Textbeitrag Dennis Niewerth M.A. - Mai-Tagung
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Textbeitrag Dennis Niewerth M.A. - Mai-Tagung
Dennis Niewerth Heiße Töpfe. Digital Humanities und Museen am Siedepunkt 1. Zur Einleitung: Metaphoriken des Digitalen Wer als Kulturwissenschaftler über digitale Medien spricht, der kommt um Metaphoriken nicht herum. Das, was diese Medientechnologien nämlich im "Eigentlichen" wären, liegt außerhalb des Ausdrucksvermögens unserer Alltagssprache und ließe sich akkurat nur mathematisch beschreiben – damit aber wiederum in einem Begriffsystem, in dem sich kulturelle Zusammenhänge kaum oder gar nicht artikulieren lassen. Metaphern stellen somit für die Kultur- und Geisteswissenschaften eine notwendige Brücke dar zwischen der reinen, formalen Logik des Computers und unserer kulturellen Lebenswelt, in welcher digitale Medien zu Teilnehmern in (und nicht selten auch Determinanten von) sozialen Sinnbildungsprozessen werden. Auch dieses Paper bedient sich, ganz wie der Vortrag, aus dem es hervorgegangen ist, eines solches metaphorischen Brückenschlages. Schon in den 1980er und 90er Jahren entwickelte sich entlang der Vorstellung vom Cyberspace die Idee einer 'Verflüssigung' des Kulturellen in barrierefreien Kommunikationskanälen und computergestützten Vermittlungsarchitekturen, die selbst so prozesshaft und wandelbar sind wie die von ihnen transportierten Inhalte (vgl. hierzu beispielhaft Novak 1991, passim). Diese Verwendung eines physikalischen Aggregatszustandes als Sinnbild für eine mediale Kultur ist kein folgenloses Gedankenspiel vereinzelter Cyberpunk-Visionäre geblieben, sondern hat sich tief in unser Sprechen über den Umgang mit Computern und Computernetzwerken eingegraben: Wir surfen im Netz, von Computerspielen wird die immer 1 vollkommenere Immersion der Spieler in simulierten Szenerien erwartet, Audio- und Videoinhalte lassen sich über Dienste wie YouTube streamen und das von den Unerhaltungsindustrien gefürchtete Filesharing findet inzwischen überwiegend vermittels des BitTorrent-Protokolls statt, das wörtlich ja nichts anderes meint als einen 'reißenden Strom' aus Informationseinheiten (vgl. Niewerth 2013, in Vorbereitung). Lev Manovich beschreibt das Adjektiv liquid in seiner wegweisenden Monographie The Language of New Media als eines der Synonyme für die "variability" (Manovich 2002, 36) digitaler Datenverarbeitung: In den 'neuen Medien' sind Inhalte nicht zu fixieren, sie existieren nicht länger als abgeschlossene Produkte einer Geistesanstrengung, sondern vielmehr in permanenter prozesshafter Veränderlichkeit sowie potentiell unzähligen Kopien und Abwandlungen (vgl. ebd., 36ff.). Das 'feste' Gegenüber des 'Flüssigen' wäre demnach also die klassische Schriftkultur, die Information in fester, sequenzierter Abfolge auf Papier tätowiert, zwischen Buchdeckeln einpfercht und in Regalreihen bunkert, zu denen sich der Rezipient körperlich bemühen muss, wenn er die so gespeicherten Inhalte abrufen möchte. Mit dieser Vorstellung vom Flüssigen und Fließenden als Sinnbild des Prozeduralen digitaler Medienkulturen verbindet sich zugleich die Idee, dass der Cyberspace seinen Besucher anders als der physikalische Kosmos nicht mit finiten und unverhandelbaren Raum- und Zeitstrukturen konfrontiert, welche den Rahmen allen Agierens und Kommunizierens vorgeben. Vielmehr entstehen in ihm Räumlichkeit und Zeitlichkeit erst als das emergente Produkt der Kommunikationsabläufe selbst. Marcos Novak spricht hier von einer "liquid architecture", welche die 'Räume' des medialen Miteinanders um die Kommunizierenden herum laufend neu hervorbringt und damit zugleich alle Raumvorstellungen revidiert, die wir aus der physischen Welt mitbringen: "I look to my left, and I am in one city; I look to my right, and I am in another. My friends in one can wave to my friends in the other, through my having brought them together." (Novak 1991, 249) Damit scheint das 'flüssige' Universum digitaler Vermittlung zunächst einmal die Antithese des Museums zu sein, denn weil der Raum immer das Gegenteil der Objekte ist, die ihn besetzen (vgl. Scheer 2000, 234f.) kann es in einem sich laufend verändernden 'Raum' auch keine persistenten 'Dinge' geben: 1 Immersion beschreibt hier den Zustand eines Aufgesogenseins im Spielerlebnis, welches dessen Mittelbarkeit über das Computerinterface vergessen lässt. Gemäß der Definition Janet Murrays handelt es sich um "[...] a metaphorical term derived from the physical experience of being submerged in water. We seek the same feeling from a psychologically immersive experience that we do from a plunge in the ocean or swimming pool: the sensation of being surrounded by a completely other reality, as different as water is from air, that takes over all of our attention, our whole perceptual apparatus." (vgl. Murray 1997, 98). Für eine kritische Revision dieses Immersionsbegriffs vgl. dagegen Neitzel 2008, 101. -Niewerth – Heiße Töpfe. Digital Humanities und Museen am Siedepunkt - Seite 1 von 12 "There are no objects in cyberspace, only collections of attributes given names by travellers, and thus assembled for temporary use, only to be automatically dismantled again when their usefulness is over, unless they are used again within a short time-span. Thus useful or valued objects remain, while others simply decay. These collections of attributes are assembled around nameless nodes in information spaces." (Novak 1991, 235) Hannah Arendt beschreibt in ihrer Vita Activa die materiellen Dinge als jene die Zeit überdauernden Zeugnisse menschlicher Schaffenskraft, welche die Kontinuität von Kultur erst gewährleisten (vgl. Arendt 1958/2013, 113f.). Hiermit ist im Grunde bereits der raison d'être des Museums benannt, nämlich diese Zeugnisse zu bewahren, indem es sie aus den sie langsam verzehrenden Kreisläufen des Gebrauchs, Konsums und Warenverkehrs herauslöst und sie zu Medien von Bedeutungsinhalten macht – oder in den Worten Friedrich Waidachers: