Vertiefungsfall-Lösung

Transcrição

Vertiefungsfall-Lösung
Institut für Öffentliches Recht
Universität Augsburg
Wintersemester 2012/13
Fallbesprechungen zum Grundkurs Öffentliches Recht II (Teil 2)
Vertiefungsfall – Lösung –
Der Antrag 1 auf Wiederherstellung der aufschiebenden Wirkung hat Aussicht auf Erfolg, wenn
er vor dem rechtswegzuständigen Gericht erhoben wird und zulässig sowie begründet ist.
A.
Verwaltungsrechtsweg und zuständiges Gericht
I.
Eröffnung des Verwaltungsrechtswegs, § 40 Abs. 1 S. 1 VwGO
Damit der Verwaltungsrechtsweg eröffnet ist, müssten die Voraussetzungen des § 40 Abs.
1 S. 1 VwGO gegeben sein. Die streitentscheidenen Normen, §§ 4 und 15 GastG, berechtigen und verpflichten allein einen Hoheitsträger – das Gewerbeaufsichtsamt – in seiner
Funktion als Hoheitsträger und sind nach der Sonderrechtstheorie dem öffentlichen Recht
zuzuordnen. Es handelt sich um eine öffentlichrechtliche Streitigkeit die mangels doppelter
Verfassungsunmittelbarkeit auch nichtverfassungsrechtlicher Art ist, so dass nach § 40
Abs. 1 S. 1 VwGO der Verwaltungsrechtsweg eröffnet ist.
Auch eine abdrängende Sonderzuweisung ist nicht ersichtlich.
II.
Zuständiges Gericht
Zuständig ist nach § 80 Abs. 5 S. 1 VwGO 2 das Gericht der Hauptsache. Dieses ist nach
§§ 45, 52 Nr. 3 S. 1 VwGO in Verbindung mit Art. 1 Abs. 2 Nr. 6 AGVwGO das Verwaltungsgericht Augsburg.
B.
Zulässigkeit
I.
Statthafte Verfahrensart 3
Die statthafte Verfahrensart bestimmt sich nach dem Begehren des Antragstellers, § 88
VwGO analog. G fürchtet die sofortige Schließung seiner Wirtschaft, die angesichts der
sofortigen Vollziehbarkeit droht. Er begehrt vorläufigen Rechtsschutz.
Beachten Sie:
In der Klausur drängt sich eine besondere Eilbedürftigkeit auf: Im Sachverhalt wird beispielsweise angeführt, dass der Betroffene die Sache für besonders eilbedürftig hält oder es droht –
wie hier – der Vollzug. Taucht im Sachverhalt eine behördliche Anordnung der sofortigen Vollziehung auf (s. dazu u.), ist in der Klausur regelmäßig einstweiliger Rechtsschutz zu prüfen.
Die VwGO stellt mehrere Verfahren im vorläufigen Rechtsschutz zur Verfügung. In Betracht kommen die Verfahren nach § 80 Abs. 5 und § 123 VwGO 4, wobei das erstgenannte nach § 123 Abs. 5 VwGO vorrangig ist.
Das Verfahren § 80 Abs. 5 VwGO ist dann statthaft, wenn sich der Antragsteller gegen einen belastenden Verwaltungsakt wendet und die aufschiebende Wirkung des Hauptsa-
1
Achten Sie auf die Terminologie!
Hier nehmen Sie eigentlich bereits die statthafte Verfahrensart vorweg. Aus klausurtaktischen Gründen scheint diese Darstellung problemlos vertretbar (niemals den Aufbau erklären!). Im Falle eines Verfahrens nach § 123 VwGO ist dessen Abs. 2 zu
zitieren.
3
Terminologie!...
4
Denken Sie auch an den einstweiligen Rechtsschutz im Rahmen einer Normenkontrolle nach § 47 Abs. 6 VwGO (lesen!).
2
ÖR II/2 – Fall 10 – Lösung – WS 2012/2013
Seite 1 von 8
cherechtsbehelfs, nämlich der Anfechtungsklage, anordnen bzw. wiederherstellen 5 lassen
möchte.
Diese Konstellation ist hier gegeben, da der Widerruf einen für G belastenden Verwaltungsakt darstellt, gegen den er sich in der Hauptsache mit der Erhebung einer Anfechtungsklage wenden würde. Die grundsätzlich aufschiebende Wirkung seiner Anfechtungsklage nach § 80 Abs. 1 S. 1 VwGO ist hier ausnahmsweise durch die Anordnung der sofortigen Vollziehung entfallen.
