16. Rundbrief vom Dezember 2006
Transcrição
16. Rundbrief vom Dezember 2006
! ! % , ) "# & ' $ ) !* + )- . # $ $ ( " & % / 0+ &' ( Liebe Freunde Seit gut 10 Jahren leben Gabi und ich, und seit unterschiedlicher Zeit unsere Kinder, hier in Hong Kong. Diese 10 Jahr haben nicht nur unser eigenes Leben tief verändert, sondern auch das Umfeld, in dem wir leben. Ich schätze, dass ein Viertel des Bauvolumens von HK vor 10 Jahren noch nicht bestand. Die Veränderungen in China sind vielleicht noch gravierender. Diese sich weiterhin radikal wandelnde Grossstadt und die sich in massivem Umbruch befindende chinesische Gesellschaft bildet weiterhin den Rahmen unseres Lebens. Ein gutes halbes Jahr ist es her, seit ich einige von euch bei einem Aufenthalt in der Schweiz sehen konnte. Mit diesem Brief möchte ich alle herzlich grüssen und davon erzählen, was uns im vergangenen Jahr beschäftigt, gefreut oder herausgefordert hat. Ich erzähle von meinem Unterricht in einem Theologischen Seminar, von Dingen, die mir bei meiner Arbeit in den Gefängnissen in diesem Jahr wichtig waren, zuerst jedoch über Besuche und Reisen in diesem Jahr: Besuche und Reisen Im vergangenen Jahr hatten wir, verglichen mit früheren Jahren, weniger Besuch – ein Hinweis darauf, dass wir bereits lange hier in HK sind und viele, die uns mal besuchen wollten, schon mal, teils auch mehrmals gekommen sind. Viele der Besuche, die wir im vergangenen Jahr hatten, waren mit mission 21 verbunden, zuletzt der kurze, aber intensive Besuch von Beni Schubert im Oktober. Daneben hatten wir auch private Besuche, früh im Jahr einen schönen Besuch von Gabis Mutter. Ausserordentlich gefreut hat mich ein Besuch meiner früheren literarischen Lesegruppe, vier Freunde, mit denen ich seit etwa 1989 monatlich ein Buch gelesen habe, das wir anschliessend diskutierten. Diese Freunde, die ich aus der Studienzeit kenne, Andreas Cabalzar, Daniel Tinner, Urs Woodtli und Dieter Zwicky, kamen mich im vergangenen April für 10 Tage besuchen. Es war eine Zeit der intensiven und freundschaftlichen Diskussionen über Veränderungen in unserem Denken und Leben, Diskussion, wie sie eben unter engen Freunden möglich sind. Der verlängerte Wochenendausflug zu den Kirchgemeinden der Hakkas war eine Gelegenheit, mit ihnen eine ganz andere Seite Chinas zu erleben. Im vergangenen Jahr war ich weniger unterwegs als in früheren Jahren. Im Frühjahr hatte ich die Gelegenheit, mit Doris Grohs, der Mitarbeiterin in Basel für Beziehungen zu Ostasien, mehrere theologische Seminarien in China zu besuchen. Es sind Seminarien, an denen mission 21 seit mehreren Jahren Studierende, meist Frauen, unterstützt, die sich das Theologiestudium nicht selbst leisten können, weil die sie sendende Kirche zu arm ist (und sie selbst sowieso). Mit etwa 1000 Fr. im Jahr können Studiengeld und Lebenskost für eine Studentin finanziert werden. Zuerst besuchten wir Guangzhou, die nur eine Zugstunde von HK entfernte Metropole Südchinas, wo ich schon öfters am theologischen Seminar war. Danach besuchten wir Hunan, nördlich der Guangdong Provinz, eine der ärmsten Provinzen Chinas und Herkunftsort von Mao. Zuletzt reisten wir nach Kunming, der Partnerstadt Zürichs, wo wir das theologische Seminar der Provinz mit knapp 100 StudentInnen besuchten. Die Mehrheit von ihnen kommen von ethnischen Minoritäten, von den Zhuang, von den Miao, von den Dai u.a. Einige von ihnen kommen von weit her, aus den Bergen im Grenzgebiet zwischen der Yunnan- 1 ! " Provinz und Tibet, dort wo der Salween, der Mekong und der Yangtse, drei der wichtigsten Flüsse Asiens, in einer Distanz von nur etwa 100 km ein Stück weit