Nicht nur Drogen machen süchtig - Advent
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Nicht nur Drogen machen süchtig - Advent
10 T H E M A D E S M O N AT S Nicht nur Drogen machen süchtig Nichtstoffliche Süchte am Beispiel von Spielsucht und Essstörungen K K ai lästert über die „Alkis“, die sich mit der Bierflasche in der Hand allabendlich an der Tankstelle treffen und dort beim Spirituosenkauf die Kasse blockieren. Diesen und anderen Ärger reagiert Kai mit Computerspielen ab, bei denen er sich stundenlang von Schwierigkeitsgrad zu Schwierigkeitsgrad hocharbeitet. Lara schimpft über ihre rauchenden Kollegen, die das Büro vollqualmen und sie zum Passivrauchen zwingen. Diesen und anderen Frust frisst sie mit Hilfe von Schokolade und anderen Süßigkeiten in sich hinein. Viele Menschen stehen stofflichen Abhängigkeiten ablehnend gegenüber und verachten Menschen, die davon betroffen sind. Manche von ihnen wissen gar nicht, dass es auch nichtstoffliche Süchte gibt und dass auch sie gefährdet sind. Es gibt sogar Menschen, die davon betroffen sind, ohne es zu ahnen oder wahr haben zu wollen. Es gibt zahlreiche nichtstoffliche Süchte, manche sind auch von Experten umstritten, nicht alle sind von der Weltgesundheitsorganisation (WHO) als psychische Störung anerkannt. ADVENTECHO 2/2006 Beispiele für nichtstoffliche Süchte ● ● ● ● Spielsucht, PC-Games, Internetsucht Ess-Brechsucht, Magersucht, Fettsucht Beziehungssucht, Sexsucht, Eifersucht Arbeitssucht, Geltungssucht, Kaufsucht Weil in diesem Artikel nicht alle nichtstofflichen Süchte ausführlich besprochen werden können, heben wir zwei typische Beispiele hervor: die Spielsucht und die Essstörungen. SPIELSUCHT Spielen ist nicht generell eine Sucht, sondern sowohl für Kinder als auch für Erwachsene eine Möglichkeit des Entspannens und der Geselligkeit. Kinder lernen im Spiel, Regeln einzuhalten oder mit Anstand zu verlieren. Weit verbreitete Würfelspiele sind zwar auch „Glücksspiele“, machen aber nicht süchtig, auch wenn es Phasen ungezügelten Spielens geben mag. ICH KANN NICHT OHNE … Spielen an sich ist nicht verwerflich und selbst das Spielen um Geld ist nicht automatisch krankhaft. In der Passionsgeschichte wird z. B. berichtet, wie römische Soldaten um das Gewand Jesu gewürfelt bzw. gelost haben. Das ist Glücksspiel mit materiellem Einsatz, erlaubt aber noch keinen Rückschluss auf eine psychische Störung der Söldner. Bei der Spielsucht handelt es sich um „pathologisches Glücksspiel“. Betroffene haben laut WHO-Definition „ein andauerndes, wiederkehrendes und oft noch gesteigertes Glücksspielverhalten trotz negativer persönlicher und sozialer Konsequenzen wie Verschuldung, Zerrüttung der familiären Beziehungen und Beeinträchtigung der beruflichen Entwicklung“. Menschen aller Gesellschaftsschichten sind gefährdet. Bis zu 150.000 behandlungsbedürftige Glücksspieler leben schätzungsweise in Deutschland. Es hat meist ganz harmlos angefangen. Wie bei Hans Z. Als Schüler hat er Groschen an die Wand geworfen, während der Lehre spielte er Skat um Geld und in Kneipen versuchte er hin und wieder sein Glück an Geldautomaten. Dann begann die „Zockerkarriere“. Hans wurde von einem Freund zum Pokern eingeladen und spielte zweimal die Woche am Automaten. Der große Kick kam beim ersten Besuch eines Spielkasinos. Das Roulettespiel in gepflegter Atmosphäre hatte es ihm besonders angetan. Besuche von Spielbanken in verschiedenen Orten häuften sich. Sporadische Gewinne spornten ihn noch mehr an. In dieser Atmosphäre schlug er sich die Nächte um die Ohren, immer wieder magisch davon angezogen. Hans wurde risikofreudiger und fing nun auch an, um Geld zu wetten. Gegenüber seiner Frau verschwieg Hans die meisten Kasinobesuche und tarnte sie als Dienstreise. Im Nachhinein konnte er nicht mehr feststellen, ob es ein Sinnverlust war, der zur Spielsucht führte, oder umgekehrt. Wie bei vielen anderen kamen bei ihm auch Partnerschaftsprobleme, depressive Phasen und die Flucht vor beruflichen Problemen als Ursachen in Frage. Manche Experten vermuten, dass es Menschen gibt, die generell zum Suchtverhalten neigen. Verhaltenstherapeuten deuten die Spielsucht als „gelerntes Verhalten“: Beim Spielen vergisst man seine Alltagsprobleme. Diese kurzfristige angenehme Erfahrung wird positiv wahrgenommen, das Verhalten wiederholt sich. Die negativen Folgen sind noch nicht zu spüren. Ein Teufelskreis entsteht. „RIEN NE VA PLUS!