B KULTURWISSENSCHAFTEN BD LITERATUR UND

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B KULTURWISSENSCHAFTEN BD LITERATUR UND
B
KULTURWISSENSCHAFTEN
BD
LITERATUR UND LITERATURWISSENSCHAFT
BDBA
Deutsche Literatur
Drama
EINFÜHRUNG
15-1
Dramenanalyse : eine Einführung / von Benedikt Jeßing unter
Mitarb. von Thomas Ulrich. - Berlin : Erich Schmidt, 2015. - 274
S. : Ill. ; 21 cm. - (Grundlagen der Germanistik ; 56) (ESV basics). - ISBN 978-3-503-15551-4 : EUR 17.80
[#3987]
Benedikt Jeßings Einführung in die Dramenanalyse will vieles zugleich sein:
ein Überblick über alle Dimensionen von Drama und Theater, ein systematisches Kompendium zur einschlägigen Terminologie, ein historischer Abriß
der Dramenpoetik, eine knapp gefaßte Geschichte des deutschen Dramas,
schließlich auch eine Art Arbeitsbuch (was sich in eingeschobenen Fragenkatalogen und praktischen Hinweisen etwa zur Erstellung von Exzerpten
äußert).1 Trotz oder wegen dieser hohen Ambition bleibt die Neuerscheinung jedoch deutlich zurück hinter älteren Standardwerken, wie z.B. dem
entsprechenden Band von Bernhard Asmuth in der Sammlung Metzler.2
Das hat mehrere Gründe.
Erstens löst Jeßing die angekündigte Trennung in einen systematischen
und einen historischen Teil nur bedingt ein. Prinzipiell profitieren systematische Erläuterungen von gut überlegter historischer Konkretisierung. Doch
wenn z.B. der Abschnitt zu Prolog und Epilog (S. 30) innerhalb eines Kapitels Grundbegriffe der Dramenanalyse ausschließlich auf die entsprechende
Verwendung und Funktion dieser Textteile in der Dramatik der frühen Neuzeit fokussiert, entsteht ein historisch eingeschränkter und letztlich falscher
Eindruck.
Zweitens neigt Jeßing dazu, Definitionen von Fachbegriffen durch ausufernde Zusatzinformationen zu überfrachten und damit Verwirrung hervorzurufen – als Beispiel sei seine Erläuterung von ‚Spiel im Spiel‘ in Verbindung mit den Idealtypen des ‚offenen‘ und des ‚geschlossenen‘ Dramas sowie dem Versuch einer exemplarischen Konkretisierung zitiert: „Eine besondere Form des offenen Dramas liegt u.U. dann vor, wenn sich innerhalb des
gespielten Stücks ein Spiel im Spiel entfaltet. Diese Erscheinungsform des
1
Inhaltsverzeichnis: http://d-nb.info/1052211615/04
Einführung in die Dramenanalyse / Bernhard Asmuth. - 7., aktualisierte und
erw. Aufl. - Stuttgart ; Weimar : Metzler, 2009. - VIII, 235 S. : graph. Darst. ; 19 cm.
- (Sammlung Metzler ; 188). - ISBN 978-3-476-17188-7 : EUR 14.95 [#0542]. Rez.: IFB 09-1/2 http://ifb.bsz-bw.de/bsz307408523rez-1.pdf
2
Dramas kann auch unter den Bedingungen des geschlossenen Dramas realisiert werden – etwa in Gryphius‘ Absurda Comica oder Herr Peter Squentz,
innerhalb dessen eine Handwerkergesellschaft eine extrem verballhornte
Version der ovidischen Erzählung von Pyramus und Thisbe vor dem Hofe
des Königs ‚tragiert‘ (und damit locker an Shakespeares Sommernachtstraum anschließt)“ (S. 23). Das kann nur verstehen, wer ohnehin Bescheid
weiß.