parallel durch tiefe Täler fliessen. In Yunnan hatten wir zudem Gelegenheit, Kirchen und kirchliche Sozialprojekte zu besuchen, u.a. ein christliches Drogenentzugszentrum. Billig erhältliche Drogen aus dem nahen Myanmar sind ein grosses Problem in Yunnan, viele junge Menschen reagieren auf den Umbruch in der Gesellschaft mit einer Flucht in Drogen. Musik im Gefängnis Shek Pik Ein wichtiger Teil meiner Arbeit im vergangenen Jahr war das Gefängnis von Shek Pik, von dem ich schon mehrmals berichtet habe. Durch die vergangenen Jahre hat sich dort eine starke und wachsende Gemeinde aufgebaut. Einer der Motoren dieses Wachstums war, dass die Insassen die Leitung der Gottesdienste selbst übernehmen. Ein wichtiges Prinzip meiner Arbeit ist, so wenig wie möglich selbst zu machen – und so viel Raum wie möglich zur Verfügung zu stellen. Raum zur Verfügung zu stellen, ist dabei nicht immer so einfach, weil das Gefängnis als eine totalitäre Institution eine natürliche Tendenz hat, diese Freiräume zu beschneiden. Umgekehrt ist der Gottesdienst für die Insassen einer der wenigen Orte, wo Freiraum besteht und wo sie kreativ, partizipativ und aktiv tätig sein können. Die Kreativität hat sich in erster Linie auf die musikalische Gestaltung konzentriert. So sind durch die vergangenen Jahre in wachsendem Masse von den Insassen komponierte Lieder im Gottesdienst aufgetaucht, teils mittelmässig – die sind dann wieder verschwunden, oft jedoch von guter Qualität. Einige dieser Lieder sind durch Besucher, die ich mit ins Gefängnis genommen habe, langsam ins kirchliche Leben Hong Kongs gesickert. Als wir eines der von einem Insassen komponierten Lieder sogar im Radio hörten, entschieden wir uns, diese Musik einer breiteren Öffentlichkeit zugänglich zu machen. Während der Musikaufnahmen im Gottesdienstraum von Shek Pik Prison. Shek Pik Prison ist ein Hochsicherheitsgefängnis mit etwa 500 Insassen, viele von ihnen mit einer lebenslänglichen Gefängnisstrafe. So haben wir im vergangenen Frühjahr einen Musiker und ein Technikerteam eingeladen, eine Auswahl der besten Lieder als CD im Gefängnis aufzunehmen, um damit etwas von dieser Kreativität in die Kirchen in Hong Kong zu tragen.∗ Die Kompositionen sind beeinflusst vom populären für europäische Ohren eher kitschig tönenden Canto-Pop, an den wir uns (d.h. ich, nicht so sehr meine Kinder) unterdessen gewöhnt haben. Gerne höre ich die Lieder aus Shek Pik und erkenne die einzelnen mir vertrauten Stimmen der Insassen wieder. Eine Brücke zwischen Seminar und Gefängnis Seit September unterrichte ich mehr oder weniger vollzeitlich am Theologischen Seminar der Chinese University von Hong Kong, wo ich bis anhin teilzeitlich unterrichtet habe. D.h. ich unterrichte nun wöchentlich ∗ Sollte jemand von Euch daran interessiert sein, eine solche CD zu erhalten, so sendet ein Mail an [email protected] zusammen mit Eurer Postadresse. Ich kann Euch dann eine Kopie zuschicken (inkl. einer DVD über die Arbeit von Kun Sun). 2 ! " zwei dreistündige Kurse. Ich kann die Arbeit im Gefängnis daneben weiter aufrecht erhalten, indem ich meine Arbeit im Gefängnis teils leicht reduziere, teils in meinem Unterricht in wachsendem Mass auf früher vorbereitete Vorlesungen zurückgreifen kann und auf eigene akademische Arbeit weitgehend verzichte, um mich auf die Lehre zu konzentrieren. Ich fühle mich beglückt, in meiner Arbeit an zwei so verschiedenen Orten tätig sein zu können und ich glaube, die beiden Bereiche meiner Arbeit befruchten sich gegenseitig. So habe ich in zunehmendem Masse StudentInnen, die Gelegenheiten suchen, mich ins Gefängnis mitzubegleiten, oder die bei mir ein