42-45 Lilie Chrueteregge

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42-45 Lilie Chrueteregge
Die Jungfräuliche
Im Ziergarten verströmt die Madonnenlilie
ein liebliches Odeur und signalisiert mit
ihrem zauberhaften Duft besondere Heilkräfte. Blüten- und Wurzelextrakte werden
in der Kräuterheilkunde bei Hauterkrankungen eingesetzt.
Text und Fotos: Bruno Vonarburg
Schneeweiss glänzender
Blütenschimmer:
Madonnenlilie
D
ie Lilie zählt, zusammen mit der
Rose und der Lotosblume, zu
den ältesten und schönsten
Blüten der Welt. Ihre Pracht
inspiriert seit Jahrtausenden Dichter
und Künstler gleichermassen. Walfridus
Strabo (809–849), der Kräutermönch
von der Benediktiner-Klause auf der Insel
Reichenau lobt die Blume in seinem
«Hortulus»:
«Holder Geruch der Blüte gemahnt an
die Wälder von Saba.
Nicht übertrifft an Weisse der parische
Marmor der Lilien,
Nicht an Düften der Narde.
Und wenn die tückische Schlange
Listiger Art gesammeltes Gift aus
verderblichem Munde
Spritzt und grausamen Tod durch kaum
erkennbare Wunde
Sendet ins innerste Herz, dann zerreibe
Lilien in Mörser,
Trinke den Saft, dies erweist sich als
nützlich, mit schwerem Falerner.
Oder bei Quetschungen lege man sie auf
die bläuliche Stelle.
Alsbald wird man auch hier zu
erkennen vermögen die Kräfte,
Die diesem heilenden Stoffe gegeben
sind, Wunder bewirkend.
Schliesslich sind Lilien auch gut bei
Verrenkung der Glieder.»
Lilien schmückten die Wände antiker
griechischer Paläste, wobei die Madonnenlilie (Lilium candidum) als Blüte der
Mondgöttin Hera oder Artemis galt. Nach
griechischer Legende fielen zwei Tropfen
Milch von Herkules Lippen, als er an
der Brust von Juno, seiner Mutter, lag.
Ein Tropfen verteilte sich am Himmel
und wurde zur Milchstrasse. Der andere
fiel auf die Erde und erblühte als Weisse
Lilie (Lilium candidum).
Aura der Reinheit
und Unschuld
Mit dem Aufkommen des Christentums
wurden mit der Lilie die Wunder des Paradieses illustriert. Insbesondere die Madonnenlilie, mit ihren strahlend weissen Blüten, diente als Schmuck religiöser Darstellungen und gab der ganzen Gattung die
legendäre Aura der Reinheit und Unschuld.
Als der Erzengel Gabriel Maria verkündete,
sie sei erwählt, Gottes Sohn zu gebären,
hielt der himmlische Bote einen Liliensten-
Chrüteregge GESUNDHEIT
gel in der Hand. Nicht umsonst wird in der
katholischen Kirche der Marienaltar mit
der Madonnenlilie geschmückt.
Ein feiner, lieblicher Duft
Lilien gehören botanisch zu den einkeimblättrigen (Monokotyledonen) Pflanzen
der Familie Liliaceae. Kennzeichen der
Gattung Lilien ist die Zwiebel mit überlappenden Schuppen. Lilien besitzen
keine feste Aussenhaut wie zum Beispiel
Tulpen, Narzissen oder Knoblauch.
nach aussen rückwärts gebogen. Im Zentrum befinden sich 5 orangegelbe Staubblätter, die auf langen, weissen Staubfäden (Filamenten) sitzen. Aus der Mitte
ragt der lange Griffel hervor. Des Morgens und Abends verströmen die Blumen
einen überaus feinen, lieblichen Duft. Die
Frucht ist eine längliche Kapsel, welche
sich in 3 Teile spaltet und zahlreiche,
hellbraune Samen freisetzt.
Die Nomenklatur der Pflanze erklärt
sich wie folgt: Lilium = die Lilie; candidum = schneeweiss (Blütenfarbe). Im
Lässt ihre orangen Blüten hoch über dem Gras erblühen: Feuerlilie
Im Herbst treibt die Madonnenlilie
aus ihrer mehrjährigen Zwiebel eine
Rosette glänzender, hellgrüner, grundständiger Blätter, mit denen sie den Winter überdauert. Die Blätter weisen zahlreiche längliche, gelbliche Schuppen
auf und sind bis 20 cm lang. Die basalen
Teile dieser Blätter speichern Nährstoffe.
Im Frühjahr schiebt sich ein bis 1 m hoher steifer, aufrechter Blütenspross empor, an dem kleine bis 8 cm lange, spiralig angeordnete Blätter sitzen. Das Stängelblattwerk wird nach oben immer
kleiner, wobei es im letzten Abschnitt zu
winzigen Hüllblättern umgeformt ist.
