Die Rechtschreibkrüppel kommen

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Die Rechtschreibkrüppel kommen
AUSGABE 46
Winter 2011/12
12. Jahrgang – 4
ISSN1439-8834
(Ausgabe für Deutschland)
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Demokratie
Der Vizepräsident des Deutschen Bundestags, Eduard Oswald, betont die Verantwortung
der Politik für die Sprache.
Seite 5
Bildung
Wolfgang Hildebrandt schreibt
über die bildungspolitischen
Hintergründe der fehlenden
Sprachtreue.
Seite 7
Gesichtserker
Thomas Paulwitz entlarvt ein
uraltes Märchen, das aus
den Reihen der Verharmloser
stammt.
Seite 9
Masuren
Rominte van Thiel erklärt, warum man nicht „in die Masuren“
fahren kann.
Seite 12
Rettungsschirm?
E
inen staatlichen „Rettungsschirm“ wie für Banken und überschuldete Staaten gibt es für die deutsche Sprache nicht. Daher danken wir
sehr für Ihre Spende! Sie ermöglichen
damit, daß die DEUTSCHE SPRACHWELT trotz zunehmender Teuerung
weiterhin viermal im Jahr erscheinen
kann. Wir begrüßen außerdem mehr
als zweitausend neue Leser, die in diesem Jahr zu uns gestoßen sind. Herzlich willkommen!
Ihre Stimme zählt!
x
x
Wer wird
Sprachwahrer?
Kleine
Leserbefragung
Seite 10
Die Rechtschreibkrüppel kommen
Wie lautgetreues Schreiben die Schreibsicherheit zerstört
Von Thomas Paulwitz
A
uf dieses Wiedersehen mit „Opa
Günta“ hätte ich gern verzichtet:
Die erste Fibel für meinen Sohn wurde
verfaßt „unter wissenschaftlicher Beratung von Günther Schweisthal“. Mit
Grausen lese ich diesen Hinweis, als
ich das Buch das erste Mal in die Hand
nehme. Jener Mann ist für mich kein
Unbekannter. Ich lernte ihn auf der
Leipziger Buchmesse 2007 kennen. Er
war Akademischer Direktor am Institut
für Phonetik der Universität München
und ist mitverantwortlich dafür, daß
bayerische Grundschulen seit dem
Schuljahr 2001/2002 das lauttreue, das
sogenannte „Phonetische Schreiben“
unterrichten.
Dabei handelt es sich um den bayerischen Ableger der in ganz Deutschland
verbreiteten Methode „Lesen durch
Schreiben“ (LdS). Schweisthal befindet
sich zwar seit Jahren im Ruhestand, seit
2007 jedoch zieht er als „Opa Günta“
durch die Lande (siehe „Schraip widu
schprichsd?“ in DSW 28, Seite 1). Er
verkauft Übungsmaterial, in dem zum
Beispiel solche Sätze zu lesen sind: „Di
Buchstabentafel dea Erwaksenen haist
Alfabet du brauchst si späta in dea Schule bai dea Ortografi oda Rächtschraibung.“ Damals forderte ich: „Schickt
Opa Günta bitte aufs Altenteil.“ Leider spukt Opas Ungeist jedoch weiter,
eben auch in der Fibel meines Sohnes,
Gott sei Dank lediglich beratend. Nicht
auszudenken, wenn „Opa Günta“ auch
die Texte geschrieben hätte. Trotzdem
reicht das Werk bei weitem nicht an
die didaktische Qualität der Fibel von
Anni Leißl und Ali Mitgutsch heran,
die wir vor dreißig Jahren in der Schule
verwenden durften. Neu ist eben nicht
immer auch besser.
„Lesen durch Schreiben“ bedeutet, daß
während der ersten beiden Schuljahre
statt der traditionellen Fibel und eher
als lästig erachteten Rechtschreibregeln eine sogenannte „Anlauttabelle“ im Mittelpunkt des Unterrichts
steht. Schulanfänger sollen zunächst
so schreiben, wie sie sprechen. Das
lateinische Abece kann jedoch für die
durchgesetzt, die auf den Schweizer
Reformpädagogen Jürgen Reichen
(1939 bis 2009) zurückgeht. Dieser
warb für LdS mit Hilfe des „Hamburger Instituts für Lehrerfortbildung“.
Reichen fand gelehrige Schüler, die
sein radikales Werk in zum Teil etwas
abgeschwächter Form durchsetzten.
Einer davon ist Hans Brügelmann. In
einem Nachruf auf Reichen jubelte er,
daß es gelang, „500 Jahre Fibeltradition“ zu überwinden. Brügelmann nennt
seine Weiterentwicklung „Spracherfahrungsansatz“. Weitere LdS-Ableger
sind „Tinto“ von Rüdiger Urbanek und
die „Rechtschreibwerkstatt“ von Norbert Sommer-Stumpenhorst.
Karikatur von Bernd Zeller
deutsche Sprache keine Lautschrift
sein, weil die Buchstaben nicht für die
deutsche, sondern eben für die lateinische Sprache entwickelt wurden. Dehnungs-h oder Dehnungs-e, Buchstabenverdoppelungen und so weiter hört
man nicht; auch nicht, ob zum Beispiel
ein gehörtes „F“ als „V“ oder tatsächlich als „F“ zu schreiben ist. Daher gelingt das Schreiben nach Gehör nur bei
einzelnen Wörtern. Schreibfehler sind
unvermeidlich. Besondere Schwierigkeiten haben überdies diejenigen, die
nicht genau nach der Schrift sprechen,
sondern eine von der Mundart geprägte
Sprache oder gebrochenes Deutsch.
Die Kinder bekommen mit LdS zwar
einen schnelleren Zugang zur Schrift,
machen jedoch mehr Fehler. In Verbindung mit dem sogenannten „Freien
Schreiben“ entfaltet LdS eine geradezu zerstörerische Wirkung auf die
Rechtschreibsicherheit. Lehrer und
Eltern dürfen nach der reinen LdSLehre Falschschreibungen nicht verbessern, um die Schreibbegeisterung
der Schüler nicht zu beeinträchtigen.
Statt dessen prägen sich die Fehler ein.
Jedes Kind entwickelt seine eigene
Rechtschreibung, die logischerweise meistens leider nicht mit der normierten übereinstimmt. Ab der dritten
Klasse, spätestens jedoch am Ende der
Grundschulzeit, kommt dann das böse
Erwachen, wenn Lehrer plötzlich das
Einhalten von Regeln verlangen.
Auf diese Weise verlagert sich ein Teil
des Rechtschreibunterrichts ins Elternhaus. Die Eltern müssen berichtigend
eingreifen. Erfahrungsgemäß sind
Kinder eher dankbar, wenn man ihnen
behutsam, aber deutlich, die richtige
Schreibweise zeigt und Sicherheit gibt.
Etwas richtig geschrieben zu haben, ist
ein Erfolgserlebnis, das man nicht vorenthalten darf. Kinder von Bildungsfernen, Einwanderern oder ohne Elternbetreuung (aufgrund der Ganztagsschule)
haben also ein größeres Risiko, zum
Rechtschreibkrüppel zu werden.
Glück haben Eltern, wenn sie es mit
einem Lehrer zu tun haben, der kein
Anhänger der reinen LdS-Lehre ist. Von
Bundesland zu Bundesland und von
Schule zu Schule schwankt die LdSGläubigkeit. Ein Berliner Vater etwa
klagt: „Meine Tochter hatte diesen LdSQuatsch die ersten beiden Schuljahre.
Nach dem zweiten Schuljahr bekam
sie eine neue Lehrerin. Auf dem ersten
Elternabend teilte diese mit, daß ein Arbeiten im Deutschunterricht nicht möglich sei, die Kinder hätten allesamt zu
viele Defizite in der Rechtschreibung.“
In ganz Deutschland hat sich mit Hilfe der Kultusministerien eine Idee
Erfolge aus der Arbeit der DEUTSCHEN SPRACHWELT
Schreibschrift:
Sprachstraße:
Schlecker-Brief:
Erste Unterschriften
übergeben
Arbeitsgemeinschaft
erweitert
Entrüstungssturm
entfacht
Unsere Aktion „Rettet die Schreibschrift“ feierte einen ersten Zwischenerfolg. Gemeinsam mit der
„Aktion Deutsche Sprache“ übergab
die DEUTSCHE SPRACHWELT
die ersten Unterschriften an die Kultusministerkonferenz (KMK). Am 9.
Dezember überreichten wir 2.108 Unterschriften an KMK-Präsident Bernd
Althusmann. Wir sammeln weiter!
Fordern Sie bitte Unterschriftenlisten
bei uns an. Danke für Ihre Mithilfe!
Siehe Seite 6.
Das dritte Arbeitstreffen der Arbeitsgemeinschaft (AG) „Straße der
deutschen Sprache“ fand am 17.
November in der Goethestadt Bad
Lauchstädt statt. Mittlerweile arbeiten ein Dutzend Orte in der AG an
der Planung der neuen Ferienstraße,
deren Kern in Mitteldeutschland entsteht. Ein Dutzend weiterer Orte ist
interessiert. Die AG tauschte sich unter anderem über ein Vermarktungskonzept aus.
Siehe Seite 4.
Am 22. Oktober veröffentlichten wir
im Facebook-Auftritt der DEUTSCHEN SPRACHWELT ein Antwortschreiben der Drogeriekette „Schlecker“, das seinen Spruch „For You. Vor
Ort“ mit dem vermeintlich „niedrigen
Bildungsniveau“ der Schlecker-Kunden rechtfertigte. Daraufhin brach
ein Sturm der Entrüstung aus, der das
Unternehmen zu mehreren Stellungnahmen zwang – ein herber Schlag
für alle Dengländer.
Siehe Seite 3.
Die Mängel von LdS sind wissenschaftlich längst erwiesen. So gab
das Hessische Kultusministerium eine
Untersuchung in Auftrag, die die Vorzüge der „Rechtschreibwerkstatt“ von
Sommer-Stumpenhorst beweisen sollte. Doch die Untersuchung „Schriftsprach-Moderatoren“ – auch als „Marburger Studie“ bekannt – lieferte nicht
das gewünschte Ergebnis. Unabhängigen Lehrern gelang es nämlich, in die
Untersuchung eine Vergleichsgruppe
aufnehmen zu lassen, die traditionell
mit einer Fibel (mit dem Namen „Lollipop“) unterrichtet wurde. Ende 2004
lagen die Ergebnisse vor: Der Anteil
der rechtschreibschwachen Kinder
lag in der LdS-Gruppe am Ende der
1. Klasse bei 16 Prozent, am Ende der
2. Klasse bei 23 Prozent. In der FibelGruppe hingegen waren nach dem
ersten Schuljahr sechs Prozent, nach
dem zweiten sogar nur noch fünf Prozent der Schüler rechtschreibschwach.
Das waren eindeutige Ergebnisse, die
das Hessische Kultusministerium jedoch zurückhielt. Statt dessen gab es
eine neue Untersuchung in Auftrag.
Eine Arbeitsgruppe an der Universität
Gießen um Ulrich Glowalla sollte prüfen, wie gut sich Lese-RechtschreibSchwierigkeiten durch SommerStumpenhorsts Methode verhindern
lassen. Diese Studie konnte endlich
das gewünschte Ergebnis bereitstellen,
denn: „Professor Glowallas Ehefrau
ist Geschäftsführerin der Lerndesign
GmbH, die Material für die ‚Rechtschreibwerkstatt‘ herstellt und dieses
über den Collishop von Diplom-Psychologe Norbert-Stumpenhorst im Internet vertreibt“, wie die „Frankfurter
Rundschau“ herausfand.
Bayern hat soeben damit begonnen, seinen Grundschullehrplan bis zum Schuljahr 2014/15 zu überarbeiten. Dazu hat
das Kultusministerium in einem ersten
Schritt 3.500 Grundschullehrer befragt.
Nur 17,9 Prozent der Befragten stimmten dabei nicht der Aussage zu, daß
lautgetreues Schreiben „eine nachlässige Haltung bezüglich einer korrekten
Rechtschreibung“ fördert. Ob dieses
klare Ergebnis sich im neuen Lehrplan
widerspiegeln wird? Es ist zu wünschen, aber nicht sicher. „Lesen durch
Schreiben“ ist ein Irrweg, der zurückgegangen werden muß.
Leserbriefe
Seite 2
Glanzlichter der deutschen Sprache
ach zwei Tagen Autofahrt
kommen wir von Berlin tief
in den Süden Italiens, an den Knick
der Stiefelspitze, dort wo Odysseus
der Sage nach ans Ufer gespült wurde. Aus dem Stapel der in den letzten
Augenblicken vor der Abfahrt zusammengesuchten Bücher ergreife ich
eins. Das hatte ich schon einmal in
der Hand, allerdings in der Geschäftigkeit des Berufsalltags nur kurz:
„Sternstunden der deutschen Sprache“, herausgegeben von Walter Krämer und Reiner Pogarell (IFB-Verlag,
Paderborn 2003, 431 Seiten, 24,90
Euro). Nun, im Urlaub, zieht es mich
in seinen Bann. Ich vertiefe mich
darin. In feinsinnig formulierten und
gestalteten Beiträgen werde ich an
einem farbenfreudigen Faden durch
das Geflecht deutscher Geschichte geführt. Die ausgesuchten und kommentierten Glanzlichter deutscher Sprache sind außerordentlich lehrreich
und anregend. Viele von ihnen werden der Dunkelheit und Vergessenheit
entrissen und dürfen wieder im Sternenhimmel unserer Sprache und Geschichte leuchten! Ich fühle mich von
den Autoren mannigfaltig bereichert,
belehrt und beschenkt. Möge diese
Sammlung zu einem Standardwerk
deutscher Geschichte werden!
Erhard Bohr, Berlin
Analphabetismus wird gefördert
Zur geplanten Abschaffung der Schreibschrift
D
ie Abschaffung der Schreibschrift wirft auch in Naturwissenschaft und Technik Probleme auf.
Bei (kleinbuchstabigen) Abkürzungen für physikalische Größen werden
die im Druck vorgeschriebenen Kursivbuchstaben auf Schultafeln oder
Projektionsfolien durch Schreibschriftbuchstaben ersetzt, während
die Einheitenabkürzungen in Grundschrift gesetzt oder mit Druckbuch-
staben geschrieben werden. Auf diese Weise werden etwa „Masse“ von
„Meter“ oder „Millisekunde“ von
„Masse mal Strecke“ und anderes
mehr auseinandergehalten. Die angedachte „Schriftreform“ wird also auch
den Analphabetismus der künftigen
Ingenieure und Physiker befördern,
aber die benötigt man hierzulande ja
ohnehin nur für Lippenbekenntnise.
Dr. E. Schmidt, Bad Schönborn
Was hat Ihnen gefallen? Was hätten wir
besser machen können? Worauf sollten
wir stärker eingehen? Schreiben Sie uns,
wir freuen uns auf Ihre Meinung! Auch
wenn wir nicht jeden Brief beantworten
und veröffentlichen können, so werten
wir doch alle Zuschriften sorgfältig aus.
Bei einer Veröffentlichung behält sich
die Redaktion das Recht vor, sinnwahrend zu kürzen. Auf diese Weise wollen
wir möglichst viele Leser zu Wort kommen lassen. Schreiben Sie bitte an:
DEUTSCHE SPRACHWELT
Leserbriefe
Postfach 1449, D-91004 Erlangen
[email protected]
Einfach lächerlich!
Zum Beitrag „Schreiben wie in
Holzpantoffeln“ von Karin PfeifferStolz in DSW 45, Seite 3
K
arin Pfeiffer-Stolz’ Artikel
fand ich ganz ausgezeichnet.
Es ist ja wirklich absurd, daß nach
der für die deutschen Schulkinder so
problematisch verlaufenen Rechtschreibreform jetzt auch noch diese
neue Marotte zur Diskussion steht.
Einfach lächerlich! Allerdings ist
in den USA etwas ganz Ähnliches
geplant.
James Werner Fuchs,
Buenos Aires
Wiener Chinesen brauchen kein „SALE“
Zum Beitrag „Deutschland schafft seine Sprache ab“ (Teil 1) von Wolfgang Hildebrandt in DSW 44, Seite 3
D
as einzige Auslagenfenster
(auf binnendeutsch würde
man wohl eher Schaufenster sagen)
in Wien, wo ich während der letzten
Monate eine Ankündigung AUSVERKAUF gelesen habe – nicht
das auch in Österreich allgegenwär-
tige SALE, noch den da und dort
manchmal angekündigten ABVERKAUF – befindet sich im „Hongkong Haus“ im siebenten Stadtbezirk, wo eine chinesische Familie,
ohne Mitwirkung irgendeiner einheimischen „Kraft“, tausenderlei
Heilkraft aus
dem Baumarkt?
Liebe Leser!
Zum Buch ,,Sternstunden der deutschen Sprache“
N
Deutsche Sprachwelt_Ausgabe 46_Winter 2011/12
im Reich der Mitte hergestellte Erzeugnisse feilbietet, vom Fingerhut
bis zur meterhohen Porzellanvase.
Dr. Franz Rader, Obmann
(Vorsitzer) des Vereins
„Muttersprache“, Wien
Von Dagmar Schmauks
F
ehlgriffe bei Fremdwörtern sind
bekanntlich eine unerschöpfliche
Quelle des Frohsinns – natürlich nur
für Linsenzähler, ergänzen die eher unbekümmerten Sprachbenutzer diesen
Satz. Neulich wurde in einem Nachruf
jemand als „Mensch hoher PRÄZESSION“ beschrieben – er trudelte also
zu Lebzeiten wie ein Kreisel? Hoffentlich nicht ausgerechnet während der
Fronleichnams-Präzession! Die abgebildete Fundsache zeigt sehr schön,
wie leicht man Wörter gleicher Aussprache verwechselt, wie also sachlich
nicht Zusammengehöriges sich trotzdem lianenartig umeinander wickelt.
Bild: Schmauks
„Akupunktur“ – ein Kunstwort aus
lateinisch „acus“ (Nadel) und „pungere“ (stechen) – heißt das traditionelle chinesische Verfahren, den gestörten Fluß der Lebensenergie durch
Nadelstiche zu behandeln. Bei der
„Akupressur“ massiert man die entsprechenden Stellen mit den Fingerspitzen. Moderne „Power-Patienten“
verschmähen aber offenbar diese
sanften Maßnahmen, bei ihnen wirkt
nur noch geballte Energie (lat. „accumulare“ = anhäufen). Jeder Heimwerker kennt Akku-Schrauber, -Schleifer
und -Sägen sowie die durchdringende
Kraft und Lärmentwicklung dieser
Geräte. Vor unserem beklommenen
geistigen Auge wirft eine stämmige
Masseurin mit Gehörschutz ein klobiges Gerät an, der Hochleistungsmotor
heult auf, und der tausendmal in der
Minute rotierende Aufsatz nähert sich
unaufhaltsam unseren Fußsohlen …
Dazwischen
Es gibt Menschen, die verweilen –
Aus guten Gründen – zwischen den Zeilen.
Und jeder, der dies ausprobiert,
Ist plötzlich besser informiert!
Günter B. Merkel, Wilhelmsfeld
Einstieg in die dichterische Merkelwelt:
Günter B. Merkel: Große Sprüche vom
gnadenlosen Dichter, SWP-Buch-Verlag,
Wilhelmsfeld 2007, 128 Seiten, fester Einband, 9,50 Euro. Bestellung unter Telefon
06220/6310. www.merkel-gedichte.de
Briefe an uns und unsere Leser
(Rechtschreibung im Original)
„Ladies After Work Party ‚Lounge in the City‘ powered by CSU“
Sehr geehrter Herr H.,
ist es hier, mehr Mitsprache und
mehr Mitwirkungsmöglichkeiten für
Frauen in der CSU zu schaffen. Mit
neuen Veranstaltungsformen, wie der
Ladies After-Work Veranstaltungsreihe, wollen wir insbesondere neue
weibliche Zielgruppen ansprechen,
um eine stärkere Repräsentanz von
Frauen in der CSU zu erreichen und
die Attraktivität der Partei für weibliche Wähler zu erhöhen.
vielen Dank für Ihre E-Mail vom
1. August 2011, in dem Sie insbesondere den Titel der CSU-Veranstaltungsreihe „Lounge in the City“
ansprechen. 2011 ist das „Jahr der
Frau“ in unserer Partei. Unser Ziel
Wir haben für die Einladung zu unserer ersten Frauenveranstaltung den
bereits eingeführten Begriff „Ladies
After Work“ verwendet, um gerade die
großstädtischen Frauen anzusprechen.
Mit großem Erfolg – Wir haben mit
CSU-Landesleitung
Franz-Josef-Strauß-Haus
Nymphenburger Straße 64
80335 München
10. Oktober 2011
genau dieser Art der Einladung bei unserer ersten Veranstaltung in München
rund 600 Gäste, darunter auch zahlreiche Nicht-CSU-Mitglieder, erreichen
können. Die Veranstaltung, ebenso
wie die Folgeveranstaltungen in Nürnberg, Regensburg, Augsburg und Rosenheim, Neu-Ulm und Erlangen hat
auch in den Medien und im Internet
eine breite und für die CSU sehr positive Berichterstattung gefunden. Darüber hinaus konnten wir bereits auf der
Veranstaltung neue Mitglieder für die
CSU und für die Frauen-Union gewinnen. Unsere Frauenveranstaltung war
zudem so erfolgreich, weil Veranstaltungsort und Ziel der Veranstaltung ein
stimmiges Gesamtbild ergaben.