Praktikum machen und mir so auch einige Arbeit abnehmen. Die Insassen profitieren offensichtlich auch von dieser verbreiterten Basis. Für die Studierenden ist es eine ständige Gelegenheit der Praxiserfahrung in einem speziellen Kontext. Eine dieser freiwilligen Mitarbeiterinnen ist eine Studentin, die ein Freisemester genommen hat, nachdem sie wegen mehrerer Rückenoperationen mehrmals hattte aussetzen müssen. Sie nimmt nun wöchentlich den langen Weg nach Shek Pik auf sich, um dort im Gottesdienst mitzuwirken oder die Musikgruppe zu trainieren. Ich bin dankbar, diese Brücke zwischen theologischer Ausbildung und Kirche im Gefängnis zu bauen. Ich hoffe, dass die Gefängnisarbeit dadurch verstärkt auch unter den zukünftigen PfarrerInnen und Kirchenleitungen verankert wird. Ein Problem, mit dem ich ständig konfrontiert bin, ist, dass viele Christen in Hong Kong ein sehr konservatives Verständnis von Gefängnisarbeit und Seelsorge haben. Seelsorge ist nur eine aufs Individuum zugespitzte, besondere Form der Verkündigung, die dort zum Erfolg und Abschluss kommt, wo jemand eine Konversion zum christlichen Glauben erlebt. Ich erlebe zwar häufige Konversionen, aber ich verstehe sie mehr als Nebenprodukt: Menschen erleben neue Dimensionen der Beziehungen zwischen Menschen, zu sich selbst, zu Gott, die sie ernst nehmen und vertiefen wollen. Der Ausgangspunkt war, dass sie von den in unserer Gemeinschaft erlebten Beziehungen berührt wurden und darin etwas von dieser anderen Qualität erlebt hatten. In dem Sinn hat mich die Weisheit von Franz von Assisi begleitet: „Verkünde das Evangelium jederzeit. Aber benutze Worte nur, wenn wirklich nötig.“ (freie Übersetzung) Am Theologischen Seminar Ich bin der einzige Mitarbeiter unseres Seminars aus dem Westen, meine KollegInnen sind alle aus Hong Kong, jemand aus Singapore; daneben haben wir noch einige Mitarbeiter, die für ein oder zwei Semester hier sind, wie etwa ein berühmter Kirchenmusiker aus Taiwan oder einige Forscher aus Universitäten Chinas. In den vergangenen Semestern habe ich meist Kirchengeschichte unterrichtet, im vergangenen Semester zudem Missiologie. Dieser Kurs war für mich eine grosse Chance, einmal systematisch und theologisch zu bedenken, was ich in den vergangenen Jahren gemacht habe. Ich konnte viele meiner Erfahrungen vom Gefängnis theologisch bedenken. Einige meiner StudentInnen beim Unterricht in Kirchengeschichte der Reformationszeit. Nicht immer ist der Unterricht ganz so heiter... Kirchengeschichte ist ein Pflichtfach für alle Studierenden. An unserem Seminar haben wir etwa 130 vollzeitliche StudentInnen; ihr Durchschnittsalter ist ca. 30-35 Jahre. 3 ! " Ich unterrichte zu etwa drei Vierteln in Englisch, zu etwa einem Viertel in Kantonesisch. Sprachlich ist es für alle Beteiligten eine Herausforderung: Wir haben eine ganze Reihe StudentInnen aus China, die zu Beginn nur Mandarin sprechen und jeweils zumindest ein halbes Jahr brauchen, bis sie Kantonesisch verstehen. Einige StudentInnen übersetzen nun simultan ins Mandarin oder ins Englische, daneben gibt es Tutorate in beiden Sprachen. Neben der eigentlichen Lehrarbeit wird für die vollamtlichen Lehrer am Seminar auch eine stärkere Teilnahme am studentischen Leben erwartet. Wir haben eine wöchentliche Versammlung mit Gottesdienst, Nachtessen und anschliessendem thematischem Abend oder Hausgruppen. Zudem hat jeder Lehrer unseres Seminars noch Zusatzaufgaben. In Anbetracht meines Wunsches, weiterhin Zeit für die Gefängnisarbeit zu haben, erhielt ich nur eine kleine: Seit einigen Jahren hat unser Seminar regelmässig Studierende aus Burma, dieses Jahr eine etwas grössere