Beachten Sie:
Diese Stelle ist entscheidend für Ihre Klausur, da der Prüfungsaufbau der verschiedenen Verfahren v.a. im Rahmen der Begründetheit unterschiedlichen Regeln folgt. Machen Sie sich mit
der Abgrenzung nach § 123 Abs. 5 VwGO vertraut und erlauben Sie sich an dieser Stelle keinen Fehler!
Klausurtechnik:
Sobald sich aus einer Norm ein Regel-Ausnahme-Verhältnis ergibt (wie hier bei § 80 Abs. 1
und Abs. 2 VwGO) und dieses Verhältnis in der Prüfung relevant wird, müssen Sie dieses darstellen.
II.
Antragsbefugnis, § 42 Abs. 2 VwGO
Dem A wird durch die Aufhebung der Gaststättenerlaubnis eine Rechtsposition entzogen,
die er bereits innehatte. Als Adressat des belastenden Verwaltungsakts ist A zumindest
möglicherweise in seiner allgemeinen Handlungsfreiheit gemäß Art. 2 Abs. 1 GG verletzt
sein (sog. Adressatentheorie).
III.
Beteiligten-, Prozessfähigkeit
G ist als natürliche Person nach §§ 61 Nr. 1 Alt. 1 VwGO, § 1 BGB beteiligten- und als
Geschäftsfähiger nach § 62 Abs. 1 Nr. 1 VwGO, §§ 2, 104 ff. BGB prozessfähig.
Die Stadt Augsburg 6 ist als Gebietskörperschaft nach § 61 Nr. 1 Alt. 2 VwGO, Art. 1 S. 1
GO beteiligtenfähig und wird gemäß § 62 Abs. 3 VwGO, Art. 38 Abs. 1, 34 Abs. 1 S. 2 GO
vom Oberbürgermeister vertreten.
IV.
Antragsfrist
Der Antrag nach § 80 Abs. 5 VwGO ist nicht fristgebunden. Zwar darf die Frist für die Einlegung des Hauptsacherechtsbehelfs (Widerspruch oder Anfechtungsklage) noch nicht
abgelaufen sein. Dies ist allerdings ein Problem des Rechtsschutzbedürfnisses.
V.
Rechtsschutzbedürfnis
Umstritten für das Rechtsschutzbedürfnis bei Verfahren nach § 80 Abs. 5 VwGO ist, ob
der Antragsteller sich vorher mit dem Begehren, die sofortige Vollziehung aufzuheben, an
die Behörde gewendet haben muss. Ausdrücklich vorgesehen ist die vorherige behördliche Befassung nach § 80 Abs. 6 S. 1 VwGO nur für die Fälle, in denen die aufschiebende
Wirkung nach § 80 Abs. 2 Nr. 1 VwGO entfällt. Damit ist ein vorheriger Antrag an die Behörde nach dem Gesetzeswortlaut nicht erforderlich. Eine andere Ansicht sieht das
Rechtsschutzbedürfnis aber auch in anderen Fällen der sofortigen Vollziehbarkeit nur
dann als gegeben an, wenn der Antragsteller sich erfolglos an die Behörde gewendet hat.
Hat die Behörde den Sofortvollzug allerdings selbst gemäß § 80 Abs. 2 Nr. 4 VwGO angeordnet, ist aber auch nach dieser Ansicht eine Befassung der Behörde vor Stellung des
gerichtlichen Antrages nicht nötig. Denn in diesem Fall hat die Behörde sich schon mit der
Frage des sofortigen Vollzuges auseinandergesetzt, so dass es einer erneuten Befassung
nicht bedarf.
5
Dabei handelt es sich zwei unterschiedliche Fallkonstellationen mit unterschiedlichem Prüfprogramm i.R.d. Begründetheit
(s.u.).
6
Auch hier nehmen Sie das Ergebnis der Prüfung der Passivlegitimation (Begründetheit) eigentlich vorweg. Die Prüfungspunkte
korrespondieren: Keinesfalls können Sie im Rahmen Zulässigkeit die Beteiligten- und Prozessfähigkeit einer anderen juristischen Person als der passivlegitimierten prüfen!
