Leser - Historicum.net

Transcrição

Leser - Historicum.net
203
KARL KELLER
Friedrich Spees Kirchenlieder und
die lateinische Hymnendichtung
Eine Einführung in die komplexe Problematik
Im Dürener Geber- und Gesa ngbuch von 1851 für die Wallfahrt nach
Kevelaer', das 1708 vom Binsfelder Pfarrer J oha nnes Fenger zum erstenmal ediert worden wa r, sind mehrere doppelsprachliche Liedfassungen, lateinisch und deutsch, entha lten. Der Herausgeber setzte beide Fassungen nicht neben, sondern untereinander, womit er ausdrücken wollte, daß sie jeweils nach der gleichen, jedoch nicht von ihm
selbst hinzugesetzten Melodie zu singen seien. Die Lieda utoren sind
nicht angegeben. Es handelt sich um folgende drei doppelsprachliche
Lieder (H ymnen): >>Adoro te devote - 0 C hrist hie merk «, »Regina
coeli jubila - Freu dich du Himmelskönigin<< und >>Ü gloriosa Domina
-0 Kö nigin, gnädigste Frau«. Die deutschen Lieder sind zweifelsohne
originale Speelieder. »Ü Christ hie merb war schon 1621 im Würzburger Gesangbüchleinz mit eigener Melodie erschienen, die zum lateinischen H ymnustext im Kölner Gesangbuch von 1620 nachgewiesen
ist, zusammen mit einer deutschen Übersetzung. Auch eine niederländische Übersetzung war schon 1621 erschienen3 •
In das katholische Einheitsgesangbuch Gotteslob von 1975 wurde
das Speesche Fronleichnamslied >>Ü Christ hie merk« nicht mehr aufgenommen, obwohl es heute noch beispielsweise bei F(Onleichnamsprozessionen gesungen wird. Statt dessen wurde eine Übertragung des
H ymn us »Adoro te devote<< von Petronia Steineraus dem Jahr 1951
mit einer Melodie aus Frankreich aus dem 17./18. Jahrhunden übernommen4. Der lateinische H ymnus, jedoch ohne den Refrain >>Ave Jesu
' Johannes fenger: Ordenriteher Geistlicher Wegweiser der Dürender und hiesiger Pro Zl'S~ ion ... zu de-m ... Bildniß Maria von Kevelaer. Geldern 1851.
' !vlichael Härring: Fnedrich Spee. Die anonymen geistlichen Lieder vor 1623. Berlin
1979. Philologtsche Studien und Quellen, Heft 63, S. 72.
' Ebcl .. S. 283.
' Gotteslo b. Kath()l. Gebet- und Gesa ngbt1ch, Miinster 1975, Nr. 546. Z u • Ü Chrisr
hie merk « siehe den Beitrag von Günter Dengel in diesem J ahrbuch .
204
Karl Keller
.. ·"ist eine Schöpfung des hl. Thomas von Aquin aus dem 13. Jahrhundert. Die Übertragung von Petronia Stein er "Gottheit tief verborgen, betend nah ich dir« ist siebenstrophig; die Liedfassungen bei
]. Fenger sind sechsstrophig; das originale katechetische oder Kirchenlied von Friedrich Spee >>Von Christi Fronleichnam« von 1621 ist vierstrophig. Ich zitiere die Fassungen beider Lieder aus dem Dürener
Wallfahrtsbüchlein, wo ihnen die Überschrift beigegeben ist: »Dieses
Lied vom hl. Sakrament begreifft in sich die Anbethung des grossen
Gottes in diesem höchsten Gut«:
1. Adoro te devote latens Deitas,
Quae sub his figuris vere latitas.
Tibi se cor meum totum subjicit,
Quia te contemplans totum deficit.
:Ave Jesu, verum Manhu, Christe Jesu,
Adauge fidem omnium in te credentium.:
0 Christ hie merk, den Glauben stärk und schau dies Werk,
Dies Brotall gut, Gott Fleisch und Blut, begreiHen thut.
:Ave Jesu, wahres Manna, Christe Jesu.