Drittens ist die Disposition besonders des Kapitels Grundbegriffe der Dramenanalyse suboptimal. Gelegentlich ist zwar erkennbar, daß sich die
Strukturierung der Materie an Vorgängern orientiert, wie z.B. an Manfred
Pfister.3 Doch gerade im Vergleich zu Pfisters penibler und schlüssiger
Hierarchisierung der einzelnen Aspekte fallen die Defizite in Jeßings Textorganisation auf: Unterkapitel und Unterkategorien stehen allenfalls locker
verbunden nebeneinander, und es werden mitunter Fachbegriffe zusammen
abgehandelt, die nicht zusammen passen, z.B. unter der Überschrift Dramatische Gestaltungsmittel der Wissenspräsentation die Termini Mauerschau
(Teichoskopie), Botenbericht - und Anagnorisis (S. 51 - 52).
Viertens sollte sich gerade eine Einführung in die Dramenanalyse durch einen besonders reflektierten Gebrauch derjenigen Fachbegriffe auszeichnen,
die sie selbst vermittelt. Jeßing aber spricht z.B. ohne weiteres von „Leicesters Teichoskopie bei Schiller“ (S. 54) bzw. der „eindrucksvollen Teichoskopie“, mit der „die gerade geschehende Hinrichtung Marias in emotionalisierter Rede berichtet“ (S. 55) werde. Daß hier eine Sonderform der
‚Mauerschau‘ vorliegt, in der Leicester gerade nichts ‚schaut‘, sondern ausschließlich akustische Eindrücke verbalisiert, wird dabei mit keinem Wort
erwähnt, während z.B. Bernhard Asmuth in seiner Erklärung von Teichoskopie präzise auf diese nicht selbstverständliche Variante eingeht.4
Fünftens ist das Kapitel Dramenanalytische Verfahren (S. 74 - 104) zwar
einerseits ein begrüßenswerter Versuch, Wege der praktischen Anwendung
des vermittelten Wissens zu skizzieren. Andererseits aber überwiegen auch
hier die problematischen Aspekte. Die Trennung vom systematischen Teil
ist ungenau – der Abschnitt zu Figurendarstellung, Figurenanalyse führt zunächst neue theoretische Kategorien ein, von denen zuvor nicht die Rede
war (z.B. S. 75 - 76).5 Die Vorschläge zur Titelanalyse sind adäquat (wenn
auch nicht dramenspezifisch), quantitative Analyse und Begegnungsschema stehen für sinnvolle Annäherungsmöglichkeiten an einen dramatischen
Text, wobei Jeßings „Begegnungsschema“ allerdings weniger präzise ist als
3
Vgl. Das Drama : Theorie und Analyse / Manfred Pfister. - 11. Aufl., erw. und
bibliogr. aktualisierter Nachdr. der durchges. und erg. Aufl. 1988. - München :
Fink, 2001. - 454 S. : graph. Darst. ; 19 cm. - (UTB ; 580 : Literaturwissenschaft,
Theaterwissenschaft) - (Information und Synthese ; 3). - ISBN 978-3-8252-0580-5
(UTB) - ISBN 978-3-7705-1368-0 (Fink). - Zuerst 1977.
4
Vgl. Asmuth (wie Anm. 2), S. 110.
5
Im wesentlichen handelt es sich hier um eine terminologisch entschlackte (und
dadurch unschärfere) Zusammenfassung dessen, was Pfister als Techniken der
Figurencharakterisierung abhandelt (vgl. Pfister, wie Anm. 3, S. 250 - 264).
Pfisters „Konfigurationsstruktur“.6 Als Arbeitsinstrument einseitig privilegiert
wird das möglichst umfangreiche, lineare Exzerpt (und ggf. das Exzerpt des
Exzerpts), als gäbe es nicht seit Jahrzehnten eine wissenschaftliche
Schreibforschung und Schreibdidaktik, die zumindest die Ergänzung solcher
traditionellen Arbeitsformen durch Visualisierung, Clustering, Mindmapping
usw. massiv nahelegt.