ÖR II/2 – Fall 10 – Lösung – WS 2012/2013
Seite 2 von 8
Im vorliegenden Fall hat die Behörde den sofortigen Vollzug selbst angeordnet, so dass
nach beiden Ansichten das Rechtsschutzbedürfnis ohne vorherigen Antrag bei der Behörde gegeben ist. 7
Nach § 80 Abs. 5 S. 2 VwGO ist die Stellung des Antrages schon vor Erlass der Anfechtungsklage zulässig. Zu beachten ist aber, dass der Antragsteller, der der Sache nach die
Wiederherstellung der aufschiebenden Wirkung beantragt, einen Rechtsbehelf – im Regelfall die Anfechtungsklage – einlegen muss, deren aufschiebende Wirkung vom Gericht
wiederhergestellt wird. Das Rechtsschutzbedürfnis entfällt somit, wenn ein Rechtsbehelf,
der nach § 80 Abs. 1 S. 1 VwGO aufschiebende Wirkung haben könnte, nicht mehr eingelegt werden kann. Hier ist die nach § 74 Abs. 1 VwGO fristgerechte Erhebung der Anfechtungsklage möglich, zweckmäßigerweise wird der Rechtsanwalt des G zugleich mit dem
Antrag nach § 80 Abs. 5 VwGO Anfechtungsklage erheben.
Das Rechtsschutzbedürfnis ist mithin gegeben.
VI.
Zwischenergebnis
Der Antrag ist zulässig.
C.
Begründetheit des Antrags 8
Der Antrag ist begründet, wenn er sich gegen den richtigen Antragsgegner richtet, die Anordnung des Sofortvollzugs formell rechtswidrig ist und/ oder das Suspensivinteresse des
Antragstellers 9 das Vollzugsinteresse der Allgemeinheit 10 überwiegt. Das Gericht trifft dabei eine eigene originäre Entscheidung.
Beachten Sie:
Im Rahmen der Prüfung des § 80 Abs. 5 VwGO gibt es zwei Fallkonstellationen:
Ausgangspunkt muss gedanklich immer der Grundsatz der § 80 Abs. 1 VwGO sein
(lesen!). Widerspruch und Anfechtungsklage haben aufschiebende Wirkung. Geht der
Adressat gegen den Verwaltungsakt vor, kann dieser vorerst nicht vollzogen werden.
Ausnahmsweise entfällt diese aufschiebende Wirkung nach § 80 Abs. 2 (lesen!):
Die aufschiebende Wirkung entfällt nur
1. bei der Anforderung von öffentlichen
Abgaben und Kosten,
2. bei unaufschiebbaren Anordnungen
und Maßnahmen von Polizeivollzugsbeamten,
3. in anderen durch Bundesgesetz oder
für Landesrecht durch Landesgesetz
vorgeschriebenen Fällen, insbesondere für Widersprüche und Klagen Dritter
gegen Verwaltungsakte, die Investitionen oder die Schaffung von Arbeitsplätzen betreffen,
4. in den Fällen, in denen die sofortige
Vollziehung im öffentlichen Interesse
oder im überwiegenden Interesse eines Beteiligten von der Behörde, die
den Verwaltungsakt erlassen oder
über den Widerspruch zu entscheiden
hat, besonders angeordnet wird.
Dabei ist streng zwischen den Fallkonstellationen nach den Nr. 1 bis 3 und denen
nach Nr. 4 zu unterscheiden:
7
Ordnet die Behörde nicht den Sofortvollzug an, wird also der Meinungsstreit relevant, können Sie sich auf den klaren Wortlaut
des § 80 Abs. 6 VwGO und die in diesem angelegte Differenzierung stützen. Demnach ist ein vorheriger Antrag bei der Behörde nicht erforderlich.
8
Terminologie!..
9
Gemeint ist das Interesse des Antragstellers an der Wiederherstellung der aufschiebenden Wirkung einer Anfechtungsklage in
der Hauptsache.
10
Gemeint ist das Interesse der Allgemeinheit am Beibehalten der von der Behörde angeordneten sofortigen Vollziehbarkeit.
ÖR II/2 – Fall 10 – Lösung – WS 2012/2013
Seite 3 von 8
Bei den Nr. 1 bis 3 entfällt die aufschiebende
Wirkung aufgrund gesetzlicher Anordnung.
In der Klausur sind die Fälle der Nr. 1 und 2 im
Sachverhalt leicht ersichtlich.
