Momentaufnahmen

Transcrição

Momentaufnahmen
Momentaufnahmen - ARTE
arte+7
ARTE Live Web
ARTE EDITION
ARTE Magazin
ARTE Pro
Français
Suche
Home > Kultur entdecken > Buch- und Krimiwelt
> Buchtipp der Woche > Buchtipp der Woche
Schriftgröße: + -
Demnächst auf ARTE
Buchtipp der Woche
Alle Rezensionen
Chinesisches Quartett
Krimiwelt
Weltempfänger
Poetry Slam
Literaturhäuser
BUCHTIPP
UNSERE REZENSENTEN
LITERATUR AUS FRANKREICH
+ aus Kultur entdecken
Momentaufnahmen
drucken
per E-Mail verschicken
Momentaufnahmen ist ein schmaler, unvollendet gebliebener Band aus kleinen, nebeneinander montierten
Erinnerungsfetzen. Es zeichnet den von Brüchen bestimmten Lebensweg aller Juden im Exil nach, ein Weg
der Irrungen, mit auslaufenden Schiffen, fahrenden Zügen und langen Märschen mit dem Koffer in der Hand
als Wegmarken. Doch das besondere am Exil des Stéphane Mosès ist, dass es ihn nicht nach Paris, London
oder Hollywood führt, sondern an die Tore der Wüste.
Beim Öffnen des Buches glaubt man, ein
privates Erinnerungsalbum aufzuschlagen: Berlin
1936, Amsterdam 1937, Casablanca 1938, Paris
1953. Daten und Orte folgen aufeinander wie
eine Fotoserie aus Kindheit und Jugend. Stefan
Moses ist drei Jahre alt. Er liegt in seinem
Kinderbett. Seine Tante beugt sich über ihn,
um sich zu verabschieden. Noch weiß er nicht,
dass sie sich auf den Weg ins Exil macht, ein
Weg, den er drei Jahre später selbst
"Momentaufnahmen" von Stéphane Mosès
Suhrkamp Verlag
beschreiten wird. Sieben ist er, als er in
Marokko ankommt. Hitze, Fliegenschwärme.
Der erste Tag in der französischen Schule: „Die
Lehrerin sagt etwas, was ich nicht verstehe; alle setzen sich, ich bleibe stehen.“ In der Schule liest der die
Märchen der Comtesse de Ségur auf Französisch, zu Hause die der Brüder Grimm auf Deutsch. 1939, er ist
acht, gerade hat Frankreich Deutschland den Krieg erklärt. Mit seiner Mutter, der Großmutter und dem
Bruder schläft er auf einer Matratze im Frauengefängnis von Casablanca: er ist nun ein „feindlicher
Ausländer.“
Mit zehn entdeckt er Heine, Goethe und Colette in den Büchern, die seine Eltern retten konnten, als sie
Deutschland verließen. 1942: das Vichy-Regime im besiegten Frankreich verschärft die Bestimmungen zum
Umgang mit Juden, Stefan folgt den Eltern auf einem sandigen Weg, der ins Lager von Sidi-el-Ayachi führt.
Sie werden wegen ihrer jüdischen Herkunft interniert. Mit 18 dann: Halleluja! Stefan Moses heißt von nun
an Stéphane Mosès, er ist Franzose. Mit 19 dann steht die Abreise zum Studium nach Frankreich bevor. Er
schaut den Jungen und Mädchen seines Alters zu, wie sie mit ihren Fahrrädern um den Rond-Point d’Europe
in Casablanca fahren: er fühlt sich unwiderruflich ausgeschlossen.
Stéphane Mosès wurde
1931 als Sohn jüdischer
Eltern in Berlin
geboren. 1936 floh er
mit der Familie aus
Deutschland, zuerst
nach Marokko, nach
dem Krieg ließ er sich
in Paris nieder, 1969
wanderte er dann nach
Israel aus.
Dieser große jüdische
Denker und
Internierungscamp neben Berberstämmen
Dennoch ist Momentaufnahmen mehr als nur ein Buch mit persönlichen Erinnerungen.
In seiner zeitlichen und räumlichen Fragmentierung zeichnet es den von Brüchen
bestimmten Lebensweg aller Juden im Exil nach, ein Weg der Irrungen, mit
auslaufenden Schiffen, fahrenden Zügen und langen Märschen mit dem Koffer in der
Hand als Wegmarken. Doch das besondere am Exil des Stéphane Mosès ist, dass es ihn
nicht nach Paris, London oder Hollywood führt, sondern an die Tore der Wüste.
Frühling 1940, Marrakesch, sieben Uhr morgens, Platz Djema el-Fnah: „Die Luft ist
http://www.arte.tv/de/Kultur-entdecken/Literatur/Krimiwelt/Diesen-Monat/3571220.html[20.12.2010 14:18:03]
BESTENLISTE
Unbekannte Stimmen hörbar zu machen
und Nebenwege durch die Überfülle der
Neuerscheinungen zu erschließen, hat sich
„Weltempfänger“ zur Aufgabe gesetzt.
BUCH- UND KRIMIWELT
Informationen über Literatursendungen auf
ARTE, aktuelle Buchtipps, Neues aus der
Welt des Krimis und Rätselhaftes: Kommen
Sie mit auf Entdeckungsreise.