“ – NICHTS GEHT MEHR Der Spielsüchtige unterliegt einem Zwang, diesen Nervenkitzel immer wieder zu erleben. Verluste schrecken nur kurzfristig ab. Ein zufälliger Gewinn kompensiert nicht die finanziellen Verluste, wird jedoch vom Spielsüchtigen überbewertet. Nicht selten wurden auf diese Weise „Haus und Hof“ verspielt, zahlreiche Glücksspieler haben sich hoch verschuldet. Rechnet man alle SpieleinsätRat und Hilfe bei Spielsucht ze auf dem deutschen Bücher: Stefan Poppelreuter: Nicht nur Drogen Glücksspielmarkt zusammachen süchtig. Entstehung und Behandlung men, kommt man auf die von stoffungebundenen Süchten, Beltz PVU, stolze Summe von etwa Weinheim, 2000 27 Milliarden Euro. Der Gewinner ist fast immer Gerhard Meyer: Spielsucht. Ursachen und die Spielbank bzw. der Therapie, Springer, Berlin, 2005 Staat, der einen großen Beratung und weiterführende Adressen bei den Teil des Umsatzes als örtlichen Suchtberatungsstellen. Steuer einbehält. Das Spiel nimmt eine Selbsthilfe: Treffen der „Anonymen Spieler“: immer höhere Priorität www.anonyme-spieler.org ein und bestimmt zunehEs gibt auch Selbsthilfegruppen für Angehörige. mend das Denken. Kontakte zu Menschen, Arbeit und Familie werden vernachlässigt. Beziehungen zerbrechen, die Würfel sind gefallen, nichts geht mehr. So auch bei Hans. Nach hohen Spielschulden trennte sich seine Frau von ihm. Er hatte seine diesbezüglichen Probleme immer geleugnet und sich in ein Netz von Lügen, Täuschungen und Illusionen verstrickt. „Mein Leben war ein einziges, chaotisches Lügengebilde“, bekennt er. Zu dem äußeren Druck, den Schulden und den zerbrochenen Beziehungen kam schließlich noch der Verlust der Selbstachtung. SCHUTZ UND HILFE Schutz vor der Spielsucht ist nicht der Verzicht auf das Spielen in jeglicher Form, sondern das rechtzeitige Einlenken, wenn man spürt, dass das Glücksspiel einen Kitzel auslöst oder zu viel Raum und Zeit einnimmt. Besser ist noch der bewusste Verzicht auf das Spielen um Geld. Wer bereits in Abhängigkeit geraten ist, kann sich behandeln lassen: Seit 2001 werden die Kosten für eine stationäre Therapie meist von den Krankenkassen und Rentenversicherungsträgern übernommen. Wer sich zu seiner Spielsucht bekennt, lässt sich meist auch freiwillig bei den Spielbanken sperren. Hans brauchte lange, bis er sich seine Spielsucht eingestehen konnte. Er informierte sich zunächst über seine Abhängigkeit, suchte eine Beratungsstelle auf, ließ sich auf eine Therapie ein und besuchte anschließend regelmäßig eine Selbsthilfegruppe. Sein Vermögen wird er nicht wieder zurückbekommen, und ob ihm seine Frau wieder eine Chance gibt, ist ungewiss. Aber langsam kommt Hans von seinem Schuldenberg herunter, und eines hat er auf jeden Fall zurückgewonnen: sein Selbstwertgefühl. 2/2006 ADVENTECHO 11 12 T H E M A D E S M O N AT S Ein übertriebenes Schlankheitsideal kann Auslöser für eine Essstörung werden. Der klassischen Spielsucht verwandt sind Internet-Sucht, PC-Games usw. Auch hier kommt es zu maßlosem Verhalten und zur Vernachlässigung von sozialen, familiären und beruflichen Kontakten und Verpflichtungen. Fachleute schätzen, dass etwa jeder zehnte Internetnutzer das Medium zwanghaft mit bis zu 60 Stunden pro Woche nutzt (als „normal“ gelten etwa zehn Stunden). In München gibt es bereits ein Zentrum für Internetabhängige. Man kann übrigens unter folgender Internet-Adresse online prüfen, ob man selbst internetsüchtig ist: www.psychiater.org/Internetsucht/test.htm