Martin Heidenreich, Karin Töpsch*

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Martin Heidenreich, Karin Töpsch*
Industrielle Beziehungen, 9. Jg., Heft 1, 2002
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Tagungsbericht
Industrielle Beziehungen im Spannungsfeld zwischen ökonomischer Effizienz und sozialer Gerechtigkeit
Jahrestagung der deutschen Sektion der International Industrial
Relations Association (GIRA) vom 27.-28.9.2002 in Berlin
Es gibt Themen, die drängen sich dem arbeitswissenschaftlichen Tagungsbetrieb
aufgrund ihrer Aktualität geradezu auf: Netzwerkökonomie, neue Dienstleistungen oder die Erosion kollektivvertraglicher Regulierungen sind einige Beispiele dafür.
Nicht so die Auseinandersetzung mit sozialer Gerechtigkeit. Lange Zeit als alleinige
Domäne der Philosophie gehandelt, galt soziale Gerechtigkeit in den Wirtschafts- und
Sozialwissenschaften allenfalls als politische Forderung, über die man trefflich streiten, aber nicht analytisch nachdenken könne. Doch in den letzten Jahren setzte sich
zusehends die Einsicht durch, dass Güter- und Lastenverteilungen etwa zwischen den
Beschäftigten und dem Unternehmen normativ legitimiert sein müssen, wenn offene
Konflikte in den Arbeitsziehungen vermieden werden sollen. Wichtige Anstöße dazu
kamen vor allem aus der angloamerikanischen Sozialpsychologie. Dort konnte eine
Reihe von Studien zeigen, dass sich Ungerechtigkeitsempfindungen von Beschäftigten auf die Effizienz der Organisation auswirken können, weil sie sich unter anderem
in verringerter Motivation und Leistungsverhalten, erhöhtem Krankenstand und Kündigungsbereitschaft niederschlagen.
Doch jenseits dieser in den deutschen Arbeits- und Organisationswissenschaften
kaum bekannten Studien wissen wir recht wenig darüber, ob Gerechtigkeitsempfindungen auch hierzulande die gleichen Effekte zeitigen. Hinzu kommt, dass die Relevanz sozialer Gerechtigkeitsvorstellungen für die kollektive Regulierung von Arbeit
bislang erst wenig erforscht ist. Weder ist geklärt, welche geronnenen Gerechtigkeitsvorstellungen arbeitspolitische Institutionen wie der Betriebsrat oder die Tarifautonomie verkörpern; noch kennen wir die Effekte empfundener Ungerechtigkeit
von Belegschaftsangehörigen etwa auf ihre Bereitschaft zu Streik, kollektivverdeckter Leistungszurückhaltung oder offenem Protest gegenüber Managemententscheidungen.
Angesichts der Relevanz dieser Fragen hat sich der GIRA-Vorstand entschieden,
seine diesjährige Jahrestagung unter das Motto „Industrielle Beziehungen im Spannungsfeld zwischen Effizienz und Gerechtigkeit“ zu stellen. Dem Aufruf der Organisatoren Jörg Sydow (Institut für Allgemeine Betriebswirtschaftslehre, FU Berlin),
Stefan Liebig und Holger Lengfeld (beide Nachwuchsgruppe „Interdisziplinäre Soziale Gerechtigkeitsforschung“, HU Berlin) folgten zahlreiche Einsendungen, sodass
man sich am 27. und 28. September 2002 im Clubhaus der FU Berlin zu einem reichhaltigen Vortragsprogramm versammeln konnte. Insgesamt neun Beiträge aus der
Betriebs- und Volkswirtschaftslehre sowie der Soziologie standen auf der Tagesordnung; ihre Diskussion wurde durch jeweils 10-minütige Korreferate ergänzt. Der inhaltliche Schwerpunkt lag dabei mit sechs Beiträgen im Bereich der Organisations
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forschung: Diese rankten sich vor allem um die Frage, welche Ursachen und Folgen
Gerechtigkeitsbewertungen von Beschäftigten für die Effizienz der Unternehmung als
auch für die Funktionsweise der betrieblichen Mitbestimmung haben können. Zwei
weitere Beiträge stellten die Gerechtigkeitsfrage in den Kontext überbetrieblicher
Verhandlungsbeziehungen, und ein Beitrag fragte nach den sozialen Ursachen von
Arbeits- und Gesundheitszufriedenheit.