Das "Sosein" der Objekte tritt im Zuge der Musealisierung in den Hintergrund, während ihr "Für-uns-sein" akzentuiert wird (Waidacher 2000, 4). Die römische Vase und der mittelalterliche Kelch stehen nicht mehr vorrangig als Behältnisse im Museum, die sich befüllen ließen, sondern als Belege eines bestimmten Konzepts von historischer 'Wirklichkeit' (vgl. ebd., S. 3). Ihr Erhalt ist also an ihre Loslösung von ihrer ursprünglichen Funktionalität gekoppelt (vgl. Assmann 1999, 31). Im Cyberspace hingegen verhält es sich genau andersherum – hier wird das bewahrt, was genutzt wird. Ja mehr noch: Die Nutzung in Form des Abrufs lässt das Objekt als solches erst existieren, veranlasst also seine Aktualisierung aus der Potentialität des Codes in die Tatsächlichkeit des Interfaces und damit die Realität des Nutzers. So ist eine Bilddatei bspw. zunächst nichts weiter als eine Ansammlung numerischer Farbwerte, die cartesischen Koordinaten auf einem zweidimensionalen Raster zugeordnet sind (vgl. Kittler 2002, 179). Ein 'Bild', das sich als kulturelles Objekt wahrnehmen, deuten und diskutieren lässt, entsteht daraus erst, wenn entsprechende Software diesen aus diskreten Elementen zusammengesetzten "Text" (ebd.) ausliest und in eine tatsächliche Farbverteilung auf einem Bildschirm übersetzt. In den Texten zur Phänomenologie des inneren Zeitbewusstseins identifiziert Edmund Husserl bestimmte Objekte der menschlichen Wahrnehmung, die uns nicht als ein abgeschlossenes Ganzes im Raum gegenübertreten (wie dies z.B. ein Gemälde oder eine Skulptur tun), sondern die sich vielmehr entlang der Zeitachse entfalten – wie z.B. ein Musikstück oder die Sprache. Husserl nennt solche Wahrnehmungsgegenstände Zeitobjekte: Der Modus, in dem wir sie erfahren, ist jener der linearen chronologischen Abfolge ihrer Einzelelemente (vgl. Husserl 1985/hier 1905-1907, 125ff.). Sie entsprechen darin dem Funktionieren unseres Bewusstseins selbst, das gemäß Bernard Stiegler "wesentlich Dauer, und somit Verfließen" ist (Stiegler 2009, 71, Hervorhebung D.N.). Ein digitales Objekt wie das genannte Bild, das auf einem Computerbildschirm erscheint, belegt eine merkwürdige Grauzone zwischen einem in räumlicher Gänze präsenten, materiellen 'Ding' und den ephemeren Zeitobjekten Husserls. Einerseits tritt es uns als eine im Raum abgeschlossene Erscheinung gegenüber, die eine materielle Qualität besitzt (ein Bildschirm lässt sich berühren), andererseits ist es aber sowohl technisch als auch ästhetisch flüchtig: Der dem Bild zugrunde liegende Code ist selbst ein serielles Zeitobjekt, das wie Sprache und Schrift 'gelesen' werden muss, und das Computerbild ist auf dem Monitor anders als das Gemälde auf der Leinwand immer nur Gast. Das 'flüssige' digitaler Kulturen ist, dass die Inhalte nicht mehr in ihre Medien eingraviert sind – sie fließen nur mehr durch sie hindurch. In jüngsten Jahren ist eine weitere Metaphorik des Digitalen in Erscheinung getreten, welche das Bild des Überganges von einer 'festen' oder 'starren' in eine 'flüssige' Medienkultur logisch fortsetzt und sich am deutlichsten wohl im epidemisch gewordenen Gebrauch des Begriffs cloud computing niederschlägt: jene des Dampfes. Eine überaus hellsichtige und konzise Zusammenfassung der sich mit der Dampf-Metapher verbindenden Erwartungshaltung liefert überrschender-, vielleicht aber auch bezeichnenderweise ein ComicAutor: namentlich der Brite Alan Moore, dessen Comicfigur "V" mit der Guy Fawkes-Maske den Netzaktivisten der Anonymous-Bewegung ihr Gesicht leiht. Im Dokumentarfilm The Mindscape of Alan Moore (UK 2005, Dez Vylenz) schlägt dieser eine Brücke zwischen der Flüssigkeitsmetapher und jener häufig als 'Wissensexplosion' charakterisierten Entwicklung des 20. Jahrhunderts, in deren Zuge sich die Transistorenzahlen auf integrierten Schaltkreisen ebenso exponentiell erhöhen wie die Häufigkeiten von 2 Paradigmenwechseln in den Wissenschaften. Seiner Ansicht nach befindet sich die Welt in einem sich rasant beschleunigenden Prozess sozialer und kultureller 'Erhitzung', an dessen Ende ein neuer Aggregatzustand unserer Kultur stehen könnte: "History is a feat, is the feat of accumulated information and accumulated complexity. As our culture progresses, we find that we gather more and more information and that we slowly start to move almost from a fluid to a vapor state, as we approach the ultimate complexity of the social boiling point. I believe our culture is turning to steam." (The Mindscape of Alan Moore 2005, Hervorhebungen D.N.) 2 Gemeint sind hier das aus Beobachtungen Gordon E. Moores abgeleitete Mooresche Gesetz (vgl. Moore 1965, passim) sowie das von Ray Kurzweil daraus entwickelte Law of Accelerating Returns (vgl. Kurzweil 2001, online). -Niewerth – Heiße Töpfe. Digital Humanities und Museen am Siedepunkt - Seite 2 von 12 Moores Prognosen finden ihre computerwissenschaftliche Entsprechung im Ende der 1980er Jahre von Mark Weiser geprägten Begriff des Ubiquitous Computing. Weiser beschreibt mit diesem ein neues Verhältnis zwischen Mensch und Computer, welches im 21. Jahrhundert das Desktop-Prinzip ablösen soll: An die Stelle des klobigen, ortsgebundenen Tischrechners werde, so seine These, eine Vielzahl kompakter, tragbarer Geräte treten und mit ihnen eine völlig nahtlose Integration digitaler Datenverarbeitung in unseren Alltag. Anstatt in einer "world of its own" (Weiser 1991, 94) gefangen zu sein, soll der Rechner seinen Nutzer nun überall hin begleiten – dabei aber zugleich ein so selbstverständliches Werkzeug des Alltagslebens werden, dass sein Vorhandensein fast nicht mehr wahrgenommen wird. Ubiquitous sollen in diesem Sinne nicht nur die mitgeführten Geräte selbst sein, sondern auch die Möglichkeiten des Zugriffs auf Netzwerke und Datenbanken (vgl. ebd.). Weiser sieht in dieser Entwicklung dabei ein Gegenmodell zur Virtual Reality: Wo diese den Nutzer nämlich über immersive Interfaces völlig in Scheinwelten transportieren möchte, will Ubiquitous Computing