Ess-Brech-Sucht – Bulimia nervosa Gier und Heißhungerattacken gefolgt von Erbrechen sind typisch für die Essbrechsucht. Die Betroffenen leiden erheblich unter dieser Erkrankung. Die weit reichenden körperlichen Folgen sind ihnen aber häufig nicht bewusst. Übergewicht – Adipositas Wenn ein Mensch über einen längeren Zeitraum mehr isst, als er verbraucht, sind die Folgen binnen kurzer Zeit nicht zu übersehen. Übergewichtig sind über die Hälfte der deutschen Bevölkerung (BodyMass-Index: BMI über 25 ist Übergewicht; ein BMI über 30 bedeutet Adipositas). Auch immer mehr Kinder und Jugendliche sind betroffen. Neben erblichen spielen psychische Faktoren eine große Rolle bei der Entstehung von Übergewicht. WAS IST MAGERSUCHT? – HUNGERN FÜR EIN SCHÖNHEITSIDEAL ESSSTÖRUNGEN Bin ich zu dick, zu dünn oder ganz „normal“? Bei essgestörten Menschen kann das Körpergewicht sehr unterschiedlich sein. Alle haben aber eines gemeinsam: ein krankhaftes Verhältnis zum Essen. Die Nahrungsaufnahme und das Essen beherrschen das Denken der Betroffenen so sehr, dass es einen suchtartigen Charakter annimmt. Egal, ob Magersucht, Bulimie (Ess-Brech-Sucht) oder Adipositas (chronisches Übergewicht), jede Art von Essstörung wirkt sich nachhaltig auf die Gesundheit der Betroffenen aus. Die Behandlung ist oft schwierig und sehr langwierig. Magersucht – Anorexia nervosa Als psychosomatische Störung ist Anorexia nervosa eine Erkrankung mit schweren körperlichen Auswirkungen, die sogar zum Tod führen können. Zwar sind vorwiegend junge Frauen und Mädchen magersüchtig, aber auch männliche Jugendliche können betroffen sein. ADVENTECHO 2/2006 Attribute wie Attraktivität und Jugend sind heutzutage von großer Bedeutung. Dazu gehört es, schlank zu sein. Mode, Werbung, Film- und Fernsehindustrie – in der Öffentlichkeit spielt die äußere Erscheinung eine sehr wichtige Rolle. Entsprechend streben viele (insbesondere Mädchen und junge Frauen) danach, diesem Ideal gerecht zu werden. Weist der eigene Körper empfundene „Mängel“ auf (z. B. fühlen sich viele Menschen insgesamt zu dick oder sind der Meinung, dass Bauch oder Oberschenkel zu umfangreich geraten sind), dann wird durch verschiedene Maßnahmen versucht, diese „Mängel“ zu beheben. Dann sind Diäten, Bodybuilding oder exzessiver Sport angesagt, um möglichst rasch dem Schönheitsideal zu genügen. Einer Studie zufolge kontrollieren 80 bis 90 Prozent der Frauen der westlichen Welt ihre tägliche Nahrungsaufnahme, um dem gängigen Schönheitsideal des schlanken Körpers so nah wie möglich zu kommen. Die größte Schwierigkeit bei der Therapie der Magersucht ist die mangelnde Krankheitseinsicht der Betroffenen. Sie sehen ihr Untergewicht nicht als problematisch an. Für sie ist es im Gegenteil die „Lösung“ eines seelischen Problems. WAS IST ESS-BRECH-SUCHT? – „ESSANFÄLLE“ UND ANSCHLIESSENDES ERBRECHEN Kennzeichen dieser Spielart sind HeißhungerAttacken, in denen die Betroffenen in kurzer Zeit extrem viel essen. ICH KANN NICHT OHNE … Die Häufigkeit der Ess- und Brechattacken reicht von einer bis zwei pro Woche bis hin zu 20 pro Tag. Ebenso unbeständig ist auch die Zeitdauer einer einzelnen Attacke. Meist spielen sich solche Anfälle heimlich ab und werden vom Partner oder Familienangehörigen oft nicht oder erst sehr spät wahrgenommen. Die Bandbreite der beteiligten Gefühle („Ich könnt' dich fressen – du bist zum Kotzen!