Betriebsräte, Entlohnung und Effizienz
Eröffnet wurde die Tagung durch einen Beitrag von Alexander Dilger (Greifswald), der sich mit der Frage beschäftigte, welche Effizienzfolgen der Mitbestimmung des Betriebsrats innewohnen. Auf der Basis eines Vergleichs konkurrierender
Theorieschulen untersuchte Dilger die Effekte der Mitbestimmung auf verschiedene
Effizienzindikatoren. Mithilfe ökonometrischer Schätzmodelle zeigte er, dass Beschäftigte in mitbestimmten Unternehmen mit höherer Wahrscheinlichkeit besser bezahlt sind, seltener kündigen und flexiblere Arbeitszeiten haben als ihre Kollegen in
betriebsratslosen Firmen. Zugleich wurde die Ertragslage um so schlechter eingeschätzt, je stärker die Betriebsräte auf Konfliktstrategien setzen. Ob die Mitbestimmung auch zu mehr Gerechtigkeit beitrage, diskutierte Dilger anhand des Begriffs der
Pareto-Effienz. Demnach wäre jeder zusätzliche Gewinn eines Wirtschaftssubjekts
dann ungerecht, wenn andere zugleich schlechter gestellt würden. Ein solcher ParetoIndikator könnte in zukünftigen Studien durchaus als Performanz-Maß der Mitbestimmung eingebaut werden. In der Diskussion wurden diese empirischen Befunde
allseits begrüßt, zeigen sie doch, dass repräsentative Mitbestimmung und Effizienz
unter bestimmten Bedingungen miteinander vereinbar sind.
Auch der Beitrag von Bernd Frick (Witten/Herdecke) setzte sich mit einer gerechtigkeitsrelevanten Problemstellung auseinander. Er untersuchte die Folgen ungleicher Einkommensverteilungen in US-Sportteams auf deren Leistung, gemessen
am Anteil gewonnener Spiele. Auf der Grundlage von Einkommensdaten und Erfolgsquoten von US-Teams der jeweils höchsten Ligen – Basketball, Eishockey,
Baseball und Football – zeigte Frick anhand von Regressionsgleichungen ein recht
widersprüchliches Bild. Während höhere Einkommensungleichheit beim Basketball
und beim Eishockey höhere Teamleistungen bewirken, führen sie bei den Baseballund Footballteams genau zum entgegengesetzten Effekt. Offenbar, so schlussfolgerte
Frick, sind für diese widersprüchlichen Effizienzwirkungen strukturelle Unterschiede
in der Leistungserstellung der einzelnen „Branchen“ verantwortlich. Ihnen sollte in
zukünftigen Studien daher ein größeres Augenmerk geschenkt werden.
Gerechtigkeit zwischen Konflikt und Effizienz
Während die betriebswirtschaftlichen Beiträge von Dilger und Frick die Effizienzproblematik in den Vordergrund stellten, war der Fokus der nachfolgenden soziologischen Beiträge auf die Ursachen und Folgen von Gerechtigkeitseinstellungen
gerichtet. Holger Lengfeld (Humboldt-Universität) unterbreitete in seinem Beitrag einen konzeptionellen Vorschlag zur Analyse betrieblicher Industrieller Beziehungen.
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Er schlug vor, zwei betriebliche Konfliktebenen zu unterscheiden, auf denen Gerechtigkeitseinstellungen von Beschäftigten wirkmächtig werden können: (1) die Ebene
des individuellen Konfliktverhaltens, wie z.B. Leistungszurückhaltung oder Kündigungsbereitschaft, und (2) die Ebene des institutionalisierten Konflikts im Rahmen
der betrieblichen Mitbestimmung. Auf der Basis einer standardisierten Beschäftigtenbefragung zeigte Lengfeld, dass empfundene Ungerechtigkeiten gegenüber dem
betrieblichen Entlohnungssystem unter anderem mit verringerter Loyalität der Beschäftigten gegenüber der Firma und einem erhöhten Krankenstand einher gehen.
Zum anderen zeigte sich das Ausmaß der betrieblichen Mitbestimmung davon abhängig, welche Rolle der Betriebsrat in den individuellen Gerechtigkeitsvorstellungen
der Beschäftigten einnimmt.
Im Mittelpunkt des Vortrags von Stefan Liebig (Humboldt-Universität) stand der
Versuch, die Attraktivität einer auf Regeln der Gerechtigkeit basierten Lösung betrieblicher Verteilungskonflikte aus Sicht der Rational Choice-Perspektive darzulegen. Unter Rückgriff auf Colemans‘ Theorie korporativer Akteure wurde argumentiert, dass durch die Berücksichtigung der Gerechtigkeitsempfindungen der Beschäftigten durch das Management eines der zentralen Steuerungsprobleme gelöst werden
kann, nämlich die Bereitschaft zur freiwilligen Abgabe von Arbeitsleistung. Die theoretischen Überlegungen wurden durch die Ergebnisse einer standardisierten Beschäftigtenbefragung ergänzt. Auf der Grundlage der Unterscheidung von vier Gerechtigkeitsdimensionen – Tausch-, Verfahrens-, Interaktions- und Verteilungsgerechtigkeit
– zeigte Liebig, dass mit steigenden Ungerechtigkeitsbewertungen Leistungsmotivation, Arbeitsproduktivität und Loyalität der Beschäftigten gegenüber der Firma absinken, während Kündigungsbereitschaft und der Krankenstand ansteigen. Effizienz
und Gerechtigkeit, so das Fazit, seien deshalb nicht als einander ausschließende Faktoren des Handelns in Organisationen, sondern als zwei Seiten derselben Medaille
anzusehen.