Dich J esu süß, ich herzlich grüß, o Jesu süß:
2. Visus, gusrus, tactus in te fallitur,
Sed auditu solo tuto creditur.
Credo, quidquid dixit Dei filius,
Nihil veritatis verbo verius. etc.
In der Monstranz ist Christus ganz, kein Brod Substanz.
Von Brod allein, Gestalt und Schein, vor Augen seyn. etc.
3. In cruce latebat sola Deitas,
Sed hic latet simul et humanitas.
Ambo tarnen credens atque confitens
Pero, quod petivit latro poenitens. etc.
Kein Brot ist da, noch beynoch nah, in Hostia.
Was darin ist, Herr Jesu Christ, du selber bist. etc.
4. Plagas sicut Thomas non inrueor,
Deum tarnen meum (te) confiteor.
Fac me tibi semper magis credere,
In te spem habere, te diligere. etc.
Nun bieg die Knie, Gott selbst ist hie, weist du nicht wie.
Was da geschieht, der Glaub wohl sieht, die Augen nicht. etc.
hiedrich Spees Kirchenlieder
205
5. 0 memoriale mortis Domini,
Panis vivus vitam praestans homini,
Praesta meae menti de (re) vivere
Er te illi semper dulce sapere. etc.
Mit Cherubim , mit Seraphim, erheb die Stimm
Und preise Gott, Gott Sabaoth, für dieses Brod. etc.
6. Pie Pelicane, Jesu Domine,
Me immundum munda tuo sanguine,
Cuius una stilla salvum facere
Totum mundum quit ab omni scelere. etc.
Vor meinem Tod, zur letzten N oth, Christ Mensch und Gott,
Gib diese Speiß mir auf die Reis zum Paradeis. etc.
Abgesehen von wenigen Schreibweisen stimmt der deutsche Text
mit den Strophen 1 bis 4 von 1621 überein, mit Ausnahmen von
»Manna « statt »Manhu « in der 4. Strophe und »Was da geschieht «
statt ,, Wie das geschieht, der Glaub wohl sieht «. Einige Auslassungen
im lateinischen Text, durch Klammern gekennzeichnet, habe ich ergänzt. Damit nun der des Lateinischen nicht kundige Leser beide Liedfassungen miteinander vergleichen und überprüfen kann, ob Friedrich
Spee nur eine einfache Übertragung des lateinischen Hymnus oder eine
eigenständige Neudichtung auf der Basis dieses Hymnus verfaßt
hat, füge ich eine Übersetzung des lateinischen Textes in deutscher
Prosa bei:
1. Ich bete Dich ehrfürchtig an, verborgene Gottheit,
die du unter diesen Gestalten wirklich verborgen bist.
Dir unterwirft sich mein ganzes Herz, weil es ja mit dem Augenschein dich nicht erfassen kann.
Sei gegrüßt Jesus, wahres Manna, Christus Jesus,
Vermehre den Glauben a ll er, die an dich glauben.
2 . Dich anzuschauen, zu schmecken, zu berühren ist Täuschung,
nur im Hören liegt der ganze Glaube.
Ich glaube an alles, was der Sohn Gottes sagte,
nichts ist wahrer als dieses Wort der Wahrheit.
3. Am Kreuz war verborgen die Gottheit allein,
aber hier ist verborgen zugleich die M enschheit.
An beides freilich glaubend und darauf vertrauend erbitte ich,
was der reuige Schächter erbeten hat.
206
Karl Keller
Fricdrich Spees Kirchenlieder
207
----------------- - -~
4. Die W un den schaue ich nicht wie Thomas an,
dennoch bekenne ich mich zu dir als meinem Gott.
Lag mich immer stärker an dich glauben,
auf dich hoffen, dich lieben.
5. 0 du denkwürdiger Tod des Herrn,
le bendiges Rrot, das den Menschen Leben spendet,
verleih meinem Geist, mir dir zu leben
und dich mit ihm allzeit angenehm zu schmecken.
6. Frommer Pelikan, Jesus Herr,
mich Unreinen reinige mit deinem Blut,
wovon ein einziger Tropfen die ganze Welt
von jegli chem Übel befreien kann.
