Beurteilung der Bachelor-Arbeit „Du has(s)t mich (gefragt

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Beurteilung der Bachelor-Arbeit „Du has(s)t mich (gefragt
Beurteilung der Bachelor-Arbeit
„Du has(s)t mich (gefragt) …“
Menschliche Urängste und ihre literarische Umsetzung
in Liedtexten der Gruppe ,Rammstein‘
„Du has(s)t mich (gefragt) …“
Literární ztvárnění v lidech hluboce zakořeněných strachů
v textech skupiny ,Rammstein‘
von
Adéla Pecková
Das von Adéla Pecková gewählte Thema darf als literaturwissenschaftlich relevant gelten.
Ihre Bachelor-Arbeit nimmt sich vor dem Hintergrund zeitpolitisch-gesellschaftlicher Probleme der Interpretation von Liedertexten der deutschen Band Rammstein an und versucht zudem, den Konnex zwischen Text-Aussage/-Motivik und audiovisueller Umsetzung (Musikvideo) zu bestimmen. Sie untersucht damit eine literarische Textsorte der (populären) Gegenwartskultur, der auf wissenschaftlicher Seite bisher noch wenig Aufmerksamkeit geschenkt
wurde. Dabei ist die Fähigkeit der Verfasserin zu selbstständigem Arbeiten und ihr gehobenes
Niveau an produktiven Deutschkenntnissen hervorzuheben.
Die Gliederung der Arbeit ist logisch, übersichtlich und leserfreundlich konzipiert. In
Kap. 1 (Einleitung ) wird der Gegenstand der Analyse begründet, werden ihre Ziele genannt
und Anmerkungen zum Aufbau und der Quellenlage gemacht. Bei Letzterer erweist sich als
etwas problematisch, dass zum großen Teil, wie die Verfasserin auf S. 11 einräumt, populärwissenschaftliche Literatur herangezogen werden musste, deren Autoren gegenüber Rammstein „(vor?)eingenommen“ (S. 12) waren. Angesichts der sonst dünnen SekundärquellenLage und des Gegenstandes, der Teil einer Pop-Kultur ist, kann man die Quellenauswahl aber
wohl akzeptieren. Die Formulierung der Ziele der Arbeit, 1. „dem auch fremdfachen [! gemeint: fachfremden] Leser die Kultur um die Musikgruppe Rammstein vorzustellen (…)[,]
damit der Leser den Ideenreichtum der Songtexte von Rammstein begreift“ (S. 10), und 2.
„die Auslegung der zahlreichen Erscheinungen von menschlichen Ängsten, Urängsten, Tabus
und verschiedenen Ideen aufgrund der realistischen Ereignisse, die im Leser diese Engegefühle [! gemeint: Beengungsgefühle] hervorrufen“ (S. 10), bleibt zu diesem Zeitpunkt etwas wage und erschließt sich dem Leser erst im Verlauf der Lektüre weiterer Kapitel.
Der Leserorientierung dienen die beiden folgenden Abschnitte: In Kap 2 (Wurzeln des
Phänomens Rammstein) werden gut recherchierte Grundinformationen zur Gründung der
Band, ihren Mitgliedern und ihrer Diskographie übersichtlich dargestellt. Kap. 3 (Originalität
und Popularität) verortet Rammstein stilistisch in der deutschen Populärmusik-Kultur (in der
Strömung Neue Deutsche Härte) und erklärt ihren weltweiten Erfolg durch ihren Abstand von
der Presse, die eigenwillige Verknüpfung expressionistischer Textelemente mit Musik und
ihre ,Imagebildung‘ (hier bleibt allerdings unklar, wodurch diese gekennzeichnet ist).
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Kap. 4 entwirft – unter Berücksichtigung psychologischer Literatur – ein Raster, nach
welchem das Liedgut von Rammstein nach den inhaltlichen Motiven Angst, Urangst, und
Tabu kategorisiert werden könnte. Die folgenden Begriffsbestimmungen weisen jedoch einige
Schwächen auf:
 ,Motiv‘ wird nicht im literarischen, sondern im musikwissenschaftlichen Sinne definiert
(S. 24). Auf musikalische Motivik wird allerdings in der folgenden Arbeit an keiner Stelle
eingegangen.