Gerechtigkeit, Veränderungsprozesse und Betriebsratsfraktionen
Den zweiten Konferenztag eröffnete Hansjörg Weitbrecht (Heidelberg) mit dem
Vorschlag, betriebliche Reorganisationsprozesse aus einer konstruktivistischen Perspektive zu begreifen. Unter Rückgriff auf strukturationstheoretische Überlegungen
forderte der Referent, die Einhaltung von Regeln der Verfahrensgerechtigkeit als
zentrale Bedingung für das Gelingen von arbeitsorganisatorischen Dezentralisierungen anzusehen. Auf der Basis von Umfragedaten kommt Weitbrecht zu dem Schluss,
dass je stärker die Beschäftigten sowie der Betriebsrat an der Einführung von Gruppenarbeit beteiligt sind, desto höher sei im Ergebnis auch der Grad der Arbeitsautonomie in den Arbeitsgruppen. Verfahrensgerechtigkeit stelle demnach eine zentrale
Größe für den Erfolg innerbetrieblicher Lernprozesse dar.
Auch Hermann Kotthoff (Sfs Dortmund) rückte in seinem Beitrag die Mitbestimmung in den Vordergrund der Überlegungen. Er ging der Frage nach, ob die häufig anzutreffende Fraktionierung des Betriebsrats in Vertretungsspitze und Opponenten Ausdruck konkurrierender Gerechtigkeitsvorstellungen sei, und welche Ursachen
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dafür anzugeben wären. Am Beispiel des vor allem in großen Unternehmen vorfindlichen Vertretungstypus des „Co-Managers“ legte Kotthoff dar, dass diese Betriebsratspitzen „Equity“-Gerechtigkeitsvorstellungen vertreten, in denen Leistung und Ergebnisorientierung an oberster Stelle rangieren. Die Ursache der Stabilität dieser Einstellungen liege darin, dass das Management die produktivistische Haltung der Betriebsratsspitze anerkenne und nicht versuche, diese zum eigenen Vorteil auszunutzen. Dagegen setzen die Opponenten im Betriebsratsgremium stärker auf das Ideal
der Gleichverteilung. Auch sind ihnen die Einhaltung von Maßstäben der Verfahrensgerechtigkeit im Betrieb wichtiger als der Vertretungsspitze. Da sie sich dem
Entscheidungsdruck des Managements jedoch ausgeliefert sehen, können sie der Equity-Orientierung der Vertretungsspitze wenig abgewinnen.
Gerechtigkeit im sozioökomischen Kontext
Anders als die vorangegangenen Beiträge beschäftigten sich die Ökonomen
Gerd Grözinger und Wenzel Matiaske (Flensburg) mit den individuellen und sozialen
Determinanten von Arbeits- und Gesundheitszufriedenheit. Unter Rückgriff auf
SOEP-Umfragedaten stellten sie überraschend fest, dass die Höhe der regionalen Sozialhilfequote einen positiven Effekt auf das Ausmaß der Gesundheitszufriedenheit
eines Befragten hatte, während die regionale Arbeitslosenquote dagegen eine erwartungsgemäß negative Wirkung zeitigte. Weil sich diese Effekte als methodisch robust
erwiesen, führten die Referenten zur Erklärung ein sozialpsychologisches Argument
ins Feld: In Anlehnung an Lerners Arbeiten zum „Gerechte-Welt-Glauben“ vermuteten sie, dass die sichtbare Inanspruchnahme von Sozialhilfe von den Befragten nicht
als sozialer Mangel, sondern als Anzeichen einer praktizierten gesellschaftlichen Solidarität gewertet wird, die sich dann positiv auf das eigene Wohlbefinden auswirken
kann.
Der nachfolgende Beitrag von Sebastian Bechmann (LMU München) stellte die
Gerechtigkeitsproblematik in einen globalen Kontext. Er ging von der These aus,
dass nationalstaatlich verfassten Wohlfahrtsstaaten ein Gerechtigkeitskonsens unterliegt, der sich vor allem durch die Gleichverteilung von erwirtschafteten Ergebnissen
auszeichnet. Weil dieser Konsens im Zuge von Globalisierungsprozessen brüchig
wird, treten an seine Stelle mehr und mehr Verfahrensgerechtigkeitsorientierungen.
