vereinsarchiv recherchiert und sind auf Wettkampflisten, auf Listen neu eingetretener Mitglieder, auf Mannschaftslisten etc. gestoßen.« Für meine Nachforschungen stellte mir der ETV 177 Fotokopien mit datierten und undatierten Namenlisten zur Verfügung. Die datierten Namenlisten stammen aus den Vereinszeitschriften der Jahre 1905 bis 1910, 1914 bis 1916, 1919, 1926 und 1933 bis 1936. Insgesamt sind darin die Namen von 902 Mitgliedern dokumentiert, davon 582 in der Zeit vor dem Ersten Weltkrieg. Ein komplettes Mitgliederverzeichnis der männlichen Mitglieder des Eimsbütteler Turnverbandes ist nur von 1905 vorhanden, ein Gesamtverzeichnis der weiblichen Mitglieder fehlt ganz. Wir müssen deshalb leider feststellen, dass die Namen der Vereinsmitglieder nur sehr unvollständig überliefert sind. Hinzu kommt, dass Identifikationsmerkmale Um den Gang der Recherchen an einem Beispiel zu demonstrieren, wenden wir uns einem Mitglied zu, das im Mitgliedsverzeichnis von 1905 wie folgt verzeichnet ist: S. Kleve, Hausmakler, Feldstr. 49, II., Mitglied der Männerabteilung Binderstraße. 1909 wurde S. Kleve in der Vereinszeitschrift als 1. Vorsitzender des Verbandsfestausschusses und 1916 als Soldat in Serbien genannt. In der Meldekartei der vor 1926 aus Hamburg verzogenen bzw. verstorbenen Einwohner ist eine Karteikarte von Saly Kleve enthalten. wie die Wohnadressen und Berufe in vielen Fällen fehlen. Geburtsdaten und -orte finden sich an keiner Stelle. Als Grund für die Vernichtung der Mitgliederkarteien und anderer Unterlagen aus der NS-Zeit wird eine systematische »Säuberung« des Vereinsarchivs vermutet. Unter den 902 überlieferten Namen von Mitgliedern fand ich 54, die für eine weitere Prüfung in Betracht kamen, weil ich ihre Familiennamen aus den Mitgliederkarteien der Jüdischen Gemeinde, aus dem Gedenkbuch für die Hamburger jüdischen Opfer des Nationalsozialismus und aus anderen Quellen kannte. 22 dieser 54 Mitglieder ließen sich eindeutig identifizieren. Dem ersten Anschein nach könnte er mit dem ETVMitglied S. Kleve identisch sein, zumal sein Beruf (Hausmakler) und seine Adresse (Feldstraße 49, II.) mit den Angaben in der Vereinszeitschrift übereinstimmen. Allerdings wurde Saly Kleve bereits 1843 geboren und starb 1913, so dass seine Identität mit dem in der Vereinszeitschrift von 1916 als Soldat in Serben genannten S. Kleve auszuschließen ist. Sämtliche Angaben in der Vereinszeitschrift treffen aber auf Saly Kleves Sohn Siegfried zu. Dieser wurde 1879 in Altona geboren, war bis 1911 bei seinem Vater in der Feldstraße 49 gemeldet und, wie die Kultussteuerkartei der Deutsch-Israelitischen Gemeinde in Hamburg zeigt, ebenfalls Hausmakler von Beruf. Aus dieser Kartei geht hervor, dass Siegfried Kleve und seine Ehefrau Erna geb. Lasch am 11. Juni 1942 aus Hamburg deportiert wurden. Dem Gedenkbuch »Hamburger Jüdische Opfer des Nationalsozialismus« ETV-Magazin 4/10 | 17 VERFOLGUNG JÜDISCHER ETVMITGLIEDER ist zu entnehmen, dass Siegfried Kleve 1941 in das KZ Fuhlsbüttel gebracht wurde und am 11. Juni 1942 mit seiner Frau nach Auschwitz in den Tod geschickt wurde. In Hamburg hatten beide zuletzt in qualvoller Enge in der Bogenstraße 27 wohnen müssen. Das Gebäude war von der Gestapo zum »Judenhaus« erklärt worden und diente der Unterbringung zahlreicher Familien auf engstem Raum. Vor dem Eingang erinnert heute ein »Stolperstein« an Siegfried Kleve. Seine Schwägerin Edith Lasch hinterlegte zu seinem Gedächtnis dieses Dokument in der israelischen Gedenk stätte Yad Vashem. Das 1905 gedruckte Verzeichnis der Damenabteilung Tornquiststraße führt drei Träger des Familiennamens Blankenstein mit der Adresse Schäferkampsallee 37 auf: B., E. und G. Blankenstein. Sie sind eindeutig als Schwestern zu identifizieren. Bertha Blankenstein, geb. 8.11.1876 in Dortmund, wurde am 25.10.1941 aus 18 | ETV-Magazin 4/10 Hamburg nach Lodz deportiert und ermordet. Das Gleiche hat ihre Schwester Edith Blankenstein erlitten. Sie wurde am 15.5.1883 in Hamburg geboren und war Volksschullehrerin von Beruf. Gertrud Betty Blankenstein, geb. 8.1.1888 in Hamburg, war mit einem nicht jüdischen Musiklehrer namens Anton Penkert verheiratet. Am 9.4.1943 wurde sie verhaftet, in das KZ Fuhlsbüttel und im Herbst 1943 zur Ermordung nach Auschwitz gebracht. Als ihr Todestag in Auschwitz ist der 1.12.1943 dokumentiert. Für Bertha und Edith Blankenstein wurden »Stolpersteine« vor dem Haus Abendrothsweg 23 verlegt. Das Mitgliederverzeichnis der Männerabteilung Binderstraße des ETV von 1905 nennt einen Kaufmann namens S. Cohen mit der Adresse Parkallee 4, 1. Stock. Aufgrund der Adressenangabe konnte dessen Identität mit Siegmund Veit Cohen, geb. 1.11.1880 in Hamburg, festgestellt werden. Siegmund Veit Cohen, Handelsvertreter in einer Textilfirma, starb am 29.3.1940 in Hamburg an einem Lungenleiden. Seine Witwe Erna geb. Behrens, geb. 17.2.1885 in Hamburg, wurde am 25.10.1941 aus Hamburg nach Lodz deportiert und dort am 20.4.1942 ermordet. Gerda, Lisa und Franz, die drei Kinder des Ehepaars, konnten Deutschland vor dem Beginn des Krieges verlassen. Als Mitglied der Damenabteilung ist in der Vereinszeitschrift von 1905 »O. Delbanco, Heinrich-Barth-Straße 8, parterre« verzeichnet. Die Angabe ihrer Adresse ermöglicht die Identifizierung. Es handelte sich um die Lehrerin Olga Delbanco, geb. am 24.2.1876 in Hamburg. Sie wurde am 18.11.1941 aus Hamburg nach Minsk deportiert und ermordet. Vor dem Haus Haynstraße 10 erinnert ein »Stolperstein« an sie. Unter den 1919 in den ETV eingetretenen Mitgliedern ist der Kaufmann Daniel Dublon, Dammthorstraße 6, in der Vereinszeitschrift aufgeführt. Daniel Dublon, geb. 27.8.1883 in Hamburg, wurde am 19.7.1942 aus Hamburg nach Theresienstadt deportiert und hat überlebt. Die Vereinszeitschrift von 1905 nennt als Mitglieder der Männerabteilung Binderstraße die Kaufleute »M. und Rud. Glückstadt, Heinrich-Barth-Straße 11« und einen Kaufmann »Rich. Glückstadt, Dillstr. 21, parterre«. Die drei Vereinsmitglieder wurden als Max Glückstadt, Rudolf Ruben Glückstadt und Richard Ruben Glückstadt identifiziert. Max Glückstadt, geb. 12.10.1884 in Hamburg, Händler mit Pferdehaaren, emigrierte 1939 nach England. Rudolf Ruben Glückstadt, geb. 3.9.1883 in Hamburg, emigrierte im Mai 1939 mit seiner Ehefrau Hanna geb. Möller und den Kindern Ruth und Elisabeth nach Bolivien. Richard Ruben Glückstadt, geb. 21.7.1887 in Hamburg, wurde am 12.9.1940 in Brüssel in Gestapohaft ermordet. Vor dem Haus Hochallee 121 erinnern »Stolpersteine« an ihn, an seine Ehefrau Fanny Glückstadt geb. Levy und an seinen Sohn Werner Glückstadt. Beide wurden aus Drancy nach Auschwitz deportiert und ermordet. In der Vereinszeitschrift von 1919 ist als neues Mitglied Hans Goldstein, Student, St. Benedictstraße 29, genannt. Er wurde eindeutig als Hans Goldstein, geb. 1.7.1899 in Hamburg, identifiziert. 1923 meldete er sich aus Hamburg nach Frankfurt a.M. ab. In der NSZeit emigrierte er nach London. Die Mitgliedschaft des Schülers »D. Hamburger, Klosterallee 22, II.«, in der ETV-Männerabteilung Binderstraße ist in der Vereinszeitschrift von 1905 dokumentiert. Es handelte sich um Donald Hamburger, geb. 3.11.1888. Im Juli 1932 siedelte er als Bankier nach Den Haag über und schied aus der DeutschIsraelitischen Gemeinde in Hamburg aus. Als Opfer der NS-Verfolgung wurde er nicht festgestellt. John Heinemann, von Beruf Möbelhändler, wurde am 5.6.1894 in Hamburg geboren und starb am 23.11.1967 in Pinneberg. Im Ersten Weltkrieg geriet er in russische Kriegsgefangenschaft und verbrachte einige Zeit in Sibirien. Von 1924 bis 1934 leitete er die Fechtabteilung des ETV. Im Oktober 1938 emigrierte John Heinemann mit Frau und Kindern nach Uruguay. Vor 1953 kehrte er nach Hamburg zurück und trat wieder in die Fechtabteilung des ETV ein. Der Verein ernannte ihn zum JÜRGEN SIELEMANN Ehrenmitglied und widmete ihm in der Vereinszeitschrift einen Nachruf. 