die vermeintliche Grenze zwischen analoger und digitaler Welt verwischen und das Virtuelle übergangslos und unwahrnehmbar ins 'Reale' integrieren (ebd., 94ff.). Weiser nennt sogar drei konkrete Größenordnungen von Geräten, welche seiner Ansicht nach Trägermedien dieses technokulturellen Wandels sein werden: Tabs, Pads und Boards. Tabs sollen als kleinste Geräte etwa die Dimensionen von Notizblöcken aufweisen, Pads ungefähr Büchern oder Zeitschriften entsprechen, und Boards schließlich – wie der Name schon sagt – im Schultafelformat in Erscheinung treten (vgl. ebd., 98). Weisers über zwanzig Jahre alte These, man werde in naher Zukunft je nach Anlass leicht 100 Tabs, 10-20 Pads und ein oder zwei Boards im selben Raum antreffen können (vgl. ebd.), muss jedem Teilnehmer der diesjährigen MAI-Tagung geradezu prophetisch erscheinen (fand diese doch im Licht und Schatten zweier großer Twitterwalls statt) und hat die unter technologischen Zukunftsvisionen seltene Ehre, von der tatsächlichen Entwicklung eher noch übertroffen worden zu sein. Mit dem Siegeszug von Smartphones und Tablet-Computern ist elektronische Datenverarbeitung im vergangenen Jahrzehnt mehr und mehr ortlos geworden. Information fließt nicht mehr nur fluide und veränderlich durch klar lokalisierbare Datenkanäle, die nur von ebenfalls fest verorteten Terminals aus angezapft werden können. Vielmehr sind wir umgeben von einem Nebel oder Miasma computerisierter Kommunikationsprozesse, in welchen sich die Positionen von Sendern und Empfängern nicht mehr ohne weiteres als punktuelle Koordinaten ausdrücken lassen. Die Metaphorik von 'Dampf' und 'Wolke' akzentuiert gerade dieses Zusammenspiel von Allgegenwart und Unbestimmtheit – die Partikel in einer Dampfwolke befinden sich eben in Zuständen ständiger Bewegung und chaotischer Wechselwirkung. Was sich in dieser Entwicklung vor allen Dingen zeigt, ist eine 3 Verschärfung jener Tendenz, die dem Phänomen 'Digitalisierung' insgesamt innezuwohnen scheint: Das funktionale Primat des Mediums ist nicht der Speicher, sondern der Abruf. Von Interesse sind nicht die Räume und Materialien, an denen Information eingeschrieben ist (und die es freilich immer noch gibt – auch in Zeiten der Clouds dreht sich bei jedem Datenzugriff irgendwo eine Festplatte), sondern vielmehr ihre positionsunabhängige Verfügbarkeit. Das vorliegende Paper kann und will keine umfassende Theorie der Rolle des Museums in dieser neuen medialen Kultur entwerfen. Vielmehr möchte ich im Folgenden zwei etablierte Größen unseres kulturellen Ökosystems – namentlich die Geistes- und Kulturwissenschaften einer- und die Institution Museum andererseits – innerhalb dieses augenblicklich stattfindenden Medienwandels verorten und auf ihre Bedeutung füreinander befragen. 2. 'Digital Humanities' – Geisteswissenschaften im Informationszeitalter Geisteswissenschaftler erleben die Auswirkungen der neuen Medien längst in jedem Aspekt ihres Arbeitsprozesses. Von der Themenfindung über die Recherche nach Literatur und Quellenmaterial bis hin zur tatsächlichen Textentstehung wird kaum mehr ein Handschlag ohne digitale Schützenhilfe getan (vgl. Greenstein 2003, 60f.). Nachdem der Computer als virtuelle Schreibmaschine schon seit Jahrzehnten selbstverständliches Arbeitswerkzeug ist, lösen nun auch Suchmaschinen physische Bibliothekskataloge ab, wo Literatur und Quelleneditionen nicht ohnehin schon online verfügbar sind. Zitationssoftwares machen unhandliche Zettelkästen überflüssig. Plagiate werden sich in Zukunft zunehmend aufspüren lassen, ohne dass die betreffenden Texte überhaupt noch von Menschen gelesen, ja geschweige denn verstanden werden müssten. Nach und nach verliert sogar die gedruckte Veröffentlichung ihren Status als Goldstandard wissenschaftlicher Glaubwürdigkeit: Online-Journals für die verschiedensten Disziplinen schießen seit der 3 Es sei hier im Übrigen eingeräumt, dass der Begriff 'Digitalisierung' die hier behandelte Vielheit technologischer und kultureller Erscheinungen für sich genommen nur unzureichend beschreibt und in gewisser Hinsicht eine Verlegenheitsbezeichnung darstellt, die gänzlich auf einem verbindenden technischen Merkmal ihrer Trägertechnologien basiert. Wie weiter oben ja bereits ausgeführt wurde, läuft deren Wirkung aber eben gerade auf ein Verschwinden der wahrnehmbaren Grenze zwischen Digitalität und 'analoger' Welt hinaus. -Niewerth – Heiße Töpfe. Digital Humanities und Museen am Siedepunkt - Seite 3 von 12 Jahrtausendwende wie Pilze aus dem Boden – was sich nicht zuletzt auf schrumpfende Bibliotheksetats und die daraus resultierenden sinkenden Absatzzahlen für wissenschaftliche Druckwerke zurückführen lässt (vgl. Fitzpatrick 2011, 3f.). Die Geburtsstunde dieses später zunächst als Humanities Computing bezeichneten Problembereichs im Überlappungsfeld von Geisteswissenschaft und Computerisierung wird meist im Jahre 1949 verortet. Zu diesem Zeitpunkt hatte der italienische Jesuitenpater Roberto Busa nichts bescheideneres als das Projekt ins Auge gefasst, einen kompletten Index sämtlicher Wörter in den mittellateinischen Originaltexten des Thomas von Aquin zu erstellen. Wohl wissend, dass dieses Unterfangen 'von Hand' nur mit enormem Zeitund Personalaufwand durchzuführen sein würde, wandte Busa sich hilfesuchend an den damaligen IBMGeschäftsführer Thomas J. Watson. In den folgenden Jahren wurde mit Unterstützung des amerikanischen Computerfabrikanten der gesamte zu analysierende Textkorpus auf Lochkarten übertragen, die anschließend maschinell ausgewertet werden konnten. Die gedruckten Bände des Index Thomisticus erschienen ab 1974, gefolgt von einer CD-Rom-Version im Jahre 1992 (vgl. Hockey 2004, online). 