Sechstens ist zu fragen, ob Jeßings Auswahl der dramatischen Beispiele im
Hinblick auf den einführenden Charakter des Bandes und die entsprechende Zielgruppe als geglückt gelten kann. Sein Lieblingsstück ist offenbar Carolus Stuardus von Andreas Gryphius – sicher ein bedeutendes Drama
des deutschen Barock, aber zugleich auch eines, das aus den Lehrplänen
der Schulen und insbesondere aus dem Theaterrepertoire vollständig verschwunden ist. Daß der Carolus Stuardus nicht nur im Kapitel Dramenanalytische Verfahren als Beispiel gewählt, sondern im historischen Teil nochmals im Rahmen einer siebenseitigen Modellanalyse vorgestellt wird (vgl. S.
156 - 162), mag einerseits ein engagiertes Plädoyer für einen historisch
wichtigen Text darstellen, wirkt aber andererseits im Rahmen eines Einführungsbandes auch unverhältnismäßig.
Siebtens ist der umfangreiche Teil II des Bandes (S. 105 - 258), den Jeßing
im Fließtext mal als „dramenpoetikgeschichtlichen“ (S. 29), mal als „dramengeschichtlichen Teil“ (S. 55) bezeichnet und mit Geschichte der Dramenpoetik überschreibt, zwar weniger anfechtbar als der systematische; in
seiner geradlinig dem historischen Verlauf folgenden Darstellungsweise
wirkt er aber auch wenig inspiriert. Daran können die insgesamt 13 eingefügten, meist recht inhaltslastigen Modellanalysen nichts ändern. Einige Detailfehler sind nicht nur der notwendigen Verknappung geschuldet: Die Freie
Bühne als „erstes naturalistisches Theater“ (S. 222) zu bezeichnen, ist irreführend, und der alte Hilse in Hauptmanns Die Weber setzt sich kurz vor
seinem gewaltsamen Tod keineswegs „ans Spinnrad“ (S. 224).
Achtens schließlich hätte der Band einer sorgfältigeren Endredaktion bedurft. Gelegentliche Wiederholungen und einige Druckfehler7 fallen dabei
weniger ins Gewicht als die durchgehend unelegante Sprache: „Kleists analytisches Drama Der zerbrochene Krug (1808/11), ebenfalls einaktig, rekonstruiert, den Richter Adam entlarvend, durchgehend als Gerichtsszene die
Zerstörung des Kruges von Frau Rull“ (S. 28). Ein Germanist, der mit der
klassischen Rhetorik und ihren Idealen derart vertraut ist wie Benedikt
Jeßing, müsste so nicht schreiben.
Sascha Kiefer
6
Pfisters tabellarische Konfigurationsstruktur bildet die An- bzw. Abwesenheit einer Figur auf der Bühne durch die Zahlen 1 und 0 ab (vgl. Pfister, wie Anm. 3, S.
236 - 240) und erzeugt damit eine Transparenz, die Jeßings gleichfalls tabellarischem Begegnungsschema abgeht (vgl. S. 92).
7
Vgl. z.B. Emilia Galottis Verlobter „Apiani“ (S. 37), „Luisa“ Miller (S. 37, und ohne,
daß Verdis Opernheldin gemeint wäre), „Familengeschichte“ (S. 64), „zum Ende
des erstes Auftritt“ (S. 68), „Mittleid“ (S. 105), „ein allemannisches Fragment“ (S.
125), „Vergnügenstheater“ (S. 226) oder „Wirklichkeitswidergabe“ (S. 226).
QUELLE
Informationsmittel (IFB) : digitales Rezensionsorgan für Bibliothek und
Wissenschaft
http://ifb.bsz-bw.de/
http://ifb.bsz-bw.de/bsz411995464rez-1.pdf