Ich kann sehr gut nachvollziehen,
dass die Bezeichnung „Lounge in the
City“ neu und ungewohnt erscheinen
mag. Unser Erfolgsrezept als Partei
war es jedoch stets, offen zu sein für
Neues, wo es nötig und erfolgreich
ist. Ich hoffe, Ihnen mit diesen Informationen weitergeholfen zu haben
und wünsche Ihnen alles Gute.
Mit freundlichen Grüßen
Julia Gschrey
Leiterin Referat Bildung, Kultur,
Senioren
Landesgeschäftsführerin SEN,
AKH, AKS
Volkswagen: Anglizismen sind „unumgaenglich und sogar Zielfuehrend“
[email protected]
30. August 2011
Sehr geehrter Herr B.,
vielen Dank fuer Ihre Anmerkungen und Fragen zum zunehmenden Gebrauch englischer Ausdruecke
im Rahmen der Namensgebung von
Volkswagen. Grundsaetzlich sind wir
bestrebt, fuer unsere Produkte Namen
zu entwickeln, die der Produktpositionierung, der Zielsetzung des Produktes und der „Kundenerwartung“
beziehungsweise dem Kundenverstaendnis gerecht werden. In diesem
Zusammenhang entwickeln wir Namen und Bezeichnungen fuer Fahrzeugprojekte, Fahrzeugfunktionen
und Aktionen, die mit den entsprechenden Schnittstellen im Unternehmen abgestimmt werden. Ziel ist
eine korrekte und einheitliche Kommunikation dieser abgestimmten
Namen und Bezeichnungen, um eine
moeglichst erfolgreiche
Bekanntmachung
der
Produkte im Markt zu
erreichen, um Vertrauen aufzubauen und die
Kaufentscheidung positiv beeinflussen zu koennen. Wir als global agierender
Konzern moechten bei den besonders
wichtigen Produktbestandteilen international einheitlich auftreten. Die
Internationalisierung von Produkten
und Technologien fuehrt dazu, dass
Produkte und Technologien weltweit
gleich benannt werden, um eine einheitliche Marktdurchdringung, Bekanntheit zu erreichen. Eine Zielsetzung der neuen Namensstrategie ist
es, die Produktmarken und -bestandteile weltweit durch gleiche Namen
fuer gleiche Produkte nachhaltig zu
staerken. Daher wurde beispielsweise
bei den Antriebsarten oder Motoren
versucht, Namen zu kreieren, die als
Marke schuetzenswert sind und international eingesetzt werden koennen.
Beispiele sind „4Motion“, „BlueMotion“, „TSI“ und „TDI“ und ganz
aktuell „Think Blue.“. „BlueMotionTechnologies“ ist die Dachmarke
fuer alle Produkte und Technologien,
die unsere Fahrzeuge schon heute effizienter machen. Sie steht fuer das
Zusammenspiel vieler Innovationen
wie zum Beispiel „BlueMotion“,
„BlueTDI“ und „TSI EcoFuel“.
„BlueMotion“ heisst nicht nur „blaue
Bewegung“ – „BlueMotion“ ist eine
Konzeptmarke, die sowohl fuer „nachhaltige Mobilitaet“ steht, aber auch als
das Guetesiegel fuer Umweltorientierung und Nachhaltigkeit der Marke
Volkswagen PKW verstanden wird.
Zukuenftig wird diese im Sinne der
Nachhaltigkeitsstrategie der Marke
Volkswagen PKW verstaerkt ihren
Einsatz finden. Economy wird in Ihrem geschilderten Zusammenhang als
Oekonomie, Sparsamkeit und Wirtschaftlichkeit als Eigenschaften unserer zukunftsorientierten Innovationen,
die allen zugaenglich gemacht werden
sollen, verstanden. Nachhaltigkeit ist
bei Volkswagen mehr als nur eine edle
Absicht: es ist ein Unternehmensziel!
Fahrzeuge zu bauen, die wenig CO2
ausstossen, ist hierbei nur der Anfang.
Im Zuge der Internationalisierung
und der verstaerkten Ansprache internationaler Kunden sind Anglizismen
unumgaenglich und sogar Zielfuehrend. Diese Namen und Bezeichnungen sollten allerdings leicht verstaendlich und international einsetzbar sein. Wir hoffen, dass wir auf Ihre
Anmerkungen in vollem Umfang
eingegangen sind und dass wir Ihre
Fragen vollstaendig und zufriedenstellend beantworten konnten. Fuer
weitere Fragen und Anregungen stehen wir Ihnen gerne zur Verfuegung.
Mit freundlichen Gruessen
Ihr Volkswagen Dialog Center
VOLKSWAGEN AG
Gegründet im Jahr 2000
Erscheint viermal im Jahr
Auflage: 25.000
Die jährliche Bezugsgebühr beträgt 10 Euro.
Für Nicht- und Geringverdiener ist der Bezug
kostenfrei. Zusätzliche Spenden sind sehr
willkommen.
Bundesrepublik Deutschland
Verein für Sprachpflege e. V.
Stadt- und Kreissparkasse Erlangen
Bankleitzahl 763 500 00
Kontonummer 400 1957
BIC: BYLADEM1ERH
IBAN: DE63763500000004001957
Republik Österreich
Verein für Sprachpflege e. V.
Volksbank Salzburg
Bankleitzahl 45010
Kontonummer 000 150 623
Bitte bei der Überweisung vollständige
Anschrift mit Postleitzahl angeben!
ISSN 1439-8834
(Ausgabe für Deutschland)
ISSN 1606-0008
(Ausgabe für Österreich)
Herausgeber
Verein für Sprachpflege e. V.
Sammelanschrift
Deutsche Sprachwelt
Postfach 1449, D-91004 Erlangen
Fernruf 0049-(0)91 31-48 06 61
Ferndruck (Fax) 0049-(0)91 31-48 06 62
[email protected]
[email protected]
Schriftleitung
Thomas Paulwitz
[email protected]
Gestaltung und Satz
moritz.marten.komm.
Claudia Moritz-Marten
[email protected]
Anzeigen
moritz.marten.komm.
Hans-Paul Marten
Fernruf 0049-(0)22 71-6 66 64
Ferndruck (Fax) 0049-(0)22 71-6 66 63
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Sprachwelt-Mitarbeiter
Ursula Bomba, Lienhard Hinz (Berlin), Rominte van Thiel, Dagmar Schmauks, Wolfgang Hildebrandt, Diethold Tietz, Jürgen
Langhans, Ulrich Werner, Klemens Weilandt,
Andreas Raffeiner (Bozen/Innsbruck)
Druck
Ferdinand Berger & Söhne GmbH
Wiener Straße 80, A-3580 Horn
Namentlich gekennzeichnete Artikel geben nicht unbedingt die Meinung der
Redaktion wieder. Das gilt besonders für
Leserbriefe.
Die 47. Ausgabe erscheint im Frühling
2012. Redaktions- und Anzeigenschluß
sind am 31. Januar 2012.
Deutsche Sprachwelt_Ausgabe 46_Winter 2011/12
Hintergrund
Seite 3
Denglisch ist für Dumme
Der Fall „Schlecker“ – ein Lehrstück für den Widerstand gegen die Sprachverhunzung
Von Thomas Paulwitz
Z
weimal brachte die DEUTSCHE SPRACHWELT (DSW)
im Jahr 2011 Personen des öffentlichen Lebens auf die Titelseite der
BILD-Zeitung, Deutschlands größter
Tageszeitung. Am 10. März war es
Bundesverkehrsminister Peter Ramsauer, am 27. Oktober erwischte es
Florian Baum, den Pressesprecher
der Drogeriekette „Schlecker“. Während sich der erste darüber sicher
gefreut haben dürfte, hat sich der
zweite vermutlich eher geärgert. Beide fanden nämlich Erwähnung in der
Rubrik „Gewinner/Verlierer“, allerdings in unterschiedlichen Spalten –
Ramsauer auf der Gewinner-, Baum
auf der Verliererseite.
Was war geschehen? Ramsauer hatte
sich als „Sprachwahrer des Jahres“ einen Namen gemacht, weil er in seinem
Ministerium systematisch entbehrliche
Anglizismen vermeidet. So machte er
unter anderem das „Travel Management“ wieder zur „Reisestelle“. Außerdem setzte er durch, daß die Deutsche
Bahn nach und nach an allen Bahnhöfen den „Service Point“ in „DB Information“ umbenennt: „BILD meint:
Deutsche Sprache, klare Sprache!“
„Im Ton vergriffen!“
Das Unternehmen „Schlecker“ hingegen
hatte einen Sturm der Entrüstung hervorgerufen, nachdem es seine Vorliebe
für Denglisch begründet hatte. Florian
Baum, „Leiter der Unternehmenskommunikation“, hatte in einem Brief an
einen DSW-Leser mit ungeschickten,
aber entlarvenden Worten den Spruch
„For You. Vor Ort“ verteidigt. Er rechtfertigte ihn gar mit dem „niedrigen Bildungsniveau“ seiner Kunden: „BILD
meint: Im Ton vergriffen!“
Der Fall verursachte einen beträchtlichen Ansehensschaden nicht nur für
„Schlecker“, sondern auch allgemein
für denglische Werbesprüche, denn er
bestätigte die Vorbehalte gegenüber
deutsch-englischen Sprachmischungen. „Jetzt ist es amtlich: Denglisch
ist für Doofe“, jubelte daher Walter
Krämer in den „Sprachnachrichten“. Doch betrachten wir den Fall
von vorn. Mitte Mai 2011 gab sich
die Drogeriekette „Schlecker“ im
Rahmen ihres Programms „Fit for
Future“ ein neues Erscheinungsbild.
Infolgedessen führte das Unternehmen den neuen Leitspruch ein: „For
You. Vor Ort“. Schon bald erreichten
die DEUTSCHE SPRACHWELT
Zuschriften entsetzter Bürger. Einer
schrieb entgeistert: „Ich dachte, so etwas wäre heute nicht mehr möglich“.
„Das schleckert nicht“
Erfunden hat den Spruch die bekannte Düsseldorfer Werbeagentur Grey,
die schon des öfteren mit den von ihr
entwickelten Werbesprüchen kräftig danebengelangt hat. Es erstaunt,
welchen Flurschaden ein einziges
Unternehmen in der Werbesprache
in Deutschland hinterlassen kann. So
ist Grey unter anderem verantwortlich für „Ruhrn TeamworkCapital“
als Marke für das Ruhrgebiet, für den
Karstadt-Spruch „Schöner shoppen
in der Stadt“ und für die Aufforderung „Love Odol“, die das bisherige
„Küß mit“ des Mundwasserherstellers ersetzte. Und nun schuf Grey
„For You. Vor Ort“.
„Das schleckert nicht“, warnte frühzeitig Bernd M. Samland in seinem
Netztagebuch www.markenecho.de.
Der Geschäftsführer der Markenagentur „Endmark“ spottete: „Besonders interessant ist der Sprachmix
Englisch-Deutsch; wahrscheinlich
für die anglophil-angehauchte typische Schlecker-Kundin – oder für
die Internationalität ‚vor Ort‘?“ Außerdem gebe es bereits 285 „For
you“-Marken, dazu kommen 82mal
das noch blödere „4U“ und 56 „Vor
Ort“-Marken, so Samland weiter.
Es gab also sehr gute Gründe,
„Schlecker“ in der Sommer-Ausgabe
der DEUTSCHEN SPRACHWELT
in die Sprachsünder-Ecke zu stellen
(vergleiche DSW 44, Seiten 1 und
10). „Schlecker geht uns auf den
Wecker“, meinten wir. Wie immer
forderten wir zu Beschwerdebriefen
auf. Unser Leser Dr. Paul W. ließ sich
das nicht zweimal sagen und schrieb
am 23. Juli einen geharnischten Brief
ins „Schleckerland“ nach Ehingen:
„Was soll dieser englisch-deutsche
Sprachmischmasch?“ fragte er und
rief zu mehr Verständlichkeit und
Selbstbewußtsein im Gebrauch der
Muttersprache auf. Um dem Schreiben Nachdruck zu verleihen, ließ
es Dr. W. von rund zwei Dutzend
Sprachfreunden unterzeichnen: „Wir
protestieren gegen diese sprachliche
Selbstverleugnung und bitten Sie
dringend, in Zukunft deutsche Formulierungen zu verwenden.“
„Der Stiltugend der
Latinitas verpflichtet“
Am 1. September antwortete „Schlecker“ mit einem Schreiben, das Baum
verfaßt hatte. Der Unternehmenssprecher hatte sich Zeit genommen
und erfreulicherweise nicht – wie
sonst leider häufig üblich – eine aus
Textbausteinen zusammengesetzte,
mit leeren Worthülsen zusammengestückelte Blabla-Antwort geschrieben. Statt dessen schlug er einen
überraschend anbiedernden Ton an
und versuchte angestrengt, mit seiner
eigenen Bildung zu beeindrucken.
Er selbst, so Baum, fühle sich ja
„im privaten Sprachgebrauch der
Stiltugend der Latinitas verpflichtet“, prahlte er. Daher sehe er „die
Bestrebungen des Vereins Deutsche
Sprache mit großem Wohlwollen“.
Den Protest nehme er also „mit
Sympathie zur Kenntnis“. Das neue
Unternehmensmotto sollte jedoch
„die durchschnittlichen SchleckerKunden, die niederen bis mittleren
Bildungsniveaus zuzuordnen sind,
ansprechen.“ Zielgruppe seien also
„nicht die vielleicht 5 % der Bevölkerung, zu denen Sie und Ihre Mitunterzeichner gehören (nämlich promovierte Akademiker, Philologen und
andere reflektierte Sprachverwender)
– sondern die übrigen 95 %.“
So offen und ehrlich hatte bislang
noch kein Unternehmen zugegeben,
wie hochmütig es über seine Kunden
denkt. 95 Prozent der Bevölkerung
denken also nicht über die Sprache
nach, belehrt uns „Schlecker“ – was
nicht stimmt, wie Umfragen zeigen.
Sprachmischungen sind, wenn wir
„Schlecker“ folgen, am besten dazu
geeignet, um Ungebildete zu beeindrucken. Baum selbst spricht privat
freilich nicht so, denn er zählt sich
gab. Meist berichten Zeitungen
nämlich erst dann über Aktionen,
wenn eine Nachrichtenagentur etwas
gemeldet hat. Diesmal ist es umgekehrt. Aufgrund der zahlreichen
Presseveröffentlichungen, die bereits
erschienen sind, sieht sich die Deutsche Presseagentur (dpa) verpflichtet
zu berichten (siehe Kasten).
offenbar zu den erlesenen fünf Prozent der Bevölkerung. Daher versäumte er auch nicht, neben seine
Unterschrift die Abkürzung „M.A.“
– Magister Artium – zu setzen.
Dieses Schreiben fanden wir so
bemerkenswert, daß wir es in der
Herbst-Ausgabe der DEUTSCHEN
SPRACHWELT
veröffentlichten
(DSW 45, Seite 2). Darüber hinaus
luden wir am 22. Oktober auf Bitten eines Lesers eine Ablichtung des
Schreibens auf unsere Facebook-Seite
hoch und kommentierten: „Schlecker
verteidigt seinen Spruch ‚For You. Vor
Ort‘ mit dem ‚niedrigen Bildungsniveau‘ seiner Kunden.“ Außerdem verbreiteten wir einen Hinweis über den
Kurzmitteilungsdienst „Twitter“.
„Ideal für Doofe“
Mit dem Einspeisen in die elektronischen Medien lösen wir ein Lauffeuer aus, das wir so nicht für möglich gehalten hatten und „Schlecker“
in höchste Erklärungsnöte bringt.
Rund 1.000 Facebook-Nutzer setzen
den Brief auf ihre Facebook-Seite,
wo er wiederum von vielen anderen gelesen werden kann. Über 400
Kommentare erscheinen unter dem
Brief. Binnen kurzem steigt die Zahl
der Sprachwelt-Leser auf Facebook
von 7.000 auf über 8.000. Schnell
werden Twitter-Nutzer aus der Werbebranche aufmerksam und geben
den Brief an ihre zahlreichen Leser
(„Follower“) weiter.
Eine Lawine entsteht. Die einschlägigen Fachzeitschriften für Werbung
bemerken dies als erste und berichten. Das Magazin „Meedia“ titelt
am 25. Oktober: „Neuer SchleckerClaim: ideal für Doofe“. Am selben
Tag berichtet „W&V“ („Werben und
Verkaufen“). „Schlecker“ sieht sich
zu einer ersten öffentlichen Stellungnahme gezwungen, bleibt jedoch
uneinsichtig, vergreift sich dabei
im Ton und beschimpft Kritiker sogar als „unverschämt und arrogant“:
„Ansonsten stellen wir uns gerne einer echten Diskussion, ob ein kreatives Unternehmensmotto mit einer
Kombination aus deutschen wie englischen Begriffen Sprache allgemein
weiter entwickelt oder degeneriert.“
Unterdessen erreicht der Fall „Schlecker“ die wichtigsten deutschen Zeitungen und Zeitschriften. Bei der DEUTSCHEN SPRACHWELT melden sich
unter anderem BILD, „Frankfurter
Allgemeine“ und „Spiegel Online“.
Am 26. Oktober berichten „Süddeutsche“ („For You. Vorsicht“), „Handelsblatt“ („Schlecker nennt Kunden ungebildet“), „Financial Times
Deutschland“ („Schlecker hält eigene
Kunden für blöd“) und viele andere.
„Schlecker-Claim löst
Shitstorm aus“
Besondere Wirkung entfaltet ein
Beitrag in „Spiegel Online“, in dem
Jochen Brenner spöttisch feststellt:
„Jeder Schlecker-Kunde, der die
Prozentrechnung beherrscht, hat
nun schwarz auf weiß, daß belesene
Schöngeister ihr Klopapier bei Drogerie Müller einkaufen.“ Am Tag darauf
zieht „Welt Online“ mit einem eigenen Artikel nach, der den Titel trägt:
„Schlecker ist die FDP im Einzelhandel. Nur peinlich“. Beide Medien
sprechen von einem „PR-Desaster“,
also von einer katastrophalen Öffentlichkeitsarbeit der Drogeriekette.
Zahllose Kommentare werden an den
verschiedensten Orten im Netz geschrieben. Überall ist das mißlungene
Motto im Gespräch. Die Zeitschrift
„Meedia“ betitelt daher einen Beitrag:
„Schlecker-Claim löst Shitstorm aus“.
Auf unserer Facebook-Seite übersetzen wir: „Schlecker-Spruch entfacht
Sturm der Entrüstung.“ „Meedia“
ändert später die Überschrift in „Eiertanz um ‚doofe‘ Kunden“. Sogar Werbeleute versuchen nun offenbar, nicht
allzu sehr mit Denglisch um sich zu
werfen, um nicht in die SchleckerEcke zu geraten.
Als dann die BILD-Zeitung am 27.
Oktober den „Schlecker“-Sprecher
zum „Verlierer“ des Tages kürt, veröffentlicht „Schlecker“ die zweite
Stellungnahme: „Brief führte zu Mißverständnissen“. Diesmal spart sich
„Schlecker“, Kritiker zu beschimpfen. Der Brief des Pressesprechers
sei „unglücklich formuliert“ gewesen: „Jede Art von Mißverständnis
bedauern wir sehr.“
Nun geschieht etwas, was es in der
Pressearbeit der DEUTSCHEN
SPRACHWELT bisher noch nicht
„Schlecker“ setzt auf Türkisch
Was bleibt? Nahezu eine Woche
lang war der Fall „Schlecker“ im
Gespräch. Er wird aber auch über
diese Aufregung hinaus nachwirken. Wer künftig einen denglischen
Werbespruch einsetzt, muß mit dem
Vorwurf rechnen, er halte wohl seine
Kunden für dumm. „Finger weg von
denglischen oder englischen Claims!
[Werbesprüchen]“, empfiehlt daher
ein Berater für Rufpflege.
Für die tatkräftigen Sprachschützer
bleibt die Genugtuung, daß auch
ein kleiner Beschwerdebrief wirken
kann. Beschweren lohnt sich also! Indem wir den Einsatz gedruckter und
elektronischer Medien verknüpften,
kamen wir zum Erfolg. Diese Erkenntnis ist wegweisend für unsere
Spracharbeit.
Bei „Schlecker“ indes scheinen Hopfen und Malz verloren. Das Unternehmen will trotz dieser Erfahrung
vorerst an seinem mißlungenen
Spruch festhalten. Es arbeite jedoch
daran, so „Schlecker“-Sprecher Patrick Hacker am 4. November zur
„Westdeutschen Allgemeinen Zeitung“, seine Kunden in einer Sprache anzusprechen, die sie verstehen.
Daher verbreitet „Schlecker“ seit
November in Duisburg Prospekte für
Kunden „in ihrer Landessprache“ –
nämlich Türkisch. Im Erfolgsfall will
„Schlecker“ Türken deutschlandweit
gezielt auf türkisch ansprechen. Etwas Deutschklingendes findet sich
dann zumindest noch im Werbespruch: „For You. Vor Ort“.
