Auswirkungen des RV-Altersgrenzen- anpassungsgesetzes

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Auswirkungen des RV-Altersgrenzen- anpassungsgesetzes
Rechtsprechung
Auswirkungen des
RV-Altersgrenzenanpassungsgesetzes
§ 2 Abs. 1 BetrAVG; §§ 35, 235 Abs. 2
Satz 2 SGB VI
Tritt nach einer Versorgungsordnung,
die vor dem RV-Altersgrenzenanpassungsgesetz entstanden ist, der Versorgungsfall mit Vollendung des 65.
Lebensjahres ein, ist sie regelmäßig dahingehend auszulegen, dass sie auf die
jeweilige Regelaltersgrenze in der gesetzlichen Rentenversicherung Bezug
nimmt.
(Leitsatz des Bearbeiters)
BAG, Urteil vom 15. Mai 2012 –
3 AZR 11/10
Problempunkt
Das BAG hatte sich erstmals mit der Frage zu
befassen, wie sich die Anhebung des gesetzlichen Rentenalters durch das „Gesetz zur Anpassung der Regelaltersgrenze an die demografische Entwicklung und zur Stärkung der
Finanzierungsgrundlagen der gesetzlichen Rentenversicherung“ vom 20.4.2007 (RV-Altersgrenzenanpassungsgesetz) im Rahmen der
betrieblichen Altersversorgung auswirkt.
Die Klägerin war vorzeitig bei der Beklagten
ausgeschieden. Sie stritt sich mit dieser darum,
nach welchen Bestimmungen sich ihre betriebliche (gesetzlich unverfallbare) Versorgungsanwartschaft richtet. Das ursprünglich für die
Klägerin geltende Versorgungssystem hatte die
Beklagte durch ein neues abgelöst. Die Klägerin begehrte die Feststellung, dass sich ihre
Versorgungsanwartschaft weiterhin nach der
Altregelung richtet. Danach setzte sich die Versorgung aus einer zeitratierlich ermittelten Besitzstandsrente und einer zeitratierlich berechneten Zuwachsrente zusammen. Für beide
Rententeile war eine Berechnung auf das 65.
Lebensjahr vorgesehen.
Entscheidung
Auf Grundlage der Feststellungen des LAG
konnte das BAG nicht abschließend entscheiden, ob die Neuregelung die alte wirksam abgelöst hatte. Die Vorinstanz hatte nicht geklärt,
wie hoch die Versorgungsanwartschaft der Klägerin nach der Alt- bzw. der Neuregelung ist.
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Das BAG war daher nicht in der Lage, zu beurteilen, ob die Neuregelung in erworbene Versorgungspositionen der Klägerin eingriff. Es verwies deshalb den Rechtsstreit an die Vorinstanz
zurück. In den Gründen stellte das BAG jedoch
seine Ansicht dar, welches die maßgebliche Altersgrenze ist, um die Höhe der Versorgungsanwartschaft der Klägerin nach der Alt- bzw.
der Neuregelung zu ermitteln:
Das RV-Altersgrenzenanpassungsgesetz ist im
Wesentlichen zum 1.1.2008 in Kraft getreten.
Bei Versorgungsordnungen, die vorher geschaffen wurden und ausdrücklich auf das 65. Lebensjahr abstellen, „wandert“ die betriebliche
Altersgrenze i. d. R. mit der gesetzlichen Regelaltersgrenze mit. Sie steigt also schrittweise für
die Geburtsjahrgänge ab 1947 bis zum 67. Lebensjahr an. Es gilt daher die Auslegungsregel,
dass die Benennung des 65. Lebensjahres eine
dynamische Verweisung auf die Regelaltersgrenze in der gesetzlichen Rentenversicherung
nach §§ 35, 235 Abs. 2 Satz 2 SGB VI darstellt.
Das BAG begründete seine Position wie folgt:
› Die Regelaltersgrenze lag seit 1916 durchgehend bei 65 Lebensjahren. Demnach gab
es bei der Abfassung von Versorgungsordnungen keine Veranlassung zu abweichenden Formulierungen.