1915 meldete die Vereinszeitschrift, dass das ETVMitglied Friedrich Jacobsohn im Krieg gefallen sei. Das 1932 veröffentlichte Gedenkbuch für die jüdischen Gefallenen des deutschen Heeres, der deutschen Marine und der deutschen Schutztruppen führt im Abschnitt »Hamburg« Friedrich Jacobsohn mit dem Geburtsdatum 11.8.1888 und dem Todestag 19.5.1915 auf. 1916 war in der Vereinszeitschrift zu lesen, dass das ETV-Mitglied Maximilian Jacobsohn »seine Tätigkeit als Sanitäter im Osten bei einer Munitionskolonne aufgenommen hat«. Es handelte sich um den am 27.4.1891 in Hamburg geborenen Exportagenten Maximilian Jacobsohn. Die Akten des Hamburger Senats zeigen, dass ihm 1918 als Sanitäts-Unteroffizier das Hanseatenkreuz verliehen wurde. Maximilian Jacobsohn war Mitglied der Deutsch-Israelitischen Gemeinde und emigrierte im November 1938 mit seiner Familie aus Hamburg nach Belgien. Am 4.4.1944 wurde er von dort nach Auschwitz deportiert und ermordet. Die Ermordung seiner am 11.12.1921 in Hamburg geborenen Tochter Ingeborg ist ebenfalls dokumentiert. »Alb. Jacobson, Kaufmann, Hansastraße 36«, ist in der Vereinszeitschrift 1919 als neues ETV-Mitglied verzeichnet. Es ist eindeutig als Albert Jacobson, geb. 2.12.1893 in Hamburg, zu identifizieren. Im Mai 1938 emigrierte er in die USA. Als neues Mitglied der Männerabteilung vor dem Dammtor meldete die Vereinszeitung 1909 ohne weitere Angaben zur Person Arthur Joelson. In den Quellen wurde ein einziger Träger dieses Namens festgestellt werden: Arthur Nathan Joelson, geb. 26.1.1890 in Hamburg, Mitglied der Deutsch-Israelitischen Gemeinde in Hamburg bis zu seiner Emigration nach England im März 1939. Höchstwahrscheinlich war er mit dem ETV-Vereinsmitglied Arthur Joelson identisch. In der Vereinszeitschrift von 1905 erscheint »J. Kahn, Kaufmann, Grindelallee 168, III.«. Es handelte sich um den am 1.9.1888 in Hamburg geborenen Kaufmann James Friedrich Kahn. Er emigrierte 1939 nach Frankreich. Seine Ehefrau Eva geb.Lipschitz und die Kinder Ruth und Ingrid konnten ihm nach dem Kriegsbeginn nicht folgen und wurden am 8.11.1941 aus Hamburg nach Minsk deportiert und ermordet. James Friedrich Kahns Mutter Marie geb. Helbing deportierte die Hamburger Gestapo am 24.2.1943 aus Hamburg nach Theresienstadt. Als ihr Todestag in Theresienstadt ist der 27.3.1943 dokumentiert. Dr. med. Max Kulik, geb. 10.6.1898 in Hamburg, veröffentlichte als Student sportmedizinische Artikel in der Zeitung der Fussball-Abteilung des ETV und ist 1930 als Mitglied der Alte-Herren-Fußballmannschaft des ETV dokumentiert. Seit 1925 war er in Hamburg als praktischer Arzt und Sportarzt tätig. Seinen weiteren Lebenslauf hat Anna von Villiez in ihrem Buch über die jüdischen Ärzte in Hamburg 1933–1945 geschildert. 1938 wurde Dr. Kulik von der Gestapo verhaftet und nur unter der Bedingung, sofort auszuwandern, aus dem KZ Fuhlsbüttel entlassen. Er flüchtete über Frankreich nach Marokko, kehrte von dort nach Frankreich zurück und reiste 1941 über Mittelamerika nach New York. 1943 eröffnete Dr. Kulik dort eine Arztpraxis. Am 8.9.1959 starb er in New York. Die Vereinszeitschrift von 1905 nennt als Mitglied der Männerabteilung »R. Lisser, Neumünsterstraße 28, II.«. Dort wohnte damals eine Familie namens Lisser; ein männliches Familienmitglied, dessen Vorname mit R begann, konnte jedoch nicht festgestellt werden. Die Vereinszeitschrift von 1915 meldete in der Rubrik »Ehrentafel der gefallenen Mitglieder« den Tod von Dr. August Regensburger. Dem erwähnten Gedenbuch der jüdischen Gefallenen ist zu entnehmen, dass Dr. Karl August Regensburger am 25.5.1888 in Hamburg geboren wurde und am 8.8.1915 als Angehöriger eines Feld-Artillerie-Regiments den Tod fand. Hugo Waldbaum befand sich lt. Vereinszeitschrift 1916 in Marocco. Ein am 21.8.1892 in Hamburg geborener Kaufmann dieses Namens gehörte der Deutsch-Israelitischen Gemeinde in Hamburg bis zu seiner Auswanderung nach Amsterdam im Januar 1931 an. Als Opfer der nationalsozialistischen Verfolgung ist er nicht nachgewiesen. Seine Identität mit dem 1916 genannten Vereinsmitglied ist anzunehmen; weitere Träger dieses Namens wurden jedenfalls nicht festgestellt. ETV-Magazin 4/10 | 19 VERFOLGUNG JÜDISCHER ETVMITGLIEDER Opferliste ehemaliger jüdischer ETV-Mitglieder Rot hervorgehoben sind die Namen, welche in den ETVMitgliederverzeichnissen oder sonstigen Vereinsdokumenten gefunden wurden. Die mit Signatur angeführten Quellen sind im Staatsarchiv Hamburg verwahrt. B. Blankenstein, Schäferkampsallee 37 III. (Mitgliederverzeichnis der Damenabteilung Tornquiststraße, 1906, S. 8) Identisch mit Bertha Blankenstein, geb. 8.11.1876 in Dortmund, Tochter von Hermann (Herz) Blankenstein; am 25.10.1941 aus Hamburg nach Lodz deportiert, ermordet (332-7 Staatsangehörigkeitsaufsicht, B III 93 201; Jürgen Sielemann (Bearb.), Hamburger jüdische Opfer des Nationalsozialismus. Gedenkbuch. Hamburg 1995, S. 38; 522-1 Jüdische Gemeinden, 992 b, Kultussteuerkartei 1913–1943, Bertha Blankenstein). E. Blankenstein, Schäferkampsallee 37 III. (Mitgliederverzeichnis der Damenabteilung Tornquiststraße, 1906, S. 8) Edith Blankenstein, geb. 15.5.1883 in Hamburg, Aufnahme in den hamburgischen Staatsverband 1908, damalige Adresse, Schäferkampsallee 37, Lehrerin im öffentlichen Volksschuldienst, Vater: Herz genannt Hermann Blankenstein (332-7 Staatsangehörigkeitsaufsicht, B III 93 201); Deportation nach Lodz am 25.10.1941, ermordet (Jürgen Sielemann (Bearb.), Hamburger jüdische Opfer des Nationalsozialismus. Gedenkbuch. Hamburg 1995, S. 38). G. Blankenstein, Schäferkampsallee 37 III. (Mitgliederverzeichnis der Damenabteilung Tornquiststraße, 1906, S. 8). 332-8 Meldewesen, A 30, Meldekartei 1891–1925 Gertrud Betty Blankenstein, geb. 8.1.1888 in Hamburg, Vater: Herz Blankenstein, Adresse 1909: Schäferkampsallee 37, III., bei den Eltern. Eheschließung am 10.7.1909 mit Anton Adolph Penkert, Musiklehrer, evangelisch-lutherisch (Standesamt 20, Heiratsregister 1909, Nr. 480). Lt. Beischreibung in diesemHeiratsregister und im Geburtsregister des Standesamts Hamburg 3, 1888 Nr. 173, Tod am 1.12.1943 in Auschwitz. Am 9.4.1943 verhaftet und im KZ Fuhlsbüttel inhaftiert, im Herbst 1943 nach Auschwitz deportiert, Tod in Auschwitz am 1.12.1943 (351-11 Amt für Wiedergutmachung, 2652, Anton Penkert). S. Cohen, Kaufmann, Parkallee 4 I. (Mitgliederverzeichnis der Männerabteilungen und der AltherrenAbteilung, 01/1906, S. 1) Cohen, F. S., i. Fa. Maas & Cohen, Parkallee 4, I. (Adressbuch 1907) Ferdinand Siegmund Cohen, geb. 16.3.1846 in Hamburg, gest. 27.7. 1915 in Hamburg, Religion: mosaisch, Sohn: Siegmund Veit Cohen, geb. 1.11.1880 in Hamburg; Adresse 1901–1913: Parkallee 4, I. (332-8 Meldewesen, A 30, Meldekartei 1891–1925). Siegmund Veit Cohen geb. 1.11.1880 in Hamburg, gest. 29.3.1940 in Hamburg, Handelsvertreter, Ehefrau: Erna geb. Behrens, geb. 17.2.1885 in Hamburg (522-1 Jüdische 20 | ETV-Magazin 4/10 Gemeinden, 992 b, Kultussteuerkartei 1913–1943, Karteikarte Siegmund Veit Cohen). Todesursache von Siegmund Veit Cohen: Lungenleiden (331-5 Polizeibehörde – Unnatürliche Sterbefälle, Standesamt 1, 1940 Nr. 240) Erna Cohen geb. Behrens geb. 17.2.1885 in Hamburg, Witwe von Siegmund Veit Cohen, 25.10.41 deportiert nach Lodz (522-1 Jüdische Gemeinden, 992 b, Kultussteuerkartei 1913–1943, Karteikarte Erna Cohen). Henriette Erna Cohen geb. Behrens, geb. 17.2.1885 in Hamburg, 25.10.1941 deportiert in das Ghetto Lodz, Tod im Ghetto Lodz am 20.4.1942 (Bundesarchiv, Gedenkbuch Opfer der Verfolgung der Juden unter der nationalsozialistischen Gewaltherrschaft in Deutschland 1933–1945, Online-Version). O. Delbanco, Heinrich-Barth-Straße 8, p. (Mitgliederverzeichnis der Damen-Abteilungen, 01/1906, S. 7) Olga Delbanco, geb. 24.2.1876 in Hamburg, wurde am 18.11.1941 aus Hamburg nach Minsk deportiert und ermordet. Eltern: Hirsch Elias Delbanco und Hanna geb. Arnhold (522-1 Jüdische Gemeinden, 992 b, Kultussteuerkartei 1913–1943, Karteikarten Olga Delbanco und Witwe Hirsch Elias Delbanco, (Jürgen Sielemann (Bearb.), Hamburger jüdische Opfer des Nationalsozialismus. Gedenkbuch. Hamburg 1995, S. 79). Adressbuch 1907: Witwe Hirsch Elias Delbanco, HeinrichBarth-Straße 8, P. Dublon, Daniel, Kaufmann, Dammthorstraße 6 (Vereinszeitschrift 03/1919, neu eingetretene Mitglieder, S. 81) Daniel Dublon, geb. 27.8.1883 in Hamburg, 19.7.1942 deportiert nach Theresienstadt (522-1 Jüdische Gemeinden, 992 b, Kultussteuerkartei 1913– 1943, Daniel Dublon); hat überlebt. M. Glückstadt, Kaufmann; Rud. Glückstadt, Kaufmann, Heinrich Barth-Straße 12 (Mitgliederverzeichnis der Männerabteilungen und der AltherrenAbteilung, 01/1906, S. 2). Gustav Arje Glückstadt, geb. 28.7.1849, gest. vor 5.5.1935, Rohtabakfirma, Ehefrau: Rahel geb. Stern, geb. 20.12.1857 in Hamburg, gest. 5.5.1935, Adresse: Heinrich- Barth-Straße 