In den Fällen der Nr. 3 müssten Sie eine Norm
finden, die anordnet, dass die aufschiebende
Wirkung eines Widerspruchs oder einer Anfechtungsklage entfällt (Bsp. § 212a BauGB,
lesen!).
Bei der Nr. 4 ordnet die Behörde die sofortige Vollziehung an. Es gibt einen behördlichen
Akt, der im Rahmen der Begründetheit anhand
des Maßstabs des § 80 Abs. 3 VwGO (lesen!!)
überprüft werden muss.
In der Klausur ist im Sachverhalt dann die
behördliche Anordnung der sofortigen Vollziehung ausdrücklich genannt (wie hier!)
→ Als Konsequenz ergibt sich für die beiden Fallkonstellationen ein unterschiedliches
Prüfprogramm in der Klausur im Rahmen der Begründetheit:
Fall des § 80 Abs. 2 Nr. 1-3 VwGO
Aufschiebende Wirkung entfällt aufgrund gesetzlicher Anordnung (Bsp. § 212a BauGB
(lesen!)).
Aufschiebende Wirkung entfällt aufgrund behördlicher Anordnung.
Prüfprogramm:
Prüfprogramm:
1. Passivlegitimation
2. Interessenabwägung zwischen Aussetzungsinteresse und Vollzugsinteresse; Indikator: Erfolgsaussichten des Hauptsacherechtsbehelfs (Anfechtungsklage)
1. Passivlegitimation
2. Formelle Rechtmäßigkeit der Anordnung der
sofortigen Vollziehung (als zusätzlicher Prüfungspunkt)
3. Interessenabwägung zwischen Aussetzungsinteresse und Vollzugsinteresse; Indikator: Erfolgsaussichten des Hauptsacherechtsbehelfs (Anfechtungsklage)
Obersatz:
Obersatz:
„Der Antrag ist begründet,
• wenn er sich gegen den richtigen Antragsgegner richtet
„Der Antrag ist begründet,
• wenn er sich gegen den richtigen Antragsgegner richtet,
• die Anordnung des Sofortvollzugs formell rechtswidrig ist
• und/ oder das Suspensivinteresse des
Antragstellers das Vollzugsinteresse
der Allgemeinheit überwiegt (Interessenabwägung). Das Gericht trifft dabei
eine eigene originäre Entscheidung.“
•
I.
Fall des § 80 Abs. 2 Nr. 4 VwGO
und das Suspensivinteresse des Antragstellers das Vollzugsinteresse der
Allgemeinheit überwiegt (Interessenabwägung). Das Gericht trifft dabei eine eigene originäre Entscheidung.“
Handlung des Gerichts:
Handlung des Gerichts:
Das Gericht der Hauptsache ordnet auf Antrag
die aufschiebende Wirkung ganz oder teilweise an, § 80 Abs. 5 S. 1 VwGO.
Das Gericht der Hauptsache stellt die aufschiebende Wirkung ganz oder teilweise
wieder her, § 80 Abs. 5 S. 1 VwGO.
Passivlegitimation, § 78 Abs. 1 Nr. 1 VwGO analog 11
Nach dem Rechtsträgerprinzip (§ 78 Abs. 1 Nr. 1 VwGO analog) ist der Antrag gegen den
Rechtsträger der Behörde zu richten, die die sofortige Vollziehung angeordnet hat. Das ist
hier als Rechtsträger des Gewerbeamtes die Stadt Augsburg.
11
Die Norm steht im 8. Abschnitt der VwGO: „Besondere Vorschriften für Anfechtungs- und Verpflichtungsklagen“ und kommt
im Rahmen des einstweiligen Rechtsschutzes nicht direkt zur Anwendung.
ÖR II/2 – Fall 10 – Lösung – WS 2012/2013
Seite 4 von 8
Beachten Sie: Eine Gemeinde ist stets ihr eigener Rechtsträger!
Wiederholung:
Probleme können sich an dieser Stelle beim Handeln des Landratsamts ergeben:
Denken Sie an die „Janusköpfigkeit“ des Landratsamts, das sowohl Aufgaben des Landkreises
als auch Staatsaufgaben wahrnehmen kann.
•
•
Nimmt es staatliche Aufgaben wahr, handelt es als Staatsbehörde. Passivlegitimiert
ist dann der Freistaat Bayern (entsprechend ist im Rahmen der Zulässigkeit auch die
Beteiligten- und Prozessfähigkeit des Freistaat Bayerns zu prüfen!). Das Gesetz spricht
im Fall der Wahrnehmung staatlicher Aufgaben von der sog. „Kreisverwaltungsbehörde“.