› Bei der Frage, ob die Versorgungsordnung
einen früheren Zeitpunkt als die Regelaltersgrenze vorsieht (vgl. § 2 Abs. 1 BetrAVG),
ist auf den Zeitpunkt der Zusageerteilung
abzustellen. Auf Basis der Rechtslage vor
Inkrafttreten des RV-Altersgrenzenanpassungsgesetzes enthielten Versorgungsordnungen aber gerade keinen früheren Zeitpunkt als die Regelaltersgrenze.
› Vor allem bei Gesamtversorgungssystemen
ergibt die Auslegung regelmäßig, dass der
Arbeitgeber die Betriebsrente nicht bereits
zu einem Zeitpunkt zahlen will, in dem der
Betreffende noch keine gesetzliche Rente
beanspruchen kann und diese sich damit
nicht anrechnen lässt. Das entspricht auch
dem Willen des Gesetzgebers, wonach die
betriebliche Altersversorgung die Anhebung
der Altersgrenzen in der gesetzlichen Rentenversicherung nachvollziehen soll.
› Die betriebliche Altersversorgung wird als
Gegenleistung für die gesamte Betriebszugehörigkeit zwischen Beginn des Arbeitsverhältnisses und Erreichen der festen Altersgrenze aufgefasst. Der Altersgrenze 65
lag der Gedanke zugrunde, dass der Arbeitnehmer zu diesem Zeitpunkt regelmäßig
seine ungekürzte gesetzliche Rente bezieht
und das Arbeitsverhältnis endet.
Konsequenzen
Tendenziell spart der Arbeitgeber durch das
„Mitwandern“ der betrieblichen Altersgrenze
mit der gesetzlichen Regelaltersgrenze, weil
sich die betriebliche Altersversorgung hierdurch
oft verringert. Eine gestiegene Altersgrenze
führt bspw. im Rahmen einer gesetzlich unverfallbaren Versorgungsanwartschaft bei einem
vorzeitig ausgeschiedenen Arbeitnehmer nach
§ 2 Abs. 1 BetrAVG zu einer stärkeren zeitratierlichen Kürzung der Versorgung.
Eine angehobene Regelaltersgrenze kann zudem im Rahmen zeitratierlicher Berechnungen
die Höhe einer vorgezogenen Altersrente bzw.
eines im Rahmen des Versorgungsausgleichs
zu teilenden Anrechts verringern.
Die Dynamik der betrieblichen Altersgrenze
beeinflusst aber möglicherweise nicht nur
den Zeitpunkt des regulären Bezugs einer abschlagsfreien Altersleistung, sondern auch die
versorgungsfähige Dienstzeit, die Berechnung
von Verrentungsfaktoren und den Ansatz von
versicherungsmathematischen Ab- bzw. Zuschlägen bei vorgezogener oder aufgeschobener Inanspruchnahme der Altersrente.
Praxistipp
Sofern Arbeitgeber die Anhebung der gesetzlichen Regelaltersgrenze im Rahmen des betrieblichen Versorgungssystems bereits umgesetzt
haben, ergibt sich kein Handlungsbedarf. Das
Gleiche gilt für Unternehmen, die die Altersgrenze 65 zwar beibehalten, aber ergänzende
Regelungen zum Erwerb von Versorgungsanwartschaften getroffen haben.
Andere Arbeitgeber haben dagegen ihre Versorgungsordnung bewusst nicht hinsichtlich der
Altersgrenze 65 angepasst. In diesen Fällen
besteht im Hinblick auf das BAG-Urteil Handlungsbedarf. Zumindest sollten sie jedoch aus
Gründen der Rechtssicherheit klarstellen, ob die
betriebliche Altersgrenze „mitwandert“.
Ob und wie sich die neue Rechtsprechung auf
die genannten Versorgungsordnungen im Detail
auswirkt bzw. wie Unternehmen in der Praxis
hierauf reagieren können, ist am besten im Rahmen einer Einzelfallbetrachtung zu ermitteln.
Jan Andersen,
Aon Hewitt, München
Arbeit und Arbeitsrecht · 11/12