Die DSW in der Presse
Die Nachrichtenagentur dpa meldete am 27. Oktober 2011:
Schlecker tappt in
Kommunikations-Fettnapf
Von Johannes Wagemann
hingen (dpa) – Die Zeiten der Negativschlagzeilen schienen doch eigentlich vorbei zu sein. Vor rund einem Jahr übernahm die jüngere
Generation das Ruder bei der Drogeriekette Schlecker – und vor allem die
Verantwortung für die Außendarstellung. Seitdem krempelten Meike und
Lars Schlecker den Konzern ihres Vaters Anton ordentlich um. Neben der
Umgestaltung hunderter Filialen gab es einen neuen Werbespruch. „For
You. Vor Ort“, entwickelt von der renommierten Werbeagentur Grey, soll
den Aufbruch verdeutlichen. … Diskussionen über den neuen Slogan gab
es bereits seit dessen Einführung im Frühjahr. Doch dann veröffentlichte der „Verein für Sprachpflege“ einen kritischen Artikel über den Werbespruch in seiner Zeitschrift „Deutsche Sprachwelt“. Ein Sprachkritiker
wandte sich ob des „Denglisch“ direkt an die Drogeriekette. Ein seit Jahren
für das Unternehmen tätiger Sprecher antwortete – und das so, daß Schlecker nun ein echtes Kommunikationsproblem hat. Der Wortlaut des im
Internet veröffentlichten Schreibens hat es in sich. Zum einen distanziert
sich der Sprecher vom Werbespruch und verweist darauf, er fühle sich „der
Latinitas verpflichtet“ – und sehe die Aktivitäten der Sprachschützer „mit
Wohlwollen“. Was aber für hämische bis wütende Kommentare in etlichen
Internetforen führt, ist die Argumentation für den Slogan der Ehinger. Das
Motto solle durchschnittliche Schleckerkunden ansprechen, die „niederen
bis mittleren Bildungsniveaus zuzuordnen“ seien, so der Sprecher. Und das
ist nicht alles: Diese Massenzielgruppe zähle eben nicht zu den „reflektierten Sprachverwendern“, zu denen sich der Sprecher selbst genauso wie die
Sprachschützer zählt. …
Sprachpolitik
Seite 4
Schwarze Woche im Bundestag
Die deutsche Sprache soll nicht ins Grundgesetz,
aber raus aus dem Gericht
Von Thomas Paulwitz
D
er Deutsche Bundestag beschäftigte sich Anfang November in einer Woche gleich zweimal mit der politischen Stellung der
deutschen Sprache. Am 7. November
beriet der Petitionsausschuß über die
Verankerung der deutschen Sprache
im Grundgesetz. Am 9. November
sprach der Rechtsausschuß über den
Gesetzentwurf des Bundesrats zur
Einführung von Englisch als weiterer
Gerichtssprache in Deutschland.
Zumindest das Zustandekommen der
ersten der beiden Sitzungen schien
zunächst ein Erfolg zu sein: Obwohl
die Petition für „Deutsch ins Grundgesetz“ mit 5.165 Mitzeichnern das
für eine Anhörung erforderliche
Quorum von 50.000 bei weitem verfehlt hatte, lud der Petitionsausschuß
des Bundestags die Petenten ein –
den Verein für Deutsche Kulturbeziehungen im Ausland (VDA) und
den Verein Deutsche Sprache (VDS).
Doch schon die zusätzliche Einladung eines Gegenpetenten, der noch
weniger Unterstützer hinter sich
scharen konnte, machte stutzig. Der
Hamburger Sprachwissenschaftler
Anatol Stefanowitsch hatte in einer
Gegenpetition „Keine Aufnahme der
deutschen Sprache ins Grundgesetz“
3.189 Stimmen gesammelt und durfte ebenfalls zur Anhörung erscheinen
und seinen Standpunkt darlegen.
So nahm eine der lächerlichsten und
unwürdigsten Veranstaltungen zur
deutschen Sprache ihren Lauf. Die
Ausschußmitglieder nahmen den
Petenten Walter Krämer (VDS) sogleich ins Kreuzverhör. Die wichtigste Frage des Grünen Memet Kilic
war, wie man denn das Wort „Marketing“ auf deutsch ausdrücken könne. Dabei kam sich der Abgeordnete
offenbar sehr schlau vor. Die Linke
Agnes Alpers schwadronierte von
der multikulturellen Gesellschaft, für
die wohl jeder sein müsse, und holte
den Allgemeinplatz von der „Sprache
im Wandel“ aus dem Keller der gesammelten Totschlagargumente. Peter Röhlinger von der FDP begleitete
sie auf diesem Weg hinunter, kramte
das Blendwort „Globalisierung“ aus
einer verstaubten Schublade und verlieh seiner Befürchtung Ausdruck,
die Betonung der deutschen Sprache
in Deutschland könne ausländische
Fachkräfte abschrecken. Stefanowitsch hingegen hatte es leicht; er
rannte offene Türen ein.
Kein Wohlwollen im
Petitionsausschuß
Krämer war darauf nicht vorbereitet. Er
wiederholte zwar die bekannten Argumente, begab sich jedoch aufs Glatteis
der Ausländerpolitik und griff dann sogar den Gegenpetenten an, weswegen
ihn die Ausschußvorsitzende ermahnen
mußte. Dadurch verschlechterte er seine ohnehin schwache Stellung. Krämer
hätte wissen können, daß er im Ausschuß kaum mit Wohlwollen zu rechnen hat. Bereits im Mai 2009 – also in
der vergangenen Gesetzgebungsperiode – hatte sich der Petitionsausschuß
der Haltung des Bundesinnenministeriums angeschlossen: „Eine Ergänzung
des Grundgesetzes um den Passus ‚Die
Sprache der Bundesrepublik Deutschland ist Deutsch‘ bzw. die Schaffung
sonstiger Vorschriften zum Schutze der
deutschen Sprache werden […] nicht
für erforderlich gehalten.“ Der Bundestag folgte damals der Empfehlung
des Ausschusses und beschloß am 14.
Mai 2009, die Petitionen dem Bundesministerium des Innern und dem
Beauftragten der Bundesregierung für
Kultur und Medien zu überweisen,
sowie den Fraktionen des Deutschen
Bundestages lediglich zur Kenntnis zu
geben. So wird es auch diesmal gehen.
Die Straße in der Presse
Das dritte Treffen der Arbeitsgemeinschaft „Straße der deutschen Sprache“
(AG SddS) fand am 17. November 2011 in Bad Lauchstädt statt. Die Mitteldeutsche Zeitung schrieb darüber am 19. November:
Richtiges Deutsch statt „Denglisch“
„Straße der deutschen Sprache“ geplant
Von Elke Jäger
I
mmer mehr Menschen ärgert der oft nachlässige Umgang mit der deutschen Sprache. Da wird von shoppen gesprochen statt von einkaufen,
heißt es performance statt Vorstellung, und der gute alte Hausmeister trägt
gar die Bezeichnung facility manager. „Denglisch“ nennt man inzwischen
solcherart Sprachgemisch. Das muß nicht sein, meinen Sprachpfleger und
suchen nach Möglichkeiten, gutes Deutsch wieder stärker ins Bewußtsein
zu rücken. Zum Beispiel mit einer „Straße der deutschen Sprache“, die
durch Sachsen, Sachsen-Anhalt und Thüringen führen soll. Im März gründete sich in Köthen eine Arbeitsgruppe, die inzwischen zum dritten Mal
tagte, und zwar in Bad Lauchstädt. „Mit unserer Tradition stehen wir regelrecht in der Pflicht, uns an einem derartigen Vorhaben zu beteiligen“,
erklärt Bürgermeisterin Ilse Niewiadoma (FDP). Altmeister Goethe läßt
grüßen … Bisher haben rund ein Dutzend Orte ihre Bereitschaft erklärt,
an dem Projekt mitzuarbeiten. Noch einmal so viele hätten Interesse bekundet, sagte Thomas Paulwitz, Sprecher der Arbeitsgruppe, gegenüber
der MZ. Zu den aktiven Mitgliedern zählten unter anderem Merseburg,
Köthen, Bad Lauchstädt, Meißen oder Schleiz. Die Arbeitsgruppe agiert
unter dem Dach der Neuen Fruchtbringenden Gesellschaft Köthen. Die
Gesellschaft sieht sich in der sprachpflegerischen Tradition der Fruchtbringenden Gesellschaft des 17. Jahrhunderts und will in der Öffentlichkeit
ein Bewußtsein für den Wert der deutschen Sprache schaffen. „Wir denken an eine Ferienstraße, die Sprachpflege und Tourismus verbindet“, beschreibt Paulwitz die bisherigen Vorstellungen. Die einzelnen Orte müßten
entsprechende Stätten benennen, die man – das sei Voraussetzung – auch
besichtigen könne. Das wären für Merseburg die Zaubersprüche, für Bad
Lauchstädt das Goethe-Theater und das Schillerhaus, aber auch das Festspiel der deutschen Sprache im Goethe-Theater. Man wolle nichts Neues
erfinden, sondern bestehende Angebote vernetzen. Darauf sollte mit geeigneten Mitteln hingewiesen werden. Während der Zusammenkunft in Bad
Lauchstädt beschäftigte sich die Arbeitsgruppe unter anderem mit einem
Marketingkonzept und einem einheitlichen Logo.
Nun ist ein politischer Vorstoß für die
Verankerung der deutschen Sprache im
Grundgesetz erst wieder nach der nächsten Bundestagswahl 2013 möglich.
Doch eine Frage wurde damals wie
heute nicht gestellt: Wie kann es sein,
daß nach repräsentativen Umfragen
über zwei Drittel der Deutschen hinter dem Anliegen der Petition stehen,
von diesen Deutschen aber keiner im
Petitionsausschuß des Deutschen Bundestags zu finden ist? Volkswille und
Abgeordnetenwille klafften wieder
einmal meilenweit auseinander. Warum darf der deutschen Sprache kein
Verfassungsrang zugestanden werden?
Eine mögliche Erklärung gab es zwei
Tage nach der Sitzung des Petitionsausschusses, als der Rechtsausschuß
des Deutschen Bundestags über den
Gesetzentwurf des Bundesrats zur Einführung von Englisch als weiterer Gerichtssprache beriet.
Übergewicht von
Englischbefürwortern
im Rechtsausschuß
Diesem Vorhaben, die Stellung der
deutschen Sprache weiter zu untergraben, stände eine Ergänzung des
Grundgesetzes entgegen. Vorab hatte
der Rechtsausschuß Gutachten von
sechs Befürwortern und Lobbyisten,
aber nur von einem Gegner eingeholt –
von Wolfgang Ball, dem Vorsitzenden
Richter am Bundesgerichtshof. Dieser
kommt in seiner Ausarbeitung unter
anderem zu den folgenden Ergebnissen: „Englisch als Gerichtssprache
bringt einer englischsprachigen Partei
in einem Zivilprozeß vor einem deutschen Gericht keinen nennenswerten
Vorteil. Der ‚Sprachbruch‘, den der
Entwurf zu vermeiden sucht, ist nicht
zu vermeiden. Er besteht in jedem Fall
zwischen der englischen Vertrags- und
der deutschen Gesetzessprache, gleichviel, ob in der Vertrags- oder in der
Gesetzessprache mündlich verhandelt
wird. … Die gerade bei der Auslegung
des fremdsprachigen Vertragstextes
virulente Gefahr von Fehldeutungen
wird nicht beseitigt, sondern im Gegenteil verstärkt, wenn Auslegungsfragen nicht in deutscher Sprache geklärt
werden, sondern darüber in englischer
Sprache verhandelt wird.“
Ein weiterer Kenner konnte nur als
Zaungast erscheinen. Der emeritierte
Rechtsprofessor Axel Flessner hat den
Gesetzentwurf des Bundesrats in einem Beitrag für die „Neue Juristische
Online-Zeitschrift“ unter die Lupe
genommen (NJOZ 47/2011, 17. November 2011, Seite 1913 bis 1953). Er
kommt zu dem Schluß: „Der staatliche
Zivilprozeß auf englisch in Deutschland verstößt gegen Verfassungsrecht
und Europarecht und ist rechtsstaatlich
praktisch undurchführbar.“ Flessner
wertet den Gesetzentwurf als „deutlichen Zwischenerfolg für die Englischpolitik“, gibt aber, auch mit Hinweis
auf den Verein Deutsche Sprache und
die DEUTSCHE SPRACHWELT, einen zuversichtlichen Ausblick: „Es ist
zu erwarten, daß der soziale Widerstand gegen diese Sprachpolitik nicht
nachlassen und das vom Bundesrat
begehrte Gesetz als fatales Signal
werten wird.“
Die Empfehlung des Rechtsausschusses stand jedoch bei dem ungleichen Verhältnis von Befürwortern und Gegner (Einzahl!) unter den
Sachverständigen bereits vorher fest.
So meldete der Deutsche Bundestag
nach der Sitzung ein „Ja zu englischsprachigen Gerichtsverhandlungen“.
Diese Novemberwoche mit diesen
beiden Ausschußsitzungen im Bundestag war wirklich eine schwarze
Woche für die deutsche Sprache.
Deutsche Sprachwelt_Ausgabe 46_Winter 2011/12
Rechtschreibrat schiebt
Lehrern die Schuld zu
D
er Rat für deutsche Rechtschreibung hat nun entdeckt,
wer für den allgemeinen Niedergang
der Rechtschreibleistungen verantwortlich ist: Lehrer und Schulbuchverlage. Ihnen gelinge es nicht, die
reformierten Rechtschreibregeln verständlich zu vermitteln. Am 29. November ließ der Rat über eine Pressemitteilung verlauten: „Der Rat weiß
um die Schwierigkeiten, die bereits
in der Vermittlung von Rechtschreibung liegen: Didaktisch an die jeweiligen Jahrgangsstufen angepaßte
Konzepte sind rar, oftmals wird der
betreffende Sachverhalt eins zu eins
aus dem amtlichen Regelwerk in die
Schulbücher kopiert. Das ist nicht im
Sinne der Ersteller des amtlichen Regelwerks: Das amtliche Regelwerk
ist von seiner Anlage her mit einem
Gesetzestext vergleichbar, der für die
einzelnen Benutzergruppen adäquat
aufbereitet werden muß.“
Mit anderen Worten: Die Rechtschreibreform ist großartig, doch
Schulbuchverlage und Lehrer sind
leider zu dumm, sie zu verstehen und
zu erklären. Daß dies möglicherweise an der mißlungenen Reform selbst
liegen könnte, auf diesen Gedanken
kommt der Rat nicht. Zu Recht empörte sich daher tags darauf Dankwart Guratzsch in der „Welt“ über
Hans Zehetmair, den Vorsitzenden
des Rechtschreibrats: „Wenn er jetzt
erklärt, daß mit der Orthographie
‚nachlässig‘ umgegangen werde und
daß dies eine Ursache dafür sei, ‚daß
ungefähr zwanzig Prozent eines Jahrgangs der 15jährigen als Analphabeten gelten müssen‘, kommt dies einer
Bankrotterklärung gleich. … Ein Regelwerk, das nicht vermittelbar ist,
kann … zu einer Erleichterung niemals beitragen.“
Auch die Lehrer beschwerten sich
über Zehetmairs Watsch’n. Gerhard
Brand, der baden-württembergische
Landesvorsitzende des Verbands
Bildung und Erziehung (VBE), wies
den Tadel zurück: „Lehrer halten
sich an die Vorgaben der Bildungspläne“. Wenn der Rat etwas ändern
wolle, müsse er bei den Lehrplänen
ansetzen. Außerdem sei noch viel zu
tun, damit richtiges Schreiben wieder
als wertvoll angesehen werde. Derzeit sei die Rechtschreibung „nicht
einmal zweitrangig, sondern völlige
Nebensache“.
Schuld daran sei zum Beispiel, so
der VBE, daß die bundesdeutsche
Schulpolitik in den 1970er Jahren
den Thesen des englischen Soziologen Basil Bernstein verfiel. Dieser
sprach von schichtspezifischen Ebenen der Sprache: dem „elaborierten
Code“ der Ober- und Mittelschicht
und dem „restringierten Code“ der
Unterschicht. Infolgedessen sei der
Wert von Rechtschreibung immer
mehr in Frage gestellt, das Mündliche gegenüber dem Schriftlichen bevorzugt worden.
In den „Hessischen Rahmenrichtlinien“ von 1972 ging es den Urhebern
bekanntlich darum, Sprache und
Rechtschreibung als „Ausübung von
Herrschaft“ zu begreifen, weswegen
die „Unterwerfung der Schule unter
herrschende Normen“ überwunden
werden müsse. Schriftliche Diktate
wurden als Teufelszeug angesehen.
Diese Einstellung wirkt bis heute
fort. In Hamburg zum Beispiel dürfen
Lehrer Diktate derzeit nicht benoten.
Es gibt viele weitere Gründe dafür,
warum es mit den orthographischen
Fähigkeiten bergab geht. Dazu zählen auch die zahlreichen Reformen,
die den Deutschunterricht in den
Grundschulen erschüttert haben:
vom phonetischen Schreiben bis zur
Rechtschreibreform. Diese Reformen haben nicht die Lehrer, sondern
die Kultusminister auf den Weg gebracht. Als bayerischer Kultusminister (1986 bis 1998), als Präsident
der Kultusministerkonferenz und als
Vorsitzender des Rechtschreibrats
(2004 bis heute) ist Zehetmair einer
der Hauptverantwortlichen für die
mißlungene Rechtschreibreform. Er
ist auch mitverantwortlich dafür, daß
Beliebigkeit einzog und viele Menschen Rechtschreibung nicht mehr
als wichtig erachten. Im Jahr 2004,
als die Rechtschreibreform kurz vor
dem endgültigen Aus stand, war es
Zehetmair, der die Aufgabe übernahm, die Neuregelung durch eine
erneute Reform zu retten. Es wirkt
daher besonders unverfroren, wenn
ein ehemaliger Kultusminister nun
den Lehrern den Schwarzen Peter
unterzujubeln versucht. (pau)
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Hintergrund
Deutsche Sprachwelt_Ausgabe 46_Winter 2011/12
„Jugendwörter“
Kommentar der
Neuen Osnabrücker Zeitung
S
ie checken nicht, was „Swag“
bedeutet? Dann sind Sie leider ziemlich out und sollten das
Jugendwort des Jahres schnell googeln. „Swag“ ist eine lässig-coole
Ausstrahlung, und die hat nun mal
nicht jeder. Fast hätte es der Begriff
„Fail“ auf Platz eins geschafft. Das
englische Wort für „Versagen“ als
deutsches Jugendwort 2011? Das
ist nicht voll krass, sondern echt
schlimm.
Denn wenn das so weitergeht, bleibt
von der deutschen Sprache nicht viel
übrig. Ob Johann Wolfgang Goethe
angesichts der Anglizismen-Flut immer noch reimen würde: „Ich hör es
gern, wenn auch die Jugend plappert
/ Das Neue klingt, das Alte klappert“?
Dabei ist auch ohne Englisch Potential vorhanden: Das Verb „guttenbergen“ (abschreiben) wählte die
Langenscheidt-Jury auf Platz drei.
Der Begriff ist witzig, ein bißchen
politisch, und ihn versteht nur, wer
die Nachrichten verfolgt. Ist doch
schön, daß die swagge Jugend clever
ist. Bitte mehr davon, und weniger
linguistischer Fail! (ots)
Die Langenscheidt-Verlagsgruppe
hat Anfang Dezember 2011 die „Jugendwörter des Jahres“ festgelegt:
1. Swag (lässige Ausstrahlung), 2.
Fail/Epic Fail (grober Fehler, Versagen), 3. guttenbergen (abschreiben),
4. Körperklaus (Tolpatsch), 5. googeln (suchen, nachschlagen).
Seite 5
Demokratie lebt von der Sprache
Auch die Politik muß sich für die deutsche Sprache einsetzen
Von Eduard Oswald, MdB
S
prache ist nicht nur das Fundament der individuellen Freiheit
jedes einzelnen, Sprache ist Voraussetzung, um an gesellschaftlichen, politischen und kulturellen Entwicklungen
teilhaben zu können. So lebt gerade
die Demokratie von der Sprache. Der
deutsche Sprachraum bildet geographisch gesehen das Zentrum der Europäischen Union und ist das prägende wie auch verbindende Element der
Identität und Kultur der dort lebenden
Menschen. Die Vielfalt und Schönheit
der deutschen Sprache zeigt sich nicht
zuletzt in den großartigen Werken der
deutschsprachigen Literatur.
Dabei hat das Deutsche eine wechselvolle Geschichte hinter sich und mußte sich stets behaupten. Während der
Zeit der Aufklärung ging es darum,
die deutsche Sprache allen Bevölkerungsschichten als Verständigungsmittel verfügbar zu machen. Niemand
sollte mehr wegen seines mangelnden
sprachlichen Verständnisses von öffentlichen Angelegenheiten ausgeschlossen werden. Man trat für ein
klares und verständliches Deutsch ein,
da ein hoher Anteil an Elementen des
Französischen für nicht zu unterschätzende Verständnisprobleme bei einem
Großteil der Bevölkerung sorgte.