1987 versammelte sich eine geographisch wie fachlich gleichermaßen weit verstreute Gruppe von Wissenschaftlern mit einer auf den ersten Blick eher spröden Zielsetzung unter dem Banner der Text Encoding Initiative (TEI): Es galt ein Standardformat für die digitale Codierung geistes- und sozialwissenschaftlicher Texte auszuarbeiten, um elektronische Ressourcen für Forscher der betreffenden Felder besser und einfacher verfügbar zu machen. Die TEI benötigte bis 1994, um ihre bis in die Gegenwart gültigen TEI Guidelines fertig zu stellen (vgl. TEI 2007, online). Ihre Veröffentlichung fiel also genau in die Take-Off-Phase des World Wide Web und machte es den Geisteswissenschaften möglich, dessen explosive Entwicklung von Anfang an zu begleiten und zu nutzen. Gegen Ende der 1990er Jahre begann der Begriff 'Humanities Computing' zunehmend dem neueren Terminus der Digital Humanities zu weichen (vgl. Hockey 2004, online). Der Hauptgrund für diesen Begriffswechsel war ein geweiteter Blick der Geisteswissenschaften auf ihren Umgang mit digitaler Technik: Hatte beim Humanities Computing der Computer noch in erster Linie als Werkzeug zur Auswertung und Beherrschbarmachung von Texten im Mittelpunkt gestanden, fragten die Digital Humanities nun sehr viel umfassender nach den Aufgaben und Möglichkeiten der Computernutzung im Forschungsbetrieb (vgl. Schreibman; Siemens; Unsworth 2004, online). Damit ist zugleich eine Neubewertung der entsprechenden Technologien insgesamt angezeigt, denn aus dieser Warte erscheinen sie weder als bloße passive Instrumente, die es in ihrer Effizienz und Verfügbarkeit zu optimieren gilt, noch als reine Forschungsobjekte, die auf den Forschenden nicht zurückwirken. Vielmehr nehmen sie den Charakter mächtiger Katalysatoren eines tiefgreifenden Strukturwandels an: Dem Interessengebiet der Digital Humanities liegt die Einsicht zugrunde, dass die Eigendynamiken digitaler Medien in hohem Maße die Modalitäten verändern, innerhalb derer die Wissenschaft Wissen schafft und sich in der sie umgebenden Gesellschaft positioniert. Dieser Prozess ist in den vergangenen Jahren häufig als der Computational Turn charakterisiert worden (vgl. Barry 2011, 11), und von dieser Vorstellung ausgehend ist mit dem begrifflichen Übergang von 'Humanities Computing' zu 'Digital Humanities' auch ein neues Selbstbewusstsein der Vertreter dieses Forschungsansatzes verbunden: Sie treten nicht länger als methodische Zulieferer für die etablierten Disziplinen der Geisteswissenschaften auf, sondern als fachlich souveräne Analysten und Praktiker einer bereits im Vollzug befindlichen Medienrevolution (vgl. ebd., 2). Symptomatisch für diesen Blick auf die technologisch-medialen Bedingungen der eigenen Arbeit ist Kathleen Fitzpatricks 2011 erschienene Monographie Planned Obsolescence, in welcher sich die Autorin mit der wissenschaftlichen Veröffentlichungspraxis der Gegenwart im Spannungsfeld von Traditionalismus an den Universitäten, sinkender Rentabilität von Druckveröffentlichungen (verbunden mit immer schlechteren Aussichten gerade für junge Forscher, ihre Arbeit publik zu machen) und neuen – eben digitalen – Publikationskanälen auseinandersetzt. Dabei ist der Titel bereits programmatisch für die Entwicklung, welche die Autorin in Aussicht stellt: Die Zukunft des akademischen Betriebes gehöre nicht mehr den monumentalen, in mehrjähriger einsamer Arbeit und mehrhundertseitigem Umfang produzierten Forschungsarbeiten, welche auf Jahrzehnte hinaus den Kontext jeder Diskussion über ihr jeweiliges Thema vorzugeben trachten. An ihre Stelle soll vielmehr eine ebenere Forschungslandschaft kürzerer und auf schnelleren Wegen veröffentlichter Arbeiten mit deutlich reduzierten Halbwertszeiten treten (vgl. Fitzpatrick 2011, passim). Der ursprünglich aus der Warenökonomie stammende Begriff der geplanten Obsoleszenz, der jene Produktstrategie beschreibt, welche die Lebensdauer von Industriewaren durch eingebaute Schwachstellen oder regelmäßig erscheinende Nachfolgemodelle limitiert, wird also auf kulturwissenschaftliche Einsichten ausgedehnt. Forscher sollen dementsprechend beginnen, anstelle eines wie auch immer gearteten Ewigkeitsanspruchs auf die unvermeidliche Überkommenheit ihrer Arbeit zu spekulieren und ihre Texte nicht als "discrete products", sondern als "locus of conversation" (ebd., 155) verstehen. -Niewerth – Heiße Töpfe. Digital Humanities und Museen am Siedepunkt - Seite 4 von 12 Auch in der Wissenschaft erleben wir also ein 'Verdampfungs'-Phänomen. Nicht mehr die Stabilität von Forschungsarbeiten und den Ressourcen, aus denen sie hervorgehen, wird verlangt, sondern vielmehr deren Malleabilität und Verfügbarkeit. Wissenschaftliche Schriften sollen weniger Monument sein und mehr Performance und Bricolage, die zur sofortigen Weiterverwertung einlädt – womit sich zugleich die Trägerund Autorschaft der Forschung vom einzelnen Forscher und der kleinen Gruppe auf (welt-)weit verteilte und vernetzte Kollektive und 'Schwarmintelligenzen' verlagert. Die Digital Humanities folgen damit dem Beispiel kreativer Netzkulturen wie z.B. der Mash-Up-Szene. 3. Eine alternative Mediengeschichte des (virtuellen) Museums Eine solche Verschiebung in Akteurskonstellation und institutionell-disziplinärem Rahmen muss unweigerlich auch die Frage nach der Beziehung der betroffenen Wissenschaftszweige zu jenen Einrichtungen aufwerfen, die mit der Bewahrung unseres kulturellen Gedächtnisses und damit zugleich dem Erhalt der historischen Kontinuität unserer Lebenswelt insgesamt beauftragt sind. Die Digital Humanities haben sich hier bisher überwiegend mit solchen befasst, deren Bewahrungsauftrag zuvorderst auf Texte gerichtet ist: Im 4 Mittelpunkt ihres Interesses stehen Bibliotheken und Archive, deren Digitalisierung sich (vergleichsweise ) unsperrig gestaltet. Zwar können auch Akten und Bücher auratische Anmutungsqualitäten entfalten, aber zumindest auf der formalen Inhaltsseite lassen sie sich durch einfaches Abfotografieren, Einlesen über einen Scanner oder auch die Umwandlung in Reintext weitgehend verlustfrei reproduzieren. Das Museum hingegen fliegt immer noch unter dem Radar der Digital Humanities, obschon – wie die MAI-Tagung ja jedes Jahr wieder eindrucksvoll unterstreicht – das Gespenst der Digitalisierung in