12; Sohn: Max Glückstadt, dessen Steuerkarteikarte siehe Nr.1081 (522-1 Jüdische Gemeinden, 992 b, Kultussteuerkartei 1913–1943, Karteikarte Rahel Glückstadt, Witwe von Gustav Arje Glückstadt) Max Glückstadt, geb. 12.12.10.1884 in Hamburg, Handel mit rohen und verarbeiteten Pferdehaaren, 1939 Emigration nach England (522-1 Jüdische Gemeinden, 992 b, Kultussteuerkartei 1913-1943, Karteikarte Max Glückstadt). Rud. Glückstadt, Kaufmann, Heinrich-Barth-Straße 12 (Mitgliederverzeichnis der Männerabteilungen und der Altherren-Abteilung, 01/1906, S. 2). Rudolf Ruben Glückstadt, geb. 3.9.1883 in Hamburg, Kaufmann, Heinrich-Barth-Straße 12, Mai 1939 Emigration nach Bolivien (522-1 Jüdische Gemeinden, 992 b, Kultussteuerkarteo 1913-1943, Karteikarte Rudolf Ruben Glückstadt). Rich. Glückstadt, Kaufmann, Dillstraße 21 p. (Mitgliederverzeichnis der Männerabteilungen und der Altherren-Abteilung, 01/1906, S. 2). Identisch mit Ruben Richard Glückstadt, geb. 21.7.1887 in Hamburg (332-8 Meldewesen, A 24 Bd. 384, 1927 Nr. 885: Ruben Richard Glückstadt, Rufname Richard ist unterstrichen). Richard Glückstadt, geb. 21.7.1887, Bankgeschäft, Ehefrau: Fanny Glückstadt geb. Levy, geb. 15.3.1894, drei Söhne, darunter Werner Glückstadt, geb. 29.5.1925, 1934 Emigration nach Brüssel (522-1 Jüdische Gemeinden, 992 b, Kultussteuerkartei 1913-1943, Karteikarte Richard Glückstadt). Ruben Richard Glückstadt, geb. 21.7.1887 in Hamburg, Opfer der NS-Verfolgung (Jürgen Sielemann (Bearb.), Hamburger jüdische Opfer des Nationalsozialismus. Gedenkbuch. Hamburg 1995, S. 125); ermordet in Brüssel in Gestapohaft am 12.9.1940 (Datenbank Stolpersteine Hamburg). Fanny Glückstadt geb. Levy, geb. 15.3.1894 in Hamburg, Haft in Gurs, 4.9.1942 deportiert aus Drancy nach Auschwitz, ermordet (Jürgen Sielemann (Bearb.), Hamburger jüdische Opfer des Nationalsozialismus. Gedenkbuch. Hamburg 1995, S. 125). Werner Glückstadt, geb. 29.5.1925 in Hamburg, 4.9.1942 deportiert aus Drancy nach Auschwitz, ermordet (Jürgen Sielemann (Bearb.), Hamburger jüdische Opfer des Nationalsozialismus. Gedenkbuch. Hamburg 1995, S. 125). Hans Goldstein, Student, St. Benedictstraße 29 (Vereinszeitschrift 03/1919, S. 81, 1919 neu eingetretene Mitglieder) Identifiziert als Hans Goldstein, geb. 1.7.1899 in Hamburg, 1923 abgemeldet nach Frankfurt a.M. (332-8 Meldewesen, Meldekartei 1891–1925); emigriert nach London (314-15 Oberfinanzpräsident, F 763). D. Hamburger, Schüler, Klosterallee 22 II. (Mitgliederverzeichnis der Männerabteilungen und der Altherren-Abteilung, 01/1906, S. 2) Adressbuch 198: S. D. Hamburger, in Fa. D. Hamburger, Klosterallee 22, Kultussteuerkartei 1913–1943 (522-1 Jüdische Gemeinden, 992 b, Donald Hamburger): Donald Hamburger, geb. 3.11.1888, 19.7.1932 Verzug nach Haag, Vater: Salomon David Hamburger. Als Opfer nicht nachgewiesen. John Heinemann (jüdisches ETV-Mitglied lt. Frank Fechner). Identifiziert als John Heinemann, geb. 5.6.1894 in Hamburg, gest. 23.11.1967 in Pinneberg (332-5 Standesämter, 9098, Geburtsregister 1894, Nr. 1020); Mitglied der Deutsch-Israelitischen Gemeinde JÜRGEN SIELEMANN in Hamburg seit 1920, Apotheker, später Möbelhändler, im Oktober 1938 mit Frau und Kindern nach Uruguay emigriert (522-1 Jüdische Gemeinden, 992 b, Karteikarte John Heinemann). 1954 in Hamburg eingebürgert (332-8 Meldewesen, Hausmeldekartei Rellingerstraße 12). Alb. Jacobson, Kaufmann, Hansastraße 36 (Vereinszeitschrift 03/1919, S. 81, 1919 neu eingetretene Mitglieder). Identisch mit Albert Jacobson, geb. 2.12.1893 in Hamburg, Mai 1938 Emigration in die USA (522-1 Jüdische Gemeinden, 992 b, Kultussteuerkartei 1913–1943). Friedrich Jacobsohn, 1915 gefallen (Ehrentafel der gefallenen Mitglieder, 1915, S. 65) Gefallen am 19.5.1915 (Reichsbund jüdischer Frontsoldaten, Hrsg., Die jüdischen Gefallenen des deutschen Heeres, der deutschen Marine und der deutschen Schutztruppen, 1914–1918, S. 372). Maximilian Jacobsohn »hat seine Tätigkeit als Sanitäter im Osten bei einer Munitionskolonne aufgenommen.« (Vereinsnachrichten 06/1916, S. 30). Maximilian Jacobsohn, geb. 27.4.1891 in Hamburg, Export-Agent, emigrierte im November mit Ehefrau Sophie geb. Löwy und Tochter Ingeborg (geb. 11.12.1921) nach Belgien (522-1 Jüdische Gemeinden, 992 b, Kultussteuerkartei 1913–1943, Maximilian Jacobsohn). Maximilian Jacobsohn, geb. 27.4.1891 in Hamburg, 4.4.1944 aus dem Durchgangslager Mecheln nach Auschwitz deportiert, ermordet (Jürgen Sielemann (Bearb.), Hamburger jüdische Opfer des Nationalsozialismus. Gedenkbuch. Hamburg 1995, S. 191). Ingeborg Jacobsohn, geb. 11.12.1921 in Hamburg, deportiert nach Auschwitz, ermordet (Jürgen Sielemann (Bearb.), Hamburger jüdische Opfer des Nationalsozialismus. Gedenkbuch. Hamburg 1995, S. 190). Verleihung des Hanseatenkreuzes an Maximilian Siegfried Jacobsohn, Sanitäts-Unteroffizier in Belgien, am 26.10.1918 (111-2 Senat – Kriegsakten, Mikrofilm K 2095) Arthur Joelson neues Mitglied 1909 der Männerabteilung vor dem Dammtor (Vereinszeitschrift 1909, 19). Arthur Nathan Joelson, geb. 26.1.1890 in Hamburg, Emigration nach England im März 1939 (522-1 Jüdische Gemeinden, 992 b, Kultussteuerkartei 1913–1943, Arthur Nathan Joelson). J. Kahn, Kaufmann, Grindelallee 168, III. (Mitgliederverzeichnis der Männerabteilungen und der Altherren-Abteilung, 01/1906, S. 3) James Friedrich Kahn, geb. 1.9.1888 in Hamburg, Adresse vor 1910: Grindelallee 168 III., Sohn von Ludwig Kahn, geb. 1.9.1855, gest. im Mai 1910, und Marie geb. Helbing, geb. 16.4.1856 in Fürth (332-8 Meldewesen, A 30, Meldekartei 1891–1925). James Friedrich Kahn, geb. 1.9.1888 in Hamburg, Agenturen und Kommissionen in Firma Ludwig Kahn Ehefrau: Eva geb. Lipschitz, geb. 2.2.1895 in Lodz, Kinder: Ruth Kahn, geb. 17.3.1922, Ingrid, geb. 28.7.1924; 1939 Emigration nach Frankreich (522-1 Jüdische Gemeinden, 992 b, Kultussteuerkartei 1913–1943, Karteikarte James Friedrich Kahn). James Friedrich Kahns Mutter Marie geb. Helbing wurde am 24.2.1943 aus Hamburg nach Theresienstadt deportiert, Tod in Theresienstadt am 27.31943. Seine Ehefrau Eva geb. Lipschitz und die Kinder Ruth und Ingrid wurden am 8.11.1941 nach Minsk deportiert und ermordet (Jürgen Sielemann (Bearb.), Hamburger jüdische Opfer des Nationalsozialismus. Gedenkbuch. Hamburg 1995, S. 125). S. Kleve, Hausmakler, Feldstraße 49, II. (Mitgliederverzeichnis der Männerabteilungen und der AltherrenAbteilung, 01/1906, S. 3). Siegfried Kleve, geb. 30.3.1879 in Altona, Adresse vor 1911: Feldstr. 49, II. (332-8 Meldewesen, A 30, Meldekartei 1891-1925). Siegfried Kleve, geb. 30.3.1874 in Altona, Hausmakler, Ehefrau: Erna Kleve geb. Lasch, geb. 26.4.1889 in Berlin, 11.7.1942 Deportation (522-1 Jüdische Gemeinden, 992 b, Kultussteuerkartei 1913-1943, Karteikarte Siegfried Kleve). R. Lisser, Neumünsterstraße 28, II. (Mitgliederverzeichnis der Männerabteilungen und der AltherrenAbteilung, 01/1906, S. 2). Adressbuch 1907, Straßenteil, Neumünsterstraße 28, J. Lisser, Secretär, Mitgliedsverzeichnis der Deutsch-Israelitischen Gemeinde in Hamburg 1909 (522-1 Jüdische Gemeinden, 387 b Bd. 2): Isaac Sal. Lisser, Neumünsterstraße 28. Kultussteuerkartei der Deutsch-Israelitischen Gemeinde in Hamburg 1913–1943 (522-1 Jüdische Gemeinden, 992 b): Isaac Salom. Lisser gen. Iwan, Ehefrau: Rosa geb. Guttmann, geb. 13.7.1854, Kinder: Iwan, geb. 22.5.1870, Ludwig, geb. 8.4.1873. Rosalie Lisser, geb. 17.10.1877 in Hamburg, Tochter von Isaac Lisser, 1908 gemeldet für Neumünsterstraße 28 bei den Eltern, am 6.6.1908 verheiratet mit Leopold Zinner, Neumünsterstraße 28, Standesamt 3 a 1908 Nr. 291 (332-8 Meldewesen, A 30). Ein männlicher Träger des Namens R. Lisser konnte nicht festgestellt werden. Leopold und Rosalie Zinner emigrierten mit den Kindern Heinz und Hedwig 1936 nach Holland. Dr. August Regensburger, 1915 gefallen (Ehrentafel der gefallenen Mitglieder, 09/1915, 72). Gefallen am 19.5.1915 (Reichsbund jüdischer Frontsoldaten, Hrsg., Die jüdischen Gefallenen des deutschen Heeres, der deutschen Marine und der deutschen Schutztruppen, 1914–1918, S. 374). Hugo Waldbaum, 1916 Aufenthalt in Marocco (Vereinszeitschrift 06/1916, S. 33) Hugo Waldbrunn, geb. 21.8.1892, Kaufmann am 12.1.1931 aus Hamburg nach Amsterdam ausgewandert (522-1 Jüdische Gemeinden, 992 b, Kultussteuerkartei 1913–1943, Hugo Waldbrunn) Leonhard Weile, neues Mitglied 1909 der Männerabteilung vor dem