Ein Fragenkomplex
Die Frage, ob auch die Strophen 5 und 6 des deutschen Liedes von
Friedrich Spee stammen, soll hier nicht eröctert werden. Sie soll einem
weiteren Beitrag vorbehalten werden; denn dieser Essay, den ich
"friedrich Spees Kirchenlieder und die lateinische H ymnendichtung<<
betitelt ha be, ist in sich sehr komplex: Er enthält viele Fragestellungen,
die bisher von der Speeforschung noch nicht in Angriff genommen
wurden. Gibt es überhaupt lateinische Lieder (Hymnen), die Friedrich
Spee verfaßt hat? Wie lassen sich die zahlreichen, schon vor Spee sehr
beliebten la teinisch-deutschen Mischlieder einordnen?s Hat Friedrich
Spee solche übernommen und teilweise verändert, hat er selbst solche
verfaßt? Wurden deutsche Lieder Friedrich Spees später ins la teinische
übertragen bzw. >>umgedichtet << und von we m? Gilt also das, was ich
in meiner Speebi ographie bezüglich der Übertragung sämtlicher Lieder
in der Trutz-Nachtigall geschrieben habe, a uch für die Spee'schen Kirchenlieder?b Ist beispielsweise Spees Auferstehungslied ~Ist das der
Leib, Herr Jesu Christ, der tot im Grab gelegen ist« eine Ubertragung
des la teinischen H ymnus En Christi membra vivida, w ie ein Hinweis
im Eigenteil d es Gotteslob für d as Erzbistum Freiburg zu Lied N r. 823
' Vor allem dte za hlreichen Mischlieder im W ü rzburger Büchlein von 1622. Siehe Härring (wie Anm. 2), passim.
' Kar! Keller: Friedrich Spee von Langenfeld (1591-1635). Lehen und Werk des Seelsorgers und Dichrers, Geldern 1990, S. 101-113.
a ussagt, oder erfolgte die lateinische Version a uf der GrundJage des
Spee'schen Liedes und durch wen r Ist der demsehe H ymnus von 1628
,,ß eim Creutz mir Lieb und Leid verwundt « insgesa mt eine Umdichtung Friedr ich Spees a uf der Basis des alten H ymnus Stabat Mater dolorosa? Hat Friedrich Spee auch selbst Melodien zu seinen Liedern
kompo niert ? Oder hat er »nur« ihm bekannte zum Teil zu lateinischen
Hymnen verfa!Ste M elodien seinen Liedern zugrunde gelegti, wie zum
Beispiel seiner Umdichtung des liturgischen Hymnus Veni creator spiritus zu »Komm he yliger Geist, Schöpfer mein<<\ wie auch des lateinischen Hymnus 0 Iux beata trinitas zu "Q heiligste Dreifa ltigkeit<< 10 ,
und des Hymnus Pange lingua gloriosi zu >> M ein Zung erkling und
fröhlich sing<<?11
W ährend die zuletzt genannten Lieder als Transpositionen älterer
lateini scher Hymnen durch Friedrich Spee zu registrieren sind, ist die
Antwort a uf die Frage noch offen, ob die Parall elfassungen d er im Paderborner Gesangbuch vo n 1628 erschienenen und von Th eo Harnacher Friedrich Spee zugeschrie benen Lieder 0 ]esu mellitissime und
0 j esu süßest Kindelein beide originale Speelieder sind, wozu Theo
va n Oorschot als D ruckjahr für da s deutsche Lied 16 16 angibtY
Schließlich sind auc h zahlreiche Komme ntare, die Friedrich Spee
selbst als »Quellen << für viele seiner Lieder angegeben hat und die in
M ichael H ä rtings Ausgabe der anonymen geistlichen Li eder Spees vor
1623 enthalten sind, miteinzubeziehen, da sie für die Beantwortung
mancher der obengenannten Fragen eventuell relevant sind und außerdem einen Einblick in Spees >> Dichterwerkstatt « ermöglichen.