 Zum Terminus ,Angst‘ werden eine Reihe psychoanalytischer, behavioristischer und kognitiver Definitionen, zudem die Kategorien ,angeboren‘ und ,erlernt‘ aufgelistet. Dabei
wird aber versäumt zu klären, welche Begriffsbestimmung für die weitere Arbeit gilt.
 ,Urangst‘ wird nicht eindeutig von ,Angst‘ abgegrenzt.
 ,Tabu‘ wird zufriedenstellend bestimmt. Die Einordnung von ,Hass‘ als Tabu (S. 27) kann
allerdings nicht nachvollziehbar gemacht werden.
In Kap. 5, dem Hauptteil der Arbeit, schließt sich die Untersuchung der literarischen Umsetzung der Urängste etc. in den Songtexten von Rammstein an. Realistischerweise räumt die
Verfasserin hier die Relativierung des Gültigkeitsanspruches der vorgelegten Analyse ein.
Andererseits wird in der Interpretation konsequent der Indikativ benutzt was die Objektivität
der gemachten Interpretationen indiziert. Die Deutung der folgenden, exemplarisch stimmig
gewählten Rammstein-Lieder in Hinblick auf die eingangs formulierten Leitziele ist wie folgt
zu kommentieren:
 Kap. 5.1 (Du hast): Es fehlt eine Zuordnung zu den drei Kategorien. Da es bereits beim
Titel um ein Wortspiel geht, ist die falsche Zitation im Text Willst Du bis der Tod uns
[euch!] scheidet, treu ihr sein für alle Tage? (S. 30) für die Interpretation besonders ungünstig. Die Verbindung Text-Video wird schlüssig erläutert. Die Hälfte des Kapitels bildet allerdings eine reine Inhaltswiedergabe des Musikvideos. Das Fazit, Lied und Video
widerspiegelten „eins der markantesten soziologischen Probleme der gegenwärtigen Gesellschaften“ (S. 31, Herv. d. Verf.), wirft die (unbeantwortete) Frage auf: Welche sollten
das sein? Hass unter Partnern? Liebesvortäuschung? Vernichtungstendenzen in zwischenmenschlichen Beziehungen? Es gilt zu überlegen, ob das Nein vor dem Traualtar nicht den
,Urängsten‘ zugeordnet werden sollte.
 Kap. 5.2 (Amerika): Die Sichtung des Motivs 1. der Urangst vor Unterdrückung im Allgemeinen und 2. der Angst vor den USA im Speziellen (S. 37) kann nachvollzogen werden. Leider basiert das ganze Kapitel im Prinzip auf Dreschner (2005). Der Begriff „Synekdoche“ (S. 33) wird nicht definiert. Bei der Kontrastierung Coca-Cola, wonderbra –
Coca-Cola, sometimes war hätte man die Analyse ausweiten können (z. B. auf die Bedeutung der Assonanz o-a). Es wird versäumt, gezeichnete Amerika-Bilder (Pizza-Essen etc.)
als ,Stereotypen‘ zu identifizieren; stattdessen wird verallgemeinert, „Fernsehen und Pizza
essen ist ein typischer Zeitvertreib in Amerika“ (S. 35). Ist es dies nicht auch in Europa?
Und: Stammt das Gericht Pizza aus den USA? Sehr überzeugend wird dagegen die Anspielung auf kulturelle Wohltaten als Vorwand für weltweite politische/wirtschaftlich Einmischung (S. 35) erklärt.
 Kap. 5.3 (Mutter): Die Urangst, in einem frühen Lebensstadium von der Mutter verlassen
worden zu sein, wird richtig identifiziert (S. 38). Die „Kette“ verbindet allerdings nicht das
lyr. Ich sondern andere, ,normale ‘ Kinder, mit ihren Müttern, auf welche im Greisenalter
zurückgeblickt wird (S. 38). Die Interpretation der „Krankheit“ (S. 38) sollte wohl eher in
folgende Richtung gehen: Man kennt seine Erzeuger nicht. Das „Versenken“ und die „EntNám. Jana Palacha 2, 116 38 Praha 1
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fernung des Muttermals“ sind wohl eher als das Ziehen eines Schlussstrichs zu sehen. Die
These, „zum letzten Rettungsversuch wendet sich man an die Mutter oder denkt man an sie
zumindest“ (S. 39), müsste aus der psychologischen Literatur belegt werden.