Dammtor (Vereinszeitschrift 05/1909, 19) Leonhard Weile, geb. 3.1.1893 in Altona, 18.12.1941 Suizid in Hamburg (Jürgen Sielemann (Bearb.), Hamburger jüdische Opfer des Nationalsozialismus. Gedenkbuch. Hamburg 1995, S. 425). ETV-Magazin 4/10 | 21 Hannes Heer Sich der Vergangenheit stellen: Die deutsche Turnbewegung als »Einfallstor« des Nationalsozialismus Die Bibel der deutschen Turner Weil Friedrich Ludwig Jahn seit 1811 von Preußen aus das Turnen in Deutschland zu einer Massenkultur machte, wurde er zum »Turnvater Jahn«. Weil er das Turnen als politische Bewegung begründete, wurde er zu einer der umstrittensten Personen der neueren deutschen Geschichte. Seine 1810 veröffentlichte Programmschrift »Deutsches Volkstum« wurde die Bibel der deutschen Turner. Ihr Katechismus war die 1816 erschienene »Deutsche Turnkunst« Sechs zentrale Gedanken aus der Bibel möchte ich in Erinnerung rufen: Volkstum als Schöpfer und Seele des Volkes »Was Einzelheiten sammelt, sie zu Mengen häuft, diese zu Ganzen verknüpft, sie zu Mengen häuft, […] diese Einungskraft kann in der höchsten und größesten und umfassendsten Menschengesellschaft, im Volke, nicht anders genennt werden als – Volkstum. Es ist das 22 | ETV-Magazin 4/10 Gemeinsame des Volks, sein inwohnendes Wesen, sein Regen und Leben, seine Wiedererzeugungskraft, seine Fortpflanzungsfähigkeit. […] Das bringt all die einzelnen Menschen des Volks, ohne daß ihre Freiheit und Selbständigkeit untergeht, sondern gerade noch mehr gestärkt wird in der Viel- und Allverbindung mit den übrigen, zu einer schönverbundenen Gemeinde. […] Der Baum wächst von unten hinauf, der Staat vom sogenannten Volk oder großen Haufen in die Höhe. […] Staat ist das Grundgestell des Volks, die stehende äußere Befriedung vom Volkstum.«1 Die Begriffe Volk und Volkstum wie die Idee vom Staat als dessen organisch gewachsene äußere Form waren Ausgeburten der politischen Romantik. Anders als im revolutionären Frankreich, wo die Zugehörigkeit zum Volk durch den freien Entschluss jedes einzelnen erfolgte und der Staat durch den Gesellschaftsvertrag miteinander konkurrierender Gruppen konstituiert worden war, behauptete Jahn, bei seinen Grundkategorien handle es sich um Gegebenheiten der Natur. Deutsches Volkstum: die Krone der Menschheit »Der Name Deutsch war bis zu den neuesten Unglücksfällen [der Herrschaft Napoleons über Deutschland] ein Beehrungswort. […] Vollkraft, Biederkeit, Gradheit, Abscheu der Winkelzüge, Rechtlichkeit und das ernste Gutmeinen waren seit einem Paar Jahrtausenden die Kleinode unseres Volkstums, und wir werden sie auch gewiß durch alle Weltstürme bis auf die späteste Nachwelt vererben. […]. Welches Volkstum steht am höchsten, hat sich am meisten der Menschheit genähert? Kein anderes […], wie weiland volkstümlich die Griechen und noch bis jetzt weltbürgerlich die Deutschen, der Menschheit heilige Völker.«2 Die Überhöhung des Deutschtums durch Jahn war eine Konstruktion, die mit der Wirklichkeit nichts zu tun hatte. Da er selbst die Zerstrittenheit der Deutschen beklagte und die deutsche Geschichte als eine des fortwährenden »Bürgerkriegs« bezeichnete,3 handelte es sich bei der Heiligsprechung des Deutschtums um ein Wunschbild, eine Idealisierung. Ein Volk, das in Gefahr ist, zu verschwinden »Als Volk haben wir den unglücklichen, schmachvollen Westfälischen Frieden [1648] nie wieder verwunden. […] Der Deutsche Reichsadler zeigte sich in seiner tiefsten Erniedrigung: am rechten Flügel hat ihn eine starke Gestalt gefaßt, die eine Königskrone und einen mit Lilien besäten Mantel trägt [Frankreich] und ihm die besten Schwungfedern ausreißt; in die andere Seite schlägt ein hungriger Löwe seine Klauen [Schweden]; und hinten droht ein Henkersgesicht mit gezücktem Säbel, was mit Grinsen andeutet: ›Sperre dich nicht, es geschieht ja alles zu deinem Besten.‹ Vom Westfälischen bis zum Tilsiter Frieden [1807] haben wir Deutschen nur im Geheimen und Stillen weitergelebt, durch Sprache und Schrift, ein unsichtbares geistiges Leben. Wenn aber diese Seelenwanderung auch noch aufhört, […] so werden wir alsdann nur durch einige Bücher in der Völkerwelt gespenstisch umherspuken. […] Noch sind wir nicht verloren! Noch sind wir zu retten! Aber nur durch uns selbst. Wir brauchen zur Wiedergeburt keine fremden Geburtshelfer; nicht fremde Arznei, unsere eigenen Hausmittel genügen.«4 Jahns Bild vom zerstückelten Reichskörper ging auf einen Kupferstich aus der Zeit des 30jährigen Krieges zurück. Dass er das Bild zur Charakterisierung der deutschen HANNES HEER Geschichte verwendete und die ihm innewohnenden Schrecken bis in die Gegenwart verlängerte, verriet eine Obsession, die Deutschen zum ewigen Opfer fremder Gewalt zu machen und ihre Geschichte in Schicksal zu verwandeln. Angst und Ohnmacht waren die Koordinaten dieses Weltbildes. Und Rettung Friedrich Ludwig Jahn kam nicht von den Fremden, sondern nur von den Deutschen. »Die eigenen Hausmittel« in der Sterbestunde des Volkstums »Ein Heilungsverfahren von Grund aus ist in der Volkserziehung gegeben. Sie impft mit Schutzstoff den alten Stamm, läßt ihn sonder Gefahr die Keime aller künftigen Seuchen verlieren, zieht im Volk ein neues veredeltes Volk auf. Aus ihrer Schule wird das Volk hervorgehen, als Tatvolk lebend, nicht als bloßes Namenvolk daseiend; sein äußerer Staatsverband wird durch die innere Bundeskraft bestehn, es wird nicht zu einer Weltflüchtigkeit verirren, gleich Zigeunern und Juden. […] Eine wahre Volkserziehung muß die Vorarbeit für künftige Vaterlandsverteidiger ebensowohl übernehmen als andere Ausbildung: denn jede Schule soll überhaupt sein ein Lehren für künftigen Gebrauch. Im Dunkel verkümmert die Pflanze, im Winkel verrostet das Schwert, ohne Gebrauch wird der Geist stumpf, ohne Äußerung der Wille zahm. Unsere Körperkraft ist ein vergrabener Schatz; wir lassen sie schimmeln, bis Fremde sie in Gebrauch setzen. […] Die Leibesübungen sind ein Mittel zu einer vollkommenen Volksbildung […].«5 Schon vor Jahn hatte eine Gruppe deutscher Reformpädagogen, die sogenannten Philanthropen, die Ideen der französischen Aufklärung auf die Körpererziehung angewendet.6 Unter Rückgriff auf Rousseaus Forderung, den Körper zu trainieren, »damit er klug und vernünftig wird«,7 entwarfen sie ein Konzept, das die Trennung von Körper und Geist aufzuheben trachtete. Basierend auf den Ideen der Kindgemäßheit und der Selbstentfaltung war Turnen für sie »Arbeit im Gewande jugendlicher Freude«.8 Im Unterschied zu diesen weltbürgerlichen Aufklärern, von denen Jahn einen Großteil seiner Übungen und Geräte übernahm, stand bei ihm nicht der Einzelne und seine Erziehung zum innengesteuerten bürgerlichen Subjekt im Zentrum. Sein Ziel war die Wehrhaftigkeit und Kriegstauglichkeit des Kollektivs Jugend, um durch die Körperertüchtigung der einzelnen Glieder die Stärkung des gesamten Volkskörpers zu garantieren. »Wehrlos, [ist] ehrlos«, diesem Sinnspruch der Ahnen hatte sich auch die in Vereinen turnende Jugend zu unterstellen.9 Über die künftigen Kriege »Soldatenheer auf Soldatenheer losgelassen ist eine Menschenhetze, wo die Kämpfer bei der ersten günstigen Gelegenheit das Weite suchen. […] Aber der Gedanke eines vaterländischen Schutzkrieges, wo alles auf dem Spiele steht, alles verloren und alles gewonnen werden kann, leuchtet und entzündet als eine unvergängliche Sonne. […] Nur im vaterländischen Schutzkrieg […] kann der Mensch, mit Ehre und Pflicht einstimmig, streiten, siegen und fallen. Nur da ist des Kriegers Herz im Einklang mit dem Verstande, ohne erkältet zu sein; […] es brennt fürs Große und glüht fürs Gute und wird nicht von außen her eingegeistert, sondern von innen kommt die Begeisterung. […] Der Eroberungskrieg ist ein ganz ander Ding als ein Kampf auf Leben und Tod fürs Vaterland. [Nur in einem solchen Kampf kann der Heerführer] das Unmögliche befehlen, das Sterben auf der Stelle als ein Vaterlandsopfer.