“) ist enorm: höchstes Lustempfinden und Befriedigung, tiefe Niedergeschlagenheit und ein Gefühl des Versagens können sich abwechseln. Das Gegessene wird anschließend durch selbst herbeigeführtes Erbrechen wieder ausgeschieden, denn die Betroffenen wollen ja nicht zunehmen. Meist ist den Betroffenen ihr Verhalten peinlich. Daher wird die Krankheit auch vor den besten Freunden und engsten Familienangehörigen so lange wie möglich verheimlicht. Willkürliches Erbrechen ist eine Möglichkeit, den dickmachenden Effekt der großen aufgenommenen Nahrungsmenge zu verhindern. Es werden aber auch andere Mittel eingesetzt, die keineswegs besser für die Gesundheit des Betroffenen sind: Abführmittel, Appetitzügler, Fastenperioden, Diuretika (entwässernde Medikamente), Schilddrüsenmedikamente u. a. Die Gründe für dieses Verhalten können vielfältig sein und reichen von Störungen des Körperbildes über ein übertriebenes Schlankheitsideal bis hin zu seelischen Konflikten, die auf diese Weise gelöst werden sollen. Die Krankheit verursacht einen starken Leidensdruck. Sie betrifft vorwiegend junge Frauen zwischen 20 und 30 Jahren. Zunehmend sind auch junge Mädchen betroffen. Anders als die Magersüchtigen haben die Bulimikerinnen häufig ein normales oder leicht erhöhtes Körpergewicht. Damit fallen sie nicht so leicht auf und können ihr Problem in der Öffentlichkeit gut verbergen. Die Betroffenen wissen aber, dass sie krank sind. Sie schämen sich sehr für ihr Verhalten, können aber die Essanfälle und das darauf folgende Erbrechen nicht verhindern. Der Anteil der Männer unter den Betroffenen liegt nur etwa bei 4,5 Prozent. Hinter jedem Betroffenen steht eine spezifische Leidensgeschichte, die Verallgemeinerungen erschwert. Es gibt trotzdem einige verbindende Merkmale. Oft sind bulimische Menschen sehr kontrolliert. Sie haben in der Zeit zwischen den Essattacken ihr Leben äußerlich meist gut im Griff und sind nicht selten auch erfolgreich – sie funktionieren gut. Betroffene Frauen haben in ihrer Lebensgeschichte häufig eine (oder mehrere) sehr negative sexuelle Erfahrungen gemacht. Eine Bulimie kann sich aber auch aus einer Magersucht entwickeln, wenn das ständige Hungern erlahmt. Eine dann auftretende Essattacke wird als Schwäche erlebt und soll durch anschließendes Erbrechen korrigiert werden. DAS BEISPIEL VON FRAU S. Frau S. ist heute Mitte 30 und berichtet, dass sie als Pubertierende mehrfach sexuellen Übergriffen und Vergewaltigungen ausgesetzt war. Um für die Täter nicht länger attraktiv zu sein, begann sie übermäßig zu essen und nahm sehr viel zu. Die Übergriffe wurden zwar weniger, insgesamt aber blieb ihre Situation unerträglich. Auch ihr Gewicht und ihr Aussehen empfand Frau S. zunehmend belastend für sich selbst. Darüber hinaus fand sie sich „zum Kotzen“, denn seitens ihrer Mutter wurde ihr immer die Schuld an den sexuellen Übergriffen gegeben. Um der unerträglichen Situation zu entfliehen, heiratete sie sehr jung und wurde auch sofort schwanger. Die Ehe zerbrach bald nach der Geburt des dritten Kindes. Während der ersten Ehejahre hatte sie ihre Essprobleme relativ gut im Griff. Als es zu kriseln begann, reagierte sie wieder mit Essattacken und anschließendem Erbrechen. Es begann eine „Berg- und Talfahrt“ zwischen 52 und 110 Kilogramm Körpergewicht. Noch heute hat Frau S. Kleidung in verschiedenen Größen im Schrank. Die braucht sie auch, denn bei Stress (vor allem, wenn es um Beziehungsprobleme geht) reagiert sie noch immer mit Essen und zuweilen auch mit Erbrechen. Ihr Problem ist ihr heute aber bewusst, und sie schafft es immer öfter, ihre Interessen angemessen zu vertreten, weniger Ärger in sich hineinzufressen und Konflikte besser zu lösen. ■ Rat und Hilfe bei Essstörungen Bücher: Maja Langsdorff: Die heimliche Sucht, unheimlich zu essen. Bulimie – Verstehen und heilen, Fischer Verlag, Frankfurt, 2002 Peggy Claude-Pierre: Der Weg zurück ins Leben. Magersucht und Bulimie verstehen und heilen, Fischer Verlag, Frankfurt, 2001 Beratung: NAKOS (Nationale Kontakt- und Informationsstelle zur Anregung und Unterstützung von Selbsthilfegruppen). Tel.: 030-31 01 89 60 oder E-Mail: [email protected] Selbsthilfe: Overeaters Anonymous (OA), Zentrale in Bremen, Tel.: 0421-32 72 24 Internet: www.bulimie-online.de/ mit Adressdatenbank www.hungrig-online.de www.magersucht-online.de www.adipositas-online.com Matthias Dauenhauer und Ulrike Herr betreiben zusammen die Praxis für Psychotherapie DOPPEL:PUNKT in Reutlingen. [email protected] 2/2006 ADVENTECHO 13