den Museen nicht weniger umgeht als in den Archiven und Bibliotheken. Dies mag auf den ersten Blick überraschen, ist auf den zweiten aber durchaus folgerichtig. Denn das Museum ist, wie Jan Assmann schreibt, historisch als eine 5 Maschinerie der Kanonisierung und Teil eines "säkularen Heiligen" (Assmann 1999, 31) gewachsen , womit es eine Manifestation des "monumentalen Gedächtnisses" (ebd.) darstellt. Insofern scheint sich in ihm ein kulturphilosophisches und -politisches Programm abzubilden, welches der Stoßrichtung der Digital Humanities völlig zuwiderläuft. Als monumentale Orte haben Museen einen Bewahrungs- und Fixierungsauftrag, der sich auf Bedeutung und Material richtet und dessen praktische Ausformung sich gestrafft mit dem von Gottfried Korff immer wieder betonten Begriffspaar "deponieren und exponieren" (z.B. Korff 1999, 327) beschreiben lässt. Während das Papier in Archiv und Bibliothek vorrangig als Träger für Texte dient, die in Reproduktion den Verlust von Buch oder Akte überleben können, ist im Museum – um den zweifellos mittlerweile überstrapazierten Ausdruck Marshall McLuhans zu bemühen – das Medium in Form des Exponats wenn auch nicht die ganze, so doch ein bedeutender Teil der Botschaft (vgl. McLuhan 1968, 19). Museumsdinge und die sie umgebenden Institutionen lassen sich nicht so leicht 'verdampfen' wie die Zeichenfolge eines Textes. Das Museum als architektonischer Raum und das museale Objekt als materielles Ding bedingen einander: Ein Buch kann man aus der Bibliothek entleihen und zuhause lesen, weil es einen abgeschlossenen Bedeutungskorpus darstellt. Das Museumsding hingegen entsteht als solches erst durch seine Präsenz im Museum, indem es der Gebrauchswelt entzogen und als Brückenschlag zwischen materiellem an- und diskursivem Abwesenden inszeniert wird (vgl. Pomian 1988/2007, 41ff.). Heinrich Theodor Grütter beschreibt diesen Prozess folgendermaßen: "Durch die Loslösung des Objektes aus seinem ehemaligen Entstehungszusammenhang, die Separierung und die Einordnung in einen neuen Bedeutungszusammenhang, der von dem ursprünglichen Kontext grundverschieden ist, die Inszenierung, wird das Objekt vom Gebrauchsgegenstand zum Exponat. Das Objekt ist zwar real, aber es befindet sich nicht mehr im Realen." (Grütter 1997, 671) In diesem Sinne existieren Museumsdinge also immer nur im Museum, und Museen immer nur um Objekte herum, die ganz unmetaphorisch 'starr' sind: als physikalische Körper mit einer bestimmten Ausdehnung und Peripherie in einem Raum, der architektonisch und institutionell so beschaffen und ausgewiesen ist, dass die in ihm enthaltenen Objekte als Träger kulturellen Sinns erkannt und erlebt werden können. Kehren wir zu Alan Moores Bild einer sich 'aufheizenden' und 'verdampfenden' Kultur zurück, so nimmt sich das Museum 4 Ich möchte hier keineswegs die vielfältigen technischen und erhaltungskritischen Probleme trivialisieren, die mit der digitalen Reproduktion von Archiv- und Bibliotheksbeständen einhergehen. Mir geht es an dieser Stelle einzig um die spezifische mediale Funktionalität der Originale, die bei Texten leichter in die digitale Reproduktion zu überführen ist als bei Museumsobjekten. 5 Man denke hier auch an den Wortursprung: Das griechische Wort μουσε ῖον beschrieb ursprünglich das "Heiligtum" der Musen – also eine Kultstätte, an welcher den Göttinnen der Künste gehuldigt wurde. Die Ausweitung des Begriff auf Lehrstätten für Kunst und Philosophie, wie sie sich z.B. am Museion von Alexandria zeigte, erfolgte erst später (vgl. Lübker 1914/2005, 685). -Niewerth – Heiße Töpfe. Digital Humanities und Museen am Siedepunkt - Seite 5 von 12 auf den ersten Blick wie ein anachronistischer Kühlschrank der Bedeutungen und semiotischen Zuweisungen von Zeichen und Bezeichnetem aus, eingefroren in sperrigen Gefügen aus Dingen und Architekturen, während die Welt rundherum kocht und brodelt. Die Museologie argumentiert interessanterweise oft ganz ähnlich, wenn auch mit deutlich anderer Wertung, wenn es um das Verhältnis zwischen Museen und digitalen Medien geht. Sicher hat es zwischen den 1960er und 1990er Jahren immer wieder Wellen der Begeisterung für den Einsatz neuer Informationstechnologien 6 in der und um die Museumsarbeit herum gegeben. Wiederholt haben diese auch Überlegungen zu einem eventuellen Endspiel der Digitalisierung in einem "Meta-Museum" (vgl. MacDonald; Alsford 1997, passim) oder einem "virtuellen Weltmuseum" (Schweibenz 2001, 4) angestoßen. Mittlerweile jedoch stellen sich nur noch vereinzelte Museumsforscher einschränkungslos hinter die Idee eines "virtuellen", "digitalen" oder auch schlicht eines "Internet-Museums", das der physischen Institution ebenbürtig sein könnte. Die Kernfragen im Umgang mit den medialen Tendenzen der Gegenwart sind – wie sich dies ja auch im Rahmen der MAITagung zeigt – praktischer Natur und verorten digitale Angebote überwiegend im Vorfeld des Museums: Wie weit kann man aus kuratorischer Sicht die Digitalisierung treiben, bevor man die eigene Institution überflüssig macht? Wie gibt man online gerade so viel von sich preis, dass dem User der Besuch im 'realen', physischen Museum nicht etwa abgenommen, sondern schmackhaft gemacht wird? Wie bindet man digitale Medien sowohl in- als auch außerhalb des Museums so in Ausstellungskonzepte ein, dass sie diese bereichern, ohne die Autorität der 'echten' Exponate zu untergraben? Gerade unter dem Eindruck einer 'verdampfenden' Kultur scheinen sich die Museen verstärkt als Wächter und Anwälte des Materiellen zu verstehen. Ihr Aufgehen in den neuen medialen Formen wird in weiten Teilen weder für möglich noch für erstrebenswert gehalten. Einen entschiedenen Gegenentwurf zu dieser Lesart des Museums schlägt der an der University of Leicester lehrende Museumskundler Ross Parry in seiner 2006 erschienenen Monographie Recoding the Museum vor – und zwar, ohne dabei die gesellschaftliche Funktion und Bedeutung der klassischen Institution infrage zu stellen. Sein Ansatz