«10 Eroberungskriege wie die napoleonischen lehnte Jahn ebenso ab wie die von Söldnern geführten Kriege der feudalen Territorialherren. Für ihn war Krieg nur moralisch vertretbar als Verteidigung des bedrohten Vaterlandes aufgrund der dann wirkenden moralischen Motive von Ehr- und Pflichtgefühl und der notfalls auch mit dem eigenen Tod bewiesenen Liebe zum Vaterland. Unter dieser idealistischen Lyrik versteckte sich ein Konzept, das der Philosoph Johann Gottlieb Fichte in seinen »Reden an die Deutsche Nation« 1807/08 vorgestellt hatte: Statt der bisherigen durch Strafe und Belohnung erfolgende Außensteuerung des Subjekts propagierte er die durch ein »neues Selbst« erfolgende Selbstregulierung. Diese verlaufe aber nicht willkürlich und egoistisch, sondern, indem der individuelle Wille »gänzlich vernichtet« und durch einen national gebundenen Willen ersetzt werde, könne man mit diesem auch in der Extremsituation eines Krieges »sicher rechnen und auf ihn sich verlassen«. Fichtes begeisterter »Verteidiger des Vaterlandes« ist »ein erweitertes Selbst, das nur als Teil des Ganzen sich fühlt«.11 Offensichtlich hatte diese selbstgesteuerte Puppe in den sogenannten Freiheitskriegen so gut funktioniert, dass Jahn den Krieg als Geburtshelfer und Kindfrau des Volkstums propagierte. 1815 schrieb er: »Nun hat Gott den Deutschen den Sieg gegeben; aber […] Deutschland braucht einen Sieg auf eigene Faust, – um sich in seinem Vermögen zu fühlen; es braucht eine Fehde mit dem Franzosentum, um sich in ganzer Fülle seiner Volkstümlichkeit zu entfalten. Diese Zeit wird nicht ausblieben; denn ehe nicht ein Land die Wehen kriegt, kann kein Volks geboren werden.«12 Von Schutzkriegen war jetzt keine Rede mehr. Bismarcks »Einigungskriege« von 1864 bis 1870 sind diesem Drehbuch gefolgt. Völkischer Selbstmord durch Ausländer und »Vermischung« »In der ganzen Lebensgeschichte eines Volkes ist sein heiligster Augenblick, wo es aus seiner Ohnmacht erwacht, aus dem Scheintode auflebt, sich seiner zum ersten Male selbst bewusst wird, an seine heiligen Urrechte denkt und an die ewige Pflicht, sie zu behaupten; endlich erkennt, daß es nur durch Selbstmord seiner Volkstümlichkeit sich unter andern Völkern verlieren kann. Es ist ein langersehnter Schöpfungsbeginn, wenn ein Volk nach dem Verlauf schrecklicher Jahre sich selbst […] offenbaren darf, in welche volkentwürdigende Dienstbarkeit es durch Ausländerei geraten war. […] Mischlinge von Tieren haben keine echte Fortpflanzungskraft, und ebensowenig Blendlingsvölker ein eigenes volkstümliches Fortleben. Es läßt sich ein Edelauge in den Wildling setzen, ein Edelreis auf den Wildstamm, […]: aber das Immerwieder-Überpfropfen taugt nicht in der Baumschule und in der Völkerzucht noch weit weniger. […] Das Spanische Sprichwort: ›Traue keinem Maulesel und keinem Mulatten‹ ist sehr treffend, und das Deutsche: ›Nicht Fisch, nicht Fleisch‹ ist ein warnender Ausdruck. Je reiner ein Volk, je besser; je vermischter, je bandenmäßiger. […] Was im gewöhnlichen Lebensgewühl der edle Charakter vollendeter Menschen, das [ist] im Völkergebiete das Volkstum. Volkstum ist eines Schutzgeistes Weihungsgabe, ein unerschütterliches Bollwerk, die einzige natürliche Grenze.«13 Jahns Phantasien über die Todesstunde des Volkstums offenbaren den geheimen Kern dieses Begriffs – die Rasse. Diese ist schon in Gefahr, wenn der Deutsche ETV-Magazin 4/10 | 23 SICH DER VERGANGENHEIT STELLEN die Turner ihren Frieden mit der neuen Ordnung: Der Nationalstaat, nicht die Freiheit, war ihnen das Wichtigste gewesen. Eilfertig sprach sich die Deutsche Turnzeitung gegen alle »Freiheitsphrasen« aus und erfand eine neue, die »germanische Freiheit«: Sie verkörpere »Ordnung, Recht, Bildung und Gesinnung«.18 Turnen im Kaiserreich 1871–1914 Die Unterwerfungsgesten seitens der Deutschen Turnerschaft waren ernst gemeint und entsprachen der Überzeugung der überwältigenden Mehrheit ihrer 200.000 Mitglieder.19 Liberal-demokratische Strömungen in ihren Reihen gab es nicht mehr.20 Aber der Kaiser und sein Kanzler hielten Abstand zu den Turnern – ihre republikanische Vergangenheit war nicht vergessen. Die Verschmähten reagierten mit noch mehr Anpassung: Es waren die Turner, die als Nationalfeiertag den Tag des Sieges bei Sedan am 2. September 1870 durchsetzten und gestalteten, sie waren maßgeblich beteiligt am Zustandekommen der drei steinernen MonuZur Geschichte der deutschen Turnbewegung mente des wiedererstandenen Reichs – des Hermanns-, im 19. und 20. Jahrhundert Im Folgenden will ich in einer knappen Skizze verdeut- des Niederwald- und des Leipziger Völkerschlachtdenkmals und organisierten dort vaterländische Feste, sie lichen, wie Friedrich Ludwig Jahns Bibel im Laufe von machten ihr Verbandsorgan und ihre Bildungsabende zwei Jahrhunderten konkret geworden ist und wie zu Medien der Verbreitung einer trivial-romantisierenden sich das Gebäude seiner Glaubenssätze, je nach Zeit und spießig-obrigkeitshörigen »Nationalkultur«.21 Deren und politischer Konstellation, verändert hat. Die Turnbewegung 1815–1870 Elemente waren Germanenkult und Ritterherrlichkeit, Die frühe Turnbewegung, in ihrem Zentrum Preußen Heimat- und Naturschwärmerei, das Preislied von vom Kreis der Reformer um die Freiherrn von Stein und deutscher Art und Sitte und – mit gezogenem Schwert von Hardenberg unterstützt, wollte die Überwindung – die Verteidigung von Volkstum und Vaterland gegen der feudalen Ordnung und den Zusammenschluss der Überfremdung und Vernichtung. Sie sorgten dafür, dass zersplitterten deutschen Territorialstaaten unter einer der von allen liberalen Schlacken gereinigte Friedrich Ludwig Jahn als »der getreue Eckart der Deutschen«, konstitutionellen Monarchie.17 Nach dem Sieg über Napoleon war sie, zusammen mit der deutschen Bur- als »Prophet und Apostel der deutschen Einheit« ins schenschaft, die einzige Opposition in Deutschland. Pantheon der nationalen Helden einziehen durfte. 22 Erst jetzt wurde die deutsche Turnerschaft zur Verkörperung Deshalb wurden beide nach der Restauration des ancien dessen, wovon ihr »Turnvater« 1810 geträumt hatte – régime auf dem Wiener Kongress 1819 verboten. Eine die wehrhafte Vorhut des »heiligen Volks« der Deutschen. »Turnsperre« folgte und Jahn musste den Turnplatz Das zeigte sich, als das deutsche Reich ab Mitte der in der Berliner Hasenheide für sechs Jahre mit dem 1880er Jahre mit dem Erwerb der ersten Kolonien seinen Gefängnis vertauschen. Als die Turnbewegung im Zusammenhang mit dem Anspruch als Weltmacht immer dringlicher anmeldete. revolutionären Aufschwung in ganz Europa in den In enger Tuchfühlung mit dem Alldeutschen Verband, 40er Jahren ihr Comeback erlebte, lag ihr Zentrum im der »Kernorganisation« des radikalen und expansiven Südwesten bzw. in Sachsen und ihre politischen Forde- Nationalismus, 23 begrüßten die Führer der Deutschen rungen hatten sich radikalisiert: Im Bündnis mit den Turnerschaft, dass die Reichsregierung »den DirigentenLiberalen wollte sie nationale Einheit und innere Freiheit, stab im deutschen Konzert« übernommen habe, erinnicht von oben, aus der Hand der Fürsten, sondern nerten daran, dass »der Deutsche ein Herrscher und von unten durch das Volk. Und Österreich sollte mit im kein Sklave« sei und forderten nicht weniger, als dass Bunde sein. Auf den Barrikaden von 1848 bewiesen Deutschland »die Herrin der Erde« sei.24 viele Turner, wie ernst es ihnen damit war. Aber nach Dem entsprach im Inneren der Übergang zu einem entdem Scheitern der Revolution nahm die Geschichte schiedenen Volkstumskampf: Die Turnführung tolerierte den Ausschluss der Juden in den österreichischen Vereinen anderen Verlauf: Bismarck entschied sich für die einen, öffnete dem Antisemitismus »den Eingang in Reichseinigung von oben und durch Krieg – gegen die Deutsche Turnerschaft« und bezog »selbst judenDänemark, Österreich und Frankreich. Als dieser Prozess 1871 mit der Kaiserkrönung Wilhelms I. im Schloss von feindliche Positionen«; 25 sie verschärfte den Kampf geVersailles ihren Abschluss gefunden hatte, machten gen die wegen ihrer »internationalen Hirngespinste« fremde Sprachen lernt oder mit Fremden Umgang hat. Der Ernstfall aber tritt ein, wenn es um den Stoff Blut geht, wenn sich deutsches Blut mit fremden Blut mischt. Dann, so prophezeit er unter Nennung von Beispielen europäischer Völker, kommt es zur Verwandlung von Teilen des Volkes in kriminelle Banden.14 Schlimmer ist der durch die Blutsmischung eintretende Verlust aller Wurzeln und der damit einhergehende Absturz in die »Weltflüchtigkeit« und Heimatlosigkeit nomadischer Völker, wie es die Juden und die Zigeuner sind.15 Wenn diese Vermischung nicht gestoppt wird, bleibt nur der Untergang eines ganzes Volkes.16 Volkstum, das dürfte klargeworden sein, ist bei Jahn das Synonym für Rassenreinheit. Sie ist die »einzige natürliche Grenze« eines jeden Volkes, die es ständig zu beobachten und bei Gefahr zu verteidigen gilt. Sie ist wichtiger als ein schwer zu passierender Grenzfluss oder ein unwegsames Gebirge. 