Dieser g leichsam als Einführung in die komplexe Problematik der
Thematik verfaßte Essay, dessen >> Hauptteil << im Spee-Ja hrb uch demnächst folgen soll, möge abgeschlossen werden mit den ersten drei von
acht Strophen des Spee'schen Weihnachtsliedes 1 \ dessen Melodie
gemäß Härting 1 ~ aus dem Paderhorner Gesangbuch vo n 1616 zum
Hymnus Eccenova gaudia sta mmt, dessen de m scher Text mit SicherSiehe dazu meinen Beitrag im Spee-Jahrbuch '1995, S. 98-100.
Siehe H ri rnng (wie Anm. 2 ), S. 283.
Ebd ., S. 65 f.
Ehd., S. 67 f.
II Ebd.,
69- 71.
'' Theo G. M. van Oorschot: Verzeichnis der anonymen Lieder von Friedrich Spee. ln:
Anton Arens: Friedrich Spee im Licht der W issenschafren, Mainz 1984, S. 79.
... Karring (wte Anm . 2), S. 178-1 80.
'
•
'"
s.
" Ebd., S. 28S.
209
Kar! Keller
208
heit o riginale Speedichtung ist und das zu den sogenannten lateinischdeutschen bzw. deutsch-lateinischen Mischliedern gehört:
Von der Gottheit und M enschheit
1. Das H eyl der Welt I ein kleines Kind I
Man jetz und hie a uff Erden find I
Quapropter cuncti mortales
Hilariter, hilariter, hilariter, hilariter.
Conjubilemus. 15
2. Das Kind ist Gott und Mensch zugleich I
0 M enschheit! 0 wie gnadenreich!
Quapropter
3. 0 Menschheit! 0 du Gü ldne Kist I
Der Scha tz darin die Gottheit ist.
Quapropter
" Übersetzung des lateimschcn Textes: Deshalb l af~r uns, alle Menschen, zusammen ju-
bilieren: Fröhlich ...
GÜNTER DENGEL
»0 Christ hie merck«
Zur Wirkungsgeschichte eines Liedes
1. Ein persönlicher Anlaß
Ich gehe hier der Wirkungsgeschichte des Liedes von Friedrich Spee »0
Christ hie merck« nach, soweit ich hisher dessen Spuren verfolgen
konnte. Der Anlaß meiner Untersuchungen ist durchaus persönlich,
fü hrte mich aber a uf die Suche nach der Rolle dieses fr ühen Liedes von
Spee im Frömmigkeitsleben vieler Generationen meiner frän kischen
Heimat. In meine r d örflichen Pfarrei Ne ubrunn in der Diözese Würzburg wurden bis vor kurzem alljährlich die Erstkommunionkinder in
die ·Corporis-Christi-Bruder schaft• aufgenommen. Bei der regelmäßig
einma l im Monat gehaltenen Andacht der Bruderschaft w urde das
Lied »0 Christ hie m erk<• gesungen. Das Lied hat sich mir besonders
eingeprägt (ich wußte natürlich nicht, daß es von Spee ist und wer Spee
war). Es hatte für mich als Kind durch das ))M a nhu •< (statt Manna),
»hie<• (statt hier), "ßrotsubstanz« einen fremd an mutenden, a ber geheimnisvolle n Klang. Es hat meine Kindheit und Jugend begleitet. Generationen vor mir im Dorf hatten ebenso das Lied gesungen . D ie Andachten einmal im M onat, am Sonntagnachmittag nach der Christenlehre, waren gut besucht, auch von vielen Männern. Die Nachmittagsandacht wurde früh im H ocha mt noch einma l angekündigt; die Leute
wu rden eindringlic h auf ihre Pflicht, die Andacht zu besuchen, hingewiesen. Ich habe später weder als Student in München und Münster/Westf. noch als Studienrat im Ruhrge biet und Rhein land das Lied
mit solcher Innigkeit und Freude singen hö ren und selbst gesungen wie
in meinem fränkischen Dorf.
Da mir kürzlich erst bewußt wurde, daß Spees Lied >>0 C hrist hie
merck« in Franken eine so große R olle spielte, habe ich mir vorgen ommen, der R ezeption dieses Liedes in Deutschland genauestens nachzugehen. Von meinen bisherigen Untersuchungen will ich berichten; es ist
also noch kein li.ickenloser Bericht.

Documentos relacionados