ist es dabei, die Frage nach der Digitalisierbarkeit des Museums nicht nur von der Seite seiner Materialität her anzugehen, sondern auch seine funktionale Logik als mediales Vermittlungssystem in den Blick zu nehmen. Dieser Perspektivwechsel ermöglicht es Parry, einen eigenartigen Zwiespalt in der Beziehung von Museum und Computer zu erkennen: Denn während sich das Museum in seiner Physikalität und der seiner Objekte (bzw. den epistemischen und affektiven Eigenarten, die mit dieser eingehen) der Verwandlung in ein körperloses Digitalisat stur widersetzt, weist es in seinen Kommunikationsstrukturen deutliche Parallelen mit dem Vernetzungsparadigma des Computerzeitalters auf. Museen bestücken Räume mit Objekten, die für sich allein genommen immer nur offene Informationsfragmente sein können und die dem Besucher gegenüber erst dann Aussagen zu formulieren beginnen, wenn der sie beherbergende Ausstellungsraum assoziativ, prozedural und navigierend erschlossen wird. Darin sind Museen für Parry gewissermaßen Prototypen einer Form von modularer Wissensorganisation, die im 20. Jahrhundert zunächst in Form von Zettelkästen und Indexkartensystemen enorme Zugkraft entwickelte, bevor sie über Netzwerkarchitekturen und Hypermedia zur bestimmenden Idee des Informationszeitalters wurde (vgl. Parry 2006, 79ff.). Oder zugespitzt: "A machine that processed data, that could provide an alternative representational space and that could generate simulacra, was highly compatible with practices already present in both curatorship and the visiting experience. Simply put, before computing came along, museums had already been performing many of the functions of computers." (ebd., 81). An dieser Stelle ist ein kleiner mediengeschichtlicher Exkurs sinnvoll. Im Jahre 1945 schlug Vannevar Bush, der damalige Leiter des amerikanischen Office of Scientific Research and Development (jener Organisation also, die 1948 von der RAND Corporation abgelöst werden sollte) ein neues Abrufsystem für wissenschaftliche Erkenntnisse vor. Bush war im zweiten Weltkrieg die Aufgabe zugefallen, die einzelnen Forschungsanstrengungen zahlreicher und räumlich weit verstreuter Wissenschaftler und Laboratorien zu koordinieren (vgl. Krameritsch 2007, 114). Mit Rückblick auf diese Tätigkeit befand er nach Kriegsende in seinem Text As We May Think die etablierten Archivierungs- und Abrufmechanismen, die meist auf rigider Systematisierung, Kategorisierung und Verschlagwortung basierten, für eines solchen Unterfangens nicht mehr angemessen. Sie seien viel zu artifiziell und entsprächen nicht der Art, wie das menschliche Gehirn Informationen speichert und abruft: 6 Vgl. für eine historische Überblicksdarstellung zur Computernutzung in Museen Jones-Garmil 1997, passim. -Niewerth – Heiße Töpfe. Digital Humanities und Museen am Siedepunkt - Seite 6 von 12 "The human mind does not work that way. It operates by association. With one item in its grasp, it snaps instantly to the next that is suggested by the association of thoughts, in accordance with some intricate web of trails carried by the cells of the brain. It has other characteristics, of course; trails that are not yet frequently followed are prone to fade, items are not fully permanent, memory is transitory. Yet the speed of action, die intricacy of trails, the detail of mental pictures, is awe-inspiring beyond all else in nature." (Bush 1945, online, Hervorhebung D.N.) Bush macht seine Kritik an den Bedingungen des Datenabrufs Ende der 1940er Jahre an der Institution der Bibliothek fest. Eine Auseinandersetzung mit dem Museum wäre für ihn sicher erhellend gewesen, leistet dieses doch genau jene assoziative, pfadabhängige Form der Vermittlung, in der Bush das Kernmerkmal der menschlichen Kognition schlechthin sieht. Er selbst antwortet indes auf dieses Vermittlungsproblem mit der Idee einer Maschine namens Memex (zusammengesetzt auf den Worten Memory und Index). Die MemexMaschine wäre − hätte man sie jemals tatsächlich gebaut − ein mechanisch-analoges System etwa in Form eines Schreibtisches gewesen, versehen mit einer Tastatur und zwei Projektionsschirmen (Abb. 1). Als Speichermedium sah Bush Mikrofilmrollen vor. Während einer der beiden Schirme der Wiedergabe bzw. Vergrößerung von Mikrofilmbildern gedient hätte, war der andere zum Vornehmen von Einträgen konzipiert, die dann ihrerseits auf Mikrofilm abfotografiert und mechanisch mit existierenden Inhalten verknüpft werden sollten (Abb. 2) (vgl. ebd.). Obwohl Memex ein Gedankenspiel blieb, wurde As We May Think zu einem der zentralen Texte in der Theoriegeschichte einer neuen medialen Ausdrucksform, die in den 1960er Jahren vom Soziologen Theodore Holm Nelson den Namen Hypertext erhielt (vgl. Krameritsch 2007, 114, 117f.) und ihren technischen Unterbau nicht in einzelnen analogen Maschinen, sondern vornehmlich in Computernetzwerken finden sollte. Der Begriff 'Hypertext' beschreibt modularisierte Textkörper, die nicht mehr wie klassische Texte seriell von vorne nach hinten gelesen werden müssen, sondern deren einzelne Elemente frei arrangierbar und in ihrer inhaltlichen Beschaffenheit hochgradig von den Navigationsentscheidungen ihrer Leser abhängig sind. In diesem Sinne entsprechen Hypertexte (auch, wenn sie in analoger Form auftreten können) ihrer ganzen Wesensart nach dem Primat des Prozesshaften, welches Digitalisierungsphänomene kennzeichnet. Seine zugkräftigste Umsetzung erlebte das Prinzip Hypertext dementsprechend in Form des Hypertext Transfer Protocol (HTTP) und der Hypertext Markup Language (HTML) − jenen zwei Säulen also, auf die Tim Berners-Lee Anfang der 1990er Jahre das World Wide Web gestellt hat (vgl. ebd, 119). Abbildung 1: Skizze der Memex und ihrer 'Benutzeroberfläche' aus dem Jahre 1945, gefunden auf der Homepage des Computer History Museum, http://www.computerhistory.org/revolution/the-web/20/370/2111, gesehen am 14.07.2013. -Niewerth – Heiße Töpfe. Digital Humanities und Museen am Siedepunkt - Seite 7 von 12 