Momentaufnahmen - ARTE
unermüdliche
Brückenbauer zur
deutschen Philosophie
und Literatur
veröffentlichte unter
anderem
Der Engel der
Geschichte. Franz
Rosenzweig - Walter
Benjamin - Gershom
Scholem, aber auch
zahlreiche Kommentare
zum Werk von Franz
Kafka, Manès Sperber
und Paul Celan.
Stephane Mosès starb
2007
kühl, das Morgenlicht unglaublich transparent. Die ersten Schlangenbeschwörer,
Feuerschlucker und Märchenerzähler nehmen ihre vorbestimmten Plätze ein.“ Ein
scharfes Licht, das Licht der wiedergefundenen Kindheit, scheint aus der Nacht der
Geschichte und des Vergessens auf in jeder einzelnen dieser Momentaufnahmen. Hierin
liegt die Stärke und auch die Schönheit dieses allegorisch anmutenden Buches.
April 1942, Stefan lebt mit seiner Familie in Sidi-el-Ayachi in weißgekalkten Baracken
mit anderen Juden aus Deutschland, Österreich, Polen und mehreren Gruppen
spanischer Republikaner. Das Lager liegt aber unweit der Mündung eines schlammigen
Flusses, wo Berberstämme leben. Diese anderen Nomaden, „gehüllt in Burnusse aus
weißer Wolle”, veranstalten jeden Sommer einen großen Wettkampf. Entlang des Ufers
feuern sie „aus ihren reich verzierten Gewehren donnernde Salven in den Himmel”.
Geschichte als Offenbarung
Stéphane Mosès, der ein ausgewiesener Kenner des Werkes von Walter Benjamin war, hat in seinen
philosophischen Kommentaren gezeigt, wie sehr die Geschichte als lineare, bruchlose Erzählung ein
Konstrukt, ein künstliches Gebilde ist. Und so konnte er sich natürlich beim Erzählen seiner eigenen
Geschichte nicht mit einer chronologischen Aneinanderreihung seiner Erinnerungen zufrieden geben.
Geschichte, insbesondere wenn sie die Geschichte eines ewigen Exils ist, kann nicht geschrieben, sie muss
offenbart werden in eben diesen Momentaufnahmen, „wo das Gewesene mit dem Jetzt blitzhaft zu einer
Konstellation zusammentritt“ (Walter Benjamin). Deswegen beschreibt das Buch von Stéphane Mosès die
Erinnerungen auch nicht eigentlich, es löst sie vielmehr aus im Gedächtnis desjenigen, der es liest.
Geschrieben in einer einfachen Sprache, die nicht viele Worte macht, lässt es in manchen Passagen an die
chiffrierten Texte eines Franz Kafka denken. Geräusche, Gesten, Blicke sagen mehr als das Gezeigte. Und
manch winziges Detail bekommt bisweilen eine ganz eigene Bedeutung und Wichtigkeit, beispielsweise der
französische Schlager „J’attendrai“, den der kleine Stefan mit einer spanischen Freundin zweistimmig singt.
Momentaufnahme
Instantanés
von Stéphane Mosès
Suhrkamp Verlag
Oktober 2010
ISBN-13: 9783518421529
Zwischen den Sprachen
Momentaufnahmen ist ein Buch aus vielen kleinen Teilen, und es ist ein Text in zwei
Sprachen. Stéphane Moses schrieb zuerst auf Deutsch, dann nahm er sich das Buch
erneut vor, um es auf Französisch zu übersetzten und zu erweitern. Der SuhrkampVerlag hatte die wunderschöne Idee, diese beiden Versionen auf der gleichen Seite
unterzubringen. Hier werden die kleinen Unterschiede sichtbar, die Verschiebungen
zwischen beiden Fassungen, die Unmöglichkeit einer Deckungsgleichheit zwischen dem französischen und
dem deutschen Text. Immerhin ist Stéphane Mosès nicht nur zwischen beiden Sprachen aufgewachsen, auch
später wanderte er immer zwischen beiden Ländern und Kulturen hin- und her. Die Verwandlung des
Jugendlichen in einen großen Intellektuellen im Paris der 1950er Jahre, an der Seite von Jacques Derrida
und Emmanuel Levinas, zeigt das Buch, das nicht fertig wurde, nicht, ebenso wenig wie die Abreise nach
Jerusalem 1969. Doch die letzte Momentaufnahme, die Mosès vor seinem Tod noch am Ende einfügte, lässt
all das auf ganz eigene Weise aufscheinen: Paris, 13. Mai 1968. Mosès und Liliane demonstrieren auf der
Straße, untergehakt bei ihrem Freund Paul Celan. Celan singt begeistert die Internationale. Mosès schreibt:
„Was mich betrifft, so habe ich nicht den Drang mitzusingen. Ein Jahr zuvor, während des Sechstagekrieges,
hatte diese Hymne sämtlichen Gegnern Israels als Erkennungssignal gedient. Celan bemerkte unser
Schweigen nicht”.
Eine Rezension von Christine Lecerf
Erstellt: Thu Feb 18 00:00:00 CET 2010
Letzte Änderung: Thu Dec 02 12:44:40 CET 2010
IHRE MEINUNGEN
0 Kommentar(e)
Kommentieren
About us
Alles über ARTE
Newsletter
Datenschutz
Facebook
Ausschreibungen
Twitter
Kontakt
RSS
Alle Rechte vorbehalten ©2010 ARTE G.E.I.E.
http://www.arte.tv/de/Kultur-entdecken/Literatur/Krimiwelt/Diesen-Monat/3571220.html[20.12.2010 14:18:03]
Impressum