Nimmt das Landratsamt hingegen (eigene oder übertragene) Aufgaben des Landkreises wahr, ist Rechtsträger und passivlegitimiert die Gebietskörperschaft Landkreis
(Entsprechung in der Zulässigkeitsprüfung). Das Gesetz spricht dann von dem „Landkreis“. Lesen Sie hierzu Art. 37 LKrO!
Nochmals: Handelt die Behörde einer Gemeinde, ist stets die Gemeinde als ihr eigener
Rechtsträger passivlegitimiert. (Im Rahmen der Zulässigkeitsprüfung ist dann die Beteiligtenund Prozessfähigkeit der Gemeinde zu überprüfen.) Auch wenn eine Große Kreisstadt oder
einer kreisfreie Gemeinde Aufgaben übernimmt, die sonst das Landratsamt erledigt, bleibt sie
ihr eigener Rechtsträger und wird nicht etwa zur Staatsbehörde.
Lesen Sie zum Verständnis unbedingt Art. 5 bis 9 GO sowie Art. 4 bis 6 LKrO!
Eine übersichtliche Darstellung dieses Problems finden Sie bei Weber/ Köppert, Kommunalrecht, 2009. Rn. 29, 58 ff.
II.
Formelle Rechtmäßigkeit der Anordnung der sofortigen Vollziehung
1.
Zuständig für die Anordnung des Sofortvollzugs ist nach § 80 Abs. 2 Nr. 4 VwGO die Ausgangsbehörde.
2.
Im Sachverhalt ist angegeben, dass G angehört wurde. Es ist davon auszugehen, dass er
auch zur Anordnung der sofortigen Vollziehung angehört wurde.
Beachten Sie:
Es ist umstritten, ob Art. 28 BayVwVfG in diesem Zusammenhang zur Anwendung kommt. Bei
der Anordnung des Sofortvollzugs handelt es sich nicht um einen eigenständigen Verwaltungsakt, sondern um einen unselbständigen Annex. Art. 28 BayVwVfG kommt deshalb nicht
direkt zur Anwendung. Von einer analogen Anwendbarkeit könnte man jedoch aufgrund des
belastenden Charakters der Anordnung der sofortigen Vollziehung ausgehen. Andererseits ist
keine vergleichbare Sachlage gegeben, da anders als beim Erlass eines belastenden Verwaltungsakts keine Bestandskraft aufgrund Fristablaufs droht. Der Antragsteller kann auch nach
Erlass der Anordnung der sofortigen Vollziehung seinen Standpunkt darlegen.
Regelmäßig ist eine Anhörung aufgrund besonderer Eilbedürftigkeit nach Art. 28 Abs. 2 Nr. 1
BayVwVfG entbehrlich. 12
3.
12
13
Entscheidend ist jedoch, ob die Anordnung der Behörde der Begründungspflicht nach
§ 80 Abs. 3 S. 1 VwGO genügt. 13
Als Begründung nach § 80 Abs. 3 S. 1 VwGO reicht ein Hinweis auf das Vorliegen der
rechtlichen Voraussetzungen für den Erlass des Verwaltungsaktes nicht aus. Schließlich
Im Übrigen ist an die Heilungsmöglichkeiten nach Art. 45 BayVwVfG zu denken!
Dies ist – aufgrund der Sonderregelung des § 80 Abs. 3 VwGO – der wichtigste Prüfungspunkt im Rahmen der Überprüfung
der formellen Rechtmäßigkeit der Sofortvollzugsanordnung.
ÖR II/2 – Fall 10 – Lösung – WS 2012/2013
Seite 5 von 8
sieht § 80 Abs. 1 S. 1 VwGO als Grundsatz vor, dass Verwaltungsakte nicht sofort vollziehbar sind.
Es bedarf somit einer Begründung, aus der sich ergibt, dass der konkrete Verwaltungsakt
sofort vollzogen werden muss. Die Begründung muss einzelfallbezogen sein. Die Behörde
darf nicht die gleichen Gründe anführen, die sie schon für den Erlass des Verwaltungsakts
herangezogen hat.
Die Behörde führt hier die weiterschreitenden ernsten Gefahren für den Jugendschutz an.