Heute entsteht ein ähnliches Problem
durch ein Übermaß an englischen
Begriffen. So besteht die Gefahr, daß
in Bezug auf die deutsche Sprache
ganze Handlungszusammenhänge
verlorengehen. Denken Sie beispielsweise an Begrifflichkeiten rund um
moderne Techniken oder neue Kommunikationsformen. Deswegen gilt
es, für die kulturelle und sprachliche
Selbstachtung sowie für einen entsprechend selbstbewußten Umgang
mit der deutschen
Sprache in unserer
weltoffenen und
europäisch
orientierten Gesellschaft einzutreten.
Deutsch ist eine
schöne
Sprache.
Auch im Zeitalter
der weltweiten Vernetzung müssen im
Alltag nicht immer
englische Wörter
verwendet werden. Eduard Oswald
Wir gehen zu einem „Event“ und meinen Ereignis. Wir kaufen Fahrkarten
und sagen „Tickets“. Wir könnten Stellungnahme sagen statt „Statement“.
Oder Salatsoße statt „Dressing“. Die
Liste ließe sich wohl endlos erweitern.
Anglizismen werden immer häufiger
verwendet, ohne den Gewinn zusätzlicher Ausdrucksmöglichkeiten oder
einer gesteigerten Verständlichkeit.
Warum gehen wir in unserem täglichen
Leben nicht sorgfältiger mit unserer
Sprache um?
In einer Erhebung des Institutes Allensbach aus dem Jahr 2008 gaben
65 Prozent der Befragten an, sie befürchteten, daß die deutsche Sprache
immer mehr „verkomme“. Als Gründe nannten die Befragten unter anderem, daß heute weniger als früher
gelesen werde, daß der Einfluß anderer Sprachen auf die deutsche stark
zunehme und daß bei der Korrespondenz mit modernen Kommunikationsformen wie elektronischer Post
zu wenig auf eine gute Ausdrucksweise geachtet werde. Hinzu kommt
die Dominanz des Englischen im
Bereich der Unterhaltungsmusik, die
vor allem junge Menschen anspricht.
Dabei gibt es eine
Vielzahl an deutschen Künstlern,
die ihre Stücke
auch in deutscher
Sprache
veröffentlichen. Hier
gilt es, sich darauf
auch einzulassen
und diese Künstler
in der öffentlichen
Wa h r n e h m u n g
stärker zu honorieren.
Aber das Beherrschen der deutschen
Sprache spielt auch im Zusammenhang mit dem Erlernen einer Fremdsprache eine herausragende Rolle. Ich
fordere gerade junge Menschen immer
wieder auf, mehrere Fremdsprachen
zu lernen. Durch Fremdsprachenkenntnisse findet eine Förderung des
Verständnisses anderer Kulturen statt.
Doch die Voraussetzung dafür ist das
Beherrschen der Muttersprache.
Das Ersetzen der deutschen Sprache
durch die englische in Forschung,
Wissenschaft und Technik sowie in der
Wirtschaft führt leider zu einem kulturellen Verlust und einem nicht zu unterschätzenden Wettbewerbsnachteil.
Zahlreiche europäische Ausschreibungen etwa werden nicht mehr ins Deutsche übersetzt. Daneben muß Deutsch
auch als Fremdsprache attraktiver gemacht werden, was im Hinblick auf
unseren Wirtschaftsstandort und den
Zuzug hochqualifizierter Fachkräfte
von großer Bedeutung ist.
schen Einsatzes dafür, daß Deutsch
als Amts- und Arbeitssprache in der
Europäischen Union die angemessene Anwendung findet. Schließlich
ist Deutsch die meistgesprochene
Muttersprache in der EU. Es sollte
ein Nebeneinander der Weltsprache
Englisch und der jeweiligen Muttersprache praktiziert werden, da die beschriebenen Entwicklungen ja nicht
nur auf die deutsche Sprache zutreffen. Deshalb sollten die europäischen
Institutionen mit gutem Beispiel vorangehen und die gleichberechtigte
Verwendung der deutschen Sprache
als Arbeitssprache akzeptieren und
auch in die Praxis umsetzen. Weiterhin müssen wissenschaftliche Publikationen in deutscher Sprache noch
stärker gefördert werden, um den Bedeutungsverlust der Wissenschaftssprache Deutsch aufzuhalten.
Eduard Oswald ist Vizepräsident des
Deutschen Bundestages und war im
Kabinett Kohl Bundesbauminister.
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Insgesamt kann jeder einzelne seinen
Beitrag für den richtigen Umgang mit
der deutschen Sprache leisten. Aber
natürlich bedarf es auch des politi-
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Hintergrund
Seite 6
Von Thomas Paulwitz
I
hr wißt doch ganz genau, was
das für faule Säcke sind.“ Dieser
Spruch Gerhard Schröders über die
Arbeitseinstellung der Lehrer, den er
1995 als niedersächsischer Ministerpräsident gegenüber einer Zevener
Schülerzeitung losließ, sorgte seinerzeit für große Aufregung und Empörung. Vielen beherzten Pädagogen tat
Schröder damals gewiß unrecht. Doch
einige Lehrer in Baden-Württemberg,
Bremen und Bayern schicken sich
derzeit an, dem Vorurteil des faulen
Lehrers gerecht zu werden. Sie wollen keine Schreibschrift mehr unterrichten, weil sie daran gescheitert seien, wie viele von ihnen zugeben.
Freimütig gesteht Lehrerin Nicole
Fink von der Häusel-Grundschule in
Zuzenhausen gegenüber dem Mannheimer Morgen das Scheitern ihrer
pädagogischen Bemühungen: „Viele
sind frustriert, wenn sie Schreibschrift
lernen müssen.“ Oft könnten die Kinder ihre geschwungenen Buchstaben
selbst nicht richtig lesen, verzweifelt
sie. Auch die Konrektorin der Härtenschule in Mähringen, Viviane Glora,
ist augenscheinlich überfordert: Das
Ergebnis ihrer Versuche, den Kindern die Schreibschrift beizubringen,
Deutsche Sprachwelt_Ausgabe 46_Winter 2011/12
Retten wir die Schreibschrift – jetzt!
In einem Jahr könnte es vielleicht schon zu spät sein
sei mitunter „katastrophal“, klagt sie
gegenüber dem Reutlinger GeneralAnzeiger. Die Rektorin der Esslinger
Herderschule, Margarete Teuscher,
wirft sich sogar eine Form von Kindesmißhandlung vor. Mit den Worten
„Schreibschrift macht unglücklich“
räumt sie gegenüber den Stuttgarter
Nachrichten ihr Scheitern ein.
Wir können es nicht,
also lassen wir es
Wie sieht der Schluß aus, den all diese Lehrer ziehen? Schämen sie sich?
Hängen sie ihren Lehrberuf an den
Nagel? Legen sie vermehrten Fleiß
an den Tag, um die Scharte wieder
auszuwetzen? Versuchen sie wenigstens, sich besser zu qualifizieren?
Nichts von alledem! Ihre Lösung
heißt: Die Schreibschrift muß weg!
Sind diese Lehrer also tatsächlich zu
faul zum Unterrichten?
Nein, diese Lehrer sind nicht faul. Vielmehr verbirgt sich dahinter die Ideologie der „Erleichterungspädagogik“
(Josef Kraus), die vieles abschafft und
durch hanebüchenen Unsinn ersetzt. In
diesem Fall ist der Grundschulverband
schuld. Dieser bereitet den größten Anschlag auf den Deutschunterricht seit
der Rechtschreibreform vor. Er treibt
die Abschaffung der Schreibschrift
voran und hat sogar bereits erste Kultusministerien überzeugt, dies zu prüfen. In Baden-Württemberg sind es 16,
in Bayern fünf und in Bremen „einige
wenige“ Grundschulen, die statt der
Schreibschrift eine Druckschrift erproben, die sogenannte „Grundschrift“
des Grundschulverbands. In Hamburg
steht es den Schulen seit diesem Schuljahr sogar schon frei, ob sie ihren Schülern noch die Schreibschrift beibringen
wollen. Eltern, die die Abschaffung der
Schreibschrift nicht wollen, müssen
die Schule wechseln.
Die Erfinder begutachten ihre
eigene Erfindung
Die Kinder werden als Versuchskaninchen mißbraucht, weil noch keine
Untersuchung den Nutzen der Grund-
schrift bewiesen hat. Eine wissenschaftliche Begleitung sei auch nicht
geplant, so das baden-württembergische Kultusministerium. Das Bayerische Kultusministerium hingegen hat
ein Gutachten über die „Grundschrift“
in Auftrag gegeben. Gutachterin ist
Prof. Dr. Angelika Speck-Hamdan,
Professorin an der Münchner Ludwig-Maximilians-Universität
am
Lehrstuhl für Grundschulpädagogik
und -didaktik. Speck-Hamdan ist
allerdings gleichzeitig „Fachreferentin für Bildungsgerechtigkeit“ des
Grundschulverbandes, der die Einführung der Grundschrift fordert.
Das Ergebnis des Gutachtens dürfte
somit von vorneherein feststehen.
Vom Bayerischen Rundfunk darauf angesprochen, antwortete Kultusminister Ludwig Spaenle rundheraus: „Daß derselbe Verband an
verschiedenen Stellen eines solchen
Prozesses mitwirkt, halte ich für vertretbar.“ Mit derselben Einstellung
könnte Spaenle verordnen, daß sich
Schüler künftig ihre Noten selbst
Umstrittene Grundschrift wird nicht verordnet
Von Rolf Zick
KMK-Präsident Bernd Althusmann nimmt Protest-Unterschriften entgegen
M
it der Übergabe von 2.108
Unterschriften an den Präsidenten der Kultusministerkonferenz
(KMK), Bernd Althusmann, erreichte
die Aktion „Rettet die Schreibschrift“
am 9. Dezember 2011 einen wichtigen Zwischenerfolg. Die DEUTSCHE SPRACHWELT (DSW) und
die Aktion Deutsche Sprache (ADS)
hatten die Unterschriften seit dem
Tag der deutschen Sprache 2011
gesammelt. Bei der Übergabe im
niedersächsischen Landtag in Hannover sprach der ADS-Vorsitzende
Hermann Neemann die Bitte aus,
diesen in den Unterschriften manifestierten Bürgerprotest gegen die
Einführung der Grundschrift in der
nächsten Sitzung der KMK auf die
Tagesordnung zu setzen und die Kultusminister der anderen deutschen
Bundesländer aufzufordern, nach der
verunglückten Rechtschreibreform
die Schulen anzuhalten, die Schreib-
schrift beizubehalten und nicht durch
eine Druckschrift, die sogenannte
„Grundschrift“, zu ersetzen.
2 108 Unterschriften für die Rettung der Schreibschrift nahm Bernd Althusmann (links), Präsident der Kultusministerkonferenz, am 9. Dezember 2011 im
Niedersächsischen Landtag entgegen. An der Übergabe in Hannover nahmen
der ADS-Vorsitzende Hermann Neemann (rechts), DSW-Mitarbeiter Wolfgang
Hildebrandt (2. von rechts) und ADS-Schriftführer und -Pressesprecher Rolf
Zick (2. von links) teil. Die Unterschriftenaktion geht weiter.
← Bestellschein umseitig!
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Sprachverderbern eine!
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Lieferbare Ausgaben
46 Winter 2011/12
45 Herbst 2011
Unter anderem: Thomas Paulwitz: Rettet die Schreibschrift! / Briefe an uns
und unsere Leser / Karin Pfeiffer-Stolz:
Schreiben wie in Holzpantoffeln / FrankMichael Kirsch: Das Schwedische
verteidigen / Wolfgang Hildebrandt:
Deutschland schafft seine Sprache ab (2)
– Psychologische Hintergründe der fehlenden Sprachtreue / Ota Filip: Glanz,
Gloria und Elend des Exils (Rede zur deutschen Sprache) / Rolf Kamradek: Kafka
vertritt die deutsche Position / Dietrich
Scholze: Die Sorben – gering an Zahl,
doch sprachbewußt / Neues zur Straße der
deutschen Sprache / Thomas Paulwitz:
Sprachpolitik in Baden-Württemberg /
Sprachsünder-Ecke: VW up! / Lienhard
Hinz: Bericht aus Berlin / Richard Albrecht: „Executive Summary“ als Bumerang / Günter Körner: Überhaupt
– Sprachkritik aus naturwissenschaftlicher Sicht (8) / Karin Pfeiffer-Stolz:
Zum Teufel mit dem Teufel / Modehaus
Nikolaus greift die Anti-SALE-Aktion
der DSW auf / Wolfgang Hildebrandt:
„Neudeutsch“ (Anglizismenmuffel)
44
Schreibschrift-Aufkleber
Auflage: 10 000
Auflage: 27 500
Sommer 2011
Unter anderem: Thomas Paulwitz: Werber, Werber, Sprachverderber / Briefe an
uns und unsere Leser / Wolfgang Hildebrandt: Deutschland schafft seine Sprache ab (1) – Wissenschaftler und Politiker
als Sprachverräter / Straße der deutschen
Sprache: Die Bauarbeiten haben begonnen / Gespräch mit Michael Olbrich:
geben. Nachdem sich allerdings die
Beschwerden häufen, äußert sich das
Ministerium nun zurückhaltender.
Sein Sprecher Ludwig Unger erklärt:
„Sicher werden wir eine zweite wissenschaftliche Position berücksichtigen. Für eine Entscheidung wird
Bayern auch die Entwicklung in den
anderen Bundesländern beobachten,
die derzeit höchst uneinheitlich ist.“
Halten wir die Abschaffung der
Schreibschrift auf!
Es besteht folglich noch Hoffnung,
die Schreibschrift in Bayern zu retten,
bevor der neue Lehrplan beschlossen
wird, der ab dem Schuljahr 2014/15
gelten soll. Dazu sind viele Aktionen in ganz Deutschland notwendig.
In Bremen zum Beispiel hat sich die
CDU-Fraktion eindeutig zur Schreibschrift bekannt. In einer Kleinen Anfrage stellt sie fest: „Die Aufgabe des
Erlernens der Schreibschrift in der
Grundschule als einer der wichtigsten Kulturtechniken überhaupt ist
verantwortungslos und wird zu einer
modernen Form des funktionalen Analphabetismus führen.“
An einer Schule in Schleswig-Holstein
haben Eltern jetzt erfolgreich die Einführung der Grundschrift verhindert.
Eine betroffene Mutter schrieb der
DEUTSCHEN SPRACHWELT: „Der
Druck, den wir Eltern aufgebaut hatten, reichte aus, um die Schulleitung
zu einem Rückzieher zu bewegen. Nun
wird in den zweiten Klassen weiterhin
die Schulausgangsschrift gelehrt. Immerhin! Trotzdem wäre mir die Lateinische Ausgangsschrift lieber …“
Der niedersächsische Kultusminister
Althusmann erklärte dazu, in Niedersachsen gebe es diesen Streit nicht.
Die Schulen behielten die Schreibschrift bei: „Es gibt keine Vorgabe
des Kultusministeriums, die umstrittene Grundschrift einzuführen.
Das werden wir auch nicht tun. Wir
lassen den Schulen zwar freie Hand,
aber ich persönlich halte die Schreibschrift für durchaus sinnvoll, nicht
nur zur Erhaltung unserer Schreibkultur, sondern auch, weil sie die
Motorik unserer Kinder beim Schreibenlernen stark beeinflußt.“ In Niedersachsen gebe es keinen zwingenden Handlungsbedarf. Der Minister
setze aber auch stark auf das Fachwissen der Lehrkräfte: „Im Moment
ist das für uns kein Politikum.“
Wir haben es also in der Hand, ob wir
dieser Entwicklung tatenlos zusehen
wollen oder nicht. Wer den Irrsinn
nicht mitmachen will, sollte sich an der
Aktion „Rettet die Schreibschrift“ beteiligen und sich schleunigst in die Unterschriftenliste eintragen. Oder wollen
Sie etwa als „fauler Sack“ gelten?
Aktiengesellschaften verklagen? / Dirk
Herrmann: Zur Sprachkritik von Christian Weise / Franz Neugebauer, Harald Süß: 60 Jahre Bund für deutsche
Schrift und Sprache / Wieland Kurzka:
Vermeintliche Sprachkultur der ERGOVersicherung / Rolf Stolz: Franz Kafka,
ein tschechischer Klassiker? / Margund
Hinz: Die Abschaffung der Schreibschrift
droht / Sprachsünder-Ecke: Schlecker
/ Lienhard Hinz: Bericht aus Berlin /
Rolf Zick: Preise für gute deutsche Marken- und Produktnamen / Günter Körner: „Wegbrechen“ bis zum Erbrechen –
Sprachkritik aus naturwissenschaftlicher
Sicht (7) / Ehrung für Peter Ramsauer /
Dagmar Schmauks: Der Mütos lebt /
Jürgen K. Klimpke: Schleizer Bücherwurm / Wolfgang Hildebrandt: Sprachliche Kernschmelze (Anglizismenmuffel)
nern gepackt! – Sprachkritik aus naturwissenschaftlicher Sicht (6) / Reingard
Böhmer und Diethold Tietz: „Sprache
ist Heimat“ – Kongreß der Unionsfraktion im Bundestag / Thomas Paulwitz:
Ali schlägt Mohammed / Rominte van
Thiel: Wir Deutsche oder wir Deutschen? / Lienhard Hinz: Bericht aus
Berlin / Wolfgang Hildebrandt: Die
Weichen stellen? (Anglizismenmuffel)
43
Frühling 2011
Unter anderem: Thomas Paulwitz: Bundesverkehrsminister und Deutsche Bahn
wollen wieder mehr Deutsch / Briefe an
uns und unsere Leser / Lienhard Hinz:
Anliegen und Arbeit eines Sprecherziehers / Straße der deutschen Sprache: Merseburg / Leserbefragung: 97 Prozent sind
für die Straße / Horst Meyer: Berlinisch
/ Lienhard Hinz: Berliner Kongreß zu
Regional- und Minderheitensprachen /
Johannes Heinrichs: Sprachpolitische
Thesen (Teil 2) / Elmar Tannert: Fehlerhafte Wörter ziehen fehlerhafte Dinge
nach sich / Thomas Paulwitz: Einzelheiten zur winzigen Rechtschreibreform
2011 / Sprachsünder-Ecke: Niedersächsisches Kultusministerium / Sprachwahrer
des Jahres 2010 / Hartmut Heuermann:
Steckt hinter Denglisch eine Ideologie? /
Günter Körner: Den Fokus an den Hör-
Helfen Sie mit! Sammeln Sie Unterschriften, bekennen Sie Farbe! Versorgen Sie
sich dazu mit unseren kostenlosen Aufklebern (Seite 5). Fordern Sie bei uns Unterschriftenlisten an. Mit Ihrer Unterschrift
fordern Sie die Kultusminister dazu auf,
dafür zu sorgen, daß an den Schulen weiterhin Schreibschrift unterrichtet wird.
Verhindern wir gemeinsam die Abschaffung der Schreibschrift!
Unsere Aktionsseite: www.facebook.de/
Schreibschrift
42 Winter 2010/11
Unter anderem: Thomas Paulwitz:
Englisch darf in Deutschland nicht zur
Gerichtssprache werden / Leserdiskussion (2): E-Mail oder E-Post? / Helmut
Delbanco: Paul Gerhardt – der größte
deutsche Sprachmeister nach Martin
Luther / Straße der deutschen Sprache:
Gräfenhainichen / Andreas Raffeiner:
Südtirol spricht immer noch Deutsch
(2) / Johannes Heinrichs: Das wichtigste nationale Kulturprojekt: die Sprache
(Sprachpolitische Thesen, Teil1) / Ursula Bomba: Hildebrandts zweiter Glossen-Band „Mal ganz ehrlich“ / Robert
Mokry: Der Löwenzahn und sein Traum
(Ausgewählter Beitrag aus dem Schülerwettbewerb „Schöne deutsche Sprache“
2010) / Sprachsünder-Ecke: ZDF / Lienhard Hinz: Schlagabtausch zwischen
GfdS und VDS in Berlin / Gespräch mit
Werner Kieser: „Die Sprache eines Unternehmens ist ein Qualitätsmerkmal“
/ Lienhard Hinz: Bericht aus Berlin /
Günter Körner: Flüssig oder fließend?
– Sprachkritik aus naturwissenschaftlicher Sicht (5) / Wolfgang Hildebrandt:
Staatssprache Deutsch: Wohin geht die
Reise? (Anglizismenmuffel)
Lieferbar sind auch noch alle früheren Ausgaben. Die In-
haltsverzeichnisse sämtlicher Ausgaben finden Sie unter
www.deutsche-sprachwelt.de/archiv/papier/index.shtml
Deutsche Sprachwelt_Ausgabe 46_Winter 2011/12
Hintergrund
Seite 7
Deutschland schafft seine Sprache ab
Von Wolfgang Hildebrandt
Teil 3: Bildungspolitische Hintergründe der fehlenden Sprachtreue
K
ritischen Fachleuten war längst
bekannt, was die PISA-Studien
an die Öffentlichkeit brachten: Eine
beängstigende Anzahl von Schülern
in Deutschland kann keine Texte
mehr verstehen und erkennt Sachzusammenhänge nicht mehr – um es
grob zusammenzufassen. Wie konnte
es zu solch einem, wenn auch schleichenden, Sprachverlust kommen?