Ihnen ist gemein, dass Verteilungsergebnisse dann auf soziale Akzeptanz stoßen,
wenn sie unter Anwendung zustimmungsfähiger Verfahrensregeln zustande gekommen sind. Diese These illustrierte Bechmann am Beispiel der NichtRegierungsorganisation „Kampagne Saubere Kleidung“: Diese versuche, Unternehmen der transnationalen Bekleidungsindustrie darauf zu verpflichten, in ihren DritteWelt-Produktionsstätten ILO-Mindeststandards über Arbeitsbedingungen einzuhalten. Auf der Grundlage von Interviews mit Kampagne-Vertretern kommt Bechmann
zu dem Schluss, dass diese den ILO-Standards deshalb eine so hohe Verpflichtungsfähigkeit zuschreiben, weil sie auf der Grundlage eines für gerecht erachteten Verfahrens der Zustimmung durch Arbeitgeber- und Arbeitnehmerseite zustande gekommen
seien.
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Im letzten Beitrag der Tagung widmete sich Franz Traxler (Universität Wien)
der Frage nach dem Verhältnis der sozialpolitischen zur wirtschaftspolitischen Steuerungsfunktion des Tarifvertragssystems. Die bisherige Debatten kreisten vor allem
um die Wirkung des Zentralisationsgrads. Während die gesellschaftlichen Verteilungseffekte nahezu einheitlich eingeschätzt werden – ein hoher Zentralisationsgrad
führt in der Regel zu einer geringeren Ungleichheit der Einkommen – gilt dies nicht
für die Effizienz eines Tarifsystems im Sinne seiner Fähigkeit zur Internalisierung tarifpolitischer Externalitäten. Traxler schlug deshalb vor, Tarifsysteme auch nach dem
Grad ihrer Verpflichtungsfähigkeit für beide Vertragsparteien zu unterscheiden. Auf
der Grundlage von Daten aus 20 OECD-Ländern für den Zeitraum von 1970-1996
zeigte der Referent, dass bei einer niedrigen Verpflichtungsfähigkeit egalitäre Gerechtigkeitsziele in direkter Konkurrenz zur Effizienz stehen. Hohe Zentralisation
wirkt in derartigen Tarifsystemen lohnnivellierend, gleichzeitig wird damit jedoch die
Leistungsfähigkeit verringert. Bei hoher Verpflichtungsfähigkeit hingegen ist die Sicherstellung der ökonomischen Effizienz des Tarifsystems mit jedem beliebigen Gerechtigkeitsziel vereinbar. Denn Unterschiede im Zentralisationsgrad nehmen dann
keinen nennenswerten Einfluss auf die Fähigkeit des Tarifsystems zur Internalisierung von Externalitäten.
Die Diskussionen im Anschluss an die Referate und die von Rainer Trinczek
(TU München), Renate Ortlieb (FU Berlin), Ludger Pries (Bochum), Dorothea Alewell (Jena), Bodo Zeuner (FU Berlin), Birgit Benkhoff (Dresden), Werner Nienhüser
(Essen) und Stephan Voswinkel (Institut f. Sozialforschung Frankfurt/M.) präsentierten Korreferate machten deutlich, dass weitverbreitete Vorbehalte gegenüber sozialer Gerechtigkeit als Kategorie zur Analyse Industrieller Beziehungen in dem Maße
ausgeräumt werden können, wie es gelingt, die erfahrungswissenschaftliche Zugangsweise weiter zu schärfen. Dass man dabei nicht „bei Null“ anfangen muss, hat
diese Tagung auf eindrückliche und methodisch vielfältige Weise gezeigt. Deshalb –
und auch Dank der professionellen Tagungsorganisation durch Jörg Sydow und seinen Mitarbeiter Guido Möllering – haben wohl die meisten Teilnehmerinnen und
Teilnehmer das Dahlemer Clubhaus in der Einsicht verlassen, eine gerechtigkeitstheoretisch angeleitete Analyse Industrieller Beziehungen könnte durchaus neue Perspektiven eröffnen.
Berlin, 16. Oktober 2002
Holger Lengfeld1, Stefan Liebig2
1
Holger Lengfeld, Dipl.-Pol., Dipl.-Kfm. (FH), Institut für Sozialwissenschaften, Humboldt-
2
Universität zu Berlin, Unter den Linden 6, D-10099 Berlin.
Stefan Liebig, Dr. rer soc., Institut für Sozialwissenschaften, Humboldt-Universität zu Berlin, Unter den Linden 6, D-10099 Berlin

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