24 | ETV-Magazin 4/10 schon lange zu »Reichsfeinden« erklärten Sozialdemokraten,26 indem sie mit einer Satzungsänderung den Nachweis der »vaterländischen Gesinnung« zur Bedingung der Mitgliedschaft machten; sie eröffnete einen hasserfüllten Feldzug gegen die Gründung polnischer und tschechischer Turnvereine im Reich und unterstützte alle Bemühungen, in gemischtsprachigen Gebieten jenseits der Grenzen, wie z. B. in Böhmen und Mähren, durch Gründung von deutschen Turnvereinen und anderen Einrichtungen »Ausstrahlungspunkte deutscher Kultur und Bollwerke gegen das Tschechentum« zu errichten.27 Ihre Hauptaufgabe sahen die organisierten Turner aber darin, zur Wehrhaftmachung der deutschen Nation beizutragen. Als Wilhelm II. 1890 auf einer nationalen Schulkonferenz die Militarisierung der Gymnasien ankündigte – »Ich suche nach Soldaten, wir wollen eine kräftige Generation haben, die auch als geistige Führer und Beamte dem Vaterland dienen« – und ein Jahr später der Zentralausschuss zur Förderung der Volksund Jugendspiele gegründet wurde, war die Deutsche Turnerschaft zur Stelle.28 Als der Zentralausschuss 1899 zur Koordinierung aller Wehrfragen zwischen militärischen und zivilen Stellen einen »Ausschuss zur Förderung der Wehrkraft« einsetzte und, auf Geheiß Wilhelms II., 1911 der Jungdeutschlandbund gegründet wurde, die aus den Turn-, Sport- und Wandervereinen zusammengefasste Jugendarmee des kaiserlichen Heeres,29 da gehörte die Turnführung zu den aktivsten Mitgliedern, und die DT spielte aufgrund ihrer zahlenmäßigen Stärke eine herausragende Rolle. »Gepäckmärsche« und »Kriegsspiele« gehörten ab jetzt zum Turnbetrieb.30 Als es ernst wurde und seit 1905 eine außenpolitische Krise die andere jagte, jede mit dem Keim eines zukünftigen Krieges versehen, war es die DT, die dem hilfloshyperaktiven Kaiser aufmunternd zurief: »Kräftig, gewandt und mutig wollen wir dem Heer unsere wirklichen Turner schicken […], ein gutes Rohmaterial, made in Germany und Marke Jahn«.31 Ab dem 1. August 1914 war es soweit: 400.000 Turner marschierten schon in den ersten Monaten des Krieges in Feldgrau an die Front.32 Die Deutsche Turnzeitung kommentierte das epochale Ereignis: »Ein gütiges Geschick hat uns diese Prüfung auferlegt. Denn das deutsche Wesen war von Gefahren umdrängt, schlimmer und Scylares/ photocase.com HANNES HEER schlimmer, je reicher Deutschland wurde. Die Ichsucht drohte unsere besten Kräfte zu zerfressen; Üppigkeit und Luxus verdarben das Volk […]; was noch an gesunden Kräften lebte in unserer Kunst, war nahe daran erstickt und verschüttet zu werden […].«33 Es war die Vorstellung vom Krieg als Geburtshelfer des Volkstums, wie sie Jahn ein Jahrhundert zuvor phantasiert hatte. Diesmal kostete die Geburt 10 Millionen Menschen das Leben. Die Turnerschaft in der Zeit der Weimarer Republik 1918–1933 Der Krieg, schrieb die Deutsche Turnzeitung Mitte November 1918, sei Deutschland »von neidischen und eifersüchtigen Nachbarn trotz aller [deutschen] Friedensbestrebungen« aufgezwungen worden.34 Grund für die Niederlage sei nicht die militärische Niederlage, sondern die »Zerrissenheit« des Volkes im Inneren gewesen.35 Jetzt sei Deutschland »der Willkür rachsüchtiger und beutegieriger Feinde preisgegeben«.36 In dieser verzweifelten Lage müsse sich die DT »als das feste Band beweisen, das die Deutschen einig und fest zusammenhält«,37 als deren »gesunden Kern«,38 der imstande sei, »ein neues Geschlecht« heranzubilden für ein neues Vaterland.39 Diese Bestandsaufnahme ging einher mit der schärfsten Frontstellung gegen den Versailler »Schandvertrag« und die »Kriegsschuldlüge«40 und mündete in die kaum verhüllte Drohung eines neuen Revanchekrieges: »Darum geben wir gutwillig nicht einen Quadratmeter deutschen Bodens […] her. Nimmt man ihn uns mit Gewalt, so ertragen wir es nur mit Wut und Zähneknirschen. Aber wir lehnen dann auch den Eintritt in den Völkerbund ab und gestehen freimütig, daß wir auf den Tag warten, der unser Deutscher Tag sein wird.«41 Es verwundert nicht, dass die deutschen Turn- und Sportvereine ihre Hauptaufgabe darin sahen, ihre Mitglieder auf diesen Tag der Rache vorzubereiten. Da die allgemeine Wehrpflicht durch den Versailler Vertrag aufgehoben worden war, trat die Wehrerziehung in den Vereinen an deren Stelle: »Volk in Leibesübungen« anstatt des Vorkriegsslogans »Volk in Waffen«, so beschrieb Carl Diem, Geschäftsführer des Deutschen Reichsauschuss für Leibesübungen, die neue Rolle.42 Und die Turner formulierten martialisch: »Die Deutsche Turnerschaft muß das Erbe des alten Heeres sein!«43 Der neue Staat, die Republik von Weimar, kam in all dem nicht vor. Die DT war ein Teil des rechtsextrem-republikfeindlichen Lagers, sie gehörte zum anderen, dem »geheimen Deutschland«, das dabei war, sich einen passenden Staat erst noch zu schaffen. Im Juli 1923, beim 13. Turnfest in München, begegneten die deutschen Turner dessen militanter und putschbereiter Vorhut, der NSDAP, die mit zwei Massenveranstaltungen versuchte, sich in Erinnerung zu bringen. Ohne diesen versuchten Schulterschluss zu erwähnen, hielt der Quelle: Bundesarchiv Berlin, Enhüllung des Jahn-Denkmals Juli 1929 Vorsitzende der DT eine Rede, die von Adolf Hitler hätte stammen können: »[…] bedenkt: Freiheit und Ehre kommen von selber, wenn das Volk reif ist und wenn die Zeit reif ist. Reifen aber können beide nur, wenn das Volk rein und wenn es einig ist. Den Deutschen kann nur durch Deutsche geholfen werden […].«44 Das Zentralorgan der NSDAP, der Völkische Beobachter, lobte das Turnfest und den dort bekundeten Willen, »wieder einig zu werden und in Einigkeit zu erstarken«. »Die Turner«, so bilanzierte das Blatt, »sind heute die Hauptträger dieses Willens. Darum hinein in die Turnvereine, wer deutsch denkt und fühlt!«45 Die Führung der DT nutzte die folgenden Jahre der politischen und ökonomischen Stabilität, um die ideologische Ausrichtung des Verbandes unter dem Leitbegriff des »Geistesturnen« zu intensivieren und damit die »völkisch-sittliche Erneuerung« des deutschen Volkes voran zu bringen.46 Das Medium dieser mentalen Aufrüstung war eine Beilage der Deutschen Turnzeitung, die unter dem Titel Der Dietwart, zu deutsch: Volksturmwart, die ab 1925 versuchte, eine zweite JahnRenaissance einzuleiten und die Aktualität völkischen Denkens nachzuweisen.47 Es wundert nicht, dass schon der erste Jahrgang der Beilage zum Forum der Ideen wurde, die ein genialerer Kopf als Jahn ganz aktuell publiziert hatte – Adolf Hitler. Die Beiträge zu Rassenreinheit und Rassenkunde, zur Verknappung des Lebensraums und zur Ostsiedlung lesen sich wie Assoziationen zu Ideen in »Mein Kampf«.48 Zur gleichen Zeit versuchte die von der Turnerschaft heftig befehdete Sportbewegung, das altdeutsche Schlagballspiel und das moderne, immer populärer werdende Fußballmatch mit einer nationalsozialistischen Leitidee zu legitimieren: »Das Mannschaftsideal« erziehe »den Einzelnen zum Glied einer ganzen Macht«, wodurch für den einzelnen Spieler »der Weg zur wahren Volksgemeinschaft […] frei« sei, schrieb 1926 der Süddeutsche Fußballverband. Und der Vorsitzende der Jugendpflege Karlsruhe war überzeugt, dass »die gemeinschaftsbildende Kraft […] aus der kleinen Gemeinschaft […] der Schlag- oder Fußballmannschaft […] sich auf die große Volksgemeinschaft überträgt.«49 Diese Beiträge bezeugen die wachsende Attraktivität der NSDAP, ohne dass sich daraus Folgen ergeben hätten.50 Der mit völkischer Rhetorik verdeckte Attentismus der großen Turn- und Sportverbände, der zuletzt beim 14. Turnfest im von der französischen Besatzung »befreiten« Köln 1928 offenbar geworden war,51 geriet erst durch die 1929 einsetzende ökonomische und politische Krise unter Druck. Es waren die Führer der Turnerjugend, die auf die Abwanderung von Teilen der Jungmannschaft zur SA und HJ hinwies, »wo sie die Klarheit, die sie braucht findet, wo sie auf einfache zündende Ideen triff t, denen sie mit Begeisterung […] dienen kann«52 und nach Taten verlangte. Aber ihre Forderungen, ein Aktionsprogramm in die Satzung aufzunehmen oder – mit Blick auf die NSDAP, die seit Herbst 1930 zur stärksten Kraft im rechten Lager geworden war – die bisherige parteipolitische Neutralität aufzuheben, scheiterten. »Es bedarf nur eines starken Einflusses,« schrieb der Völkische Beobachter, der diese Auseinandersetzungen genau verfolgte, »und das deutsche Volk hat in der ›Deutschen Turnerschaft‹ ein Heer von Vorkämpfern für Wehrhaftigkeit, Rassenreinheit und Freiheit gewonnen.