AUF MESSERS SCHNEIDE
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AUF MESSERS SCHNEIDE
PITLANE AUF MESSERS SCHNEIDE Superbike-IDM, Lausitzring 2004. PS-Fotograf Jörg „Slowhand“ Künstle mal wieder zur richtigen Zeit am richtigen Ort: Eingang Gegengerade, für viele Fahrer der fieseste Abschnitt, der Übergang vom Infield in das Oval. MV-Agusta-Star Jörg Teuchert jagt der Spitze hinterher, zelebriert unglaubliche Schräglagen und rutscht dabei von der rechten Fußraste. Harsche Bremsmanöver bergen meist ein Problem: das stempelnde Hinterrad, ausgelöst durch das ungleichförmige Motorbremsmoment (Verdichtungstakte). Eine beim Bremsen und Herunterschalten mit zwei Fingern leicht gezogene Kupplung genügt, um die Spitzen der Motorbremse zu kappen und das Stempeln zu beruhigen, ohne dass die zum Einlenken unabdingbare Verzögerung am Hinterrad gänzlich wegfällt. Immer häufiger erledigt dies bei Sportmaschinen auch eine so genannte Rutschkupplung, neudeutsch als Anti-Hopping-Clutch bekannt. Wie stark die Kupplung angelegt und dosiert werden muss, lässt sich herausfinden, indem das Motorrad mit hoher Drehzahl beschleunigt, dann die kurzzeitig gezogene Kupplung wieder gefühlvoll eingerückt wird. Noch besser: Das Ganze auf einer freien Strecke ausprobieren, dabei den optimalen Bremsvorgang mit gleichzeitigem Runterschalten und dem fein dosierten Anlegen der Kupplung üben. Wer es richtig macht, zeichnet dabei feine schwarze Linien auf den Asphalt und kann durch den Schlupf am Hinterrad das Motorrad quer anstellen. Hat man das Gefühl für die optimale Bremsverzögerung gespeichert, geht es darum, diese auch in Schräglage beim Einlenken umzusetzen, womit sich der tatsächliche Bremspunkt noch ein paar Meter Richtung Kurve verlagern lässt. Das Risiko dabei: Aufgrund der je nach Schräglage mehr oder weniger starken Seitenkräfte kann das Vorderrad blockieren und seitlich wegrutschen. Deshalb richtet sich in dieser Phase des Kurvenfahrens die Konzentration auf das Vorderrad, das die Blockiergrenze durch leichtes Eindrehen der Lenkung zur Kurven- Der Vierzylinder dreht sich beinahe einmal um die eigene Achse, Glück im Unglück, dass sein Konkurrent Robert Ulm auf der Suzuki eine Kollision vermeiden kann. 98 PS 11/2004 innenseite signalisiert. Um dem Abflug zu entkommen, gilt es, in diesem Moment den Bremsdruck blitzschnell zu reduzieren. Kleiner Anhaltspunkt: Das Bremsmanöver sollte auf jeden Fall abgeschlossen sein, bevor das Knie den Asphalt touchiert. Also je nach Linienwahl etwa nach dem ersten Drittel der Kurve. In dieser Phase müssen zwei Dinge bei der Zeitenjagd beachtet werden. Erstens: Bei leistungsstarken Bikes die Linie so eng wie möglich legen, um eine effiziente Beschleunigung am Kurvenausgang zu ermöglichen. Weite, auslaufende Kurvenlinien sind zwar nett zu fahren und für leistungsschwache Motorräder ein probates Mittel, den Schwung auf die Gerade mitzunehmen, kosten aber bei Big Bikes zuviel Zeit durch zu lange Wege. Zweitens: Um einen Sturz übers Vorderrad am Scheitelpunkt oder in der größten Schräg- Teuchert kommentiert das Geschehen auf www.joergteuchert.com lapidar: „Rutschte von der Fußraste ab und musste mit der MV sanft zu Boden.“ MIT SERIENSPORTLERN AUF ZEITENJAGD – TIPPS VON PROFIS Möglichst hart und effizient verzögern, dabei die richtige Linie treffen, herrliche Schräglagen zelebrieren und mit Nachdruck beschleunigen: das Erfolgsrezept für bessere Rundenzeiten. Das Unheil nimmt seinen Lauf. Ein Hobbyfahrer würde das Motorrad loslassen, Profi Teuchert hingegen reagiert geistesgegenwärtig. lage zu vermeiden, legen Rennprofis so früh wie möglich das Gas leicht an. Unter Zug wird der Vorderradreifen entlastet und die Maschine stabilisiert. Generell sollte die Rollphase mit geschlossenem Gasgriff so kurz wie möglich ausfallen. Jede Menge Zeit schinden die Rennprofis in der Beschleunigung aus Schräglage. In dieser Phase gilt die absolute Konzentration der Hinterhand, um ein ausbrechendes Heck rechtzeitig einzufangen. Nicht nur das Popometer signalisiert den Drift, auch die Lenkerposition gibt Auskunft über den Schräglauf der Maschine. Dabei bewegt sich der Lenker im Moment des Drifts gegensätzlich zur Kurvenrichtung. Ist der Schräglauf des Motorrads aufgrund des Schlupfs am Hinterrad zu groß, wird der Gasgriff um ein paar Grad zurückgedreht oder Text: Werner Koch; Fotos: Jörg Künstle Er hält die MV fest, um ein Aufstellen und den drohenden Überschlag des Motorrads zu vermeiden, und federt den Aufprall der teuren Italienerin fast artistisch ab. die Richtung mit einem sanften Druck auf die Hinterradbremse korrigiert. Aufgepasst: Beim harten Beschleunigen aus Kurven ist zu beachten, dass der Motor bei zunehmender Kurvengeschwindigkeit auch an Drehzahl und somit an Leistung zulegt. Wer also kurz nach dem Scheitelpunkt den Motor schon mit viel Gas und Drehzahl ziehen lässt, muss damit rechnen, dass die Leistungsabgabe am Kurvenausgang rapide zunimmt und das Hinterrad ausbrechen kann. Entscheidend bei schnellen Rundenzeiten ist auch die passende Drehzahl, also der richtige Gang am Kurvenausgang. Sportler mit viel Punch aus der Mitte (beispielsweise Yamaha YZF-R1 oder Ducati 999) haben bei der wilden Zeitenjagd mehr Reserven, stülpen jedoch den ungestümen Hobby-Racer beim unbedachten Dreh am Gasgriff auch gern mal über den Lenker. Bei den aktuellen 600ern dagegen muss die Nadel des Drehzahlmessers am Kurvenausgang bei mindestens 75 bis 80 Prozent der Nenndrehzahl stehen. Dies gilt jedoch nur für Piloten, die bereits in der Lage sind, maximale Drehzahl und Leistung auch in bessere Rundenzeiten umzusetzen. Wer noch auf der Suche nach seiner Ideallinie ist, tut sich leichter, wenn er Kurven und verzwickte Steckenpassagen mit mittleren Drehzahlen und weniger Schaltvorgängen durchfährt. So bleibt das Motorrad ruhiger und garantiert dem Fahrer eine bessere Konzentration auf Bremspunkte und Linienwahl. Zum guten Schluss: Verletzt hat sich Jörg bei dieser Aktion zum Glück nicht. PS 11/2004 99