Seit Jahren untersuchen Schulpsychologen, Kinderärzte, Erzieherinnen
und Grundschullehrer die sprachliche Bildung von Kindern. Immer
wieder lesen wir in den Zeitungen
erschreckende Nachrichten. So stieg
in Bielefeld der Anteil der Schulanfänger, deren Sprache gefördert werden müsse, in den vergangenen drei
Jahren um ein Viertel, meldete die
„Neue Westfälische“ am 9. Juli 2011.
Jedes dritte Kind bedürfe der Förderung, hieß es. Radio Bremen meldete
am 11.August: „Mehr als jedes zehnte Kind im Landkreis Cuxhaven ist
zu dick. Das haben die diesjährigen
Schuleingangs-Untersuchungen ergeben.“ Etwa ein Drittel der Kinder
zeige Sprachstörungen.
Dabei wird die Sprachentwicklung
unserer Kinder genau überwacht.
Sprachstandserhebungen,
Schuleingangsuntersuchungen und das
kinderärztliche
Früherkennungsprogramm (U1 bis U9) prüfen die
sprachliche Bildung der Jüngsten.
Am besten dokumentiert sind die
Sprachstandserhebungen für Kindergartenkinder. Diese unterscheiden
sich von Bundesland zu Bundesland,
da verschiedene Prüfverfahren angewendet werden. Dementsprechend
schwanken die Ergebnisse.
Bayern etwa prüft nur Kinder, bei denen beide Elternteile nicht deutschsprachiger Herkunft sind. 75,7 Prozent dieser Kinder im Alter zwischen
4 und 6 Jahren wiesen 2008/2009
sprachliche Entwicklungsrückstände auf. In anderen Bundesländern
nehmen alle Vorschulkinder an der
Sprachstandserhebung teil. Da es
keine einheitliche Prüfmethode gibt,
sind die Ergebnisse sehr unterschiedlich. Außerdem finden die Untersuchungen teils ein Jahr, teils sogar
zwei Jahre vor der Einschulung statt,
so daß Kinder in unterschiedlichen
Entwicklungsphasen teilnehmen.
Als sprachförderungsbedürftig wurden in diesen Ländern 2008/2009
eingestuft: in Baden-Württemberg
13,4 Prozent, in Berlin 16,5 Prozent, in Brandenburg 19,7 Prozent,
in Hamburg 26,8 Prozent, in Nordrhein-Westfalen 23,3 Prozent und im
Saarland 12,6 Prozent der Vorschulkinder. Auffällig hohe Werte gibt es
für Bremen (52,6 Prozent) und Bremerhaven (44,6 Prozent), während in
Niedersachsen die Kleinen scheinbar
besser sprechen (12,9 Prozent).
Aufschlußreich war für mich allerdings ein Gespräch mit der Konrektorin einer Grundschule im Kreis
Cuxhaven, der unmittelbar an Bremen
grenzt. Sie führte in ihrer Schule die
Sprachstandserhebung durch. Ich bat
sie, mir die aktuellen Zahlen der Schüler zu nennen, die über große sprachliche Defizite verfügten. Das seien etwa
zwölf Prozent, antwortete sie, doch
fügte sie hinzu, daß die Werte ihrer
Ansicht nach um ein Vielfaches höher
lägen, hätte Niedersachsen das Niveau
der Tests nicht so niedrig angesetzt.
Diese Mängel werden in der Primarstufe in vielen Bundesländern durch
das phonetische Schreiben noch wei-
Briefwechsel zweier Schüler, die sich während des Unterrichts über ihren Lehrer austauschten.
Bild: Hildebrandt
ter verstärkt. Dabei sollen die Schüler
die Wörter so schreiben, wie man sie
hört. Dadurch wird nicht nur die Rechtschreibung unzulänglich gelernt, sondern auch das Lesen – und damit die
gesamte Sprachkompetenz minimiert.
In der FAZ vom 1. September dieses
Jahres berichtete Heike Schmoll, mit
welchen Defiziten die Schüler am
Ende der vierten Klassen zu kämpfen
haben. In zwei vierten Klassen aus
Bremen habe es nicht einen einzigen
Schüler gegeben, der fehlerlos schreiben konnte. Daß die weiterführenden
Schulen diese Sprachdefizite kaum
mehr ausgleichen können, liegt wohl
auf der Hand.
Dieser Ansicht ist auch Josef Kraus,
der Vorsitzende des Deutschen Lehrerverbandes. Gegenüber der Nachrichtenagentur ddp beklagte er im
Februar 2007, daß immer mehr Kinder mit erheblichen Sprachdefiziten
in die Schule kämen. Sie könnten
keine vollständigen Sätze bilden und
hätten Probleme mit der Ausdrucksfähigkeit. Statt jedoch diesen Schwächen entgegenzuwirken, passe sich
die Schulpolitik in ihrem Leistungsanspruch an: „Wurde den Kindern
vor zehn Jahren noch am Ende der
vierten Klasse ein Grundwortschatz
von 1100 Wörtern abverlangt, so sind
es heute nur noch 700 Wörter.“
Eine Besserung ist angesichts der Einschnitte im Deutschunterricht nicht in
Sicht. In seinem Buch „Der PISASchwindel“ schreibt Kraus auf Seite
208, daß die Deutschen „ihrer Muttersprache als Schulfach zwischen der 1.
und 10. Klasse nur ganze 16 Prozent
der Wochenstunden“ gönnen, „dagegen die Polen 22, die Schweden 24,
die Franzosen 26 und die Chinesen 26
Prozent.“ Es ist logisch, daß im Vergleich dazu bei uns mehr Schulabgänger die Schule mit erheblichen Mängeln in der Muttersprache verlassen.
Schüler aus anderen Nationen haben
bis zum Ende ihrer Schulzeit nämlich
bis zu einem Jahr mehr muttersprachlichen Unterricht.
Wie aber kann sich in dieser schwierigen schulischen Lage ein gesundes
Verhältnis zur deutschen Sprache entwickeln? Wie kann bei diesen widrigen Zuständen eine Identifizierung
mit der Muttersprache entstehen?
Das wäre nämlich unter anderem
auch eine Voraussetzung dafür, sich
der ständigen Übernahme von Angloamerikanismen für banalste Begrifflichkeiten zu erwehren? Woraus soll
jemals die Fähigkeit erwachsen, neue
(deutsche) Wörter mit Hilfe des deutschen Wortschatzes zu schaffen?
Bei diesen Voraussetzungen verwundert es nicht, daß es auch um die fachlichen Fähigkeiten vieler Deutschlehrer nicht gut bestellt ist. Auf einer
Podiumsdiskussion der Wirtschaftsjunioren in Frankfurt am Main zum Thema „Ich habe fertig mit Goethe – Ist
unsere Sprachausbildung noch zeit-
gemäß?“ im Herbst 2003 berichtete
Professor Horst-Dieter Schlosser: „Ich
habe es an der Universität mit angehenden Deutschlehrern zu tun, die reihenweise Rechtschreibfehler machen
und beispielsweise noch nie etwas von
Vorvergangenheit, dem Plusquamperfekt, gehört haben.“ Zu seinen geplanten Objekten gehöre ein Buch mit dem
Titel „Deutsch für Deutschlehrer“.
Dieses notwendige Buch ist bis heute nicht erschienen. Der mittlerweile
emeritierte Professor hat das Projekt
leider inzwischen aufgegeben, wie er
mir persönlich mitteilte.
Im Wintersemester 2006/2007 wurden an allen bayerischen Universitäten mehr als 1.000 Studienanfänger im Fach Germanistik über die
Grundlagen der Schulgrammatik
befragt. Der Test brachte katastrophale Ergebnisse zutage. Die Befragung ergab ein schulgrammatisches
Grundlagenwissen, das dem Stand
von Fünft- und Sechstkläßlern entspricht. Mehr als ein Drittel der
Studenten schloß den Kurztest mit
„mangelhaft“ oder „ungenügend“
ab, weniger als zehn Prozent erhielten „befriedigend“ oder besser. So
erkannten beispielsweise 77 Prozent
der Teilnehmer „käme“ nicht als
Form des Konjunktivs Imperfekt, 88
Prozent bestimmten „manche“ nicht
als Fürwort (Pronomen), 87 Prozent
„dort“ nicht als Umstandswort (Adverb). Dabei spielte es bei den Ergebnissen keine Rolle, aus welchem
Bundesland die Teilnehmer stammten. Lediglich Studenten aus Österreich schnitten deutlich besser ab.
Professor Mechthild Habermann von
der Universität Erlangen-Nürnberg
schrieb dem bayerischen Kultusminister daraufhin: „Der Anteil des
Grammatikunterrichts in der Schule
muß unbedingt erhöht, der Umfang
der Grammatikausbildung für die
Lehramtsstudierenden aller Schularten ausgeweitet werden.“
Aus Jugendlichen werden Erwachsene: Eine Studie des „Aktionsbündnisses für Alphabetisierung“ vom März
2011 ergab, daß in Deutschland 2,3
Millionen Menschen keine ganzen
Sätze verstehen und schreiben können. Sie sind Analphabeten im engeren Sinn. Etwa 7,5 Millionen gehören
zu den funktionalen Analphabeten,
also zu den Menschen, die einzelne
Sätze lesen oder schreiben können,
aber keinen zusammenhängenden
Text, zum Beispiel eine schriftliche
Arbeitsanweisung, verstehen. 58
Prozent der Analphabeten sind deutsche Muttersprachler! Zusätzlich haben 21 Millionen Menschen Schwierigkeiten mit der Rechtschreibung.
Hier liegt nun die Hauptursache des
Niedergangs unserer Muttersprache:
Wenn Kinder, Jugendliche, Erwachsene nur über geringe grammatische
Kenntnisse und einen kleinen Wortschatz verfügen, der für eine umfassende Verständigung nicht ausreicht,
dann bleibt ihnen die Reichhaltigkeit
der deutschen Sprache verschlossen. Es kann also nur eine logische
Folgerung geben: Man bedient sich
fremder Wörter – eben Fertigwörter
aus der englischen und amerikanischen Leitsprache. Das gleiche gilt
für Grammatik und Redewendungen,
die immer öfter importiert werden –
ein ständiger Prozeß der Verkümmerung unserer Muttersprache und der
Entfremdung von ihr!
Wie reagiert nun die Schule, auf die in
dieser Situation alle Augen hoffnungsvoll gerichtet sind? Nun, so erschütternd es auch klingen mag – so gut
wie gar nicht! Wer wie ich jahrelang
in der Schule versuchte, Lehrer zu
mobilisieren, sich aktiv für die Erhaltung der deutschen Sprache und damit
gegen den inflationären Gebrauch von
vollkommen überflüssigen Angloamerikanismen einzusetzen, wird wissen,
daß dies ein fast aussichtsloser Kampf
ist. Wer ist schon bereit, seine eigenen
Sprachgewohnheiten zu überdenken
und dann auch noch zu verändern!
Um Mißverständnisse nicht aufkommen zu lassen – ich spreche von den
Lehrern, nicht von den Schülern!
(Vergleiche den Beitrag „Sprachnotstand in der Schule“ in DSW 18, Seite
10 – noch lieferbar!)
Haben Sie, liebe Leser, schon einmal einen Aufschrei gehört, sei es
der
Hochschulrektorenkonferenz,
der Kultusministerkonferenz oder
der Gewerkschaft Erziehung und
Wissenschaft (GEW)? Wo ist der
Widerstand der rund 800.000 Lehrer
in Deutschland? Und sollten davon
nur zehn Prozent Germanisten sein –
wo ist der schon aus berufsethischen
Gründen zu verlangende Aufstand
der 80.000 Anständigen? Wo sind
deren Vorschläge für entsprechende
Lehrplanänderungen oder Lernin-
halte? Wo findet sich ein Schulleiter,
der die Erlaubnis verweigert, Plakate
aufzuhängen, die sich mit englischsprachigen Aufrufen an Schüler richten? Man denke an Zumutungen wie
„Be smart, don’t start“ und „Take
care of your ears“ und viele andere
mehr. Dagegen fällt mir der Spruch
eines Deutschlehrers ein: „Ich glaube nicht, daß die deutsche Sprache
etwas so Bedeutendes darstellt, daß
man sie unbedingt erhalten müßte.“
(Siehe DSW 21, Seite 1.)
Ich höre schon die Proteste aus der
Lehrerschaft, doch bin ich sicher,
daß sich eine ganz kleine Gruppe
daran nicht beteiligen wird. Es handelt sich um die wenigen Lehrer,
die sich für die Erhaltung unserer
Sprache innerhalb und außerhalb der
Schule einsetzen. Jene wissen genau,
daß sie zu einer Minderheit gehören,
und leiden daran, „einsamer Fels in
der Brandung“ zu sein.
Im Rahmen einer Lehrerfortbildung
bot ich ein Seminar sowohl im Lehrerfortbildungsinstitut der Stadt Bremerhaven als auch in einem solchen
in Bad Bederkesa (Niedersachsen)
an. Das Thema hieß „Denglisch in
der Schule“. Beide Kurse mußten
aufgrund mangelnder Beteiligung
ausfallen. Da solch ein Kursus noch
nie – auch nicht von mir – angeboten
worden war, konnte es nicht am Referenten liegen …
Womit erklären nun die im Sprachkampf untätigen Deutschlehrer – meiner Schätzung nach gut 95 Prozent –
ihr Nichtstun? Die meisten benutzen
das Standardargument, Sprache habe
sich (!) immer schon verändert. Das
beruhigt, zumindest die Sprecher solcher Ausreden, wollen sie doch damit
sagen, nichts daran ändern zu können,
weil dieser Vorgang eben aus sich heraus (vielleicht sogar vom lieben Gott
geführt?) abläuft. Tatsächlich aber geben sie damit nur zu erkennen, daß sie
gar nichts unternehmen wollen. Ein
kleiner Teil derer, die nach ihrer Aktivität für die Spracherhaltung gefragt
werden, gibt an, im Deutschunterricht
schließlich gutes Deutsch zu vermitteln. Das reiche doch wohl!
Tatsächlich? Reicht es wirklich aus,
lediglich seiner dienstlichen Pflicht
nachzukommen, einer Pflicht, die
zudem bezahlt wird? Stellen Sie sich
vor, ein Polizist würde beim Bankraub zuschauen und auf Befragen
antworten, er habe jetzt Feierabend,
aber in seiner heutigen Schicht schon
genug gegen das Verbrechen getan.
– Kann eine Antwort noch skurriler
und abstruser ausfallen?
Der langen Rede kurzer Sinn: Die
Schule hat sich leider in die Reihe
der Totengräber unserer Muttersprache begeben, Rettung ist von ihr derzeit nicht zu erwarten! Und die Reaktion der Politiker? Die haben – wie
sollte es anders sein – die Lösung des
Problems gefunden, quasi das Ei des
Kolumbus, und schnell gehandelt:
Sie fordern den Englischunterricht in
der Grundschule, am besten jedoch
schon im Kindergarten! Damit jedoch – ob gewollt oder nicht– wird
den Kindern zwar eine Fremdsprache nähergebracht, die eigene Muttersprache aber entfremdet – ein weiterer Schritt zu ihrer Abschaffung.
Fortsetzung folgt.
„Be smart, don’t start“: Aushang in einer Schule Bild: Hildebrandt
Wolfgang Hildebrandt war Lehrer
für Englisch und Technisches Werken
(Sekundarstufe I) in Bremerhaven.
Besprechungen
Seite 8
Deutsche Sprachwelt_Ausgabe 46_Winter 2011/12
„Ein besonders lebensnahes Zeitdokument“
Von Eberhard Grünert
Z
um 21. Jahrestag des Mauerfalls ist unter dem Titel „Der
Fall“ Peter Fischers neuer Roman erschienen. Er ist als zweiter Teil einer
als Trilogie angelegten Nachkriegschronik über eine Jugend im geteilten
Deutschland anzusehen. Der erste
Teil der Chronik, der Roman „Der
Schein“, verfolgte exemplarisch den
Lebensgang der Hauptfigur Michael
Sahlok in der DDR über Schule und
Studium (siehe DSW 21, Seite 8). Er
endete mit der Verhaftung Sahloks
durch die Staatssicherheit und seinem Freikauf durch die Bundesregierung. Daran anschließend scheint im
Roman „Der Fall“ in der Biographie
Michael Sahloks eine entscheidende
Hürde genommen zu sein: Er lebt
nach einer kurzen Zwischenstation,
die er im Notaufnahmelager Gießen
verbringt, im Westteil Berlins und arbeitet als Redakteur.
Doch bald muß er erkennen, daß Vergangenheit sich nicht einfach löst,
sich nicht abstreifen läßt wie eine
Peter Fischer legt den zweiten Band seiner Nachkriegstrilogie vor
übergestülpte Haut. Sie bleibt haften, Berühmte Zeitgenossen kreuzen Misie prägt Lebenszeit, formt Gefühle, chael Sahloks Lebensweg und prägen
fixiert Denkgewohnheiten: sie gerät seine Ansichten neu: Reiner Kunze, der
zudem zum Maßstab für Vergleiche Dichter, Willy Brandt, der vormalige
mit der neuen Lebenswirklichkeit. Die Kanzler, auf den er über einen obskuren
Bedrängnisse der Haftzeit wirken auf politischen Zirkel trifft, namhafte Jourimmer neue Weise nach, sie stehen ge- nalisten und ein Künstler, ein Maler,
gen neu gewonnene Eindrücke: Breit der nicht nur gehörig klugen Abstand
gestreuter Wohlstand
zu den Mächtigen der
muß nicht unbedingt
Epoche wahrt, sondern
zu größerer SolidariSahloks Blicke auf die
tät führen, Phantasie
Dinge der Welt zu weiund Empfindsamkeit
ten weiß.
steigern. Vorurteile
und Desinformation
Plötzlich taucht eine
sind auch hier keiJugendfreundin aus
neswegs fremd. Was
Thüringen auf. Sie
Peter Fischer
treibt schließlich Westdeutsche um, bittet um Fluchthilfe für ihren Mann.
was wissen sie über den sogenannten Lange vor den spektakulären Fluchten
Arbeiter- und Bauernstaat, der immer vom Sommer 1989 taucht der Fluchtstärker durch die vielfältigsten Wi- willige auf einen Rat Michael Sahloks
dersprüche in seinem Fortbestehen hin in der westdeutschen Botschaft in
erschüttert wird, und seine Bewoh- Warschau auf. Doch es gibt ungeahnner? Die Ära kurz vor 1989 ist voller te Schwierigkeiten. Günter Gaus, der
Widersprüche, Spannungen, Hoffnun- Ständige Vertreter der Bundesrepublik
gen. Doch die Kräfte der Vergangen- bei der DDR, wird eingeschaltet, der
heit bleiben noch wirkmächtig.
sucht die Gunst Erich Honeckers …
Dem Autor gelingt es, durch die Vielzahl der exemplarisch handelnden Personen Zeitgeschichte so zu verdichten,
daß daraus ein Bild jener Epoche vor
1989 entsteht, in deren Gefolge sich
das Gesicht Europas entscheidend
veränderte. Dabei beschränkt sich der
Schriftsteller nicht so sehr auf die äußerlich offensichtlichen Geschehnisse
jener Ära, sondern spürt in äußerst einfühlsamer Weise den Inneneinsichten
jener Menschen nach. Er verfolgt ihre
widersprüchlichen, oft gegenläufigen
Gefühle und Regungen an scheinbar nebensächlichen Objekten, die er
schließlich so zu weiten versteht, daß
daraus ein nuancenreiches und farbiges Bild jener Epoche entsteht, das
Schatten keineswegs ausspart.
Peter Fischer, geboren in Suhl, Jahrgang 1943, erfolgreich auch als Lyriker („Ananke“), Lyrikpreisträger der
Zeitschrift „Dulzinea“, ist mit seinem
Roman ein großer belletristischer Wurf
gelungen. Der Dichter Reiner Kunze urteilte nach der Lektüre des Romans, daß
es sich um ein „besonders lebensnahes
Zeitdokument“ handelt, und lobte, „so
detailgenau … wird bald niemand mehr
über jene Zeit berichten können“.
Peter Fischer: Der Schein. Roman,
Ludwigsfelder Verlagshaus, Ludwigsfelde 2004, 179 Seiten, 22,00 Euro.
Peter Fischer: Der Fall. Roman, Ludwigsfelder Verlagshaus, Ludwigsfelde 2011, 174 Seiten, 22,00 Euro.
Schwedisch schätzen, schützen, schenken
Von Jürgen Honig
D
as Englische dringt immer
schneller in die Nationalsprachen
ein. Das Unbehagen dagegen schwillt
an; nicht nur in Deutschland, sondern
auch in Schweden, das auch sonst dem
„Neumodischen“ so sehr zugewandt
ist. Vor knapp zehn Jahren fanden sich
zahlreiche Schweden zusammen, von
der Liebe zu ihrer Sprache angetrieben.