Bei einer Weiterführung des Betriebes bis zum Abschluss eines verwaltungsgerichtlichen
Verfahrens sind weitere Verstöße gegen den Jugendschutz und damit verbunden Verletzungen von Gesundheit und seelischer Entwicklung von Jugendlichen zu befürchten. Dies
erscheint vor dem Hintergrund des hohen Werts der geschützten Güter und den ggf. drohenden irreversiblen Schäden als plausible Begründung für ein Interesse des Sofortvollzuges ausreichend.
Beachten Sie:
Bei Anordnung des Sofortvollzuges durch die Behörde nach § 80 Abs. 2 Nr. 4 VwGO muss
diese Anordnung nach § 80 Abs. 3 S. 1 VwGO begründet werden. Eine fehlende oder fehlerhafte Begründung führt stets zur Begründetheit des Antrages. Ist dies der einzige Fehler,
hebt das Gericht die Vollziehungsanordnung auf. Die Behörde könnte die sofortige Vollziehung
nochmals (und dann richtig) anordnen.
Eine Heilungsmöglichkeit nach Art. 45 Abs. 1 Nr. 2 BayVwVfG ist wohl eher abzulehnen, da
andernfalls die Warnfunktion des Begründungserfordernisses nicht erfüllt werden könnte.
Wie Sie sich an dieser Stelle in der Klausur entscheiden, ist zweitrangig. Wichtig ist, dass Sie
den besonderen Maßstab des § 80 Abs. 3 S. 1 VwGO aufgrund des Regel-AusnahmeVerhältnisses kennen und Ihr Ergebnis mit Argumenten aus dem Sachverhalt untermauern. Da
Sie in der Klausur ein Gutachten schreiben werden, untersuchen Sie die Interessenabwägung
des Gerichts auch dann, wenn die Begründung fehlt oder fehlerhaft ist.
Nochmals: Die Begründung ist nur in den Fällen des § 80 Abs. 2 Nr. 4 VwGO erforderlich!
Sieht das Gesetz die sofortige Vollziehung nach § 80 Abs. 2 Nr. 1 bis 3 VwGO vor, bedarf es
eben keiner Begründung nach § 80 Abs. 3 S. 1 VwGO und es wäre grob fehlerhaft, das Fehlen einer Begründung dort zu prüfen.
II.
Interessenabwägung der Gerichts
Der Antrag ist auch begründet, wenn das Gericht im Rahmen einer Interessenabwägung zu
dem Ergebnis kommt, dass das Interesse des von dem zu vollziehenden Verwaltungsakt Betroffenen an dem einstweiligen Nichtvollzug 14 das Interesse der Allgemeinheit am sofortigen
Vollzug der Anordnung 15 überwiegt. Indiz für die Gewichtung der Interessen ist der voraussichtliche Erfolg des Hauptsacherechtsbehelfs, der im Rahmen einer summarischen Prüfung zu untersuchen ist.
„Summarische Prüfung“ bedeutet, dass das Gericht vorläufig und überschlägig, vor allem ohne
weitere Beweisaufnahme entscheidet. Für Sie als Bearbeiter in der Klausur ergibt sich hieraus
keine Besonderheit, da Sie den Ihnen zur Verfügung stehenden Sachverhalt in vollem Umfang
rechtlich würdigen.
Die Anfechtungsklage als Hauptsacherechtsbehelf hätte Erfolg, wenn sie zulässig und begründet wäre.
1.
14
15
Die Anfechtungsklage wäre zulässig. Dies wird bereits durch die Zulässigkeit des vorläufigen Rechtsschutzes indiziert. Denn der vorläufige Rechtsschutz kann nicht weiter reichen
als der Hauptsacherechtsbehelf.
= Suspensivinteresse.
= Vollzugsinteresse.
ÖR II/2 – Fall 10 – Lösung – WS 2012/2013
Seite 6 von 8
2.
Fraglich ist, ob die Anfechtungsklage begründet wäre. Dies wäre dann der Fall, wenn der
Widerruf der Genehmigung rechtswidrig und G dadurch in eigenen Rechten verletzt wäre,
§ 113 Abs. 1 VwGO. Richtige Beklagte ist nach § 78 Abs. 1 Nr. 1 VwGO die Stadt Augsburg als Rechtsträgerin des Gewerbeaufsichtsamts.
a)
Rechtsgrundlage des Widerrufs der ursprünglich rechtmäßigen Erlaubnis ist § 15 Abs. 2
GastG.