Von Juni bis Juli entfaltet sich eine
Traube mit 5 bis 20 duftenden, trichterförmigen Blüten. Die 5 schneeweissen
Perigonblätter sind mit ihren Spitzen
Volksmund kennt man Lilium candidum
auch als Weisse Lilie oder Gilge. Ursprünglich stammt die Madonnenlilie
aus Kleinasien und aus dem östlichen
Mittelmeergebiet. Im nördlichen Europa
wird sie als Zierpflanze im Garten und
auf dem Balkon in Töpfen kultiviert.
Anbau im Garten
Wenn man die Madonnenlilie im eigenen
Ziergarten anbauen möchte, sollte man
die Zwiebeln (in Gärtnereien erhältlich)
von August bis September an einem
sonnig warmen, windgeschützten Standort zirka 5 cm tief im Abstand von 20 cm
einsetzen. Die Pflanze verträgt keine
Staunässe, bevorzugt aber sandiges, kalkhaltiges Erdsubstrat. Man kann den BoNatürlich | 8-2003 43
GESUNDHEIT Chrüteregge
Einheimische Lilienfamilie:
Graslilie (oben)
Türkenbund (links)
Die Lilienfamilie
den nach der Einpflanzung mit zweijährigem Kompost oder etwas Rindenhumus
abdecken.
Gleicher Art können die Zwiebeln auch
in 20 cm tiefe Töpfe mit 20 cm Durchmesser eingepflanzt werden. Als Substrat empfiehlt sich eine mit Langzeitdünger angereicherte Blumenerde. Bei intensiver
Sonnenbestrahlung sollte man die Lilien
regelmässig, aber nicht zu stark giessen.
Ansonsten gedeihen sie im Garten wie
auch in Töpfen ohne besondere Pflege.
Um die Zwiebelfäule (Fusarium) zu
verhindern, sollte der Boden mit etwas
Sand versetzt sein. Wenn die Blätter,
Blüten und Stengel von Grauschimmel
(Botyritis) befallen werden, kann man
sie mit Schachtelhalmabsud begiessen
(1 Hand voll getrocknete oder frische
Blätter in 1 Liter Wasser 5 Minuten kochen, abfiltrieren, erkalten lassen und die
Flüssigkeit zum Besprühen verwenden).
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Für Wühlmäuse sind Lilien Leckerbissen. In Gegenden, wo diese Nager
häufig auftreten, ist es ratsam, die Zwiebeln von Drahtkörben umgeben zu setzen. Bisweilen kann die Madonnenlilie
vom Lilienhähnchen, einem siegellackroten Käfer, der sich von den Blättern
ernährt, befallen werden. Dieser Schädling hat die Eigenart, in Schüben aufzutreten und kann gut mit der Hand entfernt werden. Auch sollte man auf die
Eier achtgeben, welche die Lilienhähnchen an den Blattunterseiten ablegen. Die
schlüpfenden Maden können innert kurzer Zeit das gesamte Blattwerk abfressen.
Zum Entfernen kann man sie entweder
mit dem Finger abstreifen oder mit Gesteinsmehl einstäuben. Auch Blattläuse,
die manchmal die Pflanze befallen, können mit Gesteinsmehl in Schach gehalten
werden. Ausserdem sollte man die Madonnenlilie vor Schneckenfrass schützen.
Die Lilienfamilie mit ihren über 100 Arten
ist auch in unserer heimischen Flora vertreten: Sei es die Feuerlilie (Lilium bulbiferum L.) mit ihren aufrecht stehenden,
feuerroten Blüten oder der Türkenbund
(Lilium martagon), dessen Blumen einem
türkischen Turban ähnlich sind. Schneeweisse Blüten tragen die Trichterlilien
(Paradisea liliastrum Bertol) und die Astlosen Graslilien (Anthericum liliago L.).
Im Ziergarten werden verschiedene
Varietäten und Hybriden angebaut: die
Prachtslilie (Lilium specuosum rubrum)
mit kirschrot gesprenkelten Blüten; die
Grossblütige Goldbandlilie (Lilium auratum) mit goldigen Trichterblumen; die
Königslilie (Lilium regale) mit orangerotem oder weissgelbem Flor. Aus dem
Himalaya stammt die Riesenlilie (Cardiocrinum giganteum), welche mit ihren
weissen Blüten bis 3 m hoch werden kann.
Es gibt aber auch falsche Lilien, das
heisst Zierpflanzen, welche im Volksmund als Lilien bezeichnet werden, im
botanischen Sinne aber nichts mit den
Chrüteregge GESUNDHEIT
wirklichen Lilien (Lilium) zu tun haben.
Hinzu gehören zum Beispiel die Taglilie
(Hemerocallis), Schwertlilie (Iris), Steppenlilie (Eremurus), Fackellilie (Kniphofla), Inkalilie (Alstroemeria), Junkerlilie (Asphodeline) und Palmlilie (Yucca).