Sie gründeten das Netzportal „Språkförsvaret“ – www.sprakforsvaret.se
– auf deutsch am besten mit „Sprachwehr“ übersetzt. Im Laufe weniger Jahre hat sich daraus ein Netzwerk entwickelt, eine Art Lobbyisten-Plattform, die
sich wortgewaltig für die Eindämmung
des im Muttersprachgebiet wild wuchernden Englischen einsetzt. Vorrangiges Anliegen der Sprachfreunde war
bislang das Zustandekommen eines
schwedischen Sprachgesetzes, das am
1. Juli 2009 in Kraft trat.
Professor Frank-Michael Kirsch hat
in der DEUTSCHEN SPRACHWELT
(„Das Schwedische verteidigen“, DSW
45, Seite 4) Beweggründe und Auftreten der Sprachwehr-Aktivisten eingehend und anschaulich dargestellt. Jetzt
hat „Språkförsvaret“ unter Federführung des Vorsitzenden Per-Åke Lindblom und seines Stellvertreters Arne
Rubensson die aussagestärksten netzwerkeigenen Schriften zu einer Anthologie zusammengestellt: „Svenskan
– ett språk att äga, älska och ärva“, also
„Schwedisch haben, lieben, erben“
oder in Alliteration wie im Original:
„… schätzen, schützen, schenken“.
In zehn Hauptkapiteln und 33 Einzelbeiträgen sowie einem Manifest arbei-
„Språkförsvaret“ hat einen anspruchsvollen Sammelband herausgegeben
ten die Sprachwehr-Autoren so gut wie
lückenlos alles ab, was derzeit ihrem
Urteil nach die eigene Muttersprache
gefährdet; und was die Folgen sein
könnten, wenn – wehret den Anfängen
– dem nicht Einhalt geboten wird. Den
Gegner verorten sie auf vielen Gebieten des täglichen Lebens. Beharrlich
ist er auf dem Vormarsch: in der Wirtschaft, allen voran deren willige Helfer, die Werbe-Fuzzis; in den Druck-,
Ton- und Bildmedien, wo das Angelsächsische geradezu grassiert; in den
Behörden aller Ebenen, wo man sich
ohne Not des Englischen befleißigt;
in der Bildung, die ebenfalls gern die
angelsächsische Karte spielt. Das sind
ausnahmslos Entwicklungen, wie sie
auch im deutschen Sprachraum nur
allzu bekannt sind.
Die Autoren versichern wiederholt –
und durchaus glaubhaft –, nicht auf
einer fremdenfeindlichen Welle zu
schwimmen. Überdies verkennen sie
keineswegs, daß das Englische meist
gar nicht als Angreifer daherkommt,
sondern ihm wie einem Trojanischen
Pferd geflissentlich Einlaß gewährt
wird. Warum? fragen wir. Aus Einfalt? Bequemlichkeit? Hochstapelei?
Aus Angst, im mörderischen globalen Wettbewerb nicht mithalten zu
können? Aus Neigung, dem jeweils
stärksten Häuptling nachzueifern?
Beredtes Beispiel sind Hörfunk und
Fernsehen in Schweden. Zugegeben,
bei knapp neun Millionen Einwohnern
können die öffentlich-rechtlichen Anstalten nicht aus Mitteln schöpfen, wie
sie ARD, ZDF, ORF, SR und anderen
zur Verfügung stehen. Dementsprechend mager ist die Schar der Berichterstatter, die zudem fast nur des Englischen mächtig sind. Die fatale Folge:
Pidgin A fragt, Pidgin B antwortet.
An groben Unfug grenzt es dabei, daß
erst die englische Aussage kommt und
danach das Ganze noch einmal auf
schwedisch. Und im Fernsehen sind
vor allem die privaten Sender reine
Abspielstationen für durchgehend
nicht-synchronisierte US-Filme.
Das klingt übertrieben und böswillig.
In Wirklichkeit haben wir es aber mit
einem höchst bedenklichen Phänomen
zu tun: Es bleibt immer etwas hängen.
So sickern denn fast unmerklich die für
Schweden kulturfremde Sprache und
Denkweise ein und breiten sich aus. Die
Leute hören nichts anderes, und dann
wollen sie auch nichts anderes, denn
dann kennen sie auch nichts anderes.
Solche Mißstände prangert das Buch
an und wird so zu einer vorbildlichen
ideegebenden Mustersammlung für
all jene, die mit einem ähnlichen
Anliegen am Werke sind. Besonders
fesselnd sind die Bemühungen der
Sprachwehr, die entscheidend zum
Zustandekommen des schwedischen
Sprachgesetzes beigetragen haben.
Einige vermeidbare Schwachpunkte
sollen hier nicht verschwiegen werden:
Es mindert die Aktualität, daß die abgedruckten Texte meist älteren Datums
sind. Außerdem druckt die Sprachwehr
zwar den von ihr erarbeiteten Entwurf
eines schwedischen Sprachgesetzes im
Wortlaut ab. Das letztlich am 1. Juli
2009 ausgefertigte Gesetz suchen wir
jedoch vergeblich. Verwunderlich ist
auch, daß das Sprachwehr-Manifest
etwas versteckt erst am Ende der Anthologie steht. Wünschenswert wären
auch mehr Hinweise auf konkrete Erfolge der Sprachwehr-Arbeit.
Das Buch bietet des weiteren zwar
hervorragende Zustandsdiagnosen,
doch deren Ursachen werden zu wenig erörtert. Warum hat es das Englische so leicht, andere Sprachen zu
infizieren? Das Schwedische ist keine Sprache der Technik, keine der
philosophischen Erörterung, keine
der Bankleute. Schwedisch, in dem
sich noch eine Menge Altgermanisches erahnen läßt, ist die Sprache
der Lyrik, die der wild lodernden
Gefühle. Zu Recht ist Tomas Tranströmer 2011 mit dem Nobelpreis
belohnt worden, verschlingen die
Leute die Bücher Henning Mankells
und Stieg Larssons. In einer solchen
Sprachwelt findet das auf einzelnen
Gebieten kolossal praktische Englisch einen guten Resonanzboden.
Auch solche Überlegungen hätten in
das Buch hineingehört.
So ist dieses anspruchsvolle Werk
trotz seines schönen Titels für ausländische Beobachter, die immer wieder
auf das „große Vorbild“ Schweden
verweisen, nur bedingt empfehlenswert. Die Zustandsanalysen sind für
ausländische Leser eher traurig. Dennoch sind die Artikel, Denkschriften
und so weiter durchaus geeignet,
Sprachwahrern außerhalb Schwedens
brauchbare Anregungen zu geben.
Anzeigen
Das Buch ist vor allen Dingen von
dem guten Willen getragen, der schleichenden Durchdringung der schönen
hochkulturellen Sprache Schwedisch
mit Angelsächsischem entgegenzutreten. Dieses Unterfangen ist aller
Ehren wert, und die Netzwerker des
Språkförsvaret werden diesem Vorsatz
meisterlich gerecht. So bleibt zu wünschen, daß das Buch zahlreiche schwedische Leser wachrüttelt, so daß diese
ihre Sprache schätzen, schützen und
ihren Nachfahren schenken können.
Jürgen Honig ist Übersetzer und
lebt in Schweden.
Språkförsvaret, Per-Åke Lindblom
und Arne Rubensson (Herausgeber):
Svenskan – ett språk att äga, älska
och ärva. En antologi från Språkförsvaret (Schwedisch schätzen,
schützen, schenken), Stockholm
2011, 153 Seiten, ISBN 978-91-6339292-4. Bezug über den Netzbuchhandel oder unmittelbar beim Herausgeber
(sprakforsvaret@yahoo.
se) zum Preis von 10 Euro zuzüglich
Versandkosten.
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Egal ob auf Deutsch, Englisch oder Denglisch:
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epubli, Berlin / 352 S., € 27,10
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ISBN: 978-3-86931-606-2
Populäre Musik erweist sich als der
eigentliche Urheber und Motor des
Werteverfalls. Die Sozialisation unserer
Jugend mit dieser Musik muss aufhören, wenn wir eine ehrlichere und
friedlichere Gesellschaft wollen.
Dieses Buch verleiht den Opfern der
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skandalöse Behördenpraktiken und dokumentiert die verstreuten Paragraphen
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Deutsche Sprachwelt_Ausgabe 46_Winter 2011/12
Literatur
Seite 9
Der „Gesichtserker“ – eine „Propagandalüge“
Von Thomas Paulwitz
E
Am Ende drehen die Sprachschützer den Ahnungslosen eine Nase
s sei „die genialste Propagandalüge aller Zeiten“, sagte ein
Sprachpfleger einmal. Seit 300 Jahren wird den Sprachschützern der
„Gesichtserker“ als mißlungener Verdeutschungsversuch unter die Nase
gerieben. Ausgerechnet am „Tag der
Muttersprache“ 2011 wiederholte
der Literaturkritiker Hellmuth Karasek das anscheinend unausrottbare
Märchen. Dabei sah er sich wohl in
der Rolle des Beschwichtigenden,
des Besonnenen, des Belesenen. In
Wirklichkeit war Karasek allerdings
ein Märchenonkel, denn weit her
ist es mit seiner Belesenheit – auf
schlecht denglisch „Literacy“ – offensichtlich nicht.
vorne an: Erstens gab es im Mittelalter keine Sprachgesellschaften. Sie
sind eine Erfindung der Neuzeit. Die
erste Sprachgesellschaft, die „Fruchtbringende Gesellschaft“ entstand
1617. Zweitens gibt es keinen einzigen Beleg dafür, daß jemals eine solche Gesellschaft gefordert hätte, das
Wort „Nase“ durch „Gesichtserker“
zu ersetzen. Drittens ist „Nase“ kein
Fremdwort, sondern ein Erbwort,
und hat mit dem lateinischen „nasus“
lediglich eine gemeinsame Wurzel.
Das Wort „Erker“ hingegen ist aus
dem nordfranzösischen „arquiere“
(Schießscharte) entlehnt, das von
dem lateinischen „arcus“ („Bogen“)
stammt.
Karasek schwadronierte naseweis:
„Ich denke [glaube], daß die deutsche Sprache eine wunderbare Sprache ist, die keine Beschützer braucht.
[…] Die deutschen Sprachgesellschaften im Mittelalter versuchten,
das Lateinische auszuschließen. Sie
übersetzten das Wort Nase, das wir
als Fremdwort noch in dem Wort
‚nasal‘ erkennen, durch ‚Gesichtserker‘. Diese Eindeutschung hat sich
[…] Gott sei Dank nicht durchgesetzt. Man kann aber im Deutschen
immer noch allen Sprachverbesserern gerne eine lange Nase drehen.“
Das tat Karasek zum Beispiel am
Stand der DEUTSCHEN SPRACHWELT auf der Leipziger Buchmesse
2011: „Englisch wird von selbst verschwinden“, beschied er uns.
Stecken wir die Nase in die Bücher!
Die Wortherkunft von „Erker“ und
„Gesichtserker“ ist im „Kluge“, einem etymologischen Wörterbuch,
nachzulesen. Hätte Karasek doch
einen Blick hineingeworfen! Dort
steht, daß der „Gesichtserker“ nicht,
wie oftmals behauptet, von dem
Sprachreiniger Philipp von Zesen
(1619 bis 1689) vorgeschlagen wurde. Der erste Beleg ist laut Kluge erst
im Jahre 1795 bei dem Schriftsteller
Friedrich von Matthisson zu finden.
Keine Sprachgesellschaft forderte
jemals den „Gesichtserker“
An Karaseks Behauptungen ist eine
ganze Menge falsch. Fangen wir von
„Risum teneas, carissime!“
Wir begeben uns auf Spurensuche.
Matthisson veröffentlichte seine Erinnerungen als Reisebegleiter der
Fürstin Luise von Anhalt-Dessau.
(Zufälligerweise entstammt mit
Fürst Ludwig das erste Oberhaupt
der „Fruchtbringenden Gesellschaft“
der Nebenlinie Anhalt-Köthen.) Matthisson hatte 1812 den dritten Band
seiner Erinnerungen herausgegeben
Ein unausrottbares Märchen
Auf diese Weise pflanzte sich das
Märchen bis in die heutigen Tage
weiter fort. Das ist auch die Erklärung dafür, daß Karasek, wie Unzählige vor ihm, das Märchen einfach
ungeprüft übernommen hat, weil es
ihm eben in den Kram paßte. So ist
das Wort „Gesichtserker“ ein schönes Beispiel dafür, wie immer wieder der eine vom anderen abschreibt,
ohne nach der Quelle zu fragen. Ironischerweise taucht der Irrtum sogar
in einem 2009 erschienenen Buch
auf, das den Titel trägt: „1.000 Irrtümer der Allgemeinbildung – aufgedeckt und richtig gestellt“. Der Verfasser hat den Irrtum als beflissener
Untertan der Reformschreibung womöglich „richtig gestellt“, aber leider
nicht „richtiggestellt“.
und darin einen auf 1795 datierten
Brief an einen anderen Schriftsteller
veröffentlicht. In diesem Schreiben,
in dem es mehr auf Anekdoten als
auf Wissenschaftlichkeit ankommt,
berichtet Matthisson von einem nicht
namentlich genannten Puristen: „Dieser wollte nämlich das ehrliche, in
jedem Familienkreise, besonders wo
viele Kinder sind, täglich vielleicht
mehr als zwanzigmal erschallende
Nennwort Nase, der hochverpönten römischen Abstammung wegen,
nicht als reindeutsch anerkennen,
und brachte dagegen, risum teneas,
carissime! das ganz unerhörte: Gesichtserker, in Vorschlag.“ Matthissons Erinnerungen erschienen in
mehreren Auflagen. Möglicherweise begünstigten sie die unkritische
Wiedergabe dieser Geschichte in den
Nachschlagewerken und Enzyklopädien des 19. Jahrhunderts.
„… auch Steine
können sprechen“
Aufruf zum sechsten Schülerwettbewerb der
Neuen Fruchtbringenden Gesellschaft
Z
um sechsten Mal rufen die
Neue Fruchtbringende Gesellschaft zu Köthen/Anhalt (NFG) und
die Theo-Münch-Stiftung für die
Deutsche Sprache (TMS) zum Schülerwettbewerb „Schöne deutsche
Sprache“ auf. Ziel des Schreibwettbewerbs ist es diesmal, einen literarischen Text zum Thema „… auch
Steine können sprechen“ zu verfassen. Die literarische Form ist frei
wählbar, so können beispielsweise
Gedichte, Geschichten, Satiren, Essays und dialogische Umsetzungen
verfaßt werden. Das Thema bietet
zahlreiche Gestaltungsmöglichkeiten: So können Beispiele der Baukunst, Denkmäler oder auch historische und sprachliche „Stolpersteine“
in den Mittelpunkt gerückt werden.
Ebenso sind aber auch Phantasiegeschichten und Märchen zu „sprechenden Steinen“ möglich..
Die NFG will Schüler dafür begeistern, ihre Sprache schöpferisch
einzusetzen und kleine literarische
Werke zu verfassen. Der Phantasie
sind keine Grenzen gesetzt. Es gibt
wieder vier Teilnahmekategorien:
Schüler der Klassen 3 und 4, 5 und
6, 7 bis 9 und 10 bis 13. Schüler der
Klassen 3 bis 6 können sowohl Einzel- als auch Zweierarbeiten einreichen, Schüler der Klassen 7 bis 13
werden gebeten, nur Einzelarbeiten
abzugeben. Die Texte sollten höchstens zwei DIN-A4-Seiten lang und
möglichst
maschinengeschrieben
sein. Außerdem sollten sie folgende Angaben enthalten: Name, Alter,
Schule, Schulform, Klassenstufe,
Anschrift und Rufnummer.
Die zwölf Gewinner des Schreibwettbewerbs (die besten drei Arbeiten je
Altersstufe) werden anläßlich des Tags
der deutschen Sprache am 15. September 2012 im Rahmen einer Festveranstaltung mit Urkunden und Geldpreisen
ausgezeichnet und dürfen ihre Werke
vortragen. Außerdem ist wieder eine
Sprechwerkstatt geplant. Die „Neue
Fruchtbringende Gesellschaft zu
Köthen/Anhalt e. V. – Vereinigung zur
Pflege der deutschen Sprache“ wurde
am 18. Januar 2007 als Sammelbecken
für Sprachfreunde und Sprachvereine
gegründet und zählt mehr als 250 Mitglieder in ganz Deutschland. Am letzten Schreibwettbewerb der NFG und
der TMS beteiligten sich rund 1.000
Schüler. (dsw/nfg)
Einsendeschluß ist der 31. März 2012.
Weitere Auskünfte unter www.fruchtbringende-gesellschaft.de. Einsendungen für den Schreibwettbewerb sind zu
richten an:
Neue Fruchtbringende Gesellschaft
„Schreibwettbewerb“
Schloßplatz 5
D-06366 Köthen/Anhalt
schreibwettbewerb@
fruchtbringende-gesellschaft.de
Selbst Professoren und Doktoren tragen das Märchen von Generation zu
Generation weiter, ohne freilich dabei
um ihren akademischen Grad fürchten zu müssen; etwa Frau Prof. Dr.
Jutta Limbach, die ehemalige Präsidentin des Goethe-Instituts. Sie stellt
in ihrem Buch „Hat Deutsch eine Zukunft?“ erfreut fest, daß das „gut eingebürgerte Fremdwort“ „Nase“ im
Fremdwörterlexikon gar nicht mehr
auftauche. Welches Wunder!
So dient der „Gesichtserker“ schon seit
Jahrhunderten so unaufgeregten wie
ahnungslosen Zeitgenossen dazu, von
hoher Warte einen beschwichtigenden, besonnenen, belesenen Eindruck
zu vermitteln. Wahre Kenner Zesens
jedoch wie etwa der Literaturhistoriker Otto Leixner von Grünberg (1847
bis 1907) werden wohl weiterhin mit
Mißachtung gestraft. Dieser meinte
in seiner „Geschichte der Deutschen
Literatur“ über das Märchen vom Gesichtserker: „Es wäre Zeit, daß man
nach zweihundert Jahren wenigstens
diesen Fleck von dem Bilde des Mannes entfernte, der viel gearbeitet, ernst
gestrebt, wenn auch oft geirrt hat.“
Der „Gesichtserker“
als Bereicherung
Dabei ist der „Gesichtserker“ älter
als von 1795. So schreibt der Sprachpfleger Heinrich Braun 1772 in der
Einführung zu seiner „Anleitung zur
deutschen Dicht- und Versekunst“: „Es
könnte gar wohl wiederum einige Mißgönner geben, welche die Haarkrebsen, Gesichtserker, Dachnasen, u. d. gl.
in diesem Werkchen suchen werden“.
Braun wollte „wenigstens im Schreiben und Drucke eine Gleichförmigkeit
mit den meisten übrigen deutschen
Provinzen“ herbeiführen, wie er in seiner „Sprachkunst“ von 1761 schrieb.
Damals wie heute ist so ein Anliegen
in gewissen Kreisen verdächtig.
Wahrscheinlich hat es den „Gesichtserker“ sogar schon zu Lebzeiten Zesens gegeben. Unterdessen
hat dieses Wort, das ursprünglich
dazu ausersehen war, die Arbeit der
Sprachschützer lächerlich zu machen, eine Lücke geschlossen und
unseren Wortschatz bereichert. Häufig finden wir es nämlich nicht mehr
im Einsatz als „Propagandalüge“,
sondern einfach nur als scherzhafte
Bezeichnung für einen eben besonders eindrucksvollen Zinken. Am
Ende sind es doch die Sprachschützer, die den ach so Besonnenen eine
Nase drehen können.
Bitte deutlich schreiben!
Neue Fruchtbringende
Gesellschaft
Bitte schicken Sie mir kostenlos und unverbindlich:
Unterlagen für eine Mitgliedschaft in der Neuen Fruchtbringenden Gesellschaft
Terminhinweise für Veranstaltungen der Neuen Fruchtbringenden Gesellschaft
Ich bestelle gegen Rechnung, zuzüglich Versandkosten:
die Broschüren zum Schülerwettbewerb „Schöne deutsche Sprache“
2007 (4 Euro)
2008
2009 2010 2011 (je 5 Euro)
„Unsere Sprache – Beiträge zur Geschichte und Gegenwart der deutschen Sprache“
Band 1 (2008) „Im Anfang war das Wort“ ist zur Zeit vergriffen.