«53 Es waren die Jungen, Turnführer wie Neuendorff und Finn, die durch ihren Eintritt in die Partei und die Überzeugungsarbeit in ihren Verbänden oder Vereinen erreichten, dass dieser Fall eintrat: Sie ersetzten im Frühjahr 1933, ohne auf Widerstand zu stoßen, die alte Führungsriege und überführten die mit revanchistischen und rassistischen Ideen aufgepumpten Turn- und Sportverbände reibungslos ins Dritte Reich. Der Tag der Rache für alles Deutschland zugefügte Unrecht, der »Deutsche Tag« war gekommen. Studien über die Deutschen Norbert Elias, der aus Deutschland vertriebene jüdische und zu Weltruhm gekommene Soziologe, hat aus Anlass des Eichmann-Prozesses 1961/62 einen Essay unter dem Titel »Der Zusammenbruch der Zivilisation« verfasst.54 Dabei hat er die Frage nach den Gründen des Holocaust mit dem Glauben der Nationalsozialisten an ihre historische Mission zur Rettung der arischen Rasse vor der Vernichtung durch die Juden beantwortet, aber auch die viel schwierigere Frage gestellt, warum eine solche Glaubensbewegung in Deutschland mehrheitsfähig und Träger der absoluten Macht werden konnte. Antworten darauf findet er in dem von der Entwicklung der europäischen Nachbarn abweichenden Verlauf der deutschen Geschichte und deren Produkt, dem »sogenannten deutschen ›Nationalcharakter‹«.55 ETV-Magazin 4/10 | 25 SICH DER VERGANGENHEIT STELLEN Dessen prägenden Faktor sieht Elias in der Erfahrung eines Verlustes: Das erste im Mittelalter gegründete deutsche Reich, das ein riesiges Territorium ohne verteidigungsfähige natürliche Grenzen umfasste, wurde sukzessive, am schlimmsten im 30jährigen Krieg, zur Beute der konkurrierenden europäischen Großmächte und der nur auf ihre Machtsteigerung bedachten deutschen Territorialstaaten. Hier, in der traumatischen Erfahrung der äußeren Bedrohung und der inneren Zerrissenheit liegt für Elias der Grund für zwei deutsche Besonderheiten, die zum nationalen und in kritischen Situationen aktivierten Leitmotiv werden sollten – der »glühende Wunsch nach Einheit« und »die Sehnsucht nach […] einem Monarchen, einem starken Führer, der sie zur Einheit und Einigkeit bringen könnte, […] der sie ebenso vor sich selbst wie vor ihren Feinden zu schützen vermochte.«56 Die durch Jahrhunderte fortdauernde Identifizierung als Deutsche bei gleichzeitiger Ausbildung eines Gefühls der Minderwertigkeit führte zu einem konstruierten Idealbild von Deutschland bzw. den Deutschen, das wenig mit der Realität zu tun hatte. Nach der erreichten nationalen Einheit und der Gründung des zweiten Reiches 1871 entwickelte sich daraus ein Verhalten, das zwischen einem übersteigerten Nationalstolz und der Hybris, die europäische Großmacht zu sein und kommende Weltmacht zu werden, schwankte. Den Grund für diese Schwankungen und Inkongruenzen erblickt Elias in einer nationalen Identität, die »relativ unsicher und verwundbar« und »immer gebrechlicher« als z.B. bei den Engländern oder den Franzosen war.57 Diese »Gebrechlichkeit« war schon erkennbar an der Schwierigkeit, zu beschreiben, was eigentlich deutsch bedeutete: War es die »deutsche Kultur« oder nur »gemeinsame Gefühle«? Die Antwort, die Elias gibt, lautet: „Spezifisch deutsch war allenfalls eine ›Weltanschauung‹, eine Art Glauben. […] Der bloße Klang des Wortes ›Deutschland‹ schien für deutsche Ohren mit Assoziationen des Außergewöhnlichen, eines Charisma, das ans Heilige grenzte, aufgeladen zu sein.«58 Als Verhaltenslehre für den normalen Alltag taugte das wenig: Ein way of life oder ein savoir vivre war daraus nicht abzuleiten. Der Deutsche kam erst zu sich im Außergewöhnlichen, bei den vaterländischen Festen, bei den bizarren Totenkulten für seine tragischen Helden – Herrmann der Cherusker, Barbarossa, das Schillsche Freicorps von 1809, die gefallenen Kameraden des Ersten Weltkriegs – und endgültig in den nationalen Krisen und Katastrophen. Dann war jedem Deutschen klar, wie er sich zu verhalten hatte: hart und kompromisslos; dann wusste er, worum es ging: um Alles oder Nichts. Daraus, aus der Sehnsucht, im Namen Deutschlands gerufen zu werden, für das hohe Ideal ohne Rücksicht auf die Realitäten, zu kämpfen und zu fallen, resultierte Jahns 26 | ETV-Magazin 4/10 Wunsch nach dem »eigenen Krieg gegen Frankreich« »heiligen« deutschen Volk und seiner historischen oder der parteienübergreifende Jubel der Deutschen Mission zu produzieren. Sie hat Hitler nicht zu ihrem Turnerschaft bis zur SPD am 1. August 1914. »Hier«, so Führer erwählt und auf den Schild gehoben, aber schlussfolgert Elias, »in der zwingenden Kraft eines ex- sie hat mitgeholfen, dass die Tür zu seinem Sieg sperrklusiven Glaubens, eines unbedingten nationalen und angelweit aufstand. Und die vergiftete Botschaft sozialen Ideals, das seinen Anhängern kurzfristig das ihres Propheten Jahn und aller seiner Schüler ist Gefühl der Allmacht verlieh und das um jeden Preis dafür verantwortlich, dass es nach der schlimmsten verfolgt werden musste – hier lag die Gefahr, die dann militärischen und moralischen Niederlage der deutin der nationalsozialistischen Bewegung so außeror- schen Geschichte noch einmal mehr ein halbes Jahrdentlich virulent wurde.«59 hundert gedauert hat, bis diese Schuld erkannt und angenommen werden konnte.62 Die zweite Kernfusion zwischen der Mehrheit der Deutschen und dem Nationalsozialismus entstand aus der Bedeutung des Zweiten, des Kaiserreichs als Erfüllung der Sehnsucht nach nationaler Einheit und als Basis für den Griff zur Weltmacht. 1918 hatte sich dieser Anmerkungen Traum erledigt. Die militärische Niederlage und deren 1 Friedrich Ludwig Jahn, Deutsches Volkstum, (Lübeck 1810), Kodifizierung im Versailler Diktat ließen Deutschland Berlin 1990, S. 22, 61, 33; Jahn hatte schon im Jahr 1800, also zur ökonomisch ausgebluteten politischen Mittelmacht lange vor der französischen Besetzung, eine Erstlingsschrift unter schrumpfen. Die Deutschen waren damit konfrontiert, dem Titel »Über die Beförderung des Patriotismus im Preußischen Reiche« veröffentlicht, die im Kern seine späteren Thesen enthielt. diese bittere Realität zu akzeptieren. Aber große Teile 2 Ebenda, S. 23 f. und 31, ähnlich S. 119. der Gesellschaft, darunter die deutsche Turn- und 3 Ebenda, S. 43, 91 ff. Sportbewegung, waren unfähig zu einer solchen ratio- 4 Ebenda, S. 25 ff. nalen politischen Entscheidung. Sie wollten den Tag- 5 Ebenda, S. 133 f. und 175 ff. 6 Vgl. Hajo Bernett, Die pädagogische Neugestaltung der traum deutscher Größe weiterträumen, gefangen in bürgerlichen Leibesübungen durch die Philanthropen, Schorndorf 1973. den nie verarbeiteten Traumata der Vergangenheit und 7 Zitiert bei Gertrud Pfister, Zur Geschichte des Körpers und der halluzinogenen Droge ihres Nationalideals. »Sein seiner Kultur-Gymnastik und Turnen im gesellschaftlichen ModerZwangscharakter«, so Elias, »ließ keine Korrektur auf- nisierungsprozeß, in: Irene Diekmann, Joachim H. Teichler (Hg.), Körper, Kultur und Ideologie. Sport und Zeitgeist im 19. und 20. grund von etwas so Unwichtigem wie dem realen Gang Jahrhundert, Bodenheim bei Mainz 1997, S. 11–47, hier S. 27. der Ereignisse zu. Realitäten mussten ohne Rücksicht 8 Johann Christoph Friedrich GutsMuths, zit. ebenda, S. 28. auf Verluste geändert und an das nationale Ideal an- 9 Jahn, Deutsches Volkstum, S. 217. 10 Ebenda, S. 207 f. und 210 f. gepasst werden.«60 11 Johann Gottlieb Fichte, Reden an die Deutsche Nation, zit. Genau das versprach Hitler den Deutschen. Er wollte bei Thomas Hollerbach, »Liebe ist kälter als der Tod« – Der die Zeit umkehren und versprach nicht nur ein Drittes, Patriotismusdiskurs in der frühen deutschen Nationalbewegung am Beispiel des ›Turnvater‹ Friedich Ludwig Jahn, in: Michael sondern das »Tausendjährige Reich«. Der triumphale Krüger (Hg.), »mens sana in corpore sano«. Gymnastik, Turnen, Verlauf seiner Karriere vom sektiererischen Bierkeller- Spiel und Sport als Gegenstand der Bildungspolitik vom 18. bis agitator zum angebeteten Massenmagnet und unum- zum 21. Jahrhundert, Hamburg 2008, 29–40, hier S. 29ff. 12 Zit. bei Dieter Düding, Von der Opposition zur Akklamation schränkten Führer des zum Revanchekrieg entschlos- – Die Turnbewegung im 19. Jahrhundert als politisch-soziale Bewegung, in: Diekmann/Teichler, Körper, Kultur und Ideologie, senen nationalen Lagers schien der Beweis, dass ihm S. 79–97, hier S. 83. das gelingen werde. »Die nationalsozialistische Episode 13 Jahn, Deutsches Volkstum, S. 225, 33. f., 37. markierte den Moment der deutschen Geschichte, in 14 Ebenda, S. 34 f. dem es fast unausweichlich geworden war, den im- 15 Ebenda, S. 134. 