Beachten Sie:
An dieser Stelle kann in der Klausur eine umfangreiche Prüfung der Rechtmäßigkeit des
ursprünglichen Verwaltungsakts (Rechtsgrundlage – formelle Rechtmäßigkeit – materielle
Rechtmäßigkeit) erforderlich sein. Davon kann die Anwendung der § 15 Abs. 1 oder 2 GastG
oder bspw. Art. 48 oder 49 BayVwVfG abhängen, da diese unterschiedliche Tatbestandsvoraussetzungen haben!
Trennen Sie die Prüfung der Rechtmäßigkeit des ursprünglichen Verwaltungsakts und
die der Aufhebung dieses Verwaltungsakts gedanklich sauber und machen Sie sich mit der
Schachtelprüfung vertraut. Sie müssen verstehen, warum diese durchzuführen ist und wie Sie
aufgebaut ist.
b)
Der Widerruf ist formell rechtmäßig, da laut Sachverhalt das zuständige Gewerbeamt gehandelt hat und G auch ordnungsgemäß angehört wurde nach Art. 28 Abs. 1 BayVwVfG.
Andere Verfahrens- oder Formfehler sind nicht ersichtlich.
c)
Der Widerruf der Genehmigung ist materiell rechtmäßig, wenn er sich auf eine rechtmäßige Gesetzesgrundlage stützt, deren Tatbestandsvoraussetzungen vorliegen und er im Übrigen mit höherrangigem Recht übereinstimmt.
aa)
Hinsichtlich der Verfassungsmäßigkeit der Rechtsgrundlage des Widerrufs der ursprünglich rechtmäßigen Erlaubnis, § 15 Abs. 2 GastG, bestehen keine Bedenken.
bb) G hat in seiner Gaststätte sowohl verbotenes Glückspiel veranstaltet als auch gegen Jugendschutzvorschriften verstoßen, so dass die Widerrufsvoraussetzungen nach § 4 Abs. 1
Nr. 1 i.V.m. § 15 Abs. 2 GastG zweifellos vorliegen.
cc)
Verstöße gegen höherrangiges Recht, zum Beispiel gegen den Verhältnismäßigkeitsgrundsatz, sind nicht erkennbar.
c)
Zwischenergebnis: Der Hauptsacherechtsbehelf hätte keine Aussicht auf Erfolg.
Beachten Sie:
Die Prüfung der Rechtmäßigkeit des Verwaltungsakts im Rahmen der Begründetheit des
Hauptsacherechtsbehelfs kann in der Klausur wesentlich umfangreicher ausfallen und wurde
hier nur aus didaktischen Gründen sehr kurz ausgestaltet. Die hier sehr kurze Darstellung hat
nichts mit der „summarischen Prüfung“ des Gerichts zu tun!
III.
Ergebnis
Angesichts der fehlenden Erfolgsaussichten des Rechtsbehelfs in der Hauptsache sowie
der wiederholten schweren Rechtsverstöße durch G, die eine Wiederholungsgefahr befürchten lassen, ist ein Überwiegen des Suspensivinteresses des G zu verneinen.
Sein Antrag nach § 80 Abs. 5 VwGO ist unbegründet.
In der Praxis ist der Ausgang der Hauptsache mangels durchgeführter Beweisaufnahme teilweise noch sehr ungewiss und das Gericht muss eine weitere Interessenabwägung vornehmen. Dies bleibt Ihnen in der Klausur erspart, da der Sachverhalt feststeht und man im Rahmen der Prüfung der Erfolgsaussichten der Hauptsache zu einem eindeutigen Ergebnis
kommt. Der Korrektor wird es jedoch positiv honorieren, wenn Sie offensichtliche Aspekte, die
in dieser Interessenabwägung eine Rolle spielen können, am Ende der Klausur – wie hier dargestellt – anführen.
ÖR II/2 – Fall 10 – Lösung – WS 2012/2013
Seite 7 von 8
Eine Vorwegnahme der Hauptsache (wie bei § 123 VwGO) ist bei § 80 Abs. 5 VwGO nicht zu
problematisieren, da das Gericht hier nur eine Entscheidung hinsichtlich der Anordnung/Wiederherstellung der aufschiebenden Wirkung trifft und die Hauptsache hierdurch naturgemäß nicht vorweg genommen werden kann.
ÖR II/2 – Fall 10 – Lösung – WS 2012/2013
Seite 8 von 8