Band 2 (2009) „An ihren Früchten sollt ihr sie erkennen“: Beiträge von Thomas Paulwitz, Gabriele
Ball, Michael Mühlenhort, Josef Kraus, Hartmut Heuermann und Rudolf Wachter. Themen: Rede zur
deutschen Sprache 2008, die Fruchtbringer Diederich von dem Werder und Christian Gueintz, Denglisch, Empfehlungen der Schweizer Orthographischen Konferenz für eine einheitliche Rechtschreibung (100 Seiten, 6 Euro)
Band 3 (2010) „Allen zu Nutzen!“: Beiträge von Uta Seewald-Heeg, Andreas Herz, Thomas Paulwitz, Werner Pfannhauser, Kurt Reinschke und Monika Plath. Themen: Rede zur deutschen Sprache
2009, Spracharbeit der Fruchtbringenden Gesellschaft, 400 Jahre organisierte Sprachpflege, Deutsch
als Wissenschaftssprache, Wege zur Lesemotivation von Kindern (82 Seiten, 6 Euro)
Band 4 (2011) „Verstand zeigt sich im klaren Wort“: Beiträge von Lienhard Hinz, Hans Joachim
Meyer, Jurij Brankačk, Hermann H. Dieter und Michèle Dieter, Margund Hinz. Themen: Rede zur
deutschen Sprache 2010, Frühkindlicher Spracherwerb, Bilinguale Erziehung, Die preußischen Kleinkinderschulen (62 Seiten, 6 Euro)
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Telefon und Telefax +49-(0)3496-405740
[email protected]
Werkstatt
Seite 10
Sprachsünder
Ecke
Hamburg macht sich klein und will Weltstadt spielen
s ist ein „Vorzeigeprojekt
internationaler Waterfrontentwicklung“, schwärmt die „HafenCity Hamburg GmbH“, eine
100prozentige Tochter der Freien
und Hansestadt Hamburg. Mit
„Waterfrontentwicklung“ ist Stadtplanung in unmittelbarer Nähe
zum Wasser gemeint. Dieser Anglizismus ist jedoch
kein Ausrutscher. Es geht um die „HafenCity“, errichtet von der Stadt Hamburg. Sie wird die Hamburger Innenstadt um 40 Prozent erweitern und soll mit
bis zu 150 Meter hohen Turmhäusern der deutschen
Hauptstadt den Rang ablaufen. Allein das Viertel
„Elbbrücken“ soll so groß werden wie das Gebiet um
den Potsdamer Platz in Berlin. Dieses Viertel erhält
einen großen Platz, der „den zentralen öffentlichen
Raum“ bilden soll. Der Name dieses Platzes lautet:
„Chicago Square“. Auch die Endhaltestelle der U4
wird diesen Namen tragen.
dieses „provinzielle Weltstadtgehabe“: „Jedes Dorf gibt sich
weltläufig, wenn es die Kirmes
zum Event aufbläst, jede Klitsche spielt Weltunternehmen,
wenn sie nur noch aus CEOs,
Senior- und Content-Managern
besteht. Nur wirkt das nicht international, sondern albern.“ Das sehen offenbar die
meisten Bürger genauso. In einer Umfrage derselben
Zeitung stimmten 89 Prozent der Leser dafür, diesem
Platz lieber einen deutschen Namen zu geben. (dsw)
„Für einen Platz inmitten von Hamburg ist das eine
sprachliche Entgleisung.“ Das findet nicht nur das
Hamburger Abendblatt. Darin schimpfte Matthias
Iken in einem Kommentar vom 8. November über
Sprachsünder Olaf Scholz, Erster Bürgermeister der
Freien und Hansestadt Hamburg, Rathausmarkt 1,
D-20095 Hamburg, Telefon +49-(0)40-42831-2411,
[email protected]
Liegt Hamburg an der Elbe oder am Michigansee? Warum gibt die Stadt ihrem neuen zentralen Platz nicht einen ortstypischen Namen oder
nennt ihn wenigstens „Chikagoer Platz“? Warum
„Chicago Square“? Fragen Sie Hamburgs Ersten
Bürgermeister und lassen Sie uns bitte ein Doppel
zukommen:
Florian-Baum-Gedächtnis-Textbaustein
Ein verlockendes Angebot an Denglisch-Sünder
A
Deutsche
Wortwelt
An dieser Stelle stellen wir Sprachsünder vor, die besonders unangenehm aufgefallen sind,
und rufen unsere Leser zum Protest auf
„Chicago Square“ an der Elbe
E
Deutsche Sprachwelt_Ausgabe 46_Winter 2011/12
ls Dienstleistung für Sprachsünder bietet die DEUTSCHE
SPRACHWELT – nur jetzt! – den
folgenden Florian-Baum-GedächtnisTextbaustein an. Benannt ist dieses
praktische Hilfsmittel nach dem legendären Sprecher der sympathischen
Drogeriekette „Schlecker“, der damit
den mißlungenen Werbespruch „For
You. Vor Ort“ rechtfertigte. Dieser ausgefeilte Text hilft jedem sprachunempfindlichen Unternehmen, Beschwerdebriefe über Denglisch schnell und ohne
nachzudenken zu beantworten:
„Dieses Motto [oder: diese Bezeichnung, Nichtzutreffendes streichen] sollte die durchschnittlichen
[hier den Namen des Unternehmens
einsetzen]-Kunden, die niederen
bis mittleren Bildungsniveaus zuzuordnen sind, ansprechen. Wir haben renommierteste Marketing- und
Marktforschungsagenturen beauftragt, unter diesen Gesichtspunkten
eine optimale Parole [oder: Bezeichnung, Nichtzutreffendes streichen]
für uns zu finden. Der so zustande
gekommene Vorschlag ‚[hier den be-
anstandeten Werbespruch/Namen
einsetzen]‘ machte am Ende vor
allem deshalb das Rennen, weil er
beim für unsere Haupt-Zielgruppen
repräsentativen Testpublikum am
besten abschnitt.“
Sollte dem Unternehmen allerdings
daran gelegen sein, seine Kunden
an sich zu binden und in ihrer Sprache anzusprechen, sei ihm geraten,
es doch bitte einmal auf deutsch zu
versuchen. (dsw)
Das entbehrliche Fremdwort
Eurobonds
Die immer wieder geforderten sogenannten „Eurobonds“
wären gemeinsame Schuldverschreibungen, welche die
mangelnde
Kreditwürdigkeit hochverschuldeter EUStaaten auf Kosten der besser
eingestuften Mitgliedsländer
ausgleichen sollen. In jüngster Zeit ist sogar von „Stabilitätsbonds“ die Rede. Das
Wort „Schuld“ vermeiden die
Europapolitiker sicher nicht
zufällig in ihrer Wortwahl.
Eindeutiger wäre es, von „EUAnleihen“ oder „EU-Schuldverschreibungen“ zu sprechen.
Für das Letztere sprachen sich
in einer Umfrage die Facebook-Leser der DEUTSCHEN
SPRACHWELT aus. Es gab
aber auch andere Vorschläge
wie „Ramschanleihen“ oder
„Eurobombs“. Diese Bezeichnungen wären allerdings wohl
zu eindeutig.
Das richtig geschriebene Wort
widerspiegeln
Ein häufiger Fehler ist die Verwechslung von „wieder“ und
„wider“ – sofern überhaupt bekannt ist, daß es zwei verschiedene Schreibweisen mit unterschiedlichen Bedeutungen
gibt. „Wieder“ bedeutet „nochmals“ oder „zurück“. „Wider“
heißt indes so viel wie „gegen“.
Wer etwas erwidert, entgegnet
etwas. Wenn ich jemanden
wieder spreche, dann rede ich
nochmals mit ihm. Wenn ich
jemandem jedoch widerspreche, dann rede ich gegen seine
Worte. Beim „Widerspiegeln“
fällt ein Lichtstrahl gegen einen Spiegel. Möglicherweise
entsteht für viele eine Schreibunsicherheit dadurch, daß der
Strahl eben „wieder“ zurück-
geworfen wird, also „wieder“
zurückkommt. Das Bild des
Erwiderns hat sich allerdings
in der Rechtschreibgeschichte
gegen das Bild des Zurückkommens durchgesetzt.
Das treffende Wort
erstklassig / erstklassisch
Wenn etwas die höchste Stufe
erreicht hat, ist es „erstklassig“. In jüngster Zeit taucht jedoch immer wieder das Wort
„erstklassisch“ auf. Dabei
handelt es sich manchmal um
ein Wortspiel, wenn beispielsweise klassische Musik besonders zu loben ist. Oft ist es
jedoch eine Falschschreibung
von „erstklassig“. Mancherorts begünstigt möglicherweise die dort übliche Mundart
diesen Fehler.
Das wiederentdeckte Wort
Brosame
Die Brosame ist ursprünglich
etwas Zerriebenes, Zerbröckeltes. Verkleinert wird sie
zum Brösel („Brosämlein“).
In den Grimmschen Märchen
finden wir Brosamen bei Hänsel und Gretel. Sie sollen den
beiden Kindern helfen, wieder
aus dem Wald herauszufinden. Allerdings picken Vögel
die Brotbrocken auf, so daß
sich die Kinder verirren. In
der Bibel-Übersetzung von
Martin Luther begegnen uns
die Brosamen bei dem armen
Lazarus. Dieser „begehrte sich
zu sättigen von den Brosamen,
die von des Reichen Tische
fielen“ (Lukas 16, 21). Wann
haben Sie das letzte Mal Brosamen geschätzt?
Welche weiteren Wörter sollten in dieser Wortwelt stehen?
Schreiben Sie uns!
GESUCHT:
Kleine Leserbefragung
Die Sprachwahrer des Jahres 2011
Soll der Schreibschriftunterricht an den Grundschulen abgeschafft werden?
Liebe Leser,
wie heißt Ihr Sprachwahrer des Jahres? Mit Ihrer Hilfe möchten wir wieder vorbildlichen Einsatz für die deutsche
Sprache auszeichnen. Sie können entweder einen unserer Vorschläge ankreuzen oder selbst jemanden vorschlagen.
Nehmen Sie bitte an der kleinen Leserumfrage ebenfalls teil.
Einsendeschluß für beide Befragungen ist am 31. Januar 2012.

Wolfgang Bosbach: Der CDU-Politiker und Vorsitzende des Innenausschusses des Deutschen Bundestages setzte
den unflätigen Ausdrücken des Kanzleramtsministers Ronald Pofalla („Wenn ich so eine Scheiße höre wie Gewissensentscheidung“) sein gepflegtes Deutsch entgegen und setzte damit ein starkes Zeichen gegen die Verwahrlosung des Sprachgebrauchs in der Politik.
Hilse: Der SPD-Politiker und Verleger brachte als Mitglied des Berliner Abgeordnetenhauses zahlrei Torsten
che Initiativen für die deutsche Sprache auf den Weg. Sein letzter Antrag lautete „Deutsche Sprache als Kulturgut pflegen und fördern!“ und wurde im September mit knapper Mehrheit abgelehnt (Drucksache 16/4207).
Nikolaus: Das Rostocker Bekleidungsgeschäft schloß sich der Anti-SALE-Aktion der DEUTSCHEN
 Modehaus
SPRACHWELT an und plakatierte in seinen Filialen die Forderung „Schluß mit dem Ausverkauf der deutschen
Sprache“.
Computer Club: Die Vereinigung von Hackern veröffentlicht Texte in traditioneller Rechtschreibung und
 Chaos
vermeidet auf diese Weise auf ihren eigenen Netzseiten ein Rechtschreibchaos.
Der Humorist hat die deutsche Sprache geprägt und bereichert. Er hat es darüber hinaus nicht an kriti Loriot:
schen Bemerkungen zur Entwicklung seiner Muttersprache fehlen lassen. Seine Aussprüche leben in uns weiter
und machen ihn unsterblich.
Michael Olbrich: Der Leiter des Instituts für Wirtschaftsprüfung an der Universität des Saarlandes fand her aus,
daß die englische Wortwahl in Geschäftsberichten der „DAX 30“-Unternehmen vermutlich gesetzeswidrig
ist und gegen Handelsgesetzbuch und Aktiengesetz verstößt.
Tolksdorf und Wolfgang Ball: Der Präsident des Bundesgerichtshofs Tolksdorf warnte vor der Zulas Klaus
sung von Englisch als Gerichtssprache an Handelskammern in Deutschland: „Es drohen Fehlurteile.“ Der Vorsitzende Richter am Bundesgerichtshof Ball lehnte als einziger geladener Sachverständiger vor dem Rechtsausschuß des Deutschen Bundestags den entsprechenden Gesetzentwurf des Bundesrats ab.
Raabe: Der Bariton-Sänger und Gründer des „Palast-Orchesters“ ist ein gewandter Sprecher und glü Max
hender Bewunderer der deutschen Sprache. Im August schwärmte er: „Je weiter ich mich wegbewege, um so
mehr schätze ich, mich zu Hause in der Muttersprache zu bewegen. Hier kann ich mich wie ein Ferkelchen im
Konjunktiv suhlen, aus jeder Silbe alles herausholen.“

Hape Kerkeling: Der Schauspieler und Unterhalter spricht mehrere Fremdsprachen fließend, kann aber auch
die deutsche Sprache meisterhaft einsetzen. Im Juni bekannte er: „Ich schätze an der deutschen Sprache die
Präzision, mit der sich Gefühle ausdrücken lassen. Andere Sprachen bleiben da eher vage, unpräzise.“
 Jemand anders: ______________________, weil ________________________________________________



Ja
Nein
Unentschieden
Ist der Englischunterricht an den Grundschulen sinnvoll?



Ja
Nein
Unentschieden
Soll das lautgetreue/phonetische Schreibenlernen („Lesen durch
Schreiben“, „Schraip widu schprichsd“) an den Grundschulen wieder abgeschafft werden?



Ja
Nein
Unentschieden
Nennen Sie uns bitte Ihre Anregungen und Vorschläge für den
Deutschunterricht in der Grundschule:
__________________________________________________________
__________________________________________________________
__________________________________________________________
__________________________________________________________
Bitte einsenden an:
DEUTSCHE SPRACHWELT, Postfach 1449, D-91004 Erlangen,
Telefax +49-(0)9131-480662, [email protected]
__________________________________________________________
Name, Vorname
__________________________________________________________
Straße, Postleitzahl und Ort
__________________________________________________________
Datum, Unterschrift
Anstöße
Deutsche Sprachwelt_Ausgabe 46_Winter 2011/12
Bericht aus Bozen
Von Andreas Raffeiner
F
ür Süd-Tirol
ist der neue
Ministerpräsident Mario Monti nicht schlecht,
aber bestimmt
kein Heilsbringer.
In den Jahren, in
denen Italien von
Silvio Berlusconi
Bild: Roshan-Kofler und seinem „Volk
der Freiheit“ (PdL) regiert worden
war, war das Klima zwischen dem
Staat und der deutschen Minderheit
in Süd-Tirol erkaltet – trotz der föderalistisch ausgerichteten „Lega
Nord“ in der Regierungsmehrheit.
Mit Berlusconis Rücktritt und dem
Antritt der Techniker-Regierung um
Mario Monti schaut Süd-Tirol nun
hoffnungsvoll nach Rom.
tion bedingt: Zu lange ist in den letzten Wochen und Monaten der vierten
Berlusconi-Regierung nichts weitergegangen. Fehlender Reformwillen
und zunehmender Flügelstreit haben
einen ganzen Staat gelähmt und sind
schließlich für die ganze Europäische
Union (EU) zu einem Risikofaktor
geworden. Nun ist in Süd-Tirol auch
in den Reihen der Minderheiten eine
Aufbruchsstimmung zu verspüren,
endlich notwendige finanzpolitische
und verfassungsbedingte Reformen
anzugehen, um den Staat Italien einigermaßen an zeitgemäße und somit
moderne Anforderungen anzupassen.
Sinkt nämlich das italienische Staatsschiff, geht auch der Süd-Tiroler mit
unter. Was umgekehrt in diesem Sinn
Italien rettet, tut auch der ihm einverleibten Minderheit gut.
So gut wie alle Vertreter des offiziellen Süd-Tirols haben der Übergangsregierung um den Wirtschaftsprofessor Rosen gestreut. Und in einem
ersten Treffen hat der neue Ministerpräsident Süd-Tiroler Vertretern auch
zugesichert, „ein Auge auf die Belange der Autonomen Provinzen“ zu
haben. Der Optimismus ist einerseits
durch die allgemeinpolitische Situa-
Anders schaut es hinsichtlich der Autonomie aus. Seit Jahren geht in den
Verhandlungen über die (deutschen
und ladinischen) Ortsnamen, über die
Konzession zur Brennerautobahn und
vor allem bei der Debatte über die Finanzgebarung des Landes Süd-Tirol
kaum etwas weiter. Mario Monti steht
nun einer aus der Not des Staates heraus geborenen Übergangsregierung
Von Lienhard Hinz
I
ch hab
so Heimweh
nach
dem Kurfürstendamm,
ich hab so
Sehnsucht
nach meinem
Berlin!“
sang
Hildegard
Knef (1925
bis 2002), als sie von ihren Auslandsgastspielen zurückkehrte. Das war
vor fünfzig Jahren. In diesem Jahr
war der 125. Geburtstag des Kurfürstendamms, weil am 5. Mai 1886
die Dampfstraßenbahnlinie vom
Bahnhof Zoo nach Halensee eröffnet
wurde. Drei Jahre hatte damals der
Ausbau und die Verbreiterung der
dreieinhalb Kilometer langen Straße
auf Anregung des Reichskanzlers,
Fürst Otto von Bismarck, gedauert.
Die danach entstandene Villenkolonie Grunewald stiftete ihm das
überlebensgroße
Bronzestandbild
am Bismarckplatz nahe dem Kurfürstendamm in der Hubertusallee. Wir
erblicken einen nachdenklichen Spaziergänger mit Schlapphut und Stock
und seine auf den Hinterbeinen sitzende Dogge. In Wirklichkeit geht
die Entstehung der berühmten Straße auf das Jahr 1542 zurück, als das
Jagdschloß Grunewald erbaut wurde.
Unter Kurfürst Joachim II. (1505 bis
1571) entstand für die kurfürstlichen
Reiter ein Verbindungsweg zum Berliner Schloß. Von dort führt der damalige Reiterweg heute über Unter
den Linden, Brandenburger Tor, Straße des 17. Juni (Tiergarten), Großer
Stern mit Siegessäule, Hofgartenallee, Stülerstraße, Budapester Straße,
vor, für die mit Ausnahme der Lega
Nord alle parlamentarischen Parteien
eine gemeinsame Mehrheit bilden.
Die Berlusconi-Mandatare oder deren noch nationalistischer geprägte
Konkurrenz werden einen Fortschritt
im Sinne eines minderheitenfreundlicheren Ausbaues der Autonomie
nicht zulassen. Und was noch schwerer wiegt: Die Übergangsregierung
Monti hat vorerst andere Probleme:
das Eindämmen der Staatsschuld,
ein dringend nötiges Ankurbeln der
Volkswirtschaft, um aus der Rezession zu kommen, und längst überfällige Reformen des Staatswesens – all
das ist eine Herkulesaufgabe, die
dem Ausmisten des berühmten Augiasstalles gleichkommt, und mit der
das Kabinett Monti sicher bis zum
Ende seiner Amtszeit im Frühjahr
2013 beschäftigt sein wird. Und es
ist vor allem notwendig, um Italien
dauerhaft im europäischen Verbund
halten zu können. Demzufolge wird
alles andere untergeordnet werden.
Der SVP-Parlamentarier Siegfried
Brugger hatte es bei Montis Amtsantritt auf den Punkt gebracht: „Ich
bin optimistisch für Italien, aber gegen Euphorie bezüglich Süd-Tiroler
Fragen“.
antiquarische
Bücher
Liste für 1,45 €
in Briefmarken
A. Neussner
D-37284 Waldkappel
Hochschulrektoren
für Sprachenvielfalt
A
ufgrund der zunehmenden Vorherrschaft der englischen Sprache in Forschung und Lehre kommen
immer mehr nicht-deutschsprachige
Wissenschaftler und Studenten nach
Deutschland. Die Präsidentin der
Hochschulrektorenkonferenz (HRK),
Prof. Dr. Margret Wintermantel,
erklärte daher Ende November in
Berlin: „Wir müssen dafür sorgen,
daß die lebendige Kommunikation
zwischen den Hochschulmitgliedern nicht eingeschränkt wird. Es
ist auch ein Problem, wenn nichtenglischsprachige wissenschaftliche
Veröffentlichungen immer weniger
berücksichtigt werden. Dies führt
zu Wettbewerbsverzerrungen, die
wir nicht hinnehmen können.“ Wenn
die Hochschulen ausschließlich auf
englischsprachige
Kommunikation in Forschung, Lehre und Lernen
setzten, gehe dies zu Lasten anderer
Sprachen und des Deutschen und gefährde damit die Sprachenvielfalt.
Vor diesem Hintergrund hat sich die
Mitgliederversammlung der HRK in
einer vierzehnseitigen Empfehlung
Bericht aus Berlin
Kaiser-Wilhelm-Gedächtnis-Kirche,
Kurfürstendamm, S-Bahnhof Halensee, Koenigsallee, zum Jagdschloß
Grunewald.
„Alles was gut war, das kommt
mal zurück, wenn darüber auch
Zeit vergeht“, sang die Knef in der
geteilten, entwidmeten deutschen
Hauptstadt. Dies bewahrheitet sich
angesichts des für Stadtrundfahrten erschließbaren „Reiterweges“
zwischen den Schlössern. Die Restaurierung und Instandsetzung des
Jagdschlosses mit der Jagdgeschichte der preußischen Herrscher und
einer Galerie deutscher und niederländischer Gemälde des 15. bis 19.
Jahrhunderts wird mit Parkplatz und
Waldweg im Dezember abgeschlossen. Begonnen hat der Wiederaufbau
des Berliner Schlosses, denn in der
Bauhütte Spandau meißelt ein Heer
von Steinbildhauern die originalen
Fassadenelemente. Im Mai war die
umfassende Renovierung der Siegessäule und der Göttin Viktoria beendet. Am 2. September 1873 hatte
Kaiser Wilhelm I. sie eingeweiht.
Am 1. September 1895 wurde die
neoromanische
Kaiser-WilhelmGedächtnis-Kirche eingeweiht als
ehrendes Denkmal für Kaiser Wilhelm I. – Bomben zerstörten sie im
November 1943. An einen Wiederaufbau ist nicht zu denken. Geblieben ist nur noch der Turm, der als
Ruine ständig mit Spenden baulich
erhalten wird. Dafür feiert man 50
Jahre Egon-Eiermann-Bau. Zu den
Feierlichkeiten gehörte ein Volksfest
„Bei uns um die Gedächtniskirche
rum“ mit Erbsensuppe, Kuchen und
Getränken sowie ein Sonderpostamt
im Turm.