 Kap. 5.4 (Mein Teil): Kannibalismus wird hier richtig den Tabus zugeordnet (S. 41). Hier
liegt insgesamt die stimmigste Analyse vor. Zu überdenken, wäre, ob der Sinnspruch du
bist, was du isst des Refrains nicht auch eine Anspielung auf Lebensmittelskandale und
Junk-food-Konsumation als allgemeines gesellschaftliches Phänomen der westlichen Hemisphäre gesehen werden könnte.
Trotz einiger Schwächen der Analyse, die punktuell oberflächlich und vordergründig bleibt,
wird in Kap. 6 (Zusammenfassung) gelungen der Konnex zwischen der Literarität der Rammstein-Songtexte, dem Image der Gruppe und ihren Videos hergestellt (S. 44). Fraglich ist allerdings das Fazit über den dezidierten Gegenwartsbezug, zumal Urängste und Tabus gesellschaftlich tief verankert sind und damit kaum in diesem Sinne ,aktuell‘ sein können. Lediglich
konkrete politische Referenzen (Amerika) weisen eindeutig in dieser Richtung.
Formale Schwächen halten sich in Grenzen und beschränken sich im Wesentlichen auf
folgende Monenda:
 Z. T. hätten Wiederholungen (vgl. 6 x „Leser“, S. 10) vermieden werden können.
 Stellenweise fallen divergierende Anführungszeichen »a« (S. 16, 41) vs. „a“ auf. Doppelte
Anführungszeichen im Zitat (z. B. S. 41) müssten vereinfacht werden.
 Längere Zitate (z. B. S. 13, 17, 18-19, 19-20, 22-23, 23, 24, 24-25, 41) sollten vom Fließtext abgesetzt werden.
 Subjektive/wertende Ausdrücke/Wendungen sind in einem wissenschaftlichen Text zu
vermeiden. Hierzu gehören in der vorliegenden Arbeit u. a.: „umstrittenste gegenwärtige
Band […] in der ganzen Welt“ (S. 11), „beeindruckend“, „großartig“ (S. 18), „pompös“ (S.
19), „faszinierend“ (S. 19), verdient“ (S. 19), „grausig“ (S. 20), „gruslig“ (S. 21), „einzigartig“ (S. 22, 44), „perfekt“ (S. 23), „spannend“ (S. 30).
 Folgende saloppe/umgangssprachliche Wendungen bzw. Wortneuschöpfungen sind ebenfalls nicht adäquat: „tiefgedachte Text(e)“ (S. 11), „konnte die Musik […] richtig losgehen“ (S. 17), „geil“ (S. 21), „gleich ganz oben landen“ (S. 21), „breite Reihe von Fans“ (S.
23), „Prestigezeitung“ (S. 23), „Kampf aufs Messer“ (S. 27), „beredtes Musikvideo“ (S.
32), möchtegern“ (S. 34), „einheimische Afrikaner“ (S. 35), „Grundfamilie“ (S. 38).
 Ferner ist auf folgende Verwechslungen hinzuweisen: „Aufheben“ statt „Aufsehen“ (S.
19), „kommen“ statt „erscheinen“ (S. 20), „durchaus“ statt „allgemein“ (S. 32), „als Revanche“ statt „im Gegenzug“ (S. 35), „Friedhofarbeiter“ statt „Totengräber“ (S. 39).
Insgesamt erfüllt die vorgelegte Untersuchung die akademischen Ansprüche an eine Bachelorarbeit. Sie darf, wie im Ausblick (S. 44-45) angesprochen, als Ansporn verstanden werden,
sich weiter mit den lyrischen Liedtexten der Gruppe Rammstein literatur-, kultur- und medienwissenschaftlich auseinanderzusetzen. Ich empfehle daher, die Arbeit zur Verteidigung
zuzulassen. Über die Note wird auf Basis der Disputation mit dem Betreuer und dem Opponenten zu entscheiden sein.
Dr. des. Boris Blahak, M.A.
DAAD-Lektor
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