Industrie 4.0: Wir stehen vor einer neuen Gründerzeit

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Industrie 4.0: Wir stehen vor einer neuen Gründerzeit
Industrie 4.0:
Wir stehen vor einer neuen Gründerzeit
München, 24.10.2014
Joe Kaeser
Wir erleben heute einen so tiefgreifenden technologischen Wandel wie seit fast einem halben Jahrhundert nicht mehr.
Die Digitalisierung verändert mit atemberaubender Geschwindigkeit unsere Lebensbereiche. Sie verändert damit auch
die Wirtschaft. Digitalisierung verkürzt die Wertschöpfungsketten. Jedes Glied in der Kette, das keinen Wert schafft,
fällt heraus.
Dieser radikale Wandel, getrieben durch Big Data, Cloud-Computing und das Internet der Dinge, beeinflusst auch die
industrielle Fertigung. Nach der Mechanisierung der Fertigung im 18. Jahrhundert durch die Dampfmaschine, der
arbeitsteiligen Massenproduktion durch das Fließband und dem Einsatz von Elektronik und IT zur Automatisierung in
den 60er-Jahren des vergangenen Jahrhunderts stehen wir wieder vor einer industriellen Revolution. Sie ist die vierte in
der Reihe: Industrie 4.0.
Die virtuelle Welt verschmilzt mit der realen Welt der Produktentstehung. Diese neue Welt ist ein ganzheitliches
System, in das alle Prozesse integriert sind: Produkte sind mit Hilfe von Sensoren und Chips identifizierbar,
lokalisierbar, sie kennen ihre Historie, ihren aktuellen Zustand und ihren Zielzustand. Es entsteht ein lückenloses, sich
stetig optimierendes Netzwerk.
Industrie 4.0 ist zwar eine Revolution, aber eine, die evolutionär vonstattengeht und sich über Jahre hinziehen wird. Ein
Unternehmen wie Siemens kann schon heute ein Portfolio von industrieller Software und Automatisierungssystemen
anbieten, die Digital Enterprise Platform, durch die Produktentstehungsprozesse flexibilisiert und beschleunigt werden
und einige der Industrie-4.0-Ziele schon jetzt erreicht werden. In unserem Elektronikwerk in Amberg sind wichtige
Komponenten von Industrie 4.0 bereits zu beobachten. Das Ergebnis: Die Zuverlässigkeit bei der Produktion
elektronischer Schaltungen liegt bei 99,9988 Prozent, ein unübertroffener Wert.
Amberg ist auch Beweis dafür, dass die Fabrik der Zukunft nicht menschenleer sein wird. Die Bedeutung des Menschen
wird sogar zunehmen: Im kreativen Bereich der Produktentstehung bleibt die menschliche Intelligenz ohnehin
unverzichtbar. Aber auch auf operativer Ebene werden Arbeitnehmer weiter eine zentrale Rolle spielen, allerdings eher
als Steuerer, kreative Planer und Überwacher.
Die Zukunft hat begonnen. Das untermauert auch eine aktuelle Studie von Pricewaterhouse-Coopers. Demnach wollen
die deutschen Industrieunternehmen in den kommenden fünf Jahren rund 3,3 Prozent ihres Jahresumsatzes in Industrie4.0-Produkte investieren. Wir reden also von jährlichen Investitionen in Höhe von 40 Milliarden Euro.
Das Geld ist gut angelegt. Denn die Investitionen amortisieren sich PwC zufolge in zwölf bis 24 Monaten - und sollen
für die deutsche Wirtschaft in den kommenden fünf Jahren zu einem Mehrumsatz von 150 Milliarden Euro führen.
Das Geld ist auch zum richtigen Zeitpunkt angelegt. Denn wer auf Industrie 4.0 setzt, kann seine Produktivität dank der
Möglichkeiten der Digitalisierung steigern und die Kosten senken; er kann die Fehlerquote verringern; und er kann
„time to market", also die Zeitspanne, bis ein Produkt marktfähig ist, um bis zu 50 Prozent verringern. Heute versuchen
andere Wirtschaftsnationen lauthals und unter großem Druck, ihre industrielle Basis wiederaufzubauen. Deutschland
hingegen hat die Industrie nie aus dem Fokus verloren. Genau diese gesunde Basis gibt uns heute einen Startvorteil bei
Industrie 4.0. Und wir sollten ihn nutzen.
Man könnte entgegnen, dass die Player aus dem Silicon Valley auch keine Probleme haben, die Welt der
Produktentstehung zu erobern. Ich möchte dem widersprechen: Natürlich stimmt es, dass 65 der 100 größten SoftwareUnternehmen in den USA beheimatet sind. Natürlich stimmt es, dass Google, Amazon - und wie sie alle heißen mögen
- meisterhaft den „Rohstoff" Daten „abbauen" und nutzen. Aber es stimmt natürlich auch: Wir kennen die Abläufe und
die Prozesse in der Industrie, wir kennen die Branchen. Und wir sind nicht nur „Traditionalisten", sondern längst auch
„Digitalisierer": Bei einem Unternehmen wie Siemens etwa arbeiten 17 500 Software-Ingenieure.
Deutschland ist eine Exportnation. Und um als Exportnation erfolgreich zu bleiben, ist technologische Führerschaft
Grundvoraussetzung. Genau dieses Streben nach Innovation und die Bereitschaft, sich zu verändern, ist eine
Herausforderung für die gesamte Gesellschaft.
Es betrifft die Arbeitswelt: Arbeitsplätze und Qualifikationsanforderungen werden in der von Digitalisierung
getriebenen Welt vollkommen anders aussehen als heute. Es geht um ein „Qualifying" und „Requalifying" heutiger und
künftiger Generationen. Es betrifft die Infrastruktur: Investitionen in Glasfasernetze und High-Speed-Mobilfunk sind
dringend vonnöten, damit der Datenfluss schnell und zuverlässig vonstattengeht. Und es betrifft die Standards: Wir
sollten einheitliche gesetzliche Standards für den Umgang mit Daten und Informationen setzen, am besten europaweit,
die mit denen der beiden Wirtschaftsregionen Asien und Amerika kompatibel sind.
Wir brauchen dazu allerdings keine nationale Strategie „Industrie 4.0". Die Innovationen entstehen dadurch, dass die
Akteure alleine oder mit Partnern neue Technologien entwickeln, erproben und anwenden. Wir begrüßen es allerdings,
dass die Bundesregierung Plattformen anbieten will, auf denen sich die wesentlichen Spieler austauschen können.
Derjenige, der sich in der Praxis bewährt, wird sich durchsetzen.
Innovationsgeist hat zu Zeiten von Pionieren wie Robert Bosch, Gottlieb Daimler, Friedrich Engelhorn und Werner von
Siemens die deutsche Industrie geprägt. Ich bin zuversichtlich, dass wir auch heute bei uns in Deutschland in dieser
neuen Gründerzeit den unbedingten Willen zur Innovation entfachen können. Dazu brauchen wir starke Partnerschaften
- zwischen Unternehmen, zwischen Forschungseinrichtungen und Hochschulen, auch international ausgerichtet.
Der IT-Gipfel an diesem Dienstag in Hamburg ist eine gute Gelegenheit für diesen Austausch - zum Wohle des
Standorts Deutschland. Wir sollten gemeinsam diese Chance ergreifen.
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