16 Ebenda, S. 33, 36 f. perialen Traum als Nachhall einer Vergangenheit zu 17 Das Folgende nach Düding, Von der Opposition zur erkennen, die für immer vorbei war und einer Größe, Akklamation, S. 79–97. die nie wiederkehren würde. Was immer sonst noch für 18 Deutsche Turnzeitung (DTZ), Nr. 26 und 30 (1871), zit. ebenda, S. 91. die Barbarei der Hitlerzeit verantwortlich war, einer 19 Düding nennt für 1865 die Zahl von 170.000 Mitgliedern, ebenda, S. 88. ihrer Gründe war sicherlich die Weigerung, diese Ent- 20 Die folgende Darstellung stützt sich auf Hans-Georg John, Politik und Turnen. Die Deutsche Turnerschaft als nationale wicklung zu sehen und zu akzeptieren. Die Kraft des Bewegung im deutschen Kaiserreich von 1871–1914, Hamburg Abwärtstrends spiegelte sich in der extremen Rohheit 1976, hier S. 33. der Mittel, mit denen man ihn aufzuhalten versuchte. 21 Vgl. als Spiegel dieser »machtgestützten Innerlichkeit« die Schrift des Turnführers Ferdinand Götz, Vom rechten Turnerleben, […] Wie wilde Tiere sind mächtige Nationen oder Leipzig 1891. andere mächtige [gesellschaftliche Bewegungen] am 22 DTZ, 32 (1878) und 16 (1905) zit. bei John, Politik und Turnen, S. 46 f. gefährlichsten, wenn sie sich in die Enge getrieben 23 Rainer Hering, Konstruierte Nation. Der Alldeutsche Verband fühlen.«61 Die deutsche Turnbewegung hatte seit Be- 1890 bis 1939, Hamburg 2003, S. 15. 24 DTZ, 9 (1894), 1 (1903) und 45 (1902), zit. bei John, Politik ginn, mehr als ein Jahrhundert seit ihrem Bestehen daran und Turnen, S. 84. mitgewirkt, diesen nationalen Wahn vom auserwählten, 25 Ebenda, S. 70 f. HANNES HEER 26 DTZ, 40 (1873), zit. ebenda, S. 115. 27 Ebenda, S. 152. 28 Ralf Schäfer, Der Zentralausschuss für Volks- und Jugend spiele und seine Stellung in der deutschen Sportgeschichte, in: Krüger, »mens sana in corpore sano«, S. 41–55, hier S. 49 ff. 29 Vgl. der bei John auszugsweise abgedruckte Erlass des Kultusministeriums, ders., Turnen und Politik, S. 94; zum Jungdeutschlandbund und zur Wehrhaftmachung der Jugend in dieser Zeit vgl. Christoph Schubert-Weller, »Kein schönrer Tod…« Die Militarisierung der männlichen Jugend und ihr Einsatz im Ersten Weltkrieg 1890–1918, Weinheim, München 1998. 30 John, Politik und Turnen, S. 90; Sven Fritz, »… daß der alte Geist im ETV noch lebt.« Der Eimsbütteler Turnverband von der Gründung bis in die Nachkriegszeit, Hamburg 2010, S. 42. 31 Turnen und Wehrkraft, Jahrbuch 1911, zit. bei John, Politik und Turnen, S. 92. 32 So die Zahl im ersten Halbjahr des Krieges, DTZ 37 (1916), zit. ebenda, S. 94. 33 So Heinrich Schroer, der Vorsitzende des deutschen Turnlehrervereins und Redaktionsmitglied der »Monatsschrift für das Turnwesen« 10 (1914), zit. ebenda, S. 61. 34 DTZ, 45 (1918), zit. bei Lorenz Peiffer, Die Deutsche Turnerschaft. Ihre politische Stellung in der Zeit der Weimarer Republik und des Nationalsozialismus, Hamburg 1976, S. 17. 35 DTZ, 48 (1919), zit ebenda, S. 18. 36 DTZ, 3, (1919), zit. ebenda, S. 20. 37 DTZ, 48 (1919) zit. ebenda, S. 19. 38 DTZ, 16 (1919), zit. ebenda. 39 DTZ, 48 (1919) zit. ebenda. 40 DTZ, 10 (1920) zit. ebenda, S. 28. 41 DTZ, 9 (1919), zit. ebenda, S. 22. 42 Zit. bei Peter Tauber, »Je härter Sport und Spiel, umso besser ersetzen sie uns den Krieg« – Sport als Erziehungsmittel und Teil der militärischen Ausbildung in der Reichswehr der Weimarer Republik, in: Krüger, »mens sana.in corpore sano« S. 77–93, hier S. 88. 43 Zit. bei Peiffer, Die Deutsche Turnerschaft, S. 33. 44 DTZ, 32 (1923), zit. ebenda, S. 55. 45 VB, 25. 7. 1923. 46 Friedrich Babbel, Deutsches Volkstum, Heft 3, Dresden 1925, zit. Peiffer, Die Deutsche Turnerschaft, S. 64. 47 DTZ, 5 (1925), zit. ebenda, S. 65. 48 DTZ, 91 und 103 (1925), 52 (1926) zit. ebenda, S. 66 ff ; bedauerlicherweise hat Peiffer diese Zitatsammlung, die die Nähe zur NS-Ideologie belegt, nur für den Zeitpunkt 1925/26 dokumentiert. 49 Zit. bei Rudolf Oswald, Erziehung zur Volksgemeinschaft – Die Sportmannschaft im gesundheits- und sozialpolitischen Diskurs der zwanziger Jahre, in: Krüger, »mens sana in corpore sano«, S. 95–104, hier S. 98 f. 50 Die Unterscheidung, die Peiffer zwischen der »Rassenlehre« der NSDAP und der der Deutschen Turnerschaft macht, ist hilflos: die DT habe damit keine »imperialistischen Ziele« verbunden, ders., Deutsche Turnerschaft, S. 68; die Vorstellung von der »Reinhaltung der deutschen Rasse« ließ sich wie, Jahn und 1939 zeigen, jederzeit für einen Krieg mobilisieren. 51 Vgl. Peiffer, Die Deutsche Turnerschaft, S. 86 ff. 52 DTZ, 26 (1930), zit. ebenda, S. 99. 53 Zit. ebenda., S. 110. 54 Norbert Elias, Der Zusammenbruch der Zivilisation, in: ders., Studien über die Deutschen. Machtkämpfe und Habitusentwicklung im 19. und 20. Jahrhundert, Frankfurt a. Main 1994, S. 393–516. 55 Ebenda, S. 412. 56 Ebenda, S. 413 f. 57 Ebenda, S. 418 f. 58 Ebenda, S. 420 f. 59 Ebenda, S. 426. 60 Ebenda, S. 452. 61 Ebenda, S. 447, 467. 62 Zum Thema der deutschen Schuld und zum Umgang der Deutschen mit den Folgen, von 1945 bis heute, vgl. Hannes Heer, Vom Verschwinden der Täter. Der Vernichtungskrieg fand statt, aber keiner war dabei, Berlin 2004 und ders., »Hitler war‘s«. Die Befreiung der Deutschen von ihrer Vergangenheit, Berlin 2005. Die Autoren Jürgen Bischoff geboren 1954 in Hamburg, war mehrere Jahre Redakteur unter anderem beim ZEITmagazin und bei der Hamburger Morgenpost; später erschienen seine Reportagen in fast allen großen deutschen Magazinen. Bischoff schreibt heute als Wissenschaftsjournalist vor allem für GEO sowie für das Geschichtsmagazin GEO Epoche. Sven Fritz carsten vitt Historiker. Studium der Geschichte, Volkskunde und Musikwissenschaft an der Universität Hamburg. Abschluss 2008 mit einer Arbeit zu den SSÄrzten des KZ Neuengamme. Seit 2007 wissenschaftlicher Mitarbeiter der Ausstellung »Verstummte Stimmen. Die Vertreibung der ›Juden‹ aus der Oper 1933-1945«. Veröffentlichungen: Die SS-Ärzte des KZ Neuengamme. Praktiken und Karriereverläufe, in: KZ-Gedenkstätte Neuengamme (Hg.), Das KZ Neuengamme und seine Außenlager. Geschichte, Nachgeschichte, Erinnerung, Bildung, Berlin 2010 (im Erscheinen). Zusammen mit Hannes Heer: Verstummte Stimmen. Die Vertreibung der »Juden« und »politisch Untragbaren« aus den hessischen Theatern, (im Erscheinen). Jürgen Sielemann geboren 1944, war bis zu seinem Ruhestand Referent des Staatsarchivs Hamburg, dort war er unter anderem für den Themenbereich der Geschichte und Archivbestände der jüdischen Gemeinden Hamburgs zuständig. Zur jüdischen Familienforschung, zur Verfolgung der Juden in Hamburg 1933–1945 und zur Auswanderung über den Hamburger Hafen im ersten Weltkrieg veröffentlichte er zahlreiche Texte. Außerdem ist Jürgen Sielemann der Gründer der Hamburger Gesellschaft für jüdische Genealogie e.V. (1996) und erhielt 2004 den »German Jewish History Award« sowie 2008 die Lappenberg-Medaille des Vereins für Hamburgische Geschichte. Hannes Heer geboren 1941 in Wissen/Sieg. Studium der Geschichte und Literatur in Bonn, Freiburg und Köln. 1993 bis 2000 wissenschaftlicher Mitarbeiter am Hamburger Institut für Sozialforschung und Leiter des Ausstellungsprojektes »Vernichtungskrieg. Verbrechen der Wehrmacht 1941 bis 1944«. 1997 Träger der Carl-von-Ossietzky-Medaille. 2004/2005 zusammen mit Petra Bopp und Peter Schmidt Ausstellung »Viermal Leben. Jüdisches Schicksal in Blankenese«. 2006 zusammen mit Jürgen Kesting und Peter Schmidt Ausstellung »Verstummte Stimmen. Die Vertreibung der ›Juden‹ aus der Oper 1933 bis 1945«. Zahlreiche Publikationen zur Geschichte von Nationalsozialismus, Krieg und Nachkriegserinnerung. Lebt als Historiker, Publizist und Ausstellungsmacher in Hamburg. Die vier steinernen »Turnerhakenkreuze«, siehe auch die Titelseite dieses Sonderheftes, fotografierte ETVer Andreas Salomon-Prym. ETV-Magazin 4/10 | 27