„Ich hab so Heimweh nach dem
Kurfürstendamm, Berliner Tempo, Betrieb und Tamtam!“ 125 der
Kastenvitrinen im Bauhausstil bildeten bis Oktober eine Ausstellung zur
Geschichte des Kurfürstendamms.
Die Vitrinen trennen seit dem Wiederaufbau des zerbombten Kurfürstendamms – nach einer Idee der
1930er Jahre – einen Fußgängerweg
an der Straße von einem Ladenweg
entlang der Geschäfte. In den wiedererstandenen prächtigen Gründerzeithäusern haben alle namhaften
internationalen Modemarken ihre
Geschäfte. Gasthäuser und Straßencafés zahlreicher Nationalitäten
werben um Gäste. Über die blanken
Fassaden der Hochhausbaustellen
zum Tauentzien hin gibt es nichts
Besucherfreundliches zu berichten.
Vom berühmten Caféhaus Kranzler,
in dem auch Hildegard Knef auftrat,
ist nur ein Rest im oberen Rundbau
des Bekleidungskonzerns Gerry Weber übriggeblieben. Gegenüber auf
dem Joachimstaler Platz steht die
denkmalgeschützte
Verkehrskanzel. Sie diente nach ihrer Stillegung
1962 zur Beobachtung der Demonstrationen der 68er Bewegung. Die
auch heute beliebte Proteststrecke
genießen wir auf einem Spaziergang
von dort in Richtung Halensee nach
einem Blick in den Alt Berliner Biersalon. Der jahrhundertalte einstige
„Spezialausschank für Berliner Lagerbier“ hatte seine Blütezeit in den
1960er Jahren, als Theaterbesucher
und Schauspieler einkehrten. Auch
Inge Meysel (1910 bis 2004) trank
hier oft eine Molle. Den „letzten
Schrei“ der Filmtheater erleben Sie
dann in der „Astor Film Lounge“ –
ein Haus mit einer langen „Kinoge-
Anzeigen
7000
Seite 11
Bücher von Johannes Dornseiff
Rechte Notizen
Der Verfasser der Bücher Tractatus absolutus (2000), Recht und Rache (2003),
Sprache, wohin? (2006) und Kant (2009) legt als eine Art Nachlaß zu Lebzeiten
seine politischen Notizen aus der Zeit seit 1993 vor, als Anhang zu seinem Neuen
Deutschlandlied („Deutschland, Deutschland, bist verblichen ...“). – Mehr als
Notizen sind es tatsächlich nicht. Aber vielleicht doch so treffend, daß die Vertreter des Gutmenschentums und der „ political correctness“ daran Anstoß nehmen
werden. Von den (von sich selbst) so genannten Antifaschisten ganz zu schweigen.
136 Seiten • 10,00 € • ISBN 978-3-940190-66-6 • Vertrieb: xlibri.de Buchproduktion,
Tel.: 08243 / 99 38 46, E-Mail: [email protected]
Inhaltsangaben und Auszüge der Bücher des Verfassers unter
www.johannesdornseiff.de
schichte“. Zu empfehlen ist dann der
beste Kudammblick von der Terrasse
des „Reinhard’s“ im Kempinski. Ein
zweites Kino, das „Cinema Paris“,
im Haus der französischen Kultur
schließt sich an. Das Maison de France zeigt bis Ende Januar 2012 eine
Ausstellung des Pariser bildenden
Künstlers Richard Tronson. Schritte entfernt empfangen uns Theater
und Komödie am Kurfürstendamm,
geleitet von Martin Woelffler in der
dritten Generation der Familie. Stücke des Berliners Horst Pillau und
Schauspieler, wie Judy Winter und
Walther Plate, ziehen noch immer.
Wir überqueren die 53 Meter breite
Straße, um vor dem Adenauerplatz
die letzte Kneipe am Kudamm mit
durchgehendem
24-Stunden-Betrieb, „Bei Mo“, in Augenschein zu
nehmen. Hier feiern Sportler und
Fußballklubs. An ein geschichtliches
Ereignis auf dem Kurfürstendamm
erinnert die lebensgroße KonradAdenauer-Skulptur auf dem Adenauerplatz. Im August 1963 begleitete
Bundeskanzler Konrad Adenauer
den Präsidenten John F. Kennedy
bei seinem Berlinbesuch. Die Bronzestatue von Helga Tiemann zeigt
einen entschlossen voranschreitenden Adenauer mit wehendem Mantel und Hut in der Hand. Unser Blick
fällt auf das Handtuchhaus mit seiner Stahlglasfassade des Architekten
Helmut Jahn. Davor hebt sich eine
der prächtigen schmiedeeisernen
zur „Sprachenpolitik an den deutschen Hochschulen“ dafür ausgesprochen, Mehrsprachigkeit sowohl
auf nationaler wie auch auf internationaler Ebene in der Wissenschaft
zu fördern. Die Hochschulen wollen
sich dafür einsetzen, ein verstärktes
Bewußtsein für sprachenpolitische
Fragen zu schaffen und einen bewußten Einsatz unterschiedlicher Sprachen im Hochschulalltag zu fördern.
Die Sprachenvielfalt soll sowohl zur
Erhaltung des Deutschen als Wissenschaftssprache beitragen als auch den
qualifizierten Erwerb und Einsatz anderer Sprachen unterstützen.
Damit dies gelingt, wünschen sich
die Hochschulrektoren mehr Personal, mehr Sprachenforschung und
Sprachenzentren und mehr Übersetzungen und Dolmetscher für Wissenschaftler. Die HRK fordert darüber
hinaus europäische „bibliometrische Instrumente“ (also Veröffentlichungsverzeichnisse) für nicht-englischsprachige Publikationen, damit
die Forschung diese besser wahrnehmen kann. (hrk)
Kohlenbogenleuchten ab, die auch
heute noch den gesamten Boulevard
erhellen. Gehen wir nun ein letztes
Mal durch die Platanenreihen auf die
andere Straßenseite zum Lehniner
Platz. Hier macht die Schaubühne
von sich reden. Ihr Künstlerischer
Leiter, Thomas Ostermeier, führt jedes Jahr ein Shakespeare-Stück auf.
Premiere hatte „Maß für Maß“ mit
dem Wiener Burgschauspieler Gert
Voss. Die letzte Kulturoase vor dem
Bahnhof Halensee ist der Henriettenplatz, gewidmet der Kurfürstin Luise
Henriette. Das Kurfürstenehepaar
Luise Henriette (1627 bis 1667) und
Friedrich Wilhelm von Brandenburg
(1620 bis 1688), der Große Kurfürst,
ist auf Reliefs des dreiseitigen Gedenksteins zu bewundern. Rätselnd
stehen die Betrachter vor dem Medusenhaupt-Brunnen des französischen
Künstlerehepaares Anne und Patrick
Porier. Medusa, die schöne Tochter
griechischer Meeresgottheiten, wurde von Pallas Athene aus Eifersucht
in ein geflügeltes Ungeheuer verwandelt und enthauptet. Dieses Medusenhaupt, das feindliche Krieger
zu Stein erstarren ließ, verhalf zum
Sieg. Die seltsame Brunnenfigur vor
der Tanzschule Traumtänzer schreckt
die Tanzlustigen nicht ab. Musik zum
Tanzen ist auch das Kudammlied der
Hildegard Knef: „Und seh’ ich auch
in Frankfurt, München, Hamburg
oder Wien die Leute sich bemüh’n,
Berlin bleibt doch Berlin.“
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Bunte Seite
Seite 12
Deutsche Sprachwelt_Ausgabe 46_Winter 2011/12
„Wo sich aufhört die Kultur …“
Wer sind die Masuren? – Eine sprachliche Spurensuche
Von Rominte van Thiel
S
nach der Säkularisierung des Ordensstaates und der Einführung der
Reformation nochmals Siedler aus
Masowien ein, polnische Kleinadlige, auch geflüchtete Leibeigene und
bereits reformierte Polen.
eit einiger Zeit begegnet einem
manchmal Merkwürdiges . Reiseveranstalter bieten Fahrten nach Ostpreußen mit Ausflügen „in die schönen Masuren“ oder Ferienhäuser „in
den Masuren“ an. In der „Welt“ vom
8. Juni 2011 schrieb Henryk M. Broder von einem ausgewanderten Polen, der zurückkehrte, um in „Szczytno in den Masuren“ zu studieren.
Jeder Kenner Ostpreußens weiß aber,
daß „die Masuren“ die Bewohner Masurens waren und sind. Wenn man es
genau nimmt, sind die heutigen Masuren auch nicht gleichzusetzen mit
den früheren Masuren. Masuren war
und ist eine geographisch nicht genau
begrenzte Landschaft im Südosten
der früheren Provinz Ostpreußen auf
den ehemaligen Stammesgebieten der
prußischen Galinder und Sudauer.
Schon im 13. Jahrhundert wurde
Masuren Teil des Ordensstaates, der
entstanden war, nachdem Herzog
Konrad von Masowien sich wegen
der prußischen Überfälle 1226 hilfesuchend an den Deutschen Orden
gewandt hatte. Dieser ließ sich unter Hermann von Salza vom Staufer Friedrich II. und dem Papst die
Souveränität über die eroberten
Gebiete zusichern. Das bedeutendste Bauwerk des Deutschen Ordens
ist die bekannte Marienburg. Zum
Schutz vor Überfällen wurden auch
in Masuren Burgen gebaut, in deren
Umkreis dann Siedlungen deutscher
Kolonisten entstanden. Im 14. Jahr-
Deutschpflicht als
Menschenrechtsverletzung?
„Wer Deutschkenntnisse zur wichtigsten Voraussetzung erklärt, verletzt die Menschenrechte. So etwas
verletzt uns.“
Der türkische Ministerpräsident Recep Tayyip Erdogan am 1. November
2011 in der „BILD“-Zeitung über
Bedingungen für nachziehende Ehefrauen von Einwanderern.
„So wie Erdogan vor kurzem im
Interview sagte, daß erst die Muttersprache Türkisch gelernt werden
sollte, so hat es mein Vater genau
andersherum gesehen. Erst Deutsch,
das ist die Muttersprache, denn wir
leben in Deutschland, und dann können die beiden Türkisch lernen.“
Der Komödiant Kaya Yanar am 7.
November 2011 in der „Westdeutschen Allgemeinen Zeitung“.
Masure
hundert errichtete Ortulf von Trier
die Ortulfsburg, aus der die Stadt Ortelsburg entstand, das heutige, oben
erwähnte Szczytno.
Bis zum 14. Jahrhundert waren die
Siedler vorwiegend deutsch neben
den alteingesessenen Prußen. Dann
strömten neue Siedler vorwiegend
in den westlichen Teil des Ordenslandes. Um den Osten nicht veröden
zu lassen, waren dem Orden masowische Siedler willkommen. Die andere Sprache und das andere Volkstum
spielten damals keine Rolle. Wichtig
war die christliche Religion. Diese
Siedler nannten sich „mazur“ (Masure) nach ihrer Heimat Masowien. Sie
brachten ihre westslawische Sprache
mit. Im 15. Jahrhundert strömten
Durch die Reformation wurde die
Gemeinsamkeit mit den Bewohnern anderen Volkstums enger. Die
masurische Sprache mischte sich
mit deutschen und altpreußischen
Elementen, bewahrte aber den
Stand der Sprache Masowiens aus
der Zeit der Einwanderung, so daß
sie die Entwicklung der polnischen
Sprache nicht mitmachte. Das Masurische war je nach Region unterschiedlich, im Westen mehr mit
deutschen Elementen gemischt, im
Osten auch mit litauischen. Bis zum
Zweiten Weltkrieg wurde es noch
gesprochen, die Amts- und Schriftsprache war jedoch Deutsch. Dies
war wohl auch der Anlaß, daß in
Ostpreußen über Masuren gewitzelt
wurde, so mit dem Spruch „Wo sich
aufhört die Kultur, da sich anfängt
der Masur“, der auf den teils reflexiven Gebrauch der entsprechenden
slawischen Wörter anspielt.
Das Prußische starb übrigens im 17.
Jahrhundert aus, obwohl noch im 16.
Jahrhundert Luthers Katechismus in
diese Sprache übersetzt wurde; sie
ist aber noch in ostpreußischen Personen- und Ortsnamen erkennbar.
Ein Kulturbruch war 1938 die gewaltsame Eindeutschung ostpreußi-
scher (prußischer, litauischer, polnischer) Ortsnamen, in denen sich die
Geschichte, nicht unbedingt jedoch
die ethnische Zusammensetzung
widerspiegelte. Nach dem Zweiten
Weltkrieg machte man es umgekehrt. Im Polen zugewiesenen Teil,
zu dem Masuren gehört, wurde alles
polonisiert, wobei man zum Teil auf
alte Namen zurückgreifen konnte; im
russischen Teil bekamen die Orte unhistorische Phantasienamen.
Kurzum, der Landschaftsname Masuren wurde im Deutschen genauso
gebildet wie Hessen, Bayern, Franken, Westfalen, Polen, Schwaben,
Pommern, und diese Form ist identisch mit der Pluralform des Namens
ihrer Bewohner. Man lebt also in
Masuren, in Hessen, in Westfalen, in
Polen, man fährt nach Masuren, nach
Bayern, nach Franken, und in diesen
Ländern oder Landschaften leben
die Masuren, Schwaben, Pommern.
Tritt noch ein Adjektiv hinzu, fährt
man ins stille Masuren, ins ländliche
Westfalen, ins romantische Franken
und schaut sich Masurens, Hessens, Bayerns Bauwerke oder Natur
an. Daß heutzutage so viele „in die
Masuren“ fahren wollen, was zu der
Zeit, als Ostpreußen deutsch war,
keinem Menschen eingefallen wäre,
mag daran liegen, daß „Mazury“
im Polnischen ein Plural ist. So hat
das Politische sprachliche Unkenntnis hervorgerufen. Siegfried Lenz
stammt indes unzweifelhaft aus Masuren, genauer aus Lyck in Masuren.
Sprachspiele
Nicht nur für Kinder!
(1)
Teekesselchen
Ziel
Zu erraten ist ein Hauptwort,
das zwei Bedeutungen hat,
also zum Beispiel „Blatt“
( Pa p i e r b l a t t / B a u m b l a t t ) ,
„Mutter“ (Elternteil/Schraubenmutter), „Fliege“ (Tier/
Kleidungsstück). Ein solches
doppeldeutiges Wort wird als
„Teekesselchen“ bezeichnet.
Eigennamen und Fremdwörter
sind nicht erlaubt, sonst kann
es zu schwer werden.
Ablauf
Zwei Spieler unterhalten sich
abwechselnd über ihr „Teekesselchen“ und umschreiben
es auf diese Weise. Die anderen müssen das Wort erraten. Dabei können auch zwei
Mannschaften gegeneinander
antreten.
Beispiel
Spieler 1: „Mein Teekesselchen steht im Stadtpark.“ –
Spieler 2: „Mein Teekesselchen wechselt Geld.“ – Spieler
1: „Mein Teekesselchen ist
gemütlich.“ – Und so geht es
immer weiter, bis jemand das
Lösungswort „Bank“ errät.
Was zieht uns an –
Smoking oder Fracking?
Kennen Sie Sprachspiele, die
wir hier vorstellen sollten?
Dann schreiben Sie uns bitte!
schon einmal passieren – wie
kürzlich in den USA – daß aus
dem Trinkwasserhahn auch
Erdgas strömt. Dann sollte
es in der Küche oder im Bad
tatsächlich „No smoking“ heißen,
allerdings nur in den USA, denn bei
uns heißt es immer noch „Bitte nicht
rauchen“; zumal bei Küchenarbeiten
keiner einen Smoking trägt …
DasLetzte
W
er einen Smoking trägt, darf
sich dennoch in einem Raum
aufhalten, der mit „No smoking“ gekennzeichnet ist. Erst wenn dort „No
tuxedo“ (ausgesprochen: taxido) oder
„No dinner jacket“ geschrieben stände, müßte der Träger draußen bleiben
oder sich umziehen, denn diese beiden Wörter sind das amerikanische
oder englische Wort für die deutsche
Wortschöpfung aus dem Englischen,
die kein Engländer kennt; Denglisch
pur – und das schon seit vielen Jahrzehnten!
Wer aber jetzt seinen Smoking mit
einem Fracking tauschen will, hat
nun gar nichts verstanden. Schließlich handelt es sich hierbei nicht um
ein Bekleidungsstück, sondern um
einen technischen Prozeß für die
Erdgasgewinnung. Dabei kann es
DSW-Silbenrätsel
Übrigens handelt es sich beim Fracking (ausgesprochen: fräcking) um
ein hydraulisches Aufbrechen eines
erdgasspeichernden Gesteins mit
Hilfe von Chemikalien, Sand und
viel Wasser. Das klingt so gefährlich,
wie es ist. Da wird verständlich, warum man uns wieder das englische
Wort aufpfropft, bei dem keiner so
recht weiß, was es bedeutet. Wenigstens das sollten wir wissen!
Die Redaktion der DEUTSCHEN
SPRACHWELT
wünscht Ihnen allen, daß
in dieser Zeit zu Hause nur
weihnachtliche Düfte in die
Nase steigen und Ihnen ein explosives neues Jahr erspart bleibe.
Ihr Anglizismenmuffel
Wolfgang Hildebrandt
Wolfgang Hildebrandt, Mal ganz
ehrlich – denglischst du noch
oder sprechen Sie schon?, Band
2, ISBN 978-3-929744-52-1, 6,00
Euro. Bestellungen: Wolfgang Hildebrandt, Am Steingrab 20a, D-27628
Lehnstedt, Telefon +49-(0)47461069, Telefax +49-(0)4746-931432,
[email protected]
Verrückte Sprachwelt
Dooden slammt
Unter dem Motto „Sprache ist
Wandel“ und zum Gedenken
an den 100. Todestag Konrad
Dudens veranstaltete der Dudenverlag am 23. November
2011 den „WORD UP! Poetry
Slam“ zum Thema deutsche
Sprache. „Duden slammt!“ verkündete der Verlag stolz. (dsw)
Von Dagmar Schmauks
auf – bar – be – blut – boh – bro – brunst – che – chen – chen – chen – chen
– dach – den – der – dich – dra – e – ei – er – er – ers – fel – feld – feu – fla
– fleiß – floh – fol – fürst – ga – gang – ge – ger – ger – gold – grup – haus
– hen – her – hirn – kärt – kel – ken – kis – knos – lei – los – mä – mann –
mer – mies – mu – nie – pan – park – pe – pen – pen – rat – re – ren – ren
– ri – scha – scharf – sche – schein – schel – schlach – schlap – schleu –
schmacks – se – sel – sen – sen – spros – stun – ten – ten – ter – ter – thron
– tier – tof – ton – trä – u – ur – wahl – wal – wei – zer
Lösungen: 1. Wahlschlappen – 2. Dichterfürst – 3. Kissenschlachten – 4. Rechenaufgabe – 5. Blutgruppe – 6. Goldesel – 7. Thronfolger – 8. hirnlos – 9.
Feldflasche – 10. erbrochen – 11. eimerweise – 12. Parkschein – 13. Schleudergang – 14. Dachschaden – 15. Feuersbrunst – 16. Geschmacksknospen – 17.
Fleißkärtchen – 18. rattenscharf – 19.
Pantoffeltierchen – 20. urbar – 21. Flohwalzer – 22. Tonträger – 23. Miesmuschel
– 24. Leitersprossen – 25. Henkelmann –
26. erstunken – 27. Mäher – 28. bohren
– 29. urinieren – 30. Hausdrache
1. Hausschuhe zum Aussuchen – 2. undurchlässiger Adliger – 3. Töten
von Kopfpolstern – 4. Job für eine Harke – 5. Interessengemeinschaft von
Vampiren – 6. wertbeständiges Tragtier – 7. jemand, der hinter einem
Herrschersitz hergeht – 8. Lotterieschein eines Denkorgans – 9. Dummkopf auf dem Acker – 10. von Vorfahren übernommener Knorpelfisch –
11. Melodie eines einhenkligen Gefäßes – 12. Leuchten einer Grünfläche
– 13. mit Zwillen bewaffnete Bande – 14. wenn die Oberseite des Hauses
kaputt ist – 15. Paarungsbereitschaft eines Naturelements – 16. wohlschmeckende junge Blüten – 17. arbeitswilliges kleines Pappstück – 18.
würzig wie ein Nagetier – 19. kleines Lebewesen mit Hausschuhen – 20.
allererstes Nachtlokal – 21. Tanzmusik für Blutsauger – 22. jemand, der
Material zum Töpfern herbeischafft – 23. abscheuliches Weichtier – 24.
Keime einer Steighilfe – 25. männliche Person mit Griff daran – 26. die
Kröten ganz vorne – 27. Steigerung eines Schafsblökens – 28. zweitklassige Hörorgane – 29. Ausscheidungsorgane eines Schweizer Urkantons
– 30. feuerspeiendes Kriechtier für die Freizeit
Prof. Dr. Dagmar Schmauks ist in der Arbeitsstelle für Semiotik an der Technischen Universität Berlin tätig. Semiotik ist die Wissenschaft
von den Zeichen.