Abbildung 2: Skizze der Memex und ihrer 'Benutzeroberfläche' aus dem Jahre 1945, gefunden auf der Homepage des Computer History Museum, http://www.computerhistory.org/revolution/the-web/20/370/2111, gesehen am 14.07.2013. Heute schlagen sich die Akteure von Netzkultur(en) und Netzökonomie(n) mit Problemen herum, die Museumsschaffende schon seit der Entstehung ihrer Institution zu bewältigen haben: Nämlich jenen der Sinnstiftung zwischen Bedeutungspartikeln, die für sich allein genommen keine (oder auch viel zu viele) Aussagen zu machen imstande sind. Von Datenbankarchitekten über Suchmaschinenbetreiber bis zu den diversen Interessengruppen und Konsortien, die sich mit der Schaffung von Standards für MetadatenFormate beschäftigen: Allenthalben kämpft man fiebrig darum, Kontigenzstrukturen in einem Wissenskorpus durchzusetzen, dessen sich stetig beschleunigendes Anschwellen (und vielleicht eben: dessen Verdampfung) allen Versuchen zu entfleuchen scheint, ihn noch in kontrollierbaren Sinnmustern einzufangen. Was im Museum durch physikalische Raumgestaltung passiert, geschieht im Web durch Verlinkung. Es ist vor allem den Arbeiten Werner Schweibenz' zu verdanken, dass sich der Begriff des 'virtuellen Museums' im deutschen Diskurs weitgehend als Standardbezeichnung für museale Angebote im Netz durchgesetzt hat. Schweibenz wiederum entlehnt ihn u.a. den Begrifflichkeiten des amerikanischen Medienpädagogen Glen Hoptman (vgl. Schweibenz 2001, 11f.), der ihn seinerseits an das Konzept der Connectedness bindet. Dieses beschreibt den Mehrwert hypertextueller Vernetzung: Während bei einer linearen Anordnung von Wissenselementen immer nur eine Geschichte erzählt werden kann, erlaubt ein Netz es denselben Elementen, eine Vielzahl von Bedeutungsebenen zu entfalten − abhängig davon, in welcher Reihenfolge, mit welchen Voraussetzungen, ja schlechterdings wie sie vom Rezipienten angesteuert werden (vgl. Hoptman 1995, passim, insbes. 146ff.). Dieser Mehrwert ist im besten Sinne des Wortes 'virtuell', wobei ich hier mit dem 'besten' Sinn jenen meine, der dem Wortursprung gerecht wird. Umgangssprachlich ist der Virtualitätsbegriff heutzutage überwiegend negativ konnotiert, es schwingt in ihm meist eine Implikation von Täuschung mit, vor allem einer Täuschung durch Computer. Das Virtuelle erscheint hier als das defizitäre Gegenüber des Realen: Wenn Kinder an der Konsole statt im Garten spielen, machen wir uns Sorgen, dass sie 'echter' und entwicklungsrelevanter Erfahrungen beraubt werden, in der Facebook-Freundschaft sehen wir einen blutleeren Ersatz für reale Bindungen in einer immer oberflächlicher werdenden Gesellschaft. Tatsächlich ist Virtualität aber der Begriffsgeschichte nach durchaus nicht das Gegenteil von Wirklichkeit. Das Wort entstammt dem virtus, also der Mannestugend des römischen Bürgers, nämlich erst über den Umweg des Terminus virtualitas (vgl. Münker 2005, 244). Dieser beschrieb in der Scholastik des Mittelalters ontologische Zustände zwischen 'Sein' und 'Nichtsein'. Er stand dabei in enger Verbindung mit der aristotelischen Vorstellung, dass alles Reale nichts anderes sei als die Verwirklichung schon zuvor bestehender Möglichkeitspotentiale oder dynamis. Die Scholastiker verwendeten ihn dementsprechend synonym mit Begriffen wie implizit oder latent -Niewerth – Heiße Töpfe. Digital Humanities und Museen am Siedepunkt - Seite 8 von 12 (vgl. ebd.). In den 1960er Jahren griff zunächst Gilles Deleuze dieses Virtualitätskonzept wieder auf und beschrieb mit ihm den potentiellen, noch seiner Verwirklichung harrenden Bereich des Realen − womit er ihn also komplett innerhalb der Wirklichkeit verortete und ihm das 'Aktualisierte' gegenüberstellte (vgl. ebd., vgl. Deleuze 1968/1992, 264). Vilém Flusser beschrieb das Virtuelle ein Vierteljahrhundert später − auch hier wieder die Flüssigkeitsmetapher! − mit dem Bild eines "Ozeans der Möglichkeiten" (Flusser 1993, 65). Jede Welle auf der Oberfläche dieses Ozeans stellt für Flusser den Versuch einer Potentialität dar, 'real' zu werden. 'Virtuell' sind hier jene Wellen, die hoch genug schlagen, um wahrnehmbar zu sein, sich also vom reinen Möglichkeitszustand abheben, dabei aber immer noch nicht ganz ans 'Wirkliche' heranreichen (vgl. ebd., 65f.). Überträgt man diesen Virtualitätsbegriff auf das Museum, so landet man fast unweigerlich bei der auch von Ross Parry formulierten Überlegung, dass Museen schon immer zutiefst virtuelle Einrichtungen gewesen sind (vgl. Parry 2006, 75). Auch ohne digitales Beiwerk sind Museen Latenzräume von Wissen und Bedeutungen, virtuell verborgen in Objekten und ihrer Anordnung im Raum, stets die Aktualisierung durch den Besucher erwartend. In Franz Boas' 1907 entstandenem Aufsatz Some Principles of Museum Administration wird bereits genau dieses Phänomen beschrieben: Der Dreh- und Angelpunkt allen Kuratierens sei die Vieldeutigkeit der Objekte und ihre Fähigkeit, je nach Perspektive des Rezipienten und Einbindung ins museale Gesamtgefüge eine Vielzahl unterschiedlicher Geschichten zu erzählen. Jede Form von Ausstellungsgestaltung drehe sich letztlich darum, Objekte sinnvoll interpretierbar zu machen, dabei aber zugleich ihren virtuellen Aspekt zu bewahren: "In order to make a large series useful, the bulk of the material should be kept in such a manner that it is not only accessible at a moment's notice, but can also be examined from any point of view." (Boas 1907, 930, Hervorhebung D.N.) Das Museum muss also in eine mediengeschichtliche Kontinuität mit der 'Vernetzung' schlechthin gestellt werden. Obwohl es auf den ersten Blick einem monumentalen Speicherparadigma verhaftet zu sein scheint (eben der 'Kühlschrank'-Funktion), ist es tatsächlich ein durch und durch prozedurales Mediendispositiv − eine regelrechte Sinnmaschine, die nicht nur Bedeutungen abspeichert und wiedergibt, sondern sie vielmehr laufend zur Disposition stellt. Dabei tut das Museum aber immer etwas, was digitale Medien in Zeiten 'verdampfter' Medienkultur