Die Heilkraft
der Madonnenlilie
Die Madonnenlilie ist eine Heilpflanze,
die bereits in der griechischen und römischen Antike verwendet wurde. Während
Plinius die Lilie als Mittel gegen Hautprobleme gebrauchte, empfahl Dioscurides den ausgepressten Saft der Blätter,
mit Essig und Honig gesotten, als Salbe
gegen Geschwüre.
In den modernen Heilkräuterbüchern
wird Lilium candidum selten aufgeführt,
obwohl die schmerzlindernden, entzündungshemmenden, erweichenden, wundheilenden und narbenbildenden Wirkstoffe
aus der Blüte und der Zwiebel weitgehend
bekannt sind: ätherisches Öl, Schleimstoffe, Tannine, Sterine und Glykoside.
In der heutigen Volksmedizin wird
die Madonnenlilie vereinzelt als Blütenöl,
Lilienwasser oder Salbe verarbeitet und
vorzugsweise bei Hautbeschwerden eingesetzt.
Das Blütenöl kann einfach hergestellt
werden: 10 g frische Blüten in einem Glasgefäss mit 100 g Oliven- oder Mandelöl
ansetzen; das Ganze während 10 bis 14
Tagen zugedeckt im Halbschatten stehen
lassen und abfiltrieren. Es ist ein ausgezeichnetes Pflegemittel für Brandwunden,
Juckreiz und Ekzem, ferner eignet es
sich zur Behandlung von Gerstenkörnern
und Lidrandentzündung der Augen (morgens und abends vorsichtig mit einem
befeuchteten Wattestab betupfen).
Die Zwiebelsalbe empfiehlt sich als
Zugmittel bei Furunkeln, Abszessen,
Fingergeschwüren, Nagelbettentzündungen, Hautrissen, Frostbeulen und Hautflecken. Die von August bis September
gegrabene Zwiebel wird fein zerschnitten
und mit warmer, flüssiger Butter zu einem Brei verrührt. Bei sanfter Wärme im
Wasserbad werden die heilenden Inhalts-
Vertreibt Gesichtsfalten
und Couperose:
Madonnenlilien als Salbe
stoffe während einer halben Stunden unter periodischem Umrühren ausgezogen.
Nun gibt man pro 100 g Butter 5 Gewürznägelchen hinzu, rührt nochmals
gut auf und filtriert die flüssige Masse in
sterile Salbentöpfe ab. Im Kühlschrank
gelagert, ist die Salbe bis zu einem Jahr
haltbar. Bei Bedarf wird sie morgens und
abends an den betroffenen Stellen eingerieben.
Die Blütensalbe ist ein hervorragendes Hautpflegemittel gegen Gesichtsfalten, Couperose und trockene Haut.
Frisch gepflückte Madonnenlilienblüten
werden fein zerschnitten und entsprechend der Zwiebelsalbe mit warmer flüssiger Butter zu einem Brei verrührt. Bei
sanfter Wärme im Wasserbad wird die
Mischung während einer halben Stunde
unter periodischem Umrühren ausgezogen. Dann gibt man pro 100 g Butter 5
Gewürznelken hinzu, rührt nochmals gut
auf und filtriert die flüssige Masse in sterile Salbentöpfe ab. Im Kühlschrank gelagert ist die Salbe bis zu 1 Jahr haltbar. Bei
Bedarf wird sie am Abend an den betroffenen Stellen eingerieben.
Das Lilienwasser ist eine probate
Arznei zur Beruhigung der Nerven, bei
Amenorrhoe (Ausbleiben der Periode),
Metrorrhagie (ausserhalb der Periode
auftretende Gebärmutterblutungen) und
Menorrhagie (verstärkte und verlängerte
Menstruationsblutungen). 100 g frisch
gepflückte Madonnenlilienblüten mit
einem halben Liter kochendem Wasser
übergiessen; 8 Stunden zugedeckt stehen
lassen; abfiltrieren und mit 2 dl 70%igem
Trinkspiritus (Drogerie/Apotheke) vermengen. In sterile Flaschen abfüllen
und kühl lagern. Bei Bedarf 3 mal täglich
15 bis 25 Tropfen in wenig Wasser verdünnt vor dem Essen einnehmen.
Das Duftöl kann als natürliches,
wohlriechendes Parfum verwendet werden. Die frischen Madonnenlilien werden
morgens oder abends zu duftender
Stunde gepflückt, fein zerschnitten und
mit Mandelöl überdeckt. Dann lässt man
das Ganze zugedeckt während 3 Tagen
am Halbschatten stehen und filtriert anschliessend in Fläschchen ab. Als Parfum
wird das Duftöl am Hals links und rechts
in kleinen Dosen eingerieben. Vorsicht:
In der Schwangerschaft (Wehen auslösend) und bei Allergie auf Liliengewächse
sollten Lilium-candidum-Präparate nicht
verwendet werden.
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