Gruppe als üblich, etwa 10 StudentInnen. Ich bin, mit meiner Singaporer Kollegin, zuständig für die (nicht-akademische) Betreuung der StudentInnen aus Burma. Ausreichende Bildung unter der bestehenden Diktatur in Myanmar ist nur schwer möglich. Deshalb lädt unser Seminar einige StudentInnen ein, ihre höhere Aus- resp. Weiterbildung in Hong Kong zu absolvieren. Das Projekt wird teils durchs Seminar, teils durch Kirchen in Hong Kong finanziert. Der Kirchenrat von Myanmar wählt einige der Lehrkräfte der lokalen Seminarien aus und sendet sie für diese höhere Ausbildung ins Ausland. Diese StudentInnen finden es oft schwierig, sich ans Leben an diesem fremden Ort zu gewöhnen. Sie verstehen kein Chinesisch. Oft ist auch ihr Englisch beschränkt. Sie leiden vor allem unter grossem Heimweh, da sie alle ihre Familie und Kinder in Myanmar zurücklassen mussten. Telephontarife nach Myanmar sind teuer, ihr Budget sehr knapp bemessen. Indisches Curry für die Studenten aus Myanmar bei uns zu Hause. (Von links: Elia, Pina, Paul, Lawha Ling, Moe, JT, Soe Soe Mar, Lung Than). Die meisten burmesischen Christen sind aus ethnischen Minoritäten, etwa den Chin, den Karen, den Kachin, u.a., die in den Randgebieten des Landes leben und gegenüber der burmesischen Bevölkerungsmehrheit weitgehend benachteiligt sind. Aus unserem Familienleben Unser ältester Sohn, Jim Tim, ist nun in der 6. Primarklasse; weiterhin hat er, wie auch seine Geschwister, einen beträchtlichen Teil seines Unterrichts auf Chinesisch (Mandarin). Wir sind nun mit ihm zusammen daran, eine passende Sekundarschule für ihn zu finden. Seit etwa eineinhalb Jahren spielt er Gitarre und ist mit Begeisterung dabei. Sein Bewegungsradius hat sich im vergangenen Jahr vergrössert und er kann nun selbständig per Velo zum Fussballtraining fahren oder zu einigen seiner Freunde. Elia geht in die 3. Primarklasse. Er braucht viel Bewegung, um seine Energien abzulassen – das ist nicht immer ganz einfach in einer Grossstadt. Unsere Jüngste, Jill Pina, ist im Kindergarten und sie ist, so wie es aussieht, glücklich, zwei ältere Brüder zu haben. Gabi hat im vergangenen Jahr weiterhin für Kunden ihrer Firma Aktivitäten und Events geplant, gestaltet und durchgeführt. Sie hat mit ihren MitarbeiterInnen Schullager, Ausstellungen und andere spezielle Veranstaltungen organisiert. Im vergangenen Januar hat uns Lennie, die während 6 Jahren bei uns gearbeitet hatte, verlassen. Sie war ein fester Bestandteil unserer Familie. Lennie hatte einen Norweger kennengelernt und nach etwa zwei Jahren 4 ! " langsamer Beziehung geheiratet. Gabi und Pina waren Ehrengäste bei den Hochzeitsfeiern im März in den Philippinen. So hat Gabi die meisten der 15 Geschwister von Lennie mal kennengelernt. Danach hatten wir eine ausserordentlich sportliche Philippinin angestellt, mit der Elia all seinen Bewegungsdrang ausleben konnte. Leider hat sie sich nach 3 Monaten entschieden, einen Engländer zu heiraten... Seit einem halben Jahr arbeitet nun Cristinette bei uns, eine Freundin ihrer Vorgaengerin, und ähnlich sportlich. Sie scheint sich gut eingelebt zu haben und wir sind ihr dankbar. Unter unserem Weihnachtsbaum, nicht tannig, sondern palmig. Wir grüssen Euch alle sehr herzlich aus Hong Kong und freuen uns immer über Lebenszeichen aus der Schweiz. Mit den besten Wünschen für das Jahr 2007 Tobias Brandner + Gabi Baumgartner -7 69 ) 5 5) ): *1 *66 <$ '/ *1 =% ) & ) > 3= &'- & ) > 3= & A' A : 7 6 > 3= + 5 + )) + 1 *1 : ;6 *1 2 ) *1 6 *1 *1 5 9 ) + ) 3 2 % % 7 ) ++ , )6 )! ? @! ? ? @! $$! )34 5 2 + 64+75 ) 5 2 *1! 8 -*1% 0% 6 + 0 ++ *1 + 1 ) *1 " *1 )! / 2 : 6 *1 < ) *6 3 )+ *1 5 5