kaum mehr können: Es setzt dem Spiel der Möglichkeiten Grenzen, und diese Grenzen sind nicht etwa metaphorischer Natur, sondern sie sind eben – Wände. Bei allen Erfolgen des Formates 'Hypertext' verbindet sich mit ihm auch eine bis jetzt noch uneingelöste Utopie − jene nämlich, die Gesamtheit des menschlichen Wissens unter dem Dach eines einzigen Abrufsystems zusammenführen und dabei zugleich seine Sinnhaftigkeit wahren zu können, ohne den Rezipienten zu bevormunden. Diese Vision von der Universalität des Abrufbaren läuft nicht nur parallel zu der im Ubiquitous Computing ausformulierten Vorstellung von der allgegenwärtigen Möglichkeit des Abrufs, sie konvergiert vielmehr mit ihr. Das Museum weiß anscheinend schon seit seiner Entstehung das, was uns im Zusammenhang mit digitalen Medien erst im Laufe der vergangenen anderthalb Jahrzehnte bewusst geworden ist und von Roberto Simanowski in seinem Buch Interfictions auf den Punkt gebracht wurde: dass gerade der offene, nichtserielle, navigierbare Text zugleich neue Ebenen der Autorschaft hervorbringt und erfordert (Simanowski 2002, 69f.). 4. Schluss: Heiße Töpfe Die Diskussionen, die in den Geisteswissenschaften über die Digital Humanities geführt werden, ähneln durchaus jenen, welche die Digitalisierung im Museumssektor begleitet haben und bisweilen immer noch begleiten. Dies liegt durchaus nahe, ist doch auch die Wissenschaft ein vernetztes System: Fußnoten und Quellennachweise 'verlinken' Texte untereinander, womit jede wissenschaftliche Arbeit einen Knotenpunkt zwischen vielen anderen darstellt − und jedes Plagiat zugleich eine Reduktion jenes virtuellen SinnMehrwerts, der sich eben in ihrem Verbundensein versteckt (vgl. Mayer 2010, 74ff.). Traditionalisten der Geisteswissenschaften halten den Digital Humanities häufig vor, wie würden ihre Mutterdisziplinen eben jener Beliebigkeit preisgeben, welche für die Ära digitaler Medien so charakteristisch zu sein scheint (vgl. z.B. Fish 2012, online): Wo bleibt die fachliche Autorität, wenn Aufsätze und Bücher nicht mehr auf Papier gedruckt, sondern in permanenter digitaler Veränderlichkeit belassen werden? Wenn Quelleneditionen laufend modifiziert werden können und Urtexte kaum mehr auszumachen sind? Wenn der Besuch in Bibliothek und Archiv abgelöst wird vom Eintippen einiger Schlagworte in Suchmaschinen, deren Treffer sich einzig aus der statistischen Auswertung von Zugriffsmustern ergeben und welche für die tatsächlichen Inhalte völlig blind sind? Wenn die Maxime jederzeitigen und ortsunabhängigen Abrufs wichtiger wird als die Situiertheit der Produktion wissenschaftlicher Erkenntnisse in den Institutionen und Verhaltensregeln des akademischen Betriebs, wie sie sich z.B. in Veröffentlichungspraxis und Peer Review manifestieren? Die -Niewerth – Heiße Töpfe. Digital Humanities und Museen am Siedepunkt - Seite 9 von 12 große Gefahr am Übergang von der 'flüssigen' zur 'verdampften' medialen Umwelt scheint zu sein, dass wir unsere etablierten Orientierungspunkte verlieren und uns im Nebel der Virtualitäten verlaufen. Vielleicht würde es sich für die Digital Humanites lohnen, sich verstärkt mit dem Museum auseinanderzusetzen − als Fallstudie einer Institution, die wie die Geisteswissenschaften einen Medienwechsel zu vollziehen sucht, ohne dabei ihren historisch gewachsenen sozialen und kulturellen Ort aufzugeben. Sollten wir uns tatsächlich an jenem von Alan Moore beschworenen kulturellen Siedepunkt befinden, an welchem sich ein Großteil unserer kulturellen Kommunikation in die globale Cloud verflüchtigt, so lassen sich die Museen vielleicht am ehesten als 'heiße Töpfe' der Sinnproduktion charakterisieren: In ihnen finden fluide Prozesse der Aushandlung von Inhalten statt, aus ihnen steigt laufend der Dampf digitaler Reproduktionen, welcher nicht mehr einzufangen ist, aber um sie herum verläuft eine klare Grenze des Wirklichen, die den Ort der brodelnden Virtualität sichtbar macht. Das Museum als Institution, welche das Objekt erst zum Sinnträger werden lässt, verankert alle Reproduktionen und Simulationen seiner Exponate in der Autorität des Orginals − und damit immer auch in seiner eigenen. Damit leistet es einen Beitrag dazu, die kulturelle Welt der Analyse durch die Wissenschaften überhaupt erst zugänglich zu machen und das digitale Eigen- und Nachleben der Kulturgüter in Netz und Cloud noch im Zusammenhang verstehen zu können. Schon Jürgen Habermas sieht im Strukturwandel der Öffentlichkeit die Rolle des Museums in der "Institutionalisierung des Laienurteils über die Kunst" (Habermas 1962/1983, 57) und damit eben in einer Objektivierung kultureller Inhalte und Zusammenhänge, ohne die es sich subjektiv gar nicht über Kultur sprechen ließe. In diesem Sinne kann das Museum ein Lehrstück gerade für eine Wissenschaft sein, die sich der wachsenden Ortlosigkeit und medialen Unbestimmtheit ihres Gegenstandbereiches anpassen möchte, ohne sich in ihr zu verlieren. Umgekehrt können die Geisteswissenschaften − und ich hoffe, dies ist auch mir im Rahmen meines Vortrags und dieses Papers gelungen − dem Museum neue Wirkungsdimensionen seiner selbst aufzeigen, die im kuratorischen Alltag vielleicht nicht immer deutlich werden. Literatur 11 Arendt, Hannah ( 2013): Vita Activa oder Vom tätigen Leben. (Orig. The Human Condition, Chicago 1958) München und Zürich. Assmann, Jan (1999): Kollektives und kulturelles Gedächtnis. Zur Phänomenologie und Funktion von Gegen-Erinnerung. In: Ulrich Borsdorf und Heinrich Theodor Grütter (Hg.): Orte der Erinnerung. Denkmal, Gedenkstätte, Museum. Frankfurt am Main und New York. S. 13-32. Barry, David M. (2011): The Computational Turn: Thinking About the Digital Humanities. Culture Machine 12, http://www.culturemachine.net/index.php/cm/article/view/440/470, gesehen am 22.07.2013. Boas, Franz (1907): Some Principles of Museum Administration. Science 650, S